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An der Reling der Jadezorn lehnte ein alter, hagerer Mann und betrachtete sinnierend die unter ihm und seinem Schiff dahinziehenden Wolken. Der Anblick gefiel ihm. Er hatte etwas Leichtes an sich, wie das sanfte Dahinschweben einer frisch gestorbenen Seele, die soeben entdeckt, welche Freiheiten in Zukunft auf sie warten mochten.
„Meister.“
Jäh drehte sich der Mann um. Er hasste es, in seinen philosophischen Betrachtungen gestört zu werden. „Ja, mein lieber Freund, was gibt es denn?“
Der Soldat salutierte und stand stramm. Es war ihm anzusehen, wie stolz er darauf war, dieser Einheit angehören zu dürfen. „Wir sind fast in Reichweite. Die Wolkenschicksal ist in wenigen Minuten eingeholt.“
„Sehr gut. Nun, ich nehme an, es sind alle Vorbereitungen getroffen?“
„Das sind sie, mein Meister.“
Der alte Mann nickte knapp. „Beginnen Sie, sobald sie bereit sind.“
Der Soldat salutierte und entfernte sich.
Eigentlich hätte sich der alte Mann nun wieder seinen Betrachtungen zuwenden können. Doch er spürte deutlich, dass er noch nicht allein war. Eine weitere Person war in der Zwischenzeit auf Deck gekommen.
„Kapitän Rarwog?“.
Der alte Mann schürzte die Lippen. Richtig, dachte er. Der war ja auch noch da.
Er ließ eine Pause verstreichen. „So still dahinzugleiten, als wenn es sich um einen See handeln würde. Wundervoll, nicht wahr?“ sagte er mit einem versonnenen Unterton.
„Das ist es bestimmt“, pflichtete ihm der Andere bei. „Ihr werdet sie angreifen, richtig?“
Rarwog zog eine Augenbraue hoch. Verdammt. Der Junge war nicht dumm.
„Ja“, antwortete er schließlich gemessen. „Das ist der Sinn dieser Fahrt.“
„Naja... Ich gehöre ja wohl nicht zur Mannschaft. Bin ich demnach ein Gefangener?“
„Das nicht. Tatsächlich biete ich dir an, in meinen Dienst zu treten. Du scheint ein aufgeschlossener Kerl zu sein und siehst nicht danach aus, als würdest du Rüstung und Schild deinerseits der Zierde wegen tragen, oder täusche ich mich da?“
„Wohl kaum“, kam die Antwort ein wenig zögerlich. „Habe ich denn eine Wahl?“
Kapitän Rarwog gestattete sich ein leichtes Lächeln. Tatsächlich, Der Junge war ganz und gar nicht dumm. „Nicht wirklich. Aber das hast du dir wahrscheinlich eh gedacht. Immerhin biete ich dir einen Platz in der Mannschaft nebst entsprechender Besoldung an. Also, was sagst du?“
Eine Pause entstand. Wahrlich, Rarwog konnte den Jungen gut gebrauchen. Er hatte sich bereits als äußerst zäh und verschlagen erwiesen, als sie sich das letzte Mal begegnet waren. Zum Glück ahnte der Junge davon jedoch nichts.
Schließlich nickte der und fragte: „Werde ich an dem Angriff teilnehmen?“
„Das wird sogar deine Bewährungsprobe sein!“ rief der Kapitän zufrieden aus und rieb sich die Hände. „Gut! Ich werde dich nun deinem Trupp zuteilen.“
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„Schön, ich bin überrascht!“ konstatierte Bastonata und stemmte ihre ausladenden Hände in die Hüften und legte den Kopf schief. „Kannst du mir vielleicht mal verraten, wie du da in diese Kiste kommst?“
Spange grinste schief. „Ach hallo, du bist auch da. Hab doch gleich bemerkt, dass es hier nach Bär riecht.“
Die Wandlerin fuhr auf. „Warte, du eingebildeter..!“
Ehrenpreis hielt sie zurück. „Ich vorschlagen, wir hören erst Geschichte von dem da. Den ihr ja scheinen zu kennen!“ Er zeigte auf Spange und wandte sich ihm zu. „Und du ziehen dir mal was an, oder wollen zeigen kleine Freund große Welt?“
„Was?“ rief der Wechselbalg, sah kurz an sich herunter und wurde puterrot im Gesicht. „Soll das heißen, ich habe die ganze Zeit nackt da drin gelegen?! Wenn das einer gesehen hat...“
Bastonata setzte nun ihrerseits ein höhnisches Grinsen auf. „Nein, nur wir hier. Oh, und natürlich die, die dich da hineingepackt haben, du...“ sie heftete ihren Blick ostentativ zwischen Spanges Beine, „Winzling.“ Das letzte Wort ließ sie zuckersüß von ihren Lippen fließen.
