Prolog: Topas' TagEs war früher Morgen, als die Kettenbrecher nach Cauldron zurückkehrten. Sie hatten die Nacht in der idyllischen Umgebung verbracht, die ihre
Sicherheitsrute beschwor. Dirim hatte darauf bestanden, vor Sonnenaufgang zurückzukehren. Schließlich war der dreizehnte Eleasias nicht nur der Tag der Gebrochenen Ketten. In der Tyrkirche wurde zugleich die »Verstümmelung« gefeiert, der Moment, als Tyr den Chaoshund Kezef in die Falle lockte und dafür seine rechte Hand opferte. Außerdem war der dreizehnte Eleasias der Tag des »Göttlichen Opfers«, an dem Torm den bösen Gott Tyrannos im Zweikampf besiegte und dabei selbst sein Leben ließ. Da der Tempel in Cauldron sowohl Tyr, als auch Torm und Ilmater geweiht war, musste Dirim auch diesen Feiertag begehen. Und gefeiert wurde in der Kirche mit Sonnenaufgang.
Und so fanden sich die Kettenbrecher im Untergeschoss des Tyrtempels wieder, noch bevor der Hahn gekräht hatte. Im Tempel herrschte dennoch große Geschäftigkeit, und Dirim blieb gerade Zeit für ein oberflächliches Bad und ein schnelles Umziehen in die rituellen Roben, bevor das Gebet rief.
Auf dem Weg zur Kapelle bemerkte Dirim das Eintreffen eines Fremden. Es war ein Mann, ein Mensch – ein Ritter. Der Mann trug eine schwere und glänzende Rüstung und hatte einen Zweihänder quer über den Rücken geschnallt. Auf der Brust der Rüstung prangte ein offener Panzerhandschuh, das Zeichen Torms. Der Mann sah aus, als habe er eine lange Reise hinter sich.
»Bruder Dirim«, rief der Mann über den Hof. Er kam näher. »Ihr seid doch Dirim Gratur?«
»Der bin ich.«
Der Mann betrachtete Dirims loderndes Auge mit skeptischem Blick, sagte aber nichts dazu. »Ich bin die ganze Nacht geritten. Bin ich zu spät fürs Gebet?«
»Nein. Wir wollten gerade anfangen.«
»Tymora sei Dank.« Der Mann zog den Helm ab und schüttelte langes, blondes Haar. »Ich bin Josric Bahlanz, Paladin von Torm. Ich komme von den Barakmordin mit einer Nachricht für euch.«
»Kommt erst mal mit in die Kirche«, sagte Dirim. »Reden können wir später.«
Die Kapelle blieb relativ leer; außer den Barakmordin war höchstens eine Handvoll von Menschen gekommen, um zu beten. Tomker beschwor die Illusion einer abgeschlagenen Hand, die blutend durch die Luft flog und sich kreiselnd entfernte. Dann hielt Josric das traditionelle Tormgebet für diesen Tag, und schließlich sang man gemeinsam ein paar Choräle. Anschließend bat Dirim Josric ins Nebenzimmer.
»Nun?«, fragte er. Der Paladin überreichte ihm einen Brief. Dirim entrollte ihn und las:
Dirim Gratur, Richtschwert von Tyr,
wieder einmal ersucht ihr uns um Hilfe. Wieder einmal habt ihr schlimme Befürchtungen. Und gleichzeitig erwähnt ihr nicht, dass ihr mit Wortbrüchigen unter einem Dache wohnt. Ich kann nur hoffen, dass euch die Problematik nicht bewusst ist. Beregard von Tyr und seine Mannen haben den ausdrücklichen Befehl des Ordens missachtet. Ihnen allen droht die Exkommunizierung aus dem Orden der Barakmordin.
Der Befehl, den sie missachteten, gebot ihnen, Cauldron zu verlassen und an einen anderen Ort zu gehen, wo der Orden sie benötigte. Ich gehe nicht davon aus, dass ihr sie umstimmen könnt, wenn ihr es denn wollt, aber ihnen gebührt kein Obdach mehr im Hause des Ordens.
