4. ELEINT
Nach einem kargen Frühstück wollen wir uns daran machen, die Burg gründlich zu inspizieren, denn schließlich müssen die verschleppten Bürger, einschließlich Amnik Basults, und die Nestgefährtin Kessesseks irgendwo hier verborgen sein.
Wir diskutieren noch darüber, ob es sich nun um einen echten oder einen unechten Mystrapriester handelte. Evendur vermutet, dass er ein Spion gewesen sein könnte. Elenya bleibt bei ihrer Theorie des Banns, der ich mich anschließe. Wir erwägen beide, den Toten auf unserem Rückweg zum Echsendorf mitzunehmen, um ihn wiedererwecken zu lassen. Alexander wirkt ebenfalls etwas zerknirscht wegen des toten Priesters: „Naja...sagen wir...ich hatte zuviel Schwung, als dass ich noch hätte abbremsen können.“ Ich winke nur ab und murmele, dass es schon in Ordnung ist. Danach widme ich mich der Tür zu unserem Dienstbotenquartier. Ich habe das Gefühl, dass wir nun alle besser etwas tun sollten, da die Stimmung recht bedrückt ist. „Nanu? Hat jemand von euch die Tür verschlossen?“, will ich wissen, nachdem ich überrascht festegestellt habe, dass sie sich keinen Zentimeter rührt. Alle schütteln den Kopf.
„Hmmm. Geh auf!“, fordere ich die Tür mit einer flinken Bewegung meiner Finger auf, doch auch mein kleiner Zauber, mit welchem ich sonst Türen öffnen und schließen kann, ohne sie zu berühren, wirkt nicht. Evendur untersucht das Schloss: „Merkwürdig, das Schloss ist eigentlich unverschlossen.“ Er rüttelt an der Tür, annehmend, dass ich wohl nur zu schwach gewesen bin, die etwas verkeilte Tür zu öffnen. Doch auch er hebt erstaunt eine Augenbraue, als er feststellt, wie stark sie verklemmt ist. „Mach Platz, ich schlag sie ein!“, brummt der muskelbepackte Barbar. „Aber bitte leise, nicht, dass wir die ganze Burg aufwecken.“, fordert Elenya. Evendur deutet grinsend auf seinen Halbbruder und wendet sich der Kelemvor Priesterin zu: „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass so einer bewandert in Feinmotorik ist?“ Die Muskelberge an Alexanders Oberarmen und Schenkeln wölben sich, doch es gelingt auch ihm nicht, die Tür aufzuschieben.
„Verdammte Scheiße“, flucht er laut, „Was ist das?“ Galmor tritt neben ihn. „Scheinbar hat jemand etwas Schweres vor die Tür gerollt. Komm, wir versuchen es gemeinsam. Eins, zwei und drei!“
Unter größter Anstrengung können die beiden kräftigen Männer die Tür gerade soweit aufhebeln, dass sich Alexander hindurch quetschen kann. „Was zum Abyss...???“, hören wir noch von ihm und danach nur noch schreckliche Geräusche, ein kehliges Knurren, das Zuschnappen eines gewaltigen Mauls... . Galmor, der sich als zweiter durch den Türspalt schiebt, flüstert uns warnend zu: „Tempus gebe mir Kraft! Alexander wird gerade von einem riesigen Krokodil umarmt, welches auf zwei Beinen geht und annähernd den ganzen Gang vor diesem Raum ausfüllt.“
„Lebt er?“, frage ich besorgt.
„Schon, aber er kann sich nicht bewegen. Dieses Ding versucht ihn zu fressen.“
„Was machen wir nun?“
„Nicht diskutieren, Elenya, wir bekämpfen es einfach.“, unterbricht Evendur unwirsch, doch auch er wirkt sichtlich beeindruckt von der Beschreibung Galmors.
Ich stimme ein beruhigendes, mutmachendes Lied an und widme mich der Wand des Dienstbotenquartiers. Vielleicht gibt sie ja nach und wir können diese Monstrosität im Gang umgehen und Alexander von hinten zur Unterstützung kommen. Inzwischen tritt Elenya mutig vor und stellt sich der Kreatur, ebenso wie der Tempus Priester. Zusammen schlagen sie auf die Kreatur ein, die durch die Hiebe der geheiligten Waffen wütend wird. Geschockt stelle ich fest, dass die Außenwand in dieser Zelle bedauerlicherweise unnachgiebig ist. Neben mir murmelt Garon irgendwelche magischen Worte, deren Sinn ich nicht verstehe. Die Tür zum unseren Quartier gegenüberliegenden Raum wird aufgestoßen und es stürmen vier der untoten Echsen in den Gang. Allmählich wird es unübersichtlich und zu eng für uns. Elenya handelt rasch und schleudert den untoten Kreaturen mächtige heilige Worte entgegen, welche zwei der Echsen von Furcht vor dem heiligen Zorn getrieben, zurück in den Raum weichen lässt.