Löwenzahn hatte in der Zwischenzeit eine einfache Drillichhose und ein Schifferhemd aus einer Kiste geholt und warf es dem Dieb zu, der sich sichtlich beeilte, hineinzuschlüpfen.
Bastonata ließ es sich dennoch nicht nehmen, schnippisch mittels Daumen und Zeigefinger ihren Eindruck von Spanges intimer Größe zu verdeutlichen. Der bis zerknirscht die Zähne zusammen.
„Und jetzt erzähl“, verlangten die Abenteurer.
Der Schurke nickte.
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Ihn hatte der Tod erwartet. Tatsächlich konnte sich Spange nur noch daran erinnern, dass sich irgendwann seine Lungen unaufhaltsam mit Wasser gefüllt hatten, während er von dem Sahuagin verschleppt wurde.
Doch irgendwie wachte er irgendwann völlig unterkühlt und gefesselt wieder auf. Er lag in der Ecke eines Raumes auf Sandboden und litt höllische Schmerzen, während vier menschliche Gestalten in der Nähe an einem kleinen Feuer darüber diskutierten, was sie mit ihrem ihrer Meinung nach überflüssigen Gefangenen anfangen sollten und wie sie seine Habseligkeiten unter sich aufteilen konnten. Offenbar arbeiteten diese Leute mit den Sahuaginräubern zusammen, die regelmäßig Trolanhafen heimsuchten, denn mehrfach hörte Spange Sätze heraus wie: „Und ich sage, sollen die Fischmenschen den Kerl behalten! Er wird ihnen sicher schmecken!“
Es dauerte nicht besonders lange, bis er sich aus seiner Fesselung befreit hatte und zu seinem Glück hielten es die Strandpiraten offenbar nicht für nötig, ihn zu bewachen. Das verschaffte ihm die Möglichkeit zur Flucht.
Zufälligerweise lag das Versteck der Räuber genau im Sockel jenes Andockturmes des Hauses Lyrandar, an dem später an besagtem Abend auch Lucan und die restlichen Gefährten ankommen würden. Spange fand seine Ausrüstung in einem Nebenraum, und nachdem er sich wieder eingekleidet hatte, stahl er sich sich schnurstracks nach draußen.
Der Strand lag einsam und verlassen im Schein der beiden Monde Eberrons. Der Dieb hielt sich so nahe er konnte an der Mauer des gewaltigen Turmsockels und pirschte sorgsam auf Geräusche lauschend voran. Und tatsächlich erspähte er bald einen einzelnen Sahuagin, der offenbar damit beschäftigt war, seine erbeutete Mahlzeit zu verschlingen.
In Spange wuchs eine unbändige Wut, als er erkannte, dass der Kopf, den der Fischmensch gerade austrank, sicherlich weder Fisch noch Tier war, sondern, dass es genausogut auch er selbst hätte sein können, dessen Schädelinhalt soeben verzehrt wurde.
Spange entschloss sich, es diesem Drecksviech heimzuzahlen.
Und genau da fand sein Glück ein jähes Ende.
Das Monster bemerkte ihn zu früh.
