„Wer schickt euch?“
Zur Antwort zieht Alexander sein Schwert und ich rufe dem Shadar Kai im selben Moment entgegen: „Wir haben eine Verabredung mit Despayr.“
„Fahrt die Ruder aus!“ brüllt der Schattendiener.
Rasch lege ich einen Pfeil in meinen Bogen und schieße auf den Mann. Doch ich verfehle ihn, ebenso wie Evendur. Galmor intoniert einen religiösen Zauber, der jedoch auch keine offensichtliche Wirkung auf das Wesen hat und Alexander stürmt mit ausgestrecktem, wild schwingendem Schwert auf die <Necreme> zu. „Atta Umbar Yello!“ schreit Garon neben mir und die uns inzwischen wohl bekannten winzigen Totenschädel schießen auf das Schiffsdeck zu, um sich dort zu klebrigen Schnüren zu entwirren. Der Shadar Kai sammelt violette Energie um sich herum und richtet seine ausgestreckten Arme auf den anstürmenden Barbaren. Ein violetter Strahl schießt auf Alexander zu, doch wir können nicht erkennen, ob unser Gefährte Schaden genommen hat.
An Bord des Bootes befinden sich inzwischen noch vier Skelette, welche in den Ruderbänken, im tiefer gelegenen Rumpf hocken. Durch Garons Netz ist die <Necreme> jedoch weiterhin fest mit dem Steg verbunden, allerdings setzen die Skelettruderer alle Kraft daran, das Boot aus dem Netz herauszulösen. Ein wütender Aufschrei Alexanders lässt uns vermuten, dass der Tätowierte Kerl nicht der einzige Gegner an Deck ist. Doch alles an Bord entzieht sich momentan unseren Blicken. Mühsam löst sich das Boot vom Steg und uns wird bewusst, dass wir einen Sprung aufs Deck nicht schaffen werden. „Erkala tulta!“ schreit Garon und magische Geschosse rasen auf den Shadar Kai zu, der davon jedoch unbeeindruckt ist.
„Garon, du mächtiger Wasserelementar, kannst du diese Nussschale nicht irgendwie aufhalten?“, frage ich verzweifelt.
Derweil errichtet Galmor eine magische Brücke für uns, mittels derer wir das Boot erreichen könnten, wenn es sich nicht mehr weiter entfernt. Auf dem höchsten Punkt der Brücke sehen wir, was auf Deck passiert. Außer dem Shadar Kai befindet sich eine weitere Höllenkreatur in Alexanders Nähe: ein riesiger, schattenhafter Hund mit schlimmen Stacheln. Wir beobachten atemlos, wie unser Freund mit dem Hund ringt, der dem Tode nahe ist. Ein letztes Mal brüllt der Barbar die Bestie wie ein wildes Tier an und dann liegt die Kreatur reglos auf den Planken der <Necreme>. Während Alexander den Kadaver des Köters über Bord hievt, ertönt Garons magischer Singsang: „Nelde...Hanas Rhor!“ und er gleitet ins Wasser, wo sich sein Körper mit dem Nass verbindet. Scheinbar bewegt er sich unter das Schiff und veranlasst es quasi im Wasser stecken zubleiben, indem er einen Strudel bildet.
Inzwischen sind Galmor und ich keuchend bei Alexander auf dem Schiffsdeck angelangt. Der ebenfalls bereits vom Tod gezeichnete Shadar Kai versucht mich mit seiner üblen Stachelkette zu Boden zu reißen. Es gelingt ihm zwar nicht, doch reißt er mir ein ansehnliches Stück Fleisch aus der Wade. Vor Schmerz und Überraschung heule ich laut auf. Mit einem gut gezielten Schlag seines Kriegshammers tötet Galmor den Tätowierten. In diesem Moment kommen auch Evendur und Elenya an Bord. „Warum habt ihr ihn umgebracht? Wir wollten ihn nach dem Weg fragen!“ herrscht uns der Kundschafter an. Ich entgegne ihm wütend und mit schmerzverzerrtem Gesicht: „Scheiß drauf, der Mistkerl wollte kämpfen und nicht reden.“ „Außerdem war Gefahr im Verzug“, ergänzt Galmor, auf meine tiefe Fleischwunde deutend. Mitfühlend schiebt mich Elenya in Richtung Kajüte. „Komm mit und lass mich das mal ansehn. Uhhh...schaut übel aus, aber das kriege ich wieder hin. Wird man nicht mal nen Kratzer sehen. Setz dich“, fordert sie mich auf.