In selbstmörderischer Absicht schiebt sich der Magier an uns allen vorbei in Richtung des Krokodils.
„Atta Estel Yello!“ , schreit Garon über den Kampflärm hinweg und in einem Nebel aus umherschwirrenden Totenköpfen erscheint ein celestischer Bär. „Er ´ En Yello“ In Windeseile tauschen der celestische Bär und Alexander die Plätze. Erleichtert stelle ich fest, dass mein Freund annähernd unversehrt ist. Mit einem triumphierenden Blick berührt der Zauberer die widernatürliche Krokodilskreatur und sie steht lodernd in Flammen, dem Zerbersten nahe. Gellende Schmerzensschreie durchdringen den Gang. Unter einem mächtigen Schlag Galmors, fällt das Wesen endlich zu Boden und die rote Glut in seinen bösen Augen erlischt. Elenya trennt vorsichtshalber den Kopf vom Rumpf. An ihr vorbei schleicht Evendur um die Ecke. „He, wo willst du hin?“ Seinen Zeigefinger auf die Lippen legend flüstert er ihr zu: „Einen weiteren Eingang suchen in den Raum dort.“ Er deutet auf die unserem Quartier gegenüberliegende Wand. Aus einer Tür in just dieser Wand bedrängen uns weitere untote Echsen. Mit brachialer Gewalt, drischt Alexander auf die beiden ein und tapeziert die Wand mit ihnen. Sein Blick fällt in eine riesige Halle, die einst gewiss sehr prunkvoll war und von Säulen umrahmt wird. In der Mitte dieser Halle schwebt eine große, schwarze Kugel, aus welcher unregelmäßige Schattenblitze herauszucken. Viele untote Echsen sind dort im Halbdunkel zu sehen, sowie eine Halbdrachin, ein Shadar Kai und eine in weiße Hautlappen gehüllte Kreatur. Mit schreckensgeweiteten Augen reißt Alexander die Tür zu. Auf unsere fragenden Blicke antwortet er stammelnd: „Da ist...gar nichts...Interessantes drinnen.“ Während unsere skeptischen Blicke dem Barbaren etwas mehr Information entlocken sollen, hören wir von drinnen eine zischende, kehlige Stimme rufen: „Nun meine Shadar´Kai, treibt sie aus dem Tempel!“ Die Stimme geht durch Mark und Bein. Mir stockt der Atem und mein Lied hat einige Takte lang einen Aussetzer.
Zahlreiche der untoten Echsen stürmen zur Tür, doch unser mächtiger Kämpfer steht wie ein lebendes Bollwerk zwischen ihnen und uns, unermüdlich auf die herannahenden Gegner einschlagend, von denen einer nach dem anderen zu Boden geht. Ein in Schatten gehüllter weiblicher Halbdrache zielt einen von Elektrizität erfüllten Speer auf Alexander, der ihm eine saftige Verbrennung einbringt. Wütend schnaubt der Barbar und schlägt umso heftiger auf die Echsen ein. Ich stimme ein anderes Lied an, da wir es offensichtlich mit magiebegabten Gegnern zu tun haben, sollten wir wenigstens gegen solche Zauber geschützt sein, die unseren Geist beeinflussen. Nicht auszudenken, was geschähe, wenn Alexander, in seinem jetzigen Zustand nicht mehr zwischen Freund und Feind unterscheiden könnte, denn einen blutigen Pfad der Verwüstung hinter sich herziehend, teilt sich Alexander seinen Weg durch die Flut der uns entgegenkommenden Echsen, deren Zahl immens ist. „Nelde Naur Pilin Tulta!“, ruft Garon, auf die Halbdrachin zeigend und ein lodernder Totenschädel schießt auf sie zu. Ob und wie schwer die Schattenschuppe durch den Feuerball verletzt wurde können wir nicht sehen, da sie im selben Moment eine magische Dunkelheit beschwört, die sich über uns alle herabsenkt. Garon und ich stehen am Rande der Dunkelheit und tasten uns heraus. Der Magier will außen um den Saal herum gehen und durch eine der anderen Türen angreifen. Ich jedoch ziehe es vor, mit meinem Geist stärkenden Gesang vor Ort zu bleiben. Unsere beiden Priester reichen sich die Hand und tasten sich gemeinsam in Alexanders Richtung vor, um ihn unterstützen zu können. Elenya gelingt es, den Barbaren zu heilen. Die drei bewegen sich weiter vor und treffen schließlich auf die Halbdrachin, welche von Alexander einen mächtigen Schwerthieb abbekommt. Doch die Schattenschuppe revanchiert sich mit einem ätzenden Säureatem, den sie über Elenya und Alexander bläst. Die Kelemvor Priesterin geht bewusstlos zu Boden. Evendur hat in der Zwischenzeit den Saal durch eine andere Tür betreten und befindet sich jenseits der magischen Dunkelheit, welche er nur als undurchdringlich schwarze Halbkugel wahrnimmt.
