Die Krone des Shoon IIIDie Abenteurer hinterließen eine krude Nachricht, geschrieben mit dem verkohlten Finger, dass die sicher bald auftauchenden Wachen die »Geisel« Reshtiva Gullifort in eben jenem verlassenen Ilmaterschrein finden würden, den ihnen Gilbert von Tyr als Unterschlupf genannt hatte. Natürlich ritten sie nicht dorthin; stattdessen fesselten sie Gullifort auf sein Pferd und hießen ihn den Weg zum Leuchtturm zeigen.
Die dichte Wolkendecke machte ihre Drohung wahr. Ein steter Guss dicker Tropfen erbrach sich über die Welt. Die Witterung selbst schien gegen die Abenteurer zu arbeiten, denn so kamen sie langsamer voran als erhofft. Als sie endlich am alten Schmugglerturm ankamen, hatte die Flut bereits begonnen.
Ohne viel Worte zu verlieren, zerrte Dhurkan den Gefangenen vom Pferd und schleppte ihn durch den Schlamm auf den Turm zu. Osrics Wahn, so nannte man den Turm in Andenken an den letzten Bewohner, der sich für einen Nachfahren der calishitischen Königsfamilie gehalten hatte – wenn auch einen entfernten Ableger derselben –, bis ein Blitzschlag den Turm ein letztes Mal richtig hatte leuchten lassen. Heute stand nur noch das zerbrochene Gerüst des Turms und diente als Regenfänger; allenfalls das Erdgeschoss war noch intakt und hatte so manchem Wanderer ein zugiges, aber trockenes Dach über dem Kopf beschert. Die meisten waren am nächsten Morgen aufgebrochen, ohne den geheimen Schalter zu entdecken, der die Wendeltreppe in die Tiefe öffnete.
Reshtiva Gullifort aber kannte diesen Schalter. Er deutete auf einen verrosteten Fackelhalter. Rolin griff danach. Reshtive zögerte, sagte dann aber: »Vorsicht. Die Treppe öffnet sich direkt unter dem Schalter.«
»Braver Mann«, sagte Rakso und kniff Gullifort in die Wange. Der Stadtrat versuchte sich am Todesblick eines Bodaks.
Rolin drehte am Fackelhalter und tatsächlich: unter seinen schnell zur Seite springenden Füßen fiel der Boden in die Tiefe und formte die ersten Stufen einer steilen Wendeltreppe. Unvorsichtige und nicht vorgewarnte Personen hätten mit Leichtigkeit herunterfallen können. So aber konnte Rolin die Treppe langsam und vorsichtig herabsteigen, mit Dagnal zusammen etwa eine Kehre vor den anderen Abenteurern.
»Wir müssen draußen bleiben«, sagte Dhurkan grinsend und band Gullifort wie einen Hund auf der Hälfte der Treppe an.
Derweil verharrten Rolin und Dagnal auf der Treppe, weil sie Stimmen hörten.
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»Ich sage, wir reisen ab.« Eine dunkle, weibliche Stimme, befehlsgewohnt, mit dem Unterton der Frustration.
»Nein«, antwortete ein Mann anscheinend zum wiederholten Mal. »Gullifort schuldet uns noch Geld. Wir bleiben, bis er kommt.«
Dagnal schlich bis ans Ende der Treppe. Von dort aus konnte sie in eine kleine Höhle sehen. Hinter einem Haufen von Stalaktiten hob und senkte sich ein Ruderboot im Meer. Die Höhle selbst war durch die beginnende Flut bereits teilweise überflutet; die vier Anwesenden standen bis zu den Knien im Wasser. Die Anwesenden, das waren drei wie Seeleute gekleidete Männer und eine Frau. Zwei der Männer trugen Lederrüstungen und Rapiere, der dritte hatte einen Ledermantel an und einen großen zweihändigen Säbel auf dem Rücken. Alle drei sahen nach calishitischen Bürgern aus. Die Frau hatte deutlich mehr an als auf dem Bild, das Dagnal gesehen hatte, aber es handelte sich doch klar erkennbar um Shula Khadiyya. Sie trug ein Leinenhemd und eine ebensolche Hose mit einer Weste aus Seite und einen Turban, unter dem sie ihre langen Haare versteckt hatte. Sie war unbewaffnet. Dagnal fiel auf, dass in Shulas Rücken eine verwitterte Steintüre in die Wand der Höhle eingelassen war.