Von oben höre ich Evendur noch immer fluchen und mit Galmor und Alexander streiten. „Dann könnt ihr zwei Strategen mir auch sicherlich verraten, wo wir nun hin müssen, oder?“ Beschwichtigende Worte von Galmor „Siehst du das Licht da hinten? Da ist die zweite Anlegestelle.“ dringen leise zu uns in die Kajüte und auf der kurzen Treppe zu uns hinunter hören wir die wütenden Schritte des Barbaren, der einen kurzen Moment später zu uns herein tritt und sich erschöpft in eine Ecke setzt. „Ich penne erst mal, bis DER (deutet nach oben in Richtung seines Halbbruders) wieder abgeregt hat.“
Elenya seufzt.
„Bist du verletzt?“
„Nee, nur ein Kratzer“, antwortet mein Freund. Die Kelemvor Priesterin spricht heilige Worte und die tiefe Wunde an meinem Bein schließt sich. Anschließend geht sie zu Alexander rüber und murmelt auch dort die Worte eines Heilzaubers. Dabei schüttelt sie missbilligend den Kopf: „Soso, nur nen Kratzer, ja?“
„Nichts schlimmes halt“, grummelt der Kämpfer.
„Einigen wir uns auf ne Fleischwunde?“, fragt die Priesterin schmunzelnd.
„Von mir aus“, lenkt der Barbar müde ein, „und jetzt lasst mich einfach alle in Ruhe, kapiert?“
Wir nicken und befassen uns rasch mit etwas Neuem: der Untersuchung der Kajüte dieses fremdländischen Mannes. Wir finden eine wunderschön gearbeitete Harfe, meiner Einschätzung nach vom Ursprung her einem Harfner gehörend. Seltsam, ein solches Instrument von solcher Herkunft ausgerechnet hier zu finden. Neben der Harfe finden wir eine kurze Notiz von Esvele, sowie ein Blatt mit Noten:
Spiele dies und der Wächter der Schwarzbaum Biege wird friedlich schlummern.
Ich summe die Melodie, welche auf dem Notenblatt niedergeschrieben ist vor mich hin. Die Harfe rühre ich zunächst nicht an, weil ich erst von Garon wissen will, ob sie ungefährlich ist. Schließlich geselle ich mich zu den anderen aufs Oberdeck. Alexander lasse ich in der Kajüte schlafend zurück. Während Evendur und Garon, der wieder seine normale Form angenommen hat, versuchen das Boot zu steuern, was kläglich scheitert, untersuche ich die Leiche des Shadar Kai eingehend. Als erstes schmeiße ich seine verfluchte Stachelkette ins kalte Nass. Um den Hals trägt er ein skelettförmiges Amulett, welches ich ihm abnehme. „Garon? Schau mal hier.“ Ich reiche ihm das Amulett. Der Magier betrachtet es voller Interesse. „Ich werde es später identifizieren. Jetzt müssen wir dieses Gefährt erst mal in Gang bringen“, sagt er. „Dann gib es mir zurück“, fordere ich. Abwesend händigt er es mir aus. Einer inneren Eingebung folgend streife ich mir das Amulett über den Kopf. Kaum baumelt es um meinen Hals habe ich das Gefühl, zu wissen, wie die <Necreme> zu beherrschen ist. Augenblicklich erscheinen die vier Skelettruderer und ich kann ihnen telepathische Befehle erteilen.
„Gut Freunde, es kann losgehen. Ich habe die Kontrolle über das Boot. Wohin soll ich steuern?“
Galmor antwortet mir: „Siehst du den entfernten Lichtschein dort im Norden? Dahin müssen wir.“
„Nö, sehe ich nicht, aber wenn du sagst, dass da ein Licht ist, dann steuern wir nach Norden. Alles klar. Ach nein, Moment...Garon?“
„Ja?“
„In der Kajüte habe ich eine Handharfe gefunden. Würdest du bitte mal prüfen, ob sie irgendwie gefährlich ist? Falls nicht würde ich sie gern benutzen, denn da lag diese Notiz auf dem Tisch.“
Der Magier blickt mich alarmiert an.