Vielleicht hätte der Dieb seinen Gegner niedergestreckt, wenn er nah genug herangekommen wäre, um seinen gefürchteten hinterhältigen Angriff durchführen zu können. Vielleicht hätte auch ein direkter Zweikampf noch den Sieg gebracht. Doch der Sahuagin holte aus und landete sofort einen totalen Volltreffer, der den ohnehin noch geschwächten Wechselbalg mit einem Streich zu Boden schickte.
Toll, dachte Spange, während sich die Silhouette seines Gegners über ihm sich gegen die Schwärze der Nacht abzeichnend aufbaute. Nun würde auch er im Magen eines Fischmenschen enden.
Doch auch dazu sollte es schlussendlich nicht kommen, denn das Letzte, was er mitbekam war, wie eine zweite, diesmal menschliche Gestalt auftauchte, die leise und eindringlich auf den Sahuagin einsprach und ihm sagte: „Lass nur. Mit dem machen wir ein bisschen Geld. Den verkaufen wir in Rhukaan Draal auf dem Blutmarkt.“
Dann sank erneut tiefe Dunkelheit hernieder.
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„Tja, das ist die Geschichte“, schloss Spange achselzuckend. „Und jetzt ist meine Ausrüstung weg, und Geld habe ich auch keins mehr.“
Bastonata dachte einen Augenblick nach, dann kramte sie aus ihrem Rucksack ein Kurzschwert hervor. „Hier. Damit du dich nicht so... nackt fühlst.“ flötete sie.
Q'arion warf ihm sein altes Kettenhemd zu. „War mir eh immer zu schwer, das Ding.“
Spange verzog das Gesicht und sah betreten zu Boden. „Danke“, brachte er hervor. Doch plötzlich hob er den Kopf und sah sich um. „Wo ist eigentlich dieser Wicht von einem Kleriker?“
Diesmal war es an den anderen, betreten dreinzublicken.
„Ich fürchte, wir haben ihn verloren.“ sagte Yelenath nach kurzem Zögern. „Er ist in Trolanhafen von der Landeplattform gefallen, als uns einige verrückt gewordene Hafenarbeiter angegriffen haben. Und wenn er keinen Federfallzauber dabei hatte, kann er den Sturz unmöglich überlebt haben.“
„Yelenath denkt, dass die Arbeiter von unserem speziellen Freund kontrolliert wurden.“ fügte Bastonata hinzu.
„Oh.“ der Dieb wusste nicht so recht, was er dazu sagen sollte. „Äh.“ sagte er schließlich. Und fügte dann hinzu: „Naja. Was musste er auch ausgerechnet mein Pferd nehmen.“
„Vielleicht wäre er so noch am Leben.“ nickte Q'arion zustimmend, während er schon wieder in das Spiel der Wolken in der untergehenden Sonne vertieft war. „Seht mal“ rief er plötzlich, „das Luftschiff da hinter uns sieht genau so aus wie unseres! Ups, was ist das?“ fügte er überrascht hinzu, als ein Schatten direkt vor seiner Nase her zischte.
„Was war denn?“ wollte Bastonata wissen.
Ihre Frage wurde durch einen Hagel von Armbrustbolzen beantwortet, der in diesem Augenblick auf das Deck niederging. „Verstehe.“ zischte sie und zog ihre Streitaxt aus dem Gürtel. „Freunde, es gibt Arbeit!“
Der Angriff kam von allen Seiten gleichzeitig. Plötzlich schossen zwei kleine Luftboote über die
Wolkenschicksal hinweg. Jedes war mit mehreren Armbrustschützen besetzt, die nun begannen, das Deck des Luftschiffes permanent mit Bolzen zu beharken.
Passagiere wie Besatzungsmitglieder waren davon gleichermaßen betroffen und bereits bei der ersten Welle stürzten mehrere von ihnen getroffen zu Boden, während sie noch versuchten, irgendwo Deckung zu finden.
Yelenath umgab sich mit einer magischen Rüstung, während Bastonata und Ehrenpreis ihre Tierahnen ins sich weckten und sich wandelten. Beide duckten sich hinter ein paar Frachtkisten und versuchten, möglichst günstige Verteidigungspositionen auszumachen.