Er nimmt sich der durch Elenyas heilige Worte verängstigt fortlaufenden Untoten an, welche er eine nach der anderen erschießt. Hinter ihm betritt schließlich auch Garon den riesigen Raum. Gebannt blickt er auf die von Schattenblitzen umgebene große Kugel in der Mitte des Saales. Evendur räuspert sich: „Garon? Alles klar bei dir?“ „Wie bitte?“, fragt der Angesprochene geistesabwesend, „Ach ja...Evendur. Ich untersuche dieses Portal nur aus der Ferne.“ Während Galmor nach Elenya tastet, die irgendwo in der Dunkelheit zu seinen Füßen liegen muss, knüppelt Alexander weiter mit verzerrtem Gesicht und diesen unwirklich schwarzen Augen auf die Schattenschuppe ein.
Schließlich berührt der Tempuspriester seine Kollegin und stellt erleichtert fest, dass ein schwacher Puls vorhanden ist. Er spricht die Worte eines starken Heilzaubers und die Kelemvor Priesterin kommt zu sich. „Danke“, sagt sie knapp und noch recht benommen zu Galmor. Der Tempus Priester nickt ihr zu und zieht sie in Richtung der Tür, hinaus in den Gang, wo er sich ihrer Wunden weiter annimmt. Inzwischen konnte der wütende Barbar die schattengeschuppte Halbdrachin töten. Sofort löst sich die magische Dunkelheit auf. Mit einem lauten Knurren setzt Alexander hinter einem Shadar Kai her, den er mit einem einzigen entsetzlichen Hieb niederstreckt.
Evendur und ich nehmen mit unseren Bögen den letzten verbliebenen Obershadar Kai in die Zange. Wir fügen ihm schwere Verletzungen zu, dennoch weicht er zielstrebig zur schwarzen, pulsierenden Kugel zurück. Er scheint dem Tode nahe, nachdem Evendur einen gut gezielten Schuss auf ihn abfeuert. Rasch zieht er einen neuen Pfeil aus seinem Köcher und ich lasse meinen Pfeil auf den seltsam gewandeten Mann abschwirren. Doch ich verfehle ihn knapp. Der Shadar Kai flucht und springt mit einem verzweifelten Satz durch das Portal. Alexander ist nun auch nahe genug heran, noch immer in irrer Raserei macht er Anstalten, dem Anführer durch das Portal zu folgen. Mühsam halten Evendur und ich ihn davon ab.
„Lass gut sein, Brüderchen. Beruhig dich.“
Alexander schnaubt und versucht sich aus dem festen Griff Halbbruders zu befreien. „Alexander, bitte, hör auf ihn“, flehe ich meinen Freund an, „Elenya geht es nicht gut und auch du überschätzt dich. Schau dich an!“ Tatsächlich blutet der rasende Barbar aus zahlreichen Wunden. Endlich wird er ruhiger und sein Widerstand gegen Evendurs Haltegriff bricht. Erleichtert atmen wir auf. „Mann, lasst mich los! Schon gut, schon gut. Ich spring dem nicht hinterher.“
Der Kundschafter lässt ihn los und wendet sich Garon zu, der immer noch gedankenverloren die zuckende Kugel betrachtet, durch die gerade eben eine humanoide Kreatur verschwunden ist. „Hey, was hast du herausgefunden über dieses Ding hier?“
Garon schweigt.
