Prolog: Heimkehr (Dritter Teil)
Zwei gewaltige Säulen ragten über Cauldron in den Himmel. Eine der Säulen war kreisrund und bestand nur aus Schwärze, als flössen dort durch ein Glasrohr die Schatten in dem Himmel. Die andere Säule war uneben und verzweigte sich an mehreren Stellen. Als die Kettenbrecher sich der Stadt näherten, erkannten sie in dieser zweiten Säule einen Baum, dessen Krone in den Schatten verborgen lag. Keiner der Abenteurer hatte eine Idee, was in Cauldron geschehen war.
Endlich standen sie vor der Stadt. Die schwarzen Stadtmauern dampften einen Vorhang aus Schatten in den Himmel, und wo sonst das massive Stadttor gewesen war, versperrte ein ebensolcher Vorhang den Durchgang in die Stadt. Stiefeltritte, Kettengerassel und Schreie hingen leblos in der Luft. Es war niemand zu sehen.
»Was ist das für ein Vorhang?«, wandte sich Boras an Helion. »Können wir da durchgehen?«
Der Kobold zuckte mit den Schultern.
»Zumindest wird es dann wohl Alarm geben, aber ich lege meine Schnauze nicht ins Eis, dass es nicht auch schlimmere Folgen haben könnte.«
Thamior und Thargad erklommen die Stadtmauern, aber auch dort versperrte ihnen die Schwärze die Sicht.
»Was solls?«, fragte Dirim, als sie wieder unten waren. »Wir müssen in die Stadt. Also gehen wir durch.«
»Warte noch«, bat Helion, aber der Zwerg hörte nicht.
Dirim schritt auf das Tor zu. Er war keine fünf Schritt mehr entfernt, als plötzlich ein Feuerstrahl aus seinem rechten Auge schoss. Die Flammen fraßen sich durch den Vorhang aus Schatten und gaben einen Durchgang frei, durch den selbst Boras bequem passte. Schnell huschten die Kettenbrecher hinein. Hinter ihnen wuchs der Vorhang wieder undurchdringlich zusammen.
Die Straßen waren menschenleer. Hinter den Fenstern schimmerte Licht, und scharfe Ohren vermochten hinter den Schritten und den Ketten leises Gemurmel zu vernehmen. Ab und zu gellte ein Schrei durch die Düsternis. Schatten lauerten überall auf Opfer.
Spoiler (Anzeigen)The Fog aus dem gleichnamigen Carpenterstreifen (13 Minuten lang und super für so etwas geeignet)
»Seht mal«, sagte Thamior und wies auf eine Häuserwand.
Dicht unterhalb des Daches ragte ein halblingsgroßer Arm aus der Wand. Jeder Finger endete in einem Auge, und in der Handfläche wartete ein zahnloser Mund darauf, Alarmrufe auszustoßen. Suchend bewegte sich der Arm von einer Seite zur anderen. Die anderen Kettenbrecher hatten ihren Blick jedoch auf etwas anderes gerichtet.
»Der See«, flüsterte Dirim ungläubig.
Einst war in der Mitte Cauldrons ein Schwefelsee gewesen, den man von den hoch liegenden Außenbezirken der Stadt bewundern konnte, ohne ihn riechen zu müssen. Jetzt war er fort. Der große Baum, der in den Himmel ragte, hatte seinen Platz eingenommen. Und erst jetzt erkannten die Kettenbrecher, wie groß der Umfang des Baumes war, und wie hoch er wirklich sein musste. Daneben wirkte die Schattenlanze, die in etwa vom Azuthtempel ausging, wie eine Haarnadel neben einer Königspython.
Ein spitzer Schrei ertönte. Die Wachhand hatte sie entdeckt. Noch während die Kettenbrecher sich kampfbereit machten, spie der Handflächenmund einen klebrigen Schattenklops in die Richtung von Dirims Gesicht. Dirim konnte gerade noch seinen Schild vorschieben. Gleichzeitig sackte die Wachhand schlaff zusammen, dann zerfiel si zu Staub.
»Und jetzt?«, fragte Boras.
»Jetzt kommen die Wachen«, antwortete Thamior und wies mit dem Kopf die Gasse entlang.
Fünf Kreaturen schoben sich auf sie zu. Ihre Unterarme endeten in gut einem Dutzend scharfer Stacheln. In ihrer Brust prangte ein lidloses Auge. Ihr Hals endete in einem schwarz rauchenden Loch.
Thargad hatte seine Klingen schon gezogen und stürmte im Zickzacklauf auf die Wachen zu, als inmitten der Wesen ein Feuerball explodierte. Mehrere Pfeile bohrten sich in die Brust eines Wächters. Der Wächter verharrte. Er hob den Arm, und eine seiner Stacheln flog auf Thamior zu. Der Elf wirbelte herum und entging dem Geschoss mit knapper Not. Thargad war jetzt bei dem Wächter angekommen und bohrte seine Schwerter in dessen Brust. Der Wächter verging.
