Teil 27: Feuchtes GrabFortsetzung Session 05.04.2008Es war ein orangefarbenes Schimmern in der Dunkelheit. Mit dem letzten Funken meines Bewusstseins nahm ich wahr, dass irgendetwas an meiner Schulter ruckte. Ich wurde gezogen, hin zu dem Lichtschein. Wie durch ein Wunder schaffte ich es, nicht in Ohnmacht zu fallen. Das Schimmern wurde immer heller, bis es schließlich gelb war. Nun leuchtete es auch nicht mehr gleichmäßig, sondern schien zu flackern.
Dann durchstieß mein Kopf die Wasseroberfläche. Luft! Ich wollte atmen, schaffte es aber nicht. Mit jedem Versuch würgte ich nur salziges Wasser hervor. Dann bemerkte ich plötzlich Hitze auf meinem Gesicht. Das Leuchten stammte von dem Steg: Er stand lichterloh in Flammen! Neben mir schwamm eine Gestalt im Wasser - Pater Benedict! Er hatte mit einer Hand meine Schulter gepackt und zerrte meinen reglosen Körper in Richtung Ufer.
Nach wenigen Schwimmzügen hatte er den Strand erreicht und schleppte sich auf den Sand, während er mich gleichzeitig halb an Land zog. Auf allen Vieren kroch er ein Stück weiter den Strand hinauf und hustete und würgte dabei Wasser aus - offenbar war es ihm auch nicht viel besser ergangen als mir. Ich konnte mich immer noch nicht bewegen, merkte aber, dass mir Wasser aus Mund und Nase floss. Als der Pater wieder halbwegs atmen konnte, kroch er zu mir zurück, zog mich ein paar Meter weiter den Strand hinauf bis zur Felskante und wälzte mich auf die Seite.
"Mr. Mannock! Versuchen Sie, zu atmen!", befahl er mit rauer Stimme. Ein größerer Schwall Wasser quoll aus meinem Mund heraus, dann merkte ich, wie meine Lungen wieder etwas freier wurden. Rasselnd sog ich Luft ein, musste aber sofort wieder würgen. "Gut, versuchen Sie's weiter", keuchte der Pater und klopfte auf meinen Rücken.
Ein paar Minuten würgte, spuckte und hustete ich noch, dann gelang es mir schließlich, wieder gleichmäßig zu atmen - wenn auch nur flach. Die Hitze des Feuers half dabei, das Taubheitsgefühl im Rest meines Körpers zumindest teilweise zu vertreiben, so dass es mir kurz darauf sogar gelang, mich aus eigener Kraft aufzusetzen und mit dem Rücken gegen die Felswand zu lehnen.
"Wo...?", brachte ich nur hervor, dann wurde ich von meinem eigenen Husten unterbrochen. Pater Benedict, der neben mir saß und noch immer sichtlich erschöpft nach Atem rang, deutete mit dem Zeigefinger auf das Ende des Stegs. "Da sitzt es", verkündete er, nicht ohne ein gewisses Maß an Genugtuung in seiner Stimme. "Die Letzte hat getroffen", fügte er hinzu. Ich kniff die Augen zusammen, um durch den hellen Feuerschein etwas erkennen zu können. Tatsächlich: Am Ende des Stegs hockte die Blase und rührte sich nicht. Der Rückweg war ihr durch das Feuer versperrt und unter ihr befand sich nur noch das Meer. Sie saß in der Falle, genau wie wir es geplant hatten. "Aber... der Schlauch?", fragte ich. "Hat mich nicht erwischt", antwortete der Pater und schaffte es dabei sogar, sich ein schiefes Grinsen abzuringen. Ich glaube, hätte er in diesem Moment eine Zigarre gehabt, hätte er sie sich angesteckt. "Aber nun seien Sie besser still und ruhen sich aus", fügte er hinzu, "ich werde versuchen, Hilfe zu holen."