„Garon?“ Ich schüttele ihn. „Antworte, Magier, oder beabsichtigst du, auch da durch zu hüpfen?“, fragt der Späher unfreundlich. Garon blinzelt kurz, blickt uns danach tadelnd an und erklärt, dass dieses spezielle Portal ein Weg auf die Schattenebene ist. „Mit herkömmlichen Mitteln und unserem Wissen ist es unzerstörbar.“ Resigniert blicken wir einander an. „Wir können es also nicht verschließen?“, fragt Galmor.
„Nein.“
„Und was jetzt?“, will Alexander wissen. „Jetzt suchen wir hier weiter nach den Gefangenen“, beantworte ich übertrieben fröhlich seine Frage, „Schließlich gibt es hier noch diesen großen Turm. Da finden wir bestimmt etwas.“ „Ach ja, das hier habe ich übrigens bei diesem grässlichen Krokodilwesen gefunden“, lässt uns Evendur wissen und wedelt mit einem Schlüsselbund vor unserer Nase. Alexander und ich sind bereits dabei, den Raum ein wenig zu durchsuchen. Auf einem kleinen Altar finden wir einen Brief.
Despayr,
Die Herrin des Verlusts hat Eure Hingabe bemerkt und wird sie belohnen. Ich sende Euch Thierraven, der dieses Schreiben mit sich führt. Er trägt die Mittel, die Passage des Dusklords ein weiteres Mal zu öffnen, um Euch dadurch ein ruhmreiches neues zu Hause zu geben und unsere Sache im beiderseitigen Einverständnis zuende zu bringen.
Wenn Ihr Euch durch das Portal begeben habt, so werdet Ihr Euch in einem schattenhaften Ebenbild dieser Burg wiederfinden. Von dort aus wird Euch ein anderer vom Volke Thieravens, ein Shadar-Kai, zum Kloster des Ebenholz Kloster geleiten. Ich erwarte Euch dort ungeduldig, da wir viel zu bereden haben.
Bewahrt Eure Geheimnisse sicher, denn ihr Gewicht wird eines Tages die Mysterien zu Fall bringen.
Auch die Schattenschuppe trägt ein Schreiben bei sich. Beide Briefe sind mit Esvele Graycastle unterzeichnet.
Kithlord Thieraven,
meine Herrin kann den Handel, der die Seelen deines Volkes an IHR reich bindet, nicht brechen, aber ich garantiere dir, dass sollten IHRE Pläne erfolgreich sein, du und deinesgleichen eine Heimat auf Faerûn haben werdet, wo ihr nichts von den Effekten des Fluches bemerken werdet.
Der verlassene Sumpf sollte eine perfekte Basis für dich und dein Volk abgeben, von wo aus ihr euch sammeln könnt, um eine echte Präsenz in der Welt aufzubauen. Niemand wird es vermuten, keine neugierigen, spionierenden Augen werden auf euch gerichtet sein. Nur einige primitive Echsenstämme, die ihr leicht abschlachten oder versklaven könnt, werden Notiz von eurer Ankunft nehmen. Der Erfolg dieses Unternehmens wird zu weiterem Erfolg in anderen Unternehmungen führen und schon bald wird dein Volk viele Plätze haben, an dem es leben kann, ohne den Verlust der eigenen Seele fürchten zu müssen.
Wie immer erlaubt sie euch Zugang zum Schattengewebe und ich biete ich weiteres Training in dessen Benutzung an. Wir bitten euch dringend, noch mehr eurer Art davon zu überzeugen, diese Gabe anzunehmen. Du selbst hast die positiven Aspekte bereits gesehen und in den kommenden Monaten und Jahren wird euer Volk seine Macht spüren lernen.
Esvele Graycastle
Mit angespannten Gesichtern lauschen wir Elenyas Worten, als sie die Briefe vorliest.