Die Zwergin kroch vorsichtig zurück und berichtete flüsternd ihre Beobachtungen. Gerade wollten die fünf Abenteurer sich einen Plan zurechtlegen, als man von unten einen Warnschrei hörte, gefolgt von einem lauten Rumms. Sie waren gehört worden.
Rolin war der erste am Fuß der Treppe. Er sah gerade noch, wie Shula Khadiyya mit ihrer bloßen Hand die Steintür zerschmetterte. Die Spionin sah sich zu Rolin um, dann sprang sie durch die Öffnung und die freigelegte Treppe hinunter. Das Wasser aus der Höhle strömte ihr hinterher. Die beiden Rapierträger nahmen eine Kampfstellung vor dem dritten Piraten ein. Dieser wiederum schwang seinen Krummsäbel in einem seltsamen Muster, und um Rolin herum begann das Wasser zu kochen. Schnell hastete der Zwergenmönch durch den Bereich des Zaubers und rettete sich auf einen Stalaktiten.
Die restlichen Helden waren nicht so flink und liefen geradewegs in die Brühe. Dhurkan watete durch das Wasser und ignorierte die heißen Spritzer auf seiner Brust, aber er kam trotzdem nicht bis an die Gegner heran. Rakso tauschte gleich ganz in das Wasser ein und verwandelte sich in ein großes Krokodil. Mit schnellen Schwanzschlägen gelangte er aus der heißen Zone. Dagnal biss auf die Zähne und zog grimmig ihre Kriegsaxt. Muzzamil sah seine Freunde alle durch das Wasser sprinten und schüttelte den Kopf. Beinahe beiläufig brachte er seinen Körper zum Schweben und hangelte sich dann an der Decke entlang über das kochende Wasser hinweg.
Aus dem Gang, durch den Shula Khadiyya verschwunden war, drangen Kampfgeräusche. Rolin schätzte die Gegner in der Höhle kurz ein, dann entschloss er sich, dieses Gefecht seinen Freunden zu überlassen. Er hastete an den Piraten vorbei durch die offene Tür. Die Treppe nach unten war rutschig durch das strömende Wasser und er wäre beinahe ausgerutscht. Aber dann erreichte er den kleinen Vorraum am Ende der Treppe. Das Wasser stand hier bis zu den Knöcheln.
Der Raum selbst war von einem großen magischen Feuer erhellt, dass die krummen Säulen, die sich zur Decke reckten, tiefe Schatten werfen ließ. Ein Sarkophag stand aufrecht an der Wand, ihm gegenüber ein umgestürzter Sarg. Davor lagen die Überreste der untoten Kreatur, die Shula Khadiyya geweckt und wieder schlafen geschickt hatte.
Shula Khadiyya selbst trat gerade durch den großen Durchgang am Ende des Raums, dessen schwere Türe sie aus den Angeln geprügelt hatte. Ihre Fäuste waren von einer dicken Eisschicht umgeben.
Rolin wollte ihr gerade nachsetzen, als sie anscheinend eine Falle auslöste. Der Durchgang über ihr brach zusammen und die Decke stürzte ein. Der gesamte Gang wurde verschüttet, aber ihr Lachen verriet, dass Shula Khadiyya nicht mit begraben worden war. Rolin fluchte. Er musste ihr folgen – nur wie?
In der Höhle hatten die restlichen vier Abenteurer alle Hände voll zu tun. Dagnal hatte eine große Schramme davongetragen, als sie sich auf das Ruderboot der Piraten begeben hatte. Ihre Idee war gewesen, mit dem Boot durch den Durchgang zu fahren, aber die Strömung reichte dazu nicht aus. Stattdessen kämpfte sie nun gemeinsam mit Dhurkan gegen einen der Piraten, der sich als überaus geschickt mit dem Rapier erwies.
