Und hier der "Rest" des Kapitels:
Zwischenspiel: Peripetie
Rufus führte sie durch das große Kirchenschiff. Wo man sonst immer den einen oder anderen Bewohner antreffen konnte, standen jetzt nur eine Handvoll schwer gerüsteter Priester Wache. Die Kettenbrecher bewegten sich geradewegs auf die Katakomben zu. Im Gegensatz zur üblichen Verbrennung bestattete die Helmkirche ihre Toten in einem Höhlensystem unter der Kirche. Es hieß, in Zeiten höchster Not würden diese ehrenhaften Männer und Frauen wiederauferstehen und der Stadt zu Hilfe eilen. Es sah jedoch nicht so aus, als hätten sie es getan.
Als sie den Eingang in die Katakomben erreichten, griff sich Rufus Laro eine Fackel von der Wand. Ohne sich umzudrehen, begann er den Abstieg auf der schmalen Wendeltreppe. Die Kettenbrecher folgten. In den Katakomben lag auch Annastriannas Leichnam begraben, eine Ehrbezeugung der Wächterkirche.
Die Kettenbrecher und der Priester stiegen tief hinab. Ein halbes Dutzend Mal passierten sie Durchgänge in ein Stockwerk des ausgedehnten Beinhauses. Der anfänglich gut bearbeitete Stein wich natürlichen Formationen, und nun wirkte selbst die Treppe wie gewachsen. Dann verschwanden auf einmal die Wände, und sie befanden sich an der Decke einer riesigen Höhle. Zwei Dutzend oder mehr Sarkophage standen an den Wänden, einige von herabgestürzten Felsen zertrümmert, andere halb mit Moos überwuchert. Am Ende der Höhle erhob sich die große Statue eines gepanzerten Mannes, und davor brannte eine schwache Flamme. Zwei kleine Gestalten knieten neben dem Feuer.
Rufus Laro blieb am Fuß der Treppe stehen und deutete mit der freien Hand zur Statue hin. Wortlos gingen die Kettenbrecher darauf zu. Eine der Gestalten erhob sich und blickte ihnen entgegen. Es war Jenya. Sie war abgemagert, ihre Augen waren tief in ihren Höhlen versunken, und sie wirkte, als würde sie gleich unter ihrer Rüstung zusammenbrechen. Ihre Haare waren verschwitzt.
Die andere Gestalt kniete immer noch vor der Statue Helms. Selbst knieend konnte man die Größe dieser Gestalt ahnen. Sie war bestimmt zwei Schritt hoch, wenn nicht noch mehr. Sie hatte eine Kapuze über den Kopf geworfen und schien zu beten.
»Jenya«, sagte Dirim.
»Es tut gut, Euch zu sehen«, sagte die Priesterin mit einem müden Lächeln. »Euch alle.«
»Gleichfalls«, sagte Thamior.
»Ich war schon Mal hier«, sagte Boras. »Hier bin ich gestorben.«
»Heute nicht«, sagte Dirim beruhigend, und ein wenig drohend. »Heute nicht.«
»Ihr wolltet uns sprechen?«, fragte Jørgen.
»Ja. Es gibt zwei Dinge, die ich mit euch besprechen muss. Zunächst einmal muss ich euch jemanden vorstellen.«
Sie deutete auf die fremde Person. Die Gestalt stand auf. Sie war tatsächlich größer als zwei Schritt und bewegte sich völlig lautlos, als sie sich umdrehte. Die Kettenbrecher blickten in ein kantiges Gesicht aus Metall.
»Eine Maschine«, sagte Dirim.
»Eine lebende Maschine, wie die von dem Vallorianer«, erkannte Thamior. Er wollte noch mehr sagen, aber plötzlich weiteten sich seine Augen. Auch die anderen schwiegen, als sie die Gestalt genauer betrachteten. Sie trug eine Rüstung aus rotem Leder, schwarze Lederhandschuhe über den metallenen Händen, und zwei Kurzschwerter an den Seiten. Auf der Brust prangte ein großes und deutlich sichtbares Symbol Helms: der offene Panzerhandschuh mit dem Auge in der Mitte.
Die Gestalt flüsterte einen Zauber, und ihr Körper schrumpfte, ihr Gesicht verschwand hinter dem eines hageren Menschen mit kurzem, schwarzem Haar. Der Mann lächelte.
»Vielleicht erübrigt sich die Vorstellung auch«, sagte Jenya. »Ihr kennt doch Thargad?«
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»Meerthan kam hilfesuchend zu mir, gemeinsam mit einem Mann namens Berion«, erzählte Jenya. »Thargad untot geworden, und sie suchten ein Mittel, um ihm zu helfen. Wir hätten ihn zerstören können, aber dann? Nicht nur, dass wir den Fluch nicht kannten, unter dem er lag, sondern überall schlugen Wiedererweckungen fehl. Also mussten wir eine andere Möglichkeit finden.«
»Und was habt ihr dann gemacht?«, fragte Thamior.
»Wir haben ihm einen neuen Körper gebaut. Ein Priester der Gondkirche, Darigaaz, hatte sich die Geschöpfe des Vallorianers – so nanntet ihr ihn – genauer angesehen. Er arbeitete schon lange daran, künstliches Leben zu erschaffen. Hier ging es eher darum, eine Seele aus einem untoten Körper in einen neuen Körper zu bringen. Es war nicht einfach, aber schließlich haben wir Thargad im Angesicht Helms wiedergeboren.«
»Und es ist wirklich Thargad?«
»Ich bin es«, sagte Thargad. »Der Sohn Kheynes.«
»Oh, das erinnert mich«, sagte Boras. »Dein Bruder ist tot.«
»Wie bitte?«
»Belandrus. Er war in der Stadt. Die Käfigmacher haben ihn getötet.«
Thargad griff nach seinen Schwertern.
»Das kann warten!«, sagte Jenya scharf. Thargad hielt inne, dann stellte er sich wieder in eine gelassenere Positur. »Ich habe euch nicht nur wegen ihm gerufen.«
»Stimmt«, sagte Jørgen. »Ihr sagtet, es gebe zwei Dinge.«
»Ganz Recht. Der Stern des Morgens ist gestohlen wurden, das Insignium der Hohepriesterschaft dieser Kirche. Wahrscheinlich steckt das Letzte Lachen dahinter.«
»Velior Thazo«, sagte Thargad dunkel. Seine Hand lag auf seiner Brusttasche. »Der Hofnarr.«
»Und seine Mannen«, sagte Jenya. »Darum habe ich euch rufen lassen. Ich habe einen Auftrag für euch und die Hand Helms. Das Versteck des Letzten Lachens ist in der Messingtrompete.«
»Kein Wort mehr«, sagte Jørgen. »Das Letzte Lachen hat sich den falschen Tag ausgesucht, um uns in die Quere zu kommen.«
»Sprechen wir ein paar Urteile«, sagte Dirim.
Boras rieb sich die Hände. »Vollstrecken wir ein paar.«
Thamior hob den Seelenbogen. »Treiben wir ihnen das Lachen aus.«
Thargad sagte nichts.
»Wie«, meinte Boras. »Kein Spruch?«
»Kein Spruch.«
Ki'Annan lief rot an. »Vernichtet sie! Tötet sie alle!«
Thargad betrachtete den Lichtengel. »Keine Angst, kleiner Freund. Das werden wir.«