»Noch vier«, rief der Assassine.
»Drei«, sagte Boras und entfernte die Axt aus der Schattenpfütze vor sich.
Ein weiterer Wächter näherte sich dem Barbaren. Die Kreatur beugte sich vor. Aus seinem Hals sprühte es einen Nebel aus Schatten. Boras schrie auf, als sich der Schatten wie Säure in seine Haut fraß. Er packte den Wächter und schleuderte ihn gegen eine Wand, wo er zerplatzte.
Dirim fuchtelte mit seinem Schwert vor dem vierten Wächter herum. Es schien, als hätten sie die Lage im Griff, da wollte er keinen Zauber verschwenden. Jetzt beugte sich auch sein Gegner vor. Anstatt ätzender Schatten kamen allerdings zwei Schwertspitzen aus dem Hals gefahren, und ein Pfeil Thamiors besiegelte das Schicksal dieser Kreatur endgültig.
»Danke für die Ablenkung«, sagte Thamior.
Dirim nickte zurück.
Fünf magische Geschosse zerrissen den letzten Wächter, und nachdem Boras sich noch einmal über die Ungerechtigkeit dieser Kampftaktik ausgelassen hatte, war es wieder ruhig auf Cauldrons Straßen.
»Das war nicht besonders gefährlich«, sagte Dirim, nachdem sie einige Zeit auf mögliche Verstärkung gewartet hatten. »Aber wenn jedes dieser Augenviecher einen Wachtrupp ruft, kann es auch anders ausgehen.«
»Oder langweilig werden«, bestätigte Boras.
Thamior feuerte versuchsweise auf die nächste Wachhand. Sie zerfiel nach einem Schuss zu Schattenflocken.
»Also sind sie nicht sehr widerstandsfähig«, sagte Helion. »Wie viele Pfeile hast du noch?«
»Nicht genug«, gab der Elf zurück.
»Könnt ihr euch vorbei schleichen?«
Thargad versuchte es. Zuerst gab er sich Mühe, aber auf dem Rückweg bewegte er sich recht sorglos.
»Die sind nicht sehr aufmerksam«, sagte er. »Aber Dirim könnte trotzdem Probleme bekommen.«
»Ich habe noch einen Trank, der ihm beim Schleichen hilft«, sagte Thamior.
»So einen habe ich auch noch«, gab Thargad zu.
»Ein Stück weit kann ich uns teleportieren«, sagte Helion, »zumindest die lauteren unter uns.«
»Und zur Not schießen wir die Hände kaputt«, schloss Thamior.
»Dann sollten wir uns wenigstens halbwegs sicher bewegen können«, sagte Dirim. »Wohin also?«
Wie auf Kommando sahen alle fünf in die selbe Richtung.
»Zum Azuthtempel«, sagte Helion.
-
Vom Azuthtempel waren nur noch die Stufen übrig geblieben, die zum Eingang hinauf führten. Zu beiden Seiten gähnte ein Abgrund. Die Stufen selbst waren rissig, löchrig. Am Ende der Stufen standen noch die Doppeltüren des “Fingers”, dahinter loderte die Schattensäule.
»Was ist hier passiert?«, fragte sich Dirim stellvertretend für die anderen zum wiederholten Male.
»Vielleicht bekommen wir da drin ja Antworten«, sagte Helion und schritt die Stufen hinauf.
Als sie das Ende der Treppe erreichten, öffneten sich die Doppeltüren. Dahinter war eine düstere Halle, die nur durch weniger schwarze Finsternis erhellt wurde, und ein altes, gebeugtes Männchen mit fleckiger Haut und einem Kopf, der größer war als sein Oberkörper. Seine dürren Ärmchen hatte das Wesen zur Stütze auf den Boden gestellt.
»Ihr habt euren Termin verpasst«, krächzte das Männchen. »Aber die Herrin empfängt euch noch. Folgt mir bitte.«
Dem listigen Blick des Männchens zufolge wäre es eine schlechte Idee gewesen, dies nicht zu tun, aber auch sonst wären die Kettenbrecher wohl hinter dem Wesen her gegangen. Sie stiegen eine Wendeltreppe empor, die an die Wand der Halle angebaut war. Zur einen Seite befand sich schwarze Wand, zur anderen nur ein Fall in die Finsternis. Schemen hasteten an den Kettenbrechern vorbei oder durch sie hindurch, und dissonannte Töne schwammen durch die Luft. Endlich endete die Treppe in einer einfachen Holztüre.
»Nur hindurch, nur hindurch«, drängte das Männchen.