Rakso biss nach dem zweiten Rapierkämpfer, aber der Pirat zog seine Füße schnell zurück und stach mit seiner Waffe zu. Der Anführer der drei bewegte sich langsam rückwärts und blieb vor dem Eingang in den unterirdischen Komplex stehen. Von dort feuerte er, wieder begleitet von Schwertschwüngen, einen Eispfeil ab, der allerdings fehlging.
Muzzamil hatte derweil endlich auch den Durchgang erreicht. Der Anführer der Piraten war nur wenige Armlängen unter ihm. Muzzamil streckte die Hand nach ihm aus, ließ sich ein wenig absinken und entzündete ihn. Der Anführer schrie auf, als die Flammen ihn erst umgaben und dann verschlangen. Zischend landete der schwarze Körper im Wasser. Kaum war der Weg frei, da sprang Dhurkan durch den Durchgang und hinunter in den Vorraum.
Rolin hatte gerade eine geheime Tür gefunden, dort, wo vorher der Sarkophag gestanden hatte. Als Dhurkan in dem inzwischen kniehohen Wasser landete, betätigte der Zwerg den Öffnungsmechanismus. Die Wand schwang zur Seite und gab einen dunklen und schmalen Gang frei, der nach links und damit in die Richtung abbog, in die auch Shula Khadiyya verschwunden war. Der Pegel im Raum sank, als sich das Wasser über den Gang ausbreitete.
Rakso warf seinen Krokodilkörper herum und tauchte unter. Im dunklen Licht, das in der Höhle herrschte, war er kaum zu sehen. Er umkreiste seinen Gegner, der stichbereit die Wasseroberfläche absuchte. Rakso stieß Luft aus, und als der Pirat herumfuhr, schlug er ihn von der anderen Seite mit seinem Schwanz. Der Pirat verlor das Gleichgewicht und musste sich mit einem Arm abstützen. Sein Gesicht war nur eine Handbreit über der Wasseroberfläche – und genau dort packte Rakso jetzt mit seinen festen Kiefern zu. Er schmeckte Blut.
Rolin wartete auf Dhurkan, und der Barbar betrat als Erster den Gang. Sofort schnellten Stahlklingen aus der Wand. Dhurkan warf sich nach vorne, aber die Falle brachte ihm trotzdem ein paar Schnittwunden ein. Hinter ihm kamen die Klingen zur Ruhe und Rolin spazierte zwischen ihnen durch. Dhurkan nahm grummelnd einen Sonnenstecken aus seinem Gürtel und schlug ihn an. Er zuckte überrascht zusammen, als er den Gang entlang sah, aber dann grinste er. Der Gang war breit genug, dass man zu zweit nebeneinander gehen konnte. Er endete nach wenigen Schritten in einer großen polierten Wand, die fast wie ein Spiegel wirkte. Dhurkans Reflexion hatte fast wie ein möglicher Gegner ausgesehen.
Der letzte Pirat sah sich ängstlich um. Diesen Moment nutzte Dagnal aus und trieb ihre Axt in seinen Schädel. Anstelle eines Friedensangebotes kam nur noch Blut aus dem Mund des Piraten. Dann gesellte er sich zu seinen toten Gefährten.
Neben der Spiegelwand ging ein schmaler Gang zurück nach rechts – wahrscheinlich in den Raum, den Shula Khadiyya betreten hatte. Der Gang endete in einem aufrechten Sarkophag, aber das kannte Rolin ja bereits. Auf Dhurkans Drängen ging er also voraus und öffnete den Sarkophag. Anstatt eine Tür zu enthüllen, löste das aber nur einen Steinschlag von der Decke aus.
Der Einsturz war nicht ganz so gewaltig wie der, dem Shula fast zum Opfer gefallen war, aber er tat trotzdem weh. Vor allem Dhurkan war inzwischen doch stark ramponiert.