Q'arion betrachtete noch einen Augenblick das sie verfolgende Luftschiff, dass nun alle Ladeluken geöffnet hatte und weitere Jollen in die Luft entließ. „Da kommen noch mehr“, sagte er mehr zu sich selbst, als zu den anderen.
Und es ergriff ihn jene tiefe Ruhe, die stets dann kam, wenn es einen aussichtslosen Kampf zu kämpfen galt. Er wählte einen Pfeil und legte ihn auf.
Der Tod kam.
Und das war gut so.
Das Oberdeck war nun wie leergefegt. Nur noch einige Besatzungsmitglieder sowie die Abenteurer nebst Ehrenpreis Löwenzahn waren geblieben und erwiderten das Feuer, als plötzlich ein dumpf und durchdringend schwirrender Laut erscholl, und gleich darauf noch einer. „Geschützfeuer!“ informierte Löwenzahn laut rufend, „Das sind unsere Bordwaffen!“
Bastonata wagte einen Blick nach hinten und erblickte den Valenar, der seelenruhig am Heck stand und einen Pfeil nach dem anderen gegen die Angreifer feuerte. In diesem Augenblick konnte sie nicht anders, als diesen verrückt gewordenen Elf zu bewundern, dem das Wort „Furcht“ offenbar völlig fremd war, und der mit dieser spielerischen Leichtigkeit jedem Pfeil mit sparsamen, sich nur auf das Allernötigste beschränkenden Bewegungen auswich.
Neben Yelenath schlug ein kleiner, vierarmiger Handanker ein, rutschte über das Deck und hakte sich in der Reling fest, während er Magier erschrocken zur Seite sprang. Das Seil, an dem der Anker befestigt war, straffte sich über das Schwebeholzgeländer irgendwohin, und plötzlich sahen sich die Barbarin, Ehrenpreis, Yelenath und Spange fünf finsteren Gestalten in einer Jolle gegenüber, denen das andere Ende des Ankerseils gehörte. Sofort machten die sich daran, die Wolkenschicksal zu entern. Sie waren in nahezu schwarze Lederwämse und ebenso geschwärzte Kettenhemden gekleidet. Darüber trugen sie dunkelgrüne Umhänge.
Der Schurke wurde blass, als er die kleine Klammer erblickte, die den Umhang seines Gegenübers zusammenhielt.. Das Symbol, das sie darstellte, hatte er schon einmal gesehen, damals im Rotbruch. Es war wie eine vertrocknete Hand geformt, die einen kleinen grünen Edelstein umklammerte.
Seine Stimme überschlug sich fast, sein Mund wie von selbst jenes Wort hinaus schrie, dessen Klang selbst einem das Blut in den Adern gefrieren lassen konnte: „Smaragdklaue!“
Dreißig Sekunden später hatten vier kleine Boote an der
Wolkenschicksal festgemacht und spien Luftpiraten aus, die ohne zu zögern begannen, jeden dahinzumetzeln, der sich ihnen in den Weg stellte. Unterstützt wurden sie dabei von einem fünften Boot, das das Lyrandar-Schiff umkreiste und immer wieder Bolzen niederregnen ließ, und binnen kurzem hatte die Smaragdklaue die Oberhand über das Deck.
Q'arion bewegte sich wie in Trance. Geradezu spielerisch tauchte er unter einem Hieb hinweg und bewegte seine Klingen mit einem beinahe zärtlichen Streich durch die Oberschenkel des Kriegers. Obwohl er wusste, das bereits diese Verletzung seinen Gegner kampfunfähig machen würde, führte er seine Bewegung fort, nahm beide Schwerter in den Unterhandgriff, stieß aus der Drehung heraus mit beiden nacheinander nach hinten zu und ließ zuerst das eine, und schließlich auch das andere tief in dessen Körper eindringen. Es war ein Augenblick tiefer Reinheit mit sich und seinem Erbe, als er sich auf die Knie fallen ließ, so dass sich die Schwerter im Körper des Feindes noch einmal umdrehen konnten. Erst dann zog er sie heraus und spürte einen Augenaufschlag lang das warme, samtene Gefühl eines dicken Strahls von Blut, der ihn durchtränkte, während die Smaragdklaue hinter ihm tot zusammenbrach.Bastonata und Ehrenpreis hatten es irgendwie geschafft, sich bis hier zum Hauptzugang zum Inneren zurückzuziehen, während die Angreifer immer näher kamen. Immer wieder mussten sie kleinere Vorstöße zurückschlagen, die die Verteidiger aus ihrer Position locken sollten, doch hier waren wie wenigstens vor den Bolzen sicher. Und dennoch: Angriff um Angriff schlug Wunde um Wunde, und es war klar, dass die Gegenwehr erlahmen würde. Es war nur eine Frage der Zeit.