„Über diesen Dusklord habe ich mal eine Legende gehört. Wollt ihr sie hören?“ „Lass stecken, Lily, jetzt ist wohl kaum die Zeit für Ammenmärchen“, antwortet Evendur. „Von dir habe ich keine andere Antwort erwartet“, entgegne ich eisig. Garon gibt mir ein ermunterndes Handzeichen: „Doch, lass hören.“
„Also schön, dann lauscht der Geschichte des Dusk Lord von Sessrental“, hebe ich feierlich an, „Über 300 Jahre lang war das ruhige Tal zwischen den Donnerspitzen und dem Elfenland von Semberholme bekannt als die aufstrebende Gemeinde von Sessrental. Im Jahre 1232 DR, bezichtigten jedoch die militärischen Machthaber von Bogental den Dusk Lord zu Sessrental der Hexerei. Sie behaupteten, dass der düstere Lord das Land mit Nekromantie und anderer böser Magie verschmutzte. Folglich marschierten die Armeen Bogentals in Sessrental ein und überzogen das ruhige Tal drei volle Wochen lang mit einem Blutbad. Was auch immer dran sein mochte, an den Beschuldigungen seitens Bogental, gewiss ist nur, dass Sessrental äußerst mächtige Magie zur Verteidigung aufbot, so dass die Verluste auf beiden Seiten immens waren. Schließlich wurde der Dusk Lord niedergerungen. Sein Volk wurde vertrieben. Sie flohen mittellos nach Westen, hinein nach Cormyr. All ihre Habseligkeiten wurden von der siegreichen Armee Archentals als Kriegsbeute mitgenommen, ihre Häuser wurden verbrannt und das Land, welches sie bewirtschafteten wurde mit Salz überzogen und dadurch unfruchtbar gemacht. Heute erscheint Sessrental auf keiner Karte der Talländer mehr und scheint absolut in Vergessenheit geraten zu sein.
Das Schicksal seines ehemaligen Landesfürsten hingegen gibt Anlass zu einigen Spekulationen. Einige sagen, er wurde in einer blutigen Endschlacht erschlagen. Andere behaupten, dass seine Nekromantie ihn über den Tod hinaus lebendig hält. Viele Geschichten sind sich dahingehend einig, dass der Dusk Lord in Richtung Cormyr floh und sich im weiten Sumpf niederließ.
Annähernd 150 Jahre nach seinem Verschwinden, würden nur wenige behaupten, dass er noch immer dort ist, es sei denn, er wäre ein Leichnam, wie einige Versionen der Geschichten nahe legen. Eine der weniger populären Legenden den Dusk Lord betreffend, erzählt, dass er durch mächtige Magie zur Ebene der Schatten gelangte, wo er noch heute existiert. Die Magie, die ihm den Übertritt in diese fremde Ebene erlaubte, wird in den Geschichten als Dusk Lord´s Passage bezeichnet.“
„Ob das hier sein Durchgang zur Schattenebene ist?“, fragt Elenya.
„Das würde voraussetzen, dass dieses Märchen wahr ist“, erwidert Evendur.
„Zumindest sollte man diese Legende im Hinterkopf behalten, auch wenn ich nicht denke, dass es sich bei diesem Portal hier um jenen Durchgang des Dusk Lords handelt.“ meint Garon.
Während meiner Erzählung schlich Alexander weiter in dem großen Saal herum, ein schrilles Pfeifen lässt unsere Köpfe in seine Richtung fliegen. Er steht vor einer großen Eisentür an der Rückseite des Raumes. Auffordernd pfeift er abermals und winkt seinen Halbbruder herüber, energisch auf den Schlüsselbund in dessen Hand deutend. „Willst du, dass ich mir den Bund zwischen die Zähne klemme und schwanzwedelnd auf allen Vieren zu dir renne?“ „Mir egal, nur bring endlich den Schlüsselbund rüber, oder wollt ihr hier Wurzeln schlagen und weiterhin Geschichtsstunden abhalten?“ Gemeinsam gehen wir zu Alexander und Evendur schließt die Tür auf. Sie führt in Richtung des Turms. Wir stoßen auf weitere verschlossene Türen, die sich mit keinem der Schlüssel, die wir fanden, öffnen lassen. Garon verwandelt sich in einen Erdelementar, bei dessen Anblick ich noch immer zusammen zucke, und untersucht jene Räumlichkeiten, die wir nicht betreten können. Da der Turm auf der Rückseite ein Loch aufweist, rät uns Garon, außen herum zu gehen, von wo aus wir die Treppe nach oben problemlos erreichen könnten.