Zum Glück kamen in diesem Moment Muzzamil und Rakso, und kurz darauf auch Dagnal durch den Gang. Rakso, der seine menschliche Gestalt wieder angenommen hatte, wirkte einen Regenerationszauber auf Dhurkan und heilte zudem die beiden Verwundeten mit seinem Heilstab. Dann ließen alle vier Männer der Frau den Vortritt, als nämlich Dagnal die Spiegeltüre untersuchen sollte. Dort, so die einhellige Meinung, musste sich der Weg zu Shula Khadiyya befinden, und wahrscheinlich auch noch eine Falle.
Dagnal untersuchte die Türe vorsichtig und mit Bedacht. Schließlich sah sie auf. »Eindeutig eine Geheimtür und eine magische Falle. Wenn wir durch die Türe gehen, schlägt sie zu und entlädt einen Blitzstrahl auf uns. Oder das hätte sie getan, bevor ich sie entschärft hatte.« Sie drücke auf einen Knopf und der Spiegel schwang zur Seite. Ein weiteres Stück Gang lag dahinter mit einer Doppeltür zur Seite.
Die Abenteurer nahmen vor der Türe Aufstellung, so gut es ging. Dann zog Rolin die Tür auf. Dhurkan trat sofort mit gezogenem Schwert hindurch.
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Als Osric der Jüngere die Schmugglerhöhle unter seinem Leuchtturm auskundschaftete, entdeckte er einen schmalen Durchgang in ein ebenso kleines Höhlensystem. Die Idee, dieses Höhlensystem den Fluten zu entreißen und zu einer Grabkammer zu machen, die seinem – angeblichen – königlichen Blut würdig war, ließ ihn bald nicht mehr los. Er gab all sein Gold dafür aus, um eine kleine Abfolge von Gängen im Stil der Pashas von Calimhafen errichten zu lassen, komplett mit Fallen. Der letzte Raum kostete ihn so viel Gold, dass er nicht einmal mehr den Leuchtturm in Schuss halten konnte. Er gab seinen Reichtum dafür auf, nach seinem Tod mit einer Handvoll Getreuer dort bestattet zu werden und, im Falle von Grabräubern, wieder aufzuerstehen. Einzig eine magische Krone blieb ihm noch, als er zu Grabe getragen wurde.
So kam es, dass die Abenteurer nun in einen großen, von zwei magischen Feuern erhellten Raum sahen, in dessen Mitte ein magisches Symbol auf dem Boden prangte und rot glühte. Auf einem Podest erhob sich ein Altar mit einem Sarg davor, und links und rechts daneben standen große Skelette in schweren Rüstungen mit großen Säbeln. Kleine Knochenhaufen waren im Raum verteilt. Als die Türe geöffnet wurde, trat Shula Khadiyya gerade einem Skelett mit einem Fußtritt den Schädel ein. Shula hatte selbst ein paar Kratzer davongetragen.
Dhurkan und Rolin betraten den Raum. Dhurkan lief um das Symbol im Boden herum. Rolin sprang drüber und kam vor der Spionin zum Stehen. Rakso verwandelte sich in einen Bären. Das Symbol hörte auf zu glühen. Dann gab es einen roten Blitz. Tut Osric erwachte zu neuem Leben.
Die Tür des Sarkophags flog auf, und eine Mumie kam daraus hervor, eine goldene Krone auf dem Kopf. Die beiden Skelettwächter zu den Seiten richteten ihre skelettierten Schädel auf die Eindringlinge und ließen ihre Säbel kreisen. Aus den Knochenhaufen entstanden zwei weitere Skelette, die ebenso wie die Skelettwächter hunde- oder schakalähnliche Köpfe hatten. Dann gingen sie alle-
»Feuerball!«Die Flammen loderten durch den Raum. Die beiden einfachen Skelette wurden sofort verschlungen, und auch eine der Skelettwachen zerfiel zu Asche. Die andere brachte sich ebenso wie Tut Osric gerade noch rechtzeitig in eine Verteidigungsposition, bevor Muzzamils Angriffszauber sie verbrennen konnte.
Rolin blickte Shula drohend an. »Ergib dich.«
Tut Osric stürmte auf Dhurkan zu und schlug mit seiner Faust nach dem Barbaren. Dhurkan parierte den Schlag mit dem Schwert.