Wir erwarten, von Euch einerseits zu hören, dass die Wortbrüchigen aus dem Tempel entfernt wurden, und andererseits Beweise für die Not der Stadt zu sehen. Ich habe diesen Brief meinem vertrauten Schüler Josric mitgegeben, auf dass er sich selbst vom Zustand überzeuge, der in Cauldron herrscht.
Bedenkt auch Ihr, dass der Tempel der Dreifaltigkeit im Besitz der Barakmordin ist, und auch ihr nur Gast darin.
Möge Tyr Eure Schritte leiten.
Rächer Gernot FeilbrotDas war nicht, was Dirim erwartet hatte. Er blickte auf. »Erwartet Ihr eine Antwort?«
»Um ehrlich zu sein, habe ich noch eine persönliche Botschaft von Rächer Feilbrot für euch. Sie darf diese Räumlichkeiten nicht verlassen – ihr müsst mir versprechen, sie geheimzuhalten.«
»Versprochen.«
Josric nickte. »Der Rächer teilt euch folgendes mit:
Der Krieg gegen Calimshan scheint unausweichlich, aber das bedeutet nicht, dass andere Gefahren unwichtig würden. Manchmal wirkt es, als hätten die Bürokraten den Orden übernommen. Macht weiter so.«
Dirim nickte zufrieden. Das klang schon besser. »Und was habt ihr jetzt vor?«
»Ich werde ein paar Tage in der Stadt bleiben, um mir ein Bild zu verschaffen. Ich schlage mein Lager bei den ›Soldaten‹ auf, die ihr angeheuert habt. Dann kehre ich ins Kloster zurück, um Bericht zu erstatten.« Josric lächelte. »Zuerst aber würde ich gerne baden und etwas ruhen.«
»Dann will ich euch nicht länger aufhalten«, sagte Dirim. »Danke.«
Josric Bahlanz verneigte sich und verließ das Zimmer. Dirim blieb noch einen Moment sitzen, aber dann begab er sich zu seinen Freunden, um sich für den Feiertag vorzubereiten.
-
Der Tag der Gebrochenen Ketten war eine willkommene Gelegenheit für die Bürger Cauldrons, sich zu amüsieren. Es gab viele wandernde Händler, und Bier floss noch reihhaltiger als sonst. In Ermangelung eines festen Ritus waren nur drei Ereignisse geplant. Zur Mittagszeit würden die Kettenbrecher an einem Ratespiel teilnehmen, danach sollte Mellianor Silberzunge erste Ausschnitte aus einem Theaterstück über die Kettenbrecher zeigen, und schließlich gab es gegen Sonnenuntergang noch eine Überraschung, von der bislang kaum jemand wusste, was geschehen sollte.
Überall in der Stadt sah man Menschen, die sich Brezeln wie eine Kette um den Hals gehängt hatten. Diese wurden von Freunden, Fremden und Geliebten angeknabbert, »gebrochen«. Jørgen schmunzelte über diesen Brauch.
Auf dem Marktplatz hatten Handwerker eine Bühne errichtet. Für den ersten Programmpunkt wurden vier Hocker auf die Bühne gestellt und eine Trennwand errichtet, die einen der Hocker von den anderen dreien trennte. Dann erschienen Dirim, Boras und Thamior auf der Bühne. Die Menge applaudierte. Nun folgten drei ansässige Barden: der Halbork Brultak Runenhauer,ein Trommler und Erzähler von Kriegsgeschichten, der Elf Tunianan, der sonst mit tanzenden Kobolden auftrat, und der Zwerg Benek Thanduur, ein Mitglied des Thanduurquartetts, Musikanten von traditionellen zwergischen Opern. Schließlich betrat der Gnom Topas die Bühne und richtete sich an die Menge.