„Welche Notiz, Lily?“
„Moment, ich hole alles“, rufe ich und eile unter Deck. Rasch suche ich alles zusammen und hetze zurück zu den anderen. „Hier, schau“, mit diesen Worten reiche ich Garon die Handharfe und den von Esvele verfassten Brief. Nachdem mir unser Schriftgelehrter versichert hat, dass die Harfe ungefährlich ist und ich sie getrost zum spielen der Melodie verwenden könne, es vermutlich sogar müsse, da sie magisch sei, nehme ich die Harfe an mich und stelle mich ans Steuer der <Necreme>.
Hoch konzentriert fahre ich los. Bei jeder Biegung des Flusses spiele ich mit wild klopfendem Herzen die Melodie des Notenblattes, doch schon bald macht sich Frustration in mir breit, denn es gibt viele schwarze Bäume und Flussbiegungen... . Die Fahrt strengt mich an. Nach einer halben Ewigkeit gelangen wir an dem von Galmor erwähnten Licht an. Es handelt sich um eine Leuchtboje mit zwei beleuchteten Fensterchen, von denen eines in die Richtung zeigt, aus der wir kamen und das andere in den Osten zeigt. Wir legen erst mal an, um zu beraten, wohin wir nun fahren sollen. „Erlis Yello“, ruft Garon und es erscheint eine kleine Totenkopfbiene, die emsig über das Wasser summt. Auf der dunklen Wasseroberfläche kräuseln sich Schatten und uns fröstelt schlimmer als zuvor. Keiner von kann mit Sicherheit sagen, wie viel Zeit inzwischen vergangen ist. Ein Gefühl der Einsamkeit und des Verlorenseins breitet sich zwischen uns aus.
„Wir fahren nach Osten“, bestimmt Galmor. Letztlich sind wir alle froh, dass einer von uns sagt, was zu tun ist und so setze ich unser Schiff abermals in Bewegung.
Durch die Kälte des tückischen Wassers, welche langsam, aber unaufhörlich in unsere Körper kriecht, werden wir allmählich müde, sehr, sehr müde. Garon legt sich zu Alexander in die Kajüte. Ich versuche mit aller Macht meine Augen offen zu halten und richte meine Gedanken starr auf die <Necreme> und unsere Umgebung. Weiterhin reiße ich das Ruder teils zu hart herum, sobald ein auffälliger, schwarzer Baum und eine Biegung in Sicht kommen und beginne dann panisch auf der Handharfe zu spielen. Gelegentlich bekomme ich eine Art Eingebung von der Harfe, die mir beim wiederholten Spiel verrät, dass mehr in ihr steckt, als nur das gute Holz und die teuren Saiten.
Wie durch einen Nebelschleier registriere ich, dass Galmor das Oberdeck verlässt. Da er es war, der mich durch Erzählungen und Fragen und Gedankenspiele wach gehalten hat, resigniere ich und beschließe, ebenfalls eine Auszeit zu nehmen. Die zu überwindende Strecke bis zur nächsten Anlegestelle scheint erheblich weiter zu sein, als wir dachten. Und da uns jegliches Zeitgefühl verlassen hat, breitet sich eine Stimmung der Gleichgültigkeit aus. Was macht es schon, wann wir ankommen? Die Frage, ob und wo wir ankommen, stellt sich schon längst nicht mehr.
Das Amulett lege ich ab und im selben Moment verschwinden die vier Skelettruderer. Ich bitte Evendur, der am Heck des Schiffes seinen Gedanken nachhängt, den Anker auszuwerfen. Langsam hebt er den Kopf, blickt sich bedächtig um und bemerkt schließlich, dass die Ruderer nicht mehr da sind. „Was ist mit dem Schiff? Wo sind die Ruderer hin?“, fragt er mich matt. „Ich habe das Amulett abgenommen, weil ich zu müde bin. Ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten. Lasst uns doch einfach alle eine Mütze voll Schlaf nehmen.“
„Und wer hält Wache?“
Ich blicke ihn verständnislos an: „Wache?“ „Ja, Lily, Wache. Jemand der aufpasst.“ „Also ehrlich gesagt rechne ich hier mitten auf dem Fluss nicht mit feindlichen Übergriffen“, erwidere ich zögerlich.
„Hast du denn nichts bemerkt bisher?“, fragt der Kundschafter mich erstaunt.