Shula Khadiyya turnte um Rolin herum und auf den Ausgang zu. Rolin versuchte, sie zu packen, griff aber vorbei. Rakso stellte sich drohend auf die Hinterbeine, und Shula blieb zögernd vor ihm stehen, anstatt an ihm vorbeizuhuschen.
Dagnal tauschte mit dem Skelettwächter ein paar Hiebe aus. Sie war ihm deutlich überlegen, aber seine untote Natur sorgte dafür, dass sie ihn nicht so einfach umhauen konnte.
Rolin folgte Shula und packte sie. Die Spionin versuchte, sich zu wehren, aber Rolin war ein zu geübter Ringer und brachte sie leicht zu Fall. Sofort stellte sich Rakso mit einer Klaue auf sie. Shula wehrte sich und riss sich fast wieder los, aber Rolin verpasste ihr noch einen Tritt ins Gesicht, und sie sackte ohnmächtig zusammen.
Dhurkan trieb sein Schwert in den staubigen Körper Tut Osrics, aber die Mumie spürte den Schlag kaum.
Muzzamil marschierte zwischen Rakso und Dagnal durch und auf die Mumie zu. In der Bewegung noch sammelte er magische Energie um seine Hand. Die Luft begann zu flimmern.
Dagnal zerschlug den Skelettwächter zu Staub.
Rakso drückte Shulas Körper zu Boden, während Rolin sie fesselte.
Tut Osric holte zu einem gewaltigen Schlag gegen Dhurkan aus, als Muzzamil die beiden erreichte. Der Hexenmeister legte der Mumie die Hand auf die Schulter und sagte nur ein Wort:
»Brenne!«Die Mumie explodierte in winzige Fetzen, die wie nach einem Volkanausbruch zu Boden regneten. Die Hitze der Explosion versengte Dhurkans Haare. Muzzamil starrte fasziniert auf die Stelle, die seine Hand gerade noch berührt hatte. Klimpernd fiel die Krone der Mumie zu Boden.
Während Rakso noch einmal ein paar kleinere Wunden versorgte, räumte Dagnal die wenigen Goldstücke zusammen, die Osric dem Jüngeren noch geblieben waren. Rolin weckte Shula Khadiyya aus ihrer Bewusstlosigkeit. Die Abenteurer hatten ihren Auftrag erfüllt, jetzt galt es nur noch, nach Hause zu kommen. Mit Shula im Schlepptau marschierten sie wieder aus dem Grab heraus, das sich im Laufe der Flut mit Wasser füllen würde. Sie wateten durch die Piratenhöhle und stiegen die Wendeltreppe hoch. Auf halber Höhe trafen sie auf den geknebelten Reshtiva Gullifort – er und Shula warfen sich böse Blicke zu – und banden ihn los. Dann kehrten sie in den zerstörten Leuchtturm zurück.
Vor dem Leuchtturm, mitten im Gewitter, stand eine gerüstete und mit mehreren Speeren bewaffnete Gestalt: Gilbert von Tyr.
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Gilbert wirkte jetzt längst nicht mehr so harmlos und verfressen wie noch bei ihrem ersten Treffen. Der Panzer, den er trug, war ihm auf den runden Leib geschnitten. Ein Wurfspeer lag locker in seiner rechten Hand. Auf dem Schild in seiner Linken prangte kein Symbol.
»Ihr lebt noch?«, rief Gilbert ihnen zu. »Ihr habt den Auftrag erfüllt?«
»Das haben wir«, rief Dhurkan zurück, ohne aus dem Turm herauszukommen. Die Abenteurer gaben sich hastig Handzeichen. Dagnal gab zu verstehen, dass die Geheimtür nicht von der Treppe aus zu schließen war.