»Willkommen, Bürger von Cauldron. Seid ihr bereit für Spaß?« Die Menge johlte. »Erst einmal einen großen Dank an die Kettenbrecher, die sich bereit erklärt haben, bei diesem Spiel mitzumachen, und natürlich an die tapferen Barden.« Erneuter Applaus. »Ihr fragt euch sicher, was hier passieren wird? Ganz einfach! Drei junge, schöne und,« Topas zwinkerte den Kettenbrechern zu, »willige Mädchen haben heute die Gelegenheit, einen Kuss und ein Andenken von den Kettenbrechern zu erhalten. Aber das wird nicht sehr einfach! Wir werden gleich einen der Kettenbrecher mit zwei von unseren Barden auf dieser Seite der Wand platzieren. Dann kommt unsere Kandidatin auf die andere Seite. Sie hat drei Fragen, um herauszufinden, welcher der drei hinter der Wand der Kettenbrecher ist. Dabei versuchen unsere Barden natürlich, es ihr besonders schwer zu machen. Liegt sie richtig, kriegt sie einen Kuss. Liegt sie falsch...« Topas zögerte. »Na ja, dann muss sie mit mir vorlieb nehmen.« Das Publikum lachte. »Und damit es nicht ganz so einfach ist, werden die Kandidaten mir ihre Antworten ins Ohr flüstern, und ich gebe sie dann an euch weiter. Es kann also niemand an der Stimme erkannt werden. Seid ihr bereit? Dann holen wir jetzt also die erste Kandidatin auf die Bühne!«
Spoiler (Anzeigen)Ich habe die folgenden Fragen den Spielern gemailt, mir selbst zwei Antworten überlegt und erst dann die Antworten der Spieler eingefügt. Die Spieler wussten i.Ü. nicht, worum es ging. Beim Spiel selbst haben dann die anderen Spieler die Rolle der Damen übernommen, d.h. sie mussten raten, wer der Kettenbrecher war.
Dirim und Thamior verließen die Bühne, gemeinsam mit Benek Thanduur, und von der anderen Seite betrat eine junge Frau dieselbe, eine gut gebaute Rothaarige mit Sommersprossen. Nach einem kurzen Gespräch stellte sie die erste Frage.
»Ich liebe Tiere, und ich habe immer welche um mich herum. Welches Tier bringst du zu unserer Verabredung mit?«
Topas ging auf die andere Seite und hörte sich die Antworten an. Dann wandte er sich ans Publikum.
»Kandidat Eins sagt: Einen Schreckenswolf.«
»Kandidat Zwei sagt: Ein Stinktier.«
»Kandidat Drei sagt: Einen Geier.«
Das Mädchen runzelte die Stirn. »Das hilft mir nicht. Kandidat Zwei: Wir sitzen in einer Kneipe, und ein Typ macht mich die ganze Zeit an. Eine Kneipenschlägerei würde jedoch den Abend verderben. Was tust du?«
»Kandidat Zwei sagt: Ich geh mit ihm vor die Tür und prügele mich da.«
»Kandidat Drei sagt: Dich über die Schulter werfen und das Lokal verlassen.«
»Kandidat Eins sagt: Ich schlage ihm die Rübe ab, dann ist schnell Ruhe.«
Das Mädchen lächelte. »Ich glaube, ich habe schon eine Idee. Letzte Frage. Kandidat Drei: Man sieht dich ja nie ohne Rüstung, aber in meinem Schlafzimmer brauchst du die natürlich nicht. Was trägst du denn drunter?«
Das Publikum johlte und pfiff, während Topas die Antworten einholte.