Wir setzen seinen Rat in die Tat um. Ganz oben im Turm finden wir vier männliche Scharfzahnechsen und ein Weibchen vor. Die Schlüssel vom Bund der Krokodilkreatur passen und wir befreien die stark angeschlagenen Gefangenen. Garon, als einziger von uns der drakonischen Sprache mächtig, beruhigt die Echsen und vergewissert sich, dass es sich bei dem Weibchen um Ashala, die Nestgefährtin des Häuptlings Kessessek, handelt. Galmor und Elenya wirken kleine Heilungen auf die fünf Kreaturen, die sich wahrlich in einem erbärmlichen Zustand befinden. Evendur und der Kriegsmagier verbieten es ihnen, die Gruppe vollends zu heilen, da sie befürchten, sie könnten sich gegen uns wenden. Durch Garon als Dolmetscher erfahren wir, dass es hier im Turm keine weiteren Gefangenen gibt, sondern dass die verschleppten Echsen und Haarigen meist in die Schattenkugel gingen. Nur wenige blieben zur Verteidigung zurück. Alle verschleppten Kreaturen standen unter dem Bann einer Frau namens Sternenweberin Bresta. Wir vermuten, dass sie Garons Feuerball in der Eingangshalle zum Opfer gefallen ist.
„In dem einen Turmquartier habe ich übrigens eine interessante Notiz auf einem Schreibtisch liegen sehen“, merkt Garon an. Leider konnte ich sie in meinem Zustand weder lesen noch mitnehmen. „Dann werde ich versuchen, diese eine Tür aufzustemmen“, bietet Alexander an. Doch selbst mit vereinten Kräften gelingt es ihnen nicht, die steinerne Tür aufzuhebeln. Evendur kehrt schließlich mit einem Keil und einem Eimer Wasser zur Tür zurück. Er schiebt den Holzkeil so tief es geht unter der Tür durch, bevor er ihn wässert. Alexander beäugt ihn misstrauisch. Garon schüttelt nur amüsiert den Kopf. Einzig Galmor scheint zu begreifen, was unser Kundschafter dort tut. „Durch das Wasser quillt der Holzkeil auf und wird ganz langsam aber stetig den Stein der Tür sprengen.“ „Aha“, macht Alexander nur. „In der Tat faszinierend wie effektiv primitive Mittel sein können – WENN sie funktionieren sollten“, stellt der Magier fest.
Elenya, Galmor und ich begeben uns , während das Holz quillt, in den Burghof, um den Körper des toten Mystrapriesters fertig zu machen für die Reise. „Was? Wo ist er hin?“, ruft Elenya erschrocken. Galmor blickt sich um. „Oh nein, das wirft unseren ganzen Plan durcheinander! Wir hatten doch so viele Fragen an ihn“, rufe ich enttäuscht. „Ich glaube hier ist noch ein Teil von ihm“, meint der Tempuspriester und winkt uns zu einem blutigen Stück Fleisch, was vielleicht einmal der Unterarm eines Menschen gewesen sein könnte. „Und hier ist noch ein Teil“, bestätigt Elenya angewidert. Tatsächlich finden sich an beiden Körperteilen noch Reste einer klerikalen Gewandung, wie sie der Mystrapriester getragen hatte. „Offensichtlich hat ihn etwas aufgefressen“, stellt Galmor lakonisch fest. „Und nun? Was wird aus unserer Befragung?“, will ich wissen. Elenya wechselt einen Blick mit Galmor. „Ich habe einen Zauber vorbereitet, der es mir erlaubt, mit den Toten zu sprechen“, sagt sie schließlich, „Allerdings hat die Sache einen gewaltigen Haken. Ich kann dem Toten lediglich drei Fragen stellen.“ Gemeinsam überlegen wir uns drei Fragen. Nachdem wir uns einig sind, drei gute Fragen ausgewählt zu haben, stellt die Kelemvor Priesterin eine Verbindung zur Ebene der Toten her. Ein Stöhnen und Wehklagen ist um uns her zu hören und auf meinen Armen bildet sich eine Gänsehaut. Endlich scheint sie den Kontakt hergestellt zu haben. „Wie ist dein Name?“, fragt sie den Geist des Verstorbenen. Eine ätherische Stimme, die von überall und nirgendwo zu kommen scheint, antwortet ihr in kryptischer Weise:
„Ich besitze keinen Namen mehr – ich erinnere mich nicht an ihn, aber er steht niedergeschrieben auf einem Dokument welches mir in Wheloon abgenommen wurde, es wurde in Illipur ausgestellt.“
Ich schaue Galmor ratsuchend an, doch der zuckt auch nur mit den Achseln. „Ich liebe dieses Faible für ausgefallene, rätselhafte Antworten!“, stöhnt Elenya. „Egal, frag weiter, wir grübeln später, was das alles bedeutet“, schlage ich vor. Seufzend wendet sie sich wieder dem Geist des Priesters zu: „Warum machst du gemeinsame Sache mit den Shar Priestern und den Untoten?“
„Ich wurde von der anderen dunklen Seite gebeten.“ Antwortet der Geist.