»Gut«, rief Gilbert. »Was ist mit Shula? Lebt sie noch?«
»Ja.«
»Hat sie etwas über die Krone gesagt?«
Muzzamil übernahm die Antwort. »Sie hat uns alles darüber erzählt.«
Gilbert leckte sich die Lippen. »Und? Was hat es mit der Krone auf sich?«
Anstelle einer Antwort räusperte sich Nolin. »Sagt mal: Wie kommt Ihr eigentlich hier her?«
Gilbert setzte zu einer Antwort an, sagte aber nichts. Schließlich zuckte er mit den Schultern. »Ich hatte gehofft, euch aufhalten zu können, bis die Verstärkung eintrifft. Dann muss ich euch eben alleine töten.«
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Rolin raste los. Gilbert schleuderte seinen Wurfspeer, aber der Mönch wich spielend aus. Hinter ihm verwandelte sich Rakso in einen Löwen, und Muzzamil sprach einen Zauber, der seinen nächsten Angriff sicher ins Ziel führen sollte. Dhurkan war Rolin dicht auf den Fersen, und Dagnal ließ sich auch nicht lange bitten. Aber der Mönch war als Erstes bei dem Verräter.
Bevor Gilbert noch reagieren konnte, hatte Rolin ihn schon aus dem Gleichgewicht gebracht. Der massige Kleriker landete hart. Matsch spritzte umher. Im Liegen wirkte Gilbert einen Zauber, der ihn stärker werden ließ. Im selben Moment hatte er einen weiteren Speer in der Hand. Er zielte mit dem Speer auf Rolin, aber da war Rakso in Löwengestalt schon über ihm. Rakso biss und kratzte wie wild. Gilbert warf sich hin und her, aber er konnte den Löwen nicht abschütteln. Blut vermischte sich mit Regenwasser in der Pfütze, in der Gilbert lag. Endlich brachte er den Speer zwischen sich und Rakso und trieb den Löwen zurück. Im selben Moment aber stand schon Dhurkan über dem gefallenen Priester. Er hielt seinen Zweihänder nach unten gerichtet. Gilbert öffnete den Mund. Dhurkan rammte das Schwert durch Gilberts Brust bis in den Boden. Im selben Moment hörte der Regen auf, und die Wolken rissen auf. Ein breiter Sonnenstrahl fiel genau auf die Kampfszene.
Muzzamil ließ seinen Zauber verstreichen. Er stieß einen leisen Fluch aus. »Das ging zu schnell.«
»Nächstes Mal warten wir auf dich«, sagte Rolin gutmütig. »Und auf Dagnal.« Die Schurkin zog eine Grimasse. Dann beugte sie sich herunter und untersuchte Gilbert auf Schätze.
Rakso nahm seine wahre Gestalt wieder an und ging zurück in den Leuchtturm, um die Gefangenen zu holen. Auf halbem Weg wurde er aufgehalten, weil Muzzamil seinen Namen rief.
»Warte noch«, sagte der Zauberer. »Da kommt jemand.« Er deutete den Weg entlang ins Landesinnere. Dort, wo die Wolken noch düster über der Landschaft hingen, näherten sich acht Gestalten zu Pferd.
»Vielleicht sind das Freunde«, mutmaßte Dhurkan.
»Oder die Verstärkung, von der Gilbert gesprochen hat«, sagte Dagnal. Sie zerrte das heilige Symbol des fetten Priesters hervor. »Sieh mal an: Talos.«
»Wir könnten mit dem Ruderboot fliehen«, sagte Rolin. »Da draußen wartet ja noch ein Piratenschiff.«
Muzzamil sah den Mönch mit hochgezogener Braue an, aber Rolins Grinsen verriet, wie ernst er diesen Vorschlag meinte. »Könnten wir«, sagte der Hexenmeister sarkastisch.
»Müssen wir aber nicht«, sagte Dhurkan. Mit einem Ruck zog er seinen Zweihänder aus der Leiche des toten Priesters. Er trat den Reitern entgegen. Dagnal und Rolin stellten sich neben ihn, Rakso und Muzzamil blieben etwas zurück.
Dhurkan sah zu den Reitern, die sie fast erreicht hatten, und von da in den aufbrechenden Himmel. »Ein guter Tag zum Sterben«, meinte er. »Für die anderen.«
Und dann waren die Pferde bei ihnen.
THE END