»Kandidat Drei sagt: Ich befürchte eine Art abgetragenen, übelriechenden Lendenschurz.«
»Kandidat Eins sagt: Einen schweren Streitkolben.«
»Kandidat Zwei sagt: Einen Wams aus dem Stoff, aus dem die Träume sind.«
Topas ging zurück zu dem Mädchen. »Also, wer soll es sein? Kandidat Eins, der einen Schreckenswolf mitbringt und mit einem Axthieb für Ruhe sorgt, bevor er seinen schweren Streitkolben auspackt? Oder Kandidat Zwei, der ein Stinktier in der Tasche hat, sich mit Störenfrieden vor der Kneipe prügelt und den Stoff trägt, aus dem die Träume sind? Oder Kandidat Drei, mit dem abgetragenen Lendenschurz, der einen Geier im Gepäck hat und dich über die Schulter schwingt, wenn es Ärger gibt?«
Spoiler (Anzeigen)
Das Mädchen lächelte. »Ich nehme Kandidat Zwei.«
Das Publikum gab Enttäuschungslaute von sich. Kandidat Zwei war der Elf Tuianan; Boras war Kandidat Drei gewesen.
Sodann wurde auf der Bühne gewechselt, und Boras und Tuianan wurden von Dirim und Benek abgelöst. Eine junge Gnomin betrat die Bühne.
»Oho«, sagte Topas. »Hoffentlich findest du Dirim nicht – ich tröste dich dann gerne!«
Das Mädchen lächelte und nahm auf dem hohen Hocker Platz. »Kandidat Eins: Unsere erste Verabredung steht an. Was tust du, um mich zu beeindrucken?«
»Kandidat Eins sagt: Ich singe dir eine zwergische Oper.«
»Kandidat Zwei sagt: Ich gebe dir eine kurze Einführung in die Sinnhaftigkeit der wahren Gerechtigkeit.«
»Kandidat Drei sagt: Wir gehen spazieren, damit die Leute dich beneiden können.«
»Hm. Na gut, nächste Frage. Kandidat Zwei, wir treffen uns für ein romantisches Abendessen – du kochst. Was gibt es?«
»Kandidat Zwei sagt: Mimic-Gulasch mit einem Bier aus einem besonderen Pulver.«
»Kandidat Drei sagt: Bier und Schweinebraten.«
»Kandidat Eins sagt: Wir trinken warmes Selbstgebrautes im Schein meines Auges.«
Die Gnomin schüttelte unsicher den Kopf. »Kandidat Drei: Wir sind zu Besuch bei meiner Mutter. Du stellst fest, dass der Rauch aus deinem Auge ihre geliebten Vorhänge beschmutzt. Was tust du, um den Tag zu retten?«
»Kandidat Drei sagt: Ich bezahle ihr die Reinigung.«
»Kandidat Eins sagt: Ich öffne das Fenster und erkläre ihr, dass mein Auge das Böse verbrennen soll, und nur Bösewichte stören sich daran.«
»Kandidat Zwei sagt: Ich nehme dich und deine Mutter mit nach Occipitus und zeige ihr die Kathedrale der Federn.«
Topas kam zurück auf die andere Seite. »Also, wer soll es sein? Kandidat Eins, der dir Opern singt, mit dir im Schein seines Auges Bier trinkt und deine Mutter davor warnt, sich an seinem Auge zu stören? Oder Kandidat Zwei, der dich über Gerechtigkeit aufklärt, dir Gulasch und Pulverbier gibt, und dich und deine Mutter auf eine Ebenenreise mitnimmt?«
Spoiler (Anzeigen)Die Gnomin lächelte. »Ganz klar! Kandidat Nummer Zwei!«
Das Publikum jubelte. Die Wahl war korrekt, Benek war Kandidat Eins und Brultak der Dritte gewesen. Dirim kam hinter der Wand vor und gab der errötenden Gnomin einen Schmatzer auf die Nase, bevor er ihr erlaubte, einmal seinen Bart zu streicheln. Jørgen wandte sich an Belandrus: »Dirim ist ein Schlingel! Er hat absichtlich mit Details um sich geworfen, die sonst keiner kennen kann!«
»So sind sie halt, die Rechtsverdreher«, gab Belandrus lakonisch zurück. »Tyr ist bestimmt stolz auf ihn.«
Schon war die dritte Kandidatin auf der Bühne, eine schlanke Halbelfe. Sie winkte ins Publikum. Auf der anderen Seite wurden Dirim und Brultak durch Thamior und Tuianan ersetzt.