Sie kamen in einen warmen, gemütlichen Raum. Ein Kaminfeuer prasselte, und hinter einem Schreibtisch saß die Hohe von Azuth, Embril Aloustinai, und schrieb etwas auf Pergament. Ihr weißes Haar war zu einem Knoten gebunden, und ihre silberne Robe schimmerte im Licht des Feuers, als wäre sie lebendig.
»Eure Gäste, Herrin«, verkündete das Männchen, dann zog es sich aus dem Raum zurück und schloss die Türe hinter sich.
Embril sah auf.
»Da seid ihr ja endlich. Wein?«
Sie stand auf und goss sechs Kelche ein. Dann wies sie auf die fünf leeren Sessel, die vor dem Schreibtisch standen.
»Setzt euch. Obwohl ich überrascht bin, euch zu sehen. Ich hielt euch für tot.«
»Sind wir nicht«, sagte Helion. »Aber was ist hier geschehen?«
»In Cauldron?« Embril schüttelte den Kopf. »Schatten und Angst kamen über die Stadt, und ein Engel der Finsternis stieg vom Himmel herab auf den Thron des Stadtherren. Adimarchus, der Brudermörder, herrscht nun im Kessel.«
»Ach?«, entfuhr es Helion. Mehr vermochte in diesem Augenblick keiner der Kettenbrecher zu sagen.
»Und ihr?«, fragte Helion schließlich.
»Ich bin nur ein kleines Licht im Dunkel«, gab Embril zurück.
»Welches Jahr haben wir?«, erkundigte sich Thargad.
»1377«, sagte Embril. »Fast zwei Jahre, seit ihr verschwandet, und über ein Jahr, seit der Säufer Terseon Skellerang erschlagen wurde.«
»Seit was?«, entfuhr es Boras.
»Seit Terseon Skellerang im Gottesurteil um Maavus Leben kämpfte, und der Streiter namens Finster ihn erschlug und den Händler rettete.«
»Ach«, wiederholte Helion.
Lange Zeit war es ruhig. den Kettenbrechern schwirrte der Kopf.
»Wir gehen wohl besser«, sagte Dirim schließlich.
»Habt ihr nicht etwas vergessen?«, fragte Embril.
Sie stand auf. Mit einem Ruck zerriss sie ihre Robe. Dann griff sie sich in den Magen und zerrte ruckartig ihren Darm heraus, den sie feierlich Thamior überreichte.
»Seid ihr nicht deswegen hier? Oder habt ihr schon einen?«
»Was?«, fragte Thamior verwirrt.
»Nun ja«, sagte Embril. »Ihr findet doch hinaus?«
Sie öffnete die Tür zu ihrem Zimmer und trat hinaus. Dirim wollte ihr nach, doch sie war verschwunden.
»Der Darm eines Verräters?«, fragte Thamior niemanden im Besonderen. »Aber–«
Ein Krächzen entrang sich ihm. Blut quoll ihm aus dem Mund. Der Elf brach zusammen. Als er auf dem Boden aufschlug, sickerten Schatten aus dem Teppich hervor und hüllten ihn ein. Dann war er verschwunden.
»Ist das so ein Azuthding?«, fragte Boras.
»Das wäre mir neu«, sagte Helion. »Aber wir sollten hier verschwinden.«
»Gute Idee«, sagte Dirim. »Gehen wir zu mir.«
-
Die Wände des Tyrtempels waren eingerissen, der Tempel selbst lag still und verlassen. Gras wuchs kreuz und quer.
»Tyr, enthülle mir auch die verborgensten Geheimnisse«, bat Dirim. Von wahrem Blick beseelt, begann er die Durchsuchung.
Der Tempel war geschändet worden. Was man tragen konnte, hatte man geraubt, was zu sperrig war, hatte man zertrümmert. Mit Tränen in den Augen stieg Dirim die Stufen in die Kellerräume hinab, wo sein Quartier gewesen war. Selbst die kunstvollen Wandbilder hatte man verunstaltet, aber das war es nicht, was dem Zwerg auffiel. Er blickte verwundert auf die magische Aura, die in etwa die Form einer Tür hatte, wo definitiv keine gewesen war. Eine Geheimtür. Schnell stellte er fest, dass jedes der vier Zimmer eine solche Aura hatte. Aber was er auch anstellte, er konnte die Türen nicht öffnen.
»Das mache ich in der richtigen Welt«, nahm er sich vor.
»Sie waren gründlich«, sagte Thargad angesichts der Zerstörung.
»Ich frage mich nur, was mit den Barakmordin passiert ist«, sagte Dirim und meinte die Ordenskrieger, die in diesem Tempel gewohnt hatten. »Hier finden wir es jedenfalls nicht heraus.«
»Jenya?«, wandte er sich dann an seine Freunde.
»Jenya«, bekräftigte Thargad.