Die Halbwerbärin packte ihre Axt ein wenig fester. Nun gut, dachte sie grimmig. Dann würden sie eben ihre Haut so teuer wie möglich verkaufen.
Da kam Spange kreuz und quer über das Deck gesprungen. Immer noch arg geschwächt von seiner Gefangenschaft versuchte er so gut es ging, den Bolzen und Hieben der Streitflegel auszuweichen.
Er sollte nicht weit kommen.
Plötzlich steckten zwei Schäfte in seinem Körper und er brach leblos zusammen, während einer der Krieger sich über ihm aufbaute, um ihm mit seinem Flegel den Schädel zu zertrümmern.
Bastonata brüllte vor Zorn auf. Alles in ihr brüllte auf, Urväter und Mütter, Generation um Generation. Und dann war es, als würde sie sich in einen Schemen verwandeln, als sie sich bewegte. Sie schnellte mit einem Satz nach vorn, während sich die Zeit um sie herum zu verlangsamen schien. Nichts schien mehr wichtig. Und sie brauchte nicht einmal etwas dafür zu tun. Es geschah einfach.
Als der Krieger seine Abwärtsbewegung begann, wusste sie, dass sie zu spät kommen würde. Sie würde Spange nicht retten können.
Doch irgendetwas war nicht richtig. Die Bewegungen dieser Smaragdklaue wirkten plötzlich seltsam fahrig und unkoordiniert. Fassungslos wurde Bastonata langsamer. Tatsächlich sah sie seine Augen sich plötzlich ungläubig weiten.
Plötzlich explodierte sein Rücken. Es sah aus, wie ein kleines, funkenstiebendes, blaues Feuerwerk. Der Kämpfer wurde nach vorn geworfen, stolperte über den bewusstlosen Spange und blieb reglos liegen. Kleine, blaue Flammen züngelten an verkohltem Fleisch um einen einzelnen, rotgefiederten Bolzen herum, während die Welt begann, sich wieder normal weiterzudrehen.
Bastonata sah auf den Krieger und dann in die Richtung, aus der er gekommen war.
Und dann blieb ihr der Mund offen stehen.
Der Bolzen war von einer Armbrust gekommen, deren Träger noch immer auf einem der Enterboote stand. Er trug die Kleidung der Smaragdklaue, war aber klein und zierlich gebaut. Und sie kannte ihn. Er war Kleriker der Vol und ein Gnom.
Und er hieß Ätzelbert Adalmar Alfenfetzer.
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Kapitän Rarwog beobachtete den Kampf von der Jadezorn aus durch das Fernrohr, das seinem Vorgänger gehört hatte, und der jetzt irgendwo tot in den Baumwipfeln des Königswaldes in Breland hing. Doch was er sah, gefiel ihm nicht. Er hätte es wissen müssen. Sein Neuzugang hatte anscheinend noch nichts über die Regeln der Loyalität gelernt und über das, was einem blühte, wenn man gegen sie verstieß. Er beschloss, es ihm bei Gelegenheit beizubringen.
Der Verrat des kleinen Gnomes machte die Situation allerdings ein wenig komplizierter, denn er hatte es geschafft, den Mut der Besatzung der Wolkenschicksal neu anzufachen. Und dennoch. Die Übermacht und Kampferfahrung seiner Leute würden den Sieg in dieser Schlacht bringen, auch wenn die Verteidiger verbissen und mit dem Mut der Verzweiflung kämpften. Rarwog war es nur recht. So würde es mehr Tote geben. Opfer für die Göttin des Blutes.
