Avatar (II)
Minimax kam es vor wie ein frischer Luftzug, als sich die Aufmerksamkeit von ihm weg und dem Jungen zuwandte, der sich auf die Theke gestellt hatte. Pellir grinste ihn an.
»Als die Götter auftauchten, da wollte ich genau wie ihr den Raum verlassen. Aber plötzlich hörte ich eine Stimme im Kopf, die mir zuflüsterte, dass ich mich unter dem Tisch vestecken soll. ›Vielleicht lernst du noch was‹ hat sie gesagt.«
»Was für eine Stimme war das?«, fragte Minimax.
»Wen interessiert denn das?«, rief es aus der Menge. »Was hat der Junge gehört?«
»Ich weiß nicht«, sagte Pellir. »Es war eine weibliche Stimme, aber ich glaube nicht, dass es die Frau war, die am Tisch saß. Jedenfalls habe ich mich unter dem Tisch verkrochen, ohne das die Götter das gemerkt haben. Als die Kettenbrecher auftauchten, wäre ich fast aus meinem Versteck gekommen, weil ich den Herrn Dirim so lange nicht mehr gesehen hatte. Aber ich bin dann doch sitzen geblieben.«
»Nun sag schon, was du gehört hast, verdammt!«
Pellir reckte den Hals. »Ruhe, Bern Gerngroß, sonst spucke ich dir demnächst in deinen Humpen!«
Die Leute lachten. Minimax konnte es nicht fassen, aber der Junge machte das tatsächlich besser als er.
»Es war natürlich schwierig, alles zu hören – schließlich haben die alle gleichzeitig mit ihren Schutzgöttern gesprochen. Aber was ich hörte, war folgendes: Tyr hat gesagt, dass die Götter bereits einmal nur zugesehen haben, und sich diesen Fehler nicht noch mal erlauben wollten. Dann hat er Dirim gefragt, ob er einen Wunsch habe, also etwas brauche. Und dann hat Tyr ihm zuerst einen Heiligen Umhang geschenkt, der ihn schützen soll, und dann hat er gesagt, dass der Rest der Belohnung im Tempel sei. Boras hat eine neue Axt bekommen und einen Stirnreif der Unsterblichen, keine Ahnung, was das heißt. Aber das war eine Axt, die von den Barbaren im Norden geschmiedet worden war und angeblich echt mächtig sein soll.«
»Langsam, Junge«, sagte Minimax.
»Ach wo«, meinte Pellir, »das ist doch nicht wichtig. Auch nicht, dass Jørgen sein Geschenk irgendwie schon gekriegt haben sollte, oder dass Thamior Bogenschützenarmschienen bekam. Das interessiert doch keinen. Was aber Leute interessiert...« Er machte eine Pause.
»Was denn?«, fragten mehrere der Anwesenden.
Pellir räusperte sich. »Ich muss erst was trinken.«
Sofort regnete es Kupferstücke auf den Tresen. »Gib ihm schon was zu trinken, Mann!«, riefen die Zuhörer durcheinander. Minimax verstand die Welt nicht mehr. Aber er zapfte Pellir einen Krug Dünnbier.
Pellir nahm einen tiefen Schluck. Er wischte sich den Mund mit seinem Hemd ab. »Schon besser. Also. Zwei Sachen waren komisch. Erst Mal war ja der Elfengott sowieso nicht so richtig am Tisch. Das war schon seltsam. Und dann hat er Thamior gefragt, was der sich wünsche. Thamior hat sofort gesagt, er wollte, dass seine Tochter aus dem Bogen befreit würde und wieder lebte.«
»Also ist es wahr«, murmelte Minimax, und er war nicht der Einzige. Der Geist Annastriannas war also in den Seelenbogen gebannt worden.
»Daraufhin hat der Elf was Komisches gesagt. Er hat gesagt, dass Anna wieder leben könnte und ein ganz normaler Halbelf wäre. Und dass sie nach ihrem Tod wieder in die Mauer von Kelemvor müsste.«
»Aber die gibt es doch nicht mehr«, rief der alte Wernholm, der sich in diesen Dingen gut auskannte und aufgrund seiner ketzerischen Vergangenheit viel zu verlieren hatte.