Wir blicken einander kurz ratlos an, doch rasch winke ich ab und signalisiere Elenya, dass sie nun auch die letzte Frage stellen soll. „Und was wurde aus dem Zwerg Amnik Basult?“
„Er folgte dem Ruf der Sternenweberin Bresta in seine neue Heimat.“
Mit einem Wegklagen zerreist das Band zur Ebene der Toten und wir drei stehen ratlos vor den kläglichen Überresten des Mystrapriesters. Während wir ihn notdürftig beerdigen diskutieren wir über den Sinn und Unsinn seiner mystischen Worte. „Also mir fällt gerade ein, dass wir doch im Whelooner Tempel einige Ausweise gefunden hatten. Da war tatsächlich ein Reisepass dabei, der in Illipur ausgestellt war. Ich meine mich zu entsinnen, dass der Name des Passinhabers Halish lautete.“ „Gut Lily, ich werde mir den Namen merken und wir sollten dafür Sorge tragen, dass ein Mystratempel vom Schicksal dieses Klerikers erfährt.“, meint Elenya. Schließlich kommen Garon, Alexander und Evendur zu uns nach draußen. Sie waren ebenfalls nicht untätig. Nach Durchsicht aller Briefe, Karten und Dokumente eruierten sie, dass wir wohl zwangsläufig auf die Schattenebene reisen müssten. „Doch zunächst kehren wir zu Häuptling Kessessek zurück“, endet der Kundschafter die Ausführungen des Magiers über die Schattenebene, „Galmors Schicksal muss zum Guten gewendet werden und dafür müssen wir Ashala heil ins Echsendorf bringen.“ Wir alle klopfen Galmor aufmunternd auf die Schulter. „Wird schon gut gehen. Wir bringen diese Nestgefährtin heim und du bekommst dein Gegengift“, ruft Elenya fröhlich. Sie blüht richtig auf, seit der Tempus Priester mit uns reist. Scheinbar verbindet ihre Seelen mehr miteinander als dies beim Rest unserer kleinen Schar der Fall ist. Manchmal diskutieren sie über die Sichtweisen ihrer Götter und über das Gefüge der Welt. Wahrlich ein Thema, bei dem außer Garon wohl keiner von uns mitreden möchte.
Wir verbringen die Nacht außerhalb der Zuflucht – alles ist auffallend ruhig. Auch Alexander ist auffallend ruhig. Besorgt betrachtete ich meinen großen Freund, der zusammengesunken, mit hängenden Schultern auf dem Boden kauert und offenbar nichts um ihn herum zur Kenntnis nimmt. „Welchen inneren Kampf kämpfst du nur, mein Freund?“, flüstere ich ihm zu. Eine Frage, auf die ich nicht wirklich eine Antwort erwarte. Ich ahne, was in ihm vorgeht. Es hat vermutlich etwas mit diesem dunklen Wesen in seinem Inneren zu tun, welches von Zeit zu Zeit Besitz von ihm ergreift. In letzter Zeit habe ich das Gefühl, dass es häufiger als früher die Oberhand gewinnt und ich bin mir nicht sicher, ob das gut oder schlecht ist. Gerade sehne ich mich zurück nach der Zeit, in welcher Alexander und ich allein durch Faerûn zogen. Jeder konnte sich auf den anderen absolut verlassen, wir hatten keine Geheimnisse voreinander. Doch nun? Nun sind die Momente vertrauter Zweisamkeit rar, wenn nicht sogar überhaupt nicht mehr gegeben.
Dafür haben wir jetzt vier Gefährten, die grob das selbe Schicksal wie wir hatten. Irgendwie fühle ich mich ihnen verbunden, Elenya mehr als den anderen, aber wenn ich genau über all dies hier nachdenke, dann frage ich mich, woher diese Verbundenheit herrührt. Äußerlich betrachtet sind wir teils grundverschieden. Und dennoch scheint irgendein Band zu existieren, was uns ein Urvertrauen gegenüber den anderen gewährt. Ich wünsche mir, dass wir dieses Band stärken, so dass wir letztlich zusammen gesehen mehr sind als nur die Summe unserer einzelnen Mitglieder.