»Kandidat Eins: Wir sind zu einem romantischen Treffen verabredet, aber du kommst zu spät. Warum, und was machst du als Entschuldigung?«
»Kandidat Eins sagt: Es war etwas Wichtiges, aber zum Ausgleich lasse ich meinen Bogen etwas singen.«
»Kandidat Zwei sagt: Ich war auf der Jagd, und als Wiedergutmachung schenke ich dir eine Trophäe, etwa den Zahn eines erschossenen Drachens.«
»Kandidat Drei sagt: Solange wir beide nicht gleichzeitig ankommen, ist immer einer zu spät. Das nächste mal wirst du es sein, versprochen.«
Die Halbelfe lachte mit dem Publikum, als die dritte Antwort kam. Dann stellte sie grinsend die nächste Frage. »Kandidat Zwei: Wir feiern unser einjähriges Jubiläum, und du möchtest mir etwas ganz Besonderes schenken, das mich an dich erinnert. Was schenkst du mir?«
»Kandidat Zwei sagt: Einen kleinen Baum für deinen Garten.«
»Kandidat Drei sagt: Einen Strauss wilder Blumen, geschmückt mit ein paar schönen Vogelfedern. Natürlich alles nur von der edelsten und äußerst schwer zu besorgenden Sorte.«
»Kandidat Eins sagt: Die Kralle eines Holzfalkens, und jedes weitere Jahr bekommst du ein neues Teil, bis nach fünfzig Jahren der Falke fertig ist.«
»Ooh«, machte das Publikum, sichtlich angetan von der romantischen Idee.
»Kandidat Drei: Kurz vor dem Besuch bei meinen Eltern beichte ich dir, dass ich eine Waise bin und von Riesen aufgezogen wurde. Wie reagierst du?«
»Kandidat Drei sagt: Erstmal erstaunt. Dann skeptisch und ungläubig. Dann hoffend, daß es Wolkenriesen oder ähnlich neutrale oder gute Abkömmlinge von Riesenvölkern sind. Zum Schluß, sollte es sich als die Wahrheit entpuppen und meine Hoffnung nicht erfüllt werden, werde ich einen – wahrscheinlich echt miesen – Vorwand suchen, nicht mitzukommen. Das alles hält mich natürlich nicht davon ab, dir nachzuschleichen und die Wahrheit auszukundschaften.«
»Kandidat Eins sagt: Entweder besuchen wir deine Eltern gar nicht, oder – wenn es dir wichtig ist – ein einziges Mal.«
»Kandidat Zwei sagt: Ich besuche deine Eltern – aber ich nehme den Bogen mit!«
»Also, meine Hübsche«, sagte Topas. »Wer ist es nun? Kandidat Eins, der zwar nicht sagt, warum er zu spät kam, aber seinen Bogen etwas singen lässt, während er die einen Falken zum Selberbauen schenkt und deine Eltern höchstens ein Mal besucht, oder Kandidat Zwei, der dir einen Baum schenkt, dir eine Trophäe von der Jagd mitbringt und deine Eltern nur mit Bogen besucht? Oder ist es Kandidat Drei, der mit Unglauben und Vorwänden auf deine Eltern reagiert, dir das Zuspätkommen verspricht und dir wilde Blumen schenkt?«
Spoiler (Anzeigen)Die Halbelfe überlegte. »Eins... oder zwei? Nein, es ist Kandidat Zwei!«
Das Publikum war enttäuscht. Kandidat Zwei war Benek der Zwerg. Thamior war Nummer Drei gewesen.