Wieder fiel sein Blick durch das Fernglas auf den kleinen Kleriker. Und als der seine Arme hob, um ihrer beider Göttin Kraft anzurufen, richtete er sich gespannt auf. Ätzelbert zeigte mit dem Finger in eine Richtung und schien die empfangenen Kräfte fließen zu lassen.
Und plötzlich wallte ohnmächtiger Zorn in Rarwog auf. Kleine graue Schatten huschten über sein Gesicht, das sich einen Augenblick lang ständig zu verändern schien. Das da, dachte er, wurde gerade zu einem Fiasko.
Denn auf Ätzelberts Zauber hin hatte sich auf dem Beiboot, das die Wolkenschicksal umkreiste und deren Deck mit Armbrustbolzen eindeckte, eine Schreckenshyäne materialisiert, die nun den Steuermann der Jolle angriff. Rarwog konnte nur noch zusehen, wie das kleine Boot nun unkontrolliert zu schlingern begann und schließlich über den Bug nach vorn abkippte, eine Drehung vollführte und plötzlich der Jadezorn bedrohlich nahe kam.
Der Pirat konnte seine Leute sogar entsetzt schreien hören, während die Jolle wild umhertaumelnd unter seinem Luftschiff im Dunkeln verschwand und nur ein entferntes Krachen darauf hinwies, dass es auch nicht wieder auftauchen würde. Wütend schüttelte Rarwog die Faust nach dem Gnom, doch es gab nichts, was er von hier aus tun konnte.
Oder doch...
„Beschleunigen und auf Kollisionskurs gehen“, knurrte er den Steuermann an, der völlig verängstigt sofort gehorchte. In Rarwogs Augen blitzte es boshaft, während er hasserfüllt und von kaum zu beherrschender Wut gepackt, der Wolkenschicksal hinterher stierte.
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Q'arion sah es als erster. „Sie werden uns rammen“, sagte er gleichmütig, als wolle er sagen, dass es gleich Regen gäbe.
Und plötzlich schien niemand mehr an Deck so richtig kämpfen zu wollen. Alle schauten gebannt nach hinten, wo sich plötzlich ein heruntergekommenes Ebenbild des stolzen Lyrandar-Luftschiffes aufbaute, das sich aus dieser unmittelbaren Nähe plötzlich gewaltig ausnahm. Für einen Augenblick war nur ein an- und abschwellendes Fauchen zu hören, ausgehend von dem Feuerelementar der Wolkenschicksal und dem Luftelementar der Jadezorn, die beide ein unheimliches Flackerlicht am Nachthimmel erzeugten.
Es ist bekannt, dass in solchen Situationen immer eine dramatische Pause zu entstehen pflegt. Eine Pause, in der alle Bewegung zu einer Art Stillstand kommt und eine große Stille alle umgibt, die - wenn überhaupt - nur kurz durch das heisere Krähen eines fernen Bussards durchbrochen wird.
In diesem Fall war da kein heiseres Krähen. Kein Laut, der die große Stille durchbrach.
Dann kollidierten die Schiffe.
Der Ruck war so gewaltig, dass praktisch niemand, der sich nicht irgendwo festhalten konnte, von den Füßen gerissen wurde. Bereits dieser erste Schlag reichte aus, um mehrere arme Teufel über Bord in die Tiefe zu schicken. Ladungsteile kamen ins Rutschen und fegten wie Geschosse über das Deck, wobei sie weitere Leute umrissen und am nächstbesten Widerstand zerquetschten. Alles flog durcheinander, während sich die beiden gigantischen Rümpfe ineinander verkeilten. Die Vorrichtungen, die die Elementare unter Kontrolle halten sollten, barsten unter dem immensen Druck und entließen die an sie gebundenen Kreaturen aus ihrer Gefangenschaft, wobei sie selbst Feuer fingen, das sich nun rasch auszubreiten begann. Und schließlich neigte sich alles in eine schwere Schlagseite und begann die tödliche Fahrt nach unten, dem Boden entgegen.