„Scheinbar nicht, aber weißt du, ich war eigentlich auch ziemlich damit beschäftigt, dieses Boot zu steuern und nebenher noch Harfe zu spielen, sobald ich einen schwarzen Baum und eine Biegung des Flusslaufes wahrnahm“, werfe ich wütend zurück. Was denkt der denn? Etwa, dass ich hier gesessen und Däumchen gedreht habe? Doch Evendur winkt nur ab und geht steif die wenigen Stufen zur Kajüte hinunter. Ich folge ihm und sehe gerade noch, wie er seinen Halbbruder heftig aus dem Schlaf rüttelt. Der Zweizentnermann fährt erschrocken hoch und brüllt Evendur an: „Was gibt´s?!“ Müde antwortet ihm der Kundschafter: „Wäre nett, wenn du mal Wache halten könntest.“ Zur Erwiderung auf diese Anfrage holt Alexander lediglich mit der Faust aus und haut seinem Halbbruder ungebremst ins Gesicht. Ich stoße einen erstickten Schrei aus. Während Evendur in das süße Reich der Bewusstlosigkeit gleitet murmelt er noch ein „Danke, endlich schlafen...“, bevor er friedlich lächelnd und mit blutender Nase einschläft. Ich schüttele den Kopf und wende mich dem Barbaren zu:
„Spinnst du?“
„Was hast du, Lily? Er hatte scheinbar Einschlafprobleme und ich habe ihm Abhilfe verschafft.“
Ich nicke. „Schön, dann können wir zwei ja nach oben gehen. Du hältst Wache – wozu weiß ich zwar nicht – und ich schlafe. Hier unten ist es ohnehin zu voll.“ Oben angelangt positioniert sich Alexander auf dem Kajütendach und ich kuschele mich in eine der Ruderbänke.
Durch die klamme Kälte wachen wir bald auf und setzen unsere Reise fort. Obwohl wir geschlafen haben, fühlen wir uns nicht erholt und die Stimmung bleibt angespannt. Die Müdigkeit und die Trostlosigkeit der Umgebung liegen wie ein bleiernes Tuch über uns.
Nach einer Ewigkeit sehen wir backbord den Panzer einer riesigen, weißen Schildkröte. Sollte dies der Wächter sein? Ich nehme die Harfe und spiele was das Zeug hält. Wir passieren die Stelle unbehelligt.
Von Zeit zu Zeit haben wir das Gefühl beobachtet zu werden. Schatten scheinen sich immer geradeso außerhalb unseres Blickfeldes neben der <Necreme> zu bewegen. Auch im Wasser glauben wir Bewegungen und Schatten von Wesen zu sehen, doch sobald man eine Stelle mit dem Blick fixiert, ist dort nichts mehr.
Irgendwann kommen mehrere Lichter in unser Blickfeld. Es handelt sich beim Näherkommen um einen schattenhaften Landungssteg, der heruntergekommen und leer dort liegt. Vom Landungssteg aus führt ein Pfad einen Hügel hinauf, auf dessen Kuppe Lichter brennen. Vermutlich handelt es sich um das auf der Karte verzeichnete Ebenholzkloster. Der Pfad hinauf zur Hügelkuppe schlängelt sich mehrere Meilen durch die triste Landschaft.
Wir bereiten uns auf das Anlegen vor. Alexander wirft die Kerze, die vorne am Bug brannte, ins Wasser, woraufhin ihn Evendur irritiert anspricht: „Alexander?“ „WAS?!!“, reagiert der Angesprochene gereizt. „Benutz doch einmal deinen Kopf, bevor du deine Hände benutzt.“ „Was willst du???“, fragt Alexander verwirrt und ärgerlich. „Dass du dein Gehirn benutzt, Brüderchen. Denn scheinbar hattest du es vergessen zu benutzen, als du die Kerze ins Wasser geworfen hast.“ Der Barbar schnaubt wütend, doch es gelingt mir, ihn zu beruhigen. Ich ziehe ihn ein wenig abseits, ans Heck des Bootes, bitte mit Blicken darum, dass er sein Schwert ein Stück weit aus der Scheide ziehen möge, ritze mir eine weitere Kerbe in den Finger und lecke das Blut genüsslich ab. „Wie viele sind´s nun?“, fragt mich mein Freund, mit seinem Zeigefinger auf meinen deutend. Ich grinse und halte ihm meinen Zeigefinger hin. „Sieben.“, stellt er leise fest. Ich nicke: „Halbzeit.“