Ich konnte es kaum fassen. Dieser Teufelskerl von einem Gottesmann hatte es tatsächlich geschafft, mit seiner letzten Fackel die Matratzen zu entzünden, war dem Angriff der Blase ausgewichen, ins Meer gesprungen, und hatte mich dann auch noch aus dem Wasser gezogen, wobei er fast selbst ertrunken wäre. Für diesen Mut und diese Selbstlosigkeit bewunderte ich ihn aufrichtig - und nicht zuletzt hatte ich ihm auch noch mein Leben zu verdanken.
Aber noch hatten wir nicht gewonnen: Das Feuer begann bereits, kleiner zu werden. Nicht nur der Steg brannte - auch der kurze Bohlenweg bis hin zur Felswand. Die hölzerne Treppe, die das letzte Stück bis zu den Steinstufen bildete, stand ebenfalls in Flammen. Man würde also eine etwa 1,50 Meter hohe Felswand erklimmen müssen, um auf die Steinstufen zu gelangen. Glücklicherweise hatte uns der Pater an jener Seite des Stegs an Land gebracht, an der sich die Treppe befand - andernfalls hätten wir durch das Feuer gar keine Chance gehabt, an die Steinstufen heranzukommen. Nichtsdestotrotz war an eine solche Kletterpartie in meinem jetzigen Zustand nicht zu denken - zwar konnte ich flach atmen und auch meine Arme und Beine bewegen, aber für jegliche Form der Anstrengung war ich einfach noch zu schwach.
Pater Benedict stand auf, entfernte sich ein paar Schritte von der Felswand und suchte mit seinen Augen die Treppe ab. "Immer noch nichts. Wo stecken die bloß?", fragte er mehr zu sich selbst. Vermutlich befürchtete er genau wie ich, dass den Damen doch etwas zugestoßen sein könnte. Mrs. Stevens-McCormmick hatten wir ja schreien hören - vielleicht nur vor Schreck, aber wer konnte das schon genau wissen? Hoffentlich ging es ihnen gut.
"Vielleicht haben Sie einfach nur nichts mitbekommen", versuchte Pater Benedict, uns Mut zu machen. Dann begann er, lautstark die Namen von Lady Gordon und Mrs. Stevens-McCormmick zu rufen, und dass wir am Steg wären und ihre Hilfe bräuchten. Danach warteten wir zwei Minuten - nichts. Keine Damen, keine Antwort. Er versuchte es erneut. Wieder nichts.
Allmählich lief uns die Zeit davon: Das Feuer brannte immer weiter herunter und irgendwann würde es klein genug geworden sein, so dass sich die Blase wieder vom Steg auf den Strand bewegen konnte - und dann hatten wir ihr nichts mehr entgegenzusetzen. So weit durften wir es auf keinen Fall kommen lassen - so eine Chance wie jetzt würden wir mit Sicherheit nicht noch einmal kriegen.
Pater Benedict brüllte sich die Seele aus dem Leib. Immer wieder rief er nach den Damen, dann lauschte er ein bis zwei Minuten, dann rief er erneut. Nach fünfzehn Minuten war seine Stimme derartig heiser geworden, dass weitere Versuche keinen Sinn mehr hatten. Das Feuer hatte inzwischen erheblich nachgelassen und die Blase war bereits ein gutes Stück näher gekommen, offenbar auf der Suche nach einem Ausweg. Pater Benedict wollte sich gerade resigniert von der Felswand abwenden, als er stockte und wieder nach oben starrte. "Ich glaube, da kommen sie", sagte er, fast ungläubig. Tatsächlich: Lady Gordon und Mrs. Stevens-McCormmick kamen mit einer brennenden Öllampe die Treppe herab, offenbar beide relativ wohlauf. Einige Momente später standen sie in etwa fünf Metern Höhe direkt über uns auf der Treppe, und die ersten Sätze, die Lady Gordon uns zurief, verschlugen uns glatt die Sprache: "Was ist denn hier los? Haben Sie ein Problem?"