»Tja«, sagte Pellir triumphierend, »hier kommts nämlich. Der Elf hat Thamior gesagt, dass der Seelenbogen dafür verantwortlich sei, dass sich das Jenseits geändert hat. Das war irgendwie eine Lücke in den heiligen Texten oder so. Weil Kelemvor eine Seele verloren hat ist das passiert. Thamior musste sich also entscheiden: er konnte seine Tochter befreien und ihr ein Leben schenken, aber dann würde er das Jenseits wieder so werden lassen, wie es früher war, und Anna wäre nach ihrem Tod wieder in Kelemvors Folterkeller.«
»Und... was hat er gemacht?«, flüsterte es.
»Gezögert«, sagte Pellir ruhig. »Thamior hat gesagt, dass er darüber erst Mal nachdenken muss. Das hat ihn natürlich auch ziemlich erstaunt.«
Für einen Moment hingen alle Anwesenden ihren eigenen Gedanken nach. Der alte Wernholm nahm sich vor, den Rest des Tages zu Thamior zu beten und zu hoffen, dass der Elf keine Dummheit machte.
»Was war noch?«, kam endlich die erwartete Frage. »Da waren doch zwei komische Sachen.«
»Ja«, sagte Pellir. »Das zweite war, als Thargad und Helm gesprochen haben. Thargad hat sich nämlich gewünscht, jemanden wiederzuerwecken. Eine Frau namens Arlynn. Helm hat gesagt, das wäre nicht so einfach, denn über Arlynn müsse gerichtet werden. Ob Thargad wirklich willens sei, sie zu verteidigen? Thargad hat ja gesagt, und dann hätte ich schwören können, dass die Kettenbrecher kurz verschwanden. Jedenfalls gab es eine Pause, und dann sagte Helm, dass Thargad seinen Wunsch habe. Thargad hat gefragt, was das Urteil sei, aber Helm hat nichts geantwortet. Und dann haben die Götter gesagt, dass die Kettenbrecher sich kampffertig machen sollten und darauf vorbereiten, Embril zu stoppen und die Nacht zu beenden. Die Kettenbrecher haben gesagt, dass sie bereit sind. Der Elfgott hat ›Endlich‹ gesagt, und dann sind alle verschwunden und ihr seid reingekommen. Das wars.«
Pellir sprang wieder von der Theke, und die Musik des Wahrsängers erstarb. Der Schankraum leerte sich etwas, aber es blieben noch genug Anwohner zurück, um Minimax einen arbeitsreichen Tag zu verschaffen. Aber während er die Tische abwischte, musste er die ganze Zeit an das denken, was Pellir gesagt hatte. Ein Gerichtsurteil. Ein Prozess. Um eine Menschenseele. Da wäre er gerne dabeigewesen. Das hätte er gerne erlebt. Wenn sich der Junge das nicht nur ausgedacht hatte – er musste wirklich mal mit dem Wahrsänger reden. Pellir hatte ja das Zeug zu einem Barden...
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»Erhebt Euch!«
Reflexartig stand Thargad auf, noch während er sich umsah. Das letzte, woran er sich erinnerte, war der Blick, den Helm und Tyr ausgetauscht hatten.
»Das heilige Gericht Tyrs wurde einberufen und hat seine Vertreter bestimmt. Den Vorsitz hat Dirim Gratur, Richtschwert von Tyr.«
Er stand in einem Gerichtssaal, wie er sie eigentlich nur aus Erzählungen kannte. Der ganze Raum schien aus Marmor ausgeschlagen zu sein, einschließlich der Gerichtsbank.
»Beisitzer sind Thamior Amastacia und Boras Breda.«
Die drei Genannten thronten vor ihm, etwa vier Meter über dem Boden. Von seiner Position aus konnte er gerade mal die Schultern aufwärts erkennen.
»Angeklagte ist Arlynn Somberwein, auch bekannt als ›Jil, die Katze‹.«
Thargads Blick schwang herum, und wo vorher nichts gewesen war, erhob sich nun eine marmorne Anklagebank, hinter der eine starr geradeaus blickende Arlynn saß. Sein Herz schlug höher bei ihrem Anblick.
»Vertreter der Anklage ist Jørgen von Velbert.«
Neben ihm räusperte sich der hochgewachsene Paladin. Thargads Gedanken rasten. Wenn Jørgen der Ankläger war, und seine anderen Gefährten die Richter, dann war er... er schloss die Augen.
»Vertreter der Verteidigung ist Thargad, Sohn des Hexers Kheyne und der Sukkubus Celeste.«
Thargad sank auf seinen Stuhl. »Helm, steh mir bei.«