»Sieht so aus«, sagte Topas lachend, »als seien die Kettenbrecher zwar berühmt – aber so richtig bekannt wohl doch nicht!« Er wandte sich an die Helden. »Ihr müsst euch einfach öfter mit jungen Mädchen treffen!«
-
Hatte dieses Ratespiel schon für große Heiterkeit gesorgt, so war das noch kein Vergleich zu dem Gelächter, dass der zweite Programmpunkt hervorrief. Gut eine Woche war es her, dass Mellianor Silberzunge damit beauftragt worden war, ein Theaterstück über die Kettenbrecher zu schreiben. In dieser Zeit hatte er natürlich nicht sehr viel fertigstellen können. Man merkte den Szenen ihren unfertigen Charakter an, als vier entscheidende Szenen vorgestellt wurden. Zunächst sah man die Kettenbrecher, wie sie sich vor Keygan Ghelves Schlosserei ihren Namen gaben, und dann sah man sie im Kampf gegen die Fluten. Daraufhin sah man, wie sie den Eid auf die Stadt ablegten, und schließlich dann, wie Boras und Thamior um die toten Dirim, Thargad und Helion trauerten.
Aber nicht (nur) die Qualität der Szenen sorgten für Lacher, sondern vor allem die Tatsache, dass Mellianor Silberzunge auf eine lokale und frisch aus der Taufe gehobene Schauspieltruppe zurückgegriffen hatte, die »Burschen des Barons«. Der Baron, so schien es, war ein Luftmephit mit Größenwahn, und seine Truppe bestand aus Kobolden, Goblins und ähnlichen, selteneren Geschöpfen. So wurde die steigende Flut von einem Biergnom dargestellt, beziehungsweise von dem Bier, in das er sich verwandelte. Der Baron selbst hatte es sich nicht nehmen lassen, den Stadtherren und Fürst Valanthru in einer Doppelrolle zu übernehmen. Die Kettenbrecher wurden von Kobolden dargestellt, mit Ausnahme von Helion, welcher ein Goblin, und Boras, welcher ein winziger Troll waren. Und dann gab es noch explodierende Ratten, die keinen besonderen Zweck zu erfüllen schienen – aber sie explodierten, und das genügte.
Nach dieser eher modernen Interpretation von Theaterkunst nahm das Fest seinen normalen Lauf, bis kurz vor Sonnenuntergang ein Glockensignal gegeben wurde. Daraufhin holten die Bäcker der Stadt lange Ketten aus frisch gebackenen Brezeln hervor, die durch die Straßen gespannt wurden. Als die Sonne den Horizont berührte, bissen die Bürger der Stadt wie auf Kommando zu und brachen so die Ketten der Stadt.
-
Am Abend fanden sich die Kettenbrecher wieder im Tyrtempel zu einem letzten Gespräch ein, bevor Jørgen sich in den Trunkenen Morkoth zurückziehen würde.
»Das war ein schöner Tag«, sagte Dirim. »Ich frage mich, wer auf die Ideen gekommen ist?«
»So weit ich weiß«, sagte Thamior, »war es dieser Gnom. Topas.«
»Er hat den Namen eines Edelsteins«, sagte Boras. »Wie die Schätze Tethyrs.«
»Auf jeden Fall hat er gute Ideen«, sagte Jørgen.
»Ein Klassetyp«, stimmte Belandrus zu. »Absolut.«
»Wenn ich ihn wiedersehe, muss ich ihm danken«, sagte Dirim. »Aber jetzt bin ich erst mal ziemlich müde. Asfelkir Hranleurt hat ewig auf mich eingeredet, dass ich ihn ja morgen bei Sonnenaufgang am Lathanderschrein treffen soll.«
»Warum denn da?«
»Oh, es geht um... ein Projekt, dass ich plane«, wich Dirim aus. »Gehen wir schlafen.«
Die Kettenbrecher zogen sich in ihre Gemächer zurück. Heute, das hatten sie im Gefühl, passierte nichts Schlimmes mehr.
Dirim würde wahrscheinlich darauf hinweisen, dass nach Mitternacht ein neuer Tag begönne, und sie ihr Gefühl darum nicht betrogen hätte. Aber das wäre Wortklauberei...