„Die Beiboote“ schrie Ätzelbert und versuchte das ihm nächstgelegene zu erreichen, dicht gefolgt von Spange und Yelenath. Bastonata hingegen war ein ganzes Stück in Richtung Bug geschleudert worden und hatte sich gerade noch rechtzeitig an einer sich aufbiegenden Planke festhalten können. Kurz registrierte sie, dass dort, wo sie sich eben noch befunden hatte, nun der Bugspriet des anderen Luftschiffes durch das Deck gebrochen kam, an mehreren Stellen grotesk beklebt von den Leichen soeben zerquetschter Passagiere.
Mühsam rappelte sie sich auf und schaute sich hastig um. Es waren doch mehrere Boote gewesen! Sie begann, so schnell es ging, wenigstens eines von ihnen zu finden. Tatsächlich! Gleich dort drüben hing noch eines an der Reling! Sie konnte es schaffen, sie brauchte nur ein wenig Glück! Der stärker werdende Fahrtwind zerrte an ihr, während sie sich vorwärts kämpfte und mehrmals wurde sie wieder umgeworfen, wenn wieder ein Zittern durch das abstürzende Wrack ging.
Plötzlich registrierte sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Und als sie aufsah, stand plötzlich der Vampir vor ihr und zwinkerte ihr zu.
Ihr rutschte das Herz in die Hose.
Alleine würde sie nicht den Hauch einer Chance haben.
Lucan sah sie eine Sekunde lang an, und diese eine Sekunde wurde zu einer Ewigkeit. Schließlich sagte er: „Nicht heute, meine Liebe. Aber irgendwann wird es soweit sein. Verlass dich drauf!“
Und dann sprang er einfach so ab und verschwand in der Dunkelheit.
Bastonata kämpfte sich weiter voran. Schließlich war sie nur noch Zentimeter von der Reling und vom Beiboot entfernt, als die Neigung des Schiffe plötzlich zunahm und sie den Halt zu verlieren begann. Verzweifelt tastete sie nach einem Halt, und sei es nur ein kleiner Spalt im Holz, um ihre Krallen hineinzuschlagen. Wieder und wieder fuhren ihre Finger über das Holz. Doch es half nichts. Langsam aber sicher begann sie an Halt zu verlieren. Panik überkam sie. Bitte, dachte sie, bitte nicht!
Ein Laut drang an ihre Ohren, als käme er aus weiter Ferne. Ihre Ahnen! Sie mussten es sein! Sie riefen sie! Bastonata, riefen sie. Nimm verdammt nochmal meine Hand!
Verwirrt sah sie auf. „Zum Henker, mach schon! NIMM ENDLICH MEINE HAND!“ Q'arions Stimme überschlug sich, als er sie aus Leibeskräften anschrie. Und endlich verstand sie. Sie ergriff die Hand im letzten Augenblick, gerade als auch das letzte bisschen Halt verloren ging.
Niemals im Leben vor- oder nachher sollte sie je einem Valenar-Elf so dankbar sein wie jetzt, als sie das Halteseil kappte und das Boot mit dem Fuß abstieß.
Nur Sekunden später war der Boden heran.
Die Luftjollen flogen in weiten Schleifen davon und krachten in einiger Entfernung in den Wald.
Der unmittelbar darauf folgende Krach war ohrenbetäubend, als sich die beiden Wracks in den Boden eingruben und ihn halb umpflügten, während entwurzelte Bäume davonflogen. Durch den Aufprall verloren sie nun auch noch das letzte Bisschen Kontinuität und schoben sich gänzlich ineinander, wobei sie eine breite Schneise der Verwüstung zurückließen. Doch schließlich kam der ganze Haufen magischen Holzes zum Stehen.
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Ähm ja. Anmerkung: Irgendwann hatte ich einfach keine Lust mehr, die Schiffsnamen als italics zu kennzeichnen...