Pater Benedict und ich starrten uns einen Moment lang fassungslos an. "Äh, ja", rief der Pater schließlich nach oben, "wir brauchen die Symbole. Bitte kommen Sie herunter und helfen Sie uns, das Ding auf dem Steg zu halten." Anscheinend bemerkten die Damen erst jetzt, dass die Blase auf dem Steg hockte. Es folgte aufgeregtes Gemurmel, dann ertöne Lady Gordons Stimme erneut: "Mrs. Stevens-McCormmick hat die Zeichnung von Annephis dabei, aber die Muschel müsste eigentlich noch Mr. Mannock haben."
Pater Benedict schaute mich fragend an. Verdutzt tastete ich die Taschen meines Jacketts ab. Lady Gordon hatte recht: In einer der Innentaschen fand ich die Muschel. Jetzt fiel es mir auch wieder ein: Wir hatten uns während der letzten Nacht ja dabei abgewechselt, durch das Fenster im Obergeschoss den Lichtkreis zu beobachten und im Foyer die Patienten zu bewachen. Dabei hatten wir die Symbole immer an denjenigen weitergegeben, der nach unten ging. Und da ich als Letzter die Patienten bewacht hatte, befand sich die Muschel noch in meinem Besitz. Peinlicherweise hatte ich dies in der Aufregung vollkommen vergessen und war davon ausgegangen, dass Lady Gordon sie noch hatte. Verlegen übergab ich die Muschel an Pater Benedict, der es sich natürlich nicht nehmen ließ, mich dabei mit einem strafenden Blick zu mustern.
Die Holzstufen waren inzwischen so weit niedergebrannt, dass Mrs. Stevens-McCormmick sich an den tiefsten Punkt der Steintreppe wagen und von dort auf den Strand herunterspringen konnte. Bei der Landung stürzte sie zwar unsanft in den Sand, konnte sich aber sofort wieder aufrappeln. Nun sah man auch, dass ihr Kleid an der linken Schulter ein großes Brandloch aufwies, unter dem eine nicht unerhebliche Menge verschrumpelten Fleisches zu erkennen war. Dieses verdammte Ding hatte sie also doch erwischt!
"Ich gehe auf die andere Seite", verkündete sie, watete kurz entschlossen ein Stück ins Meer hinein und zwängte sich unter dem Steg hindurch. Ihr plötzlicher Mut verblüffte mich - vermutlich hatte sie mit dem Ding noch eine persönliche Rechnung offen. Wie auch immer, jedenfalls zögerte sie nicht, auf der anderen Seite des Stegs bis zum Bauchnabel ins Wasser zu waten und der Blase dabei das Symbol der Annephis mit grimmiger Entschlossenheit entgegenzurecken. Pater Benedict tat es ihr auf dieser Seite des Stegs mit dem Symbol auf der Muschel gleich.
Tiefer als bis zur Taille wollten sich Pater Benedict und Mrs. Stevens-McCormmick jedoch nicht ins Wasser wagen - zum einen war es natürlich immer noch sehr kalt, zum anderen erhöhte sich die Gefahr, dass einer von ihnen ausrutschte und das Symbol verlor. Nichtsdestotrotz zeigte das Blasen-Ding auf dem Steg tatsächlich eine Reaktion: Es wich ein Stück zurück. Bis zum Ende des Stegs waren es allerdings noch ein paar Meter.
Lady Gordon, die inzwischen auch auf den Strand heruntergesprungen war, schlüpfte unter dem Steg hindurch zu Mrs. Stevens-McCormmick. "Klettern Sie hoch, ich halte derweil das Symbol", schlug sie ihr vor. Vorsichtig nahm Lady Gordon das Blatt in die Hand und Mrs. Stevens-McCormmick ließ es los. Dann kletterte Letztere auf den Steg und nahm es oben wieder in Empfang - all dies, ohne es auch nur für einen Sekundenbruchteil von der Blase abzuwenden. Dann stieg auch Lady Gordon auf den Steg hinauf und übernahm auf die gleiche Weise auf der anderen Seite die Muschel von Pater Benedict, der sich daraufhin aus dem Wasser zurückzog und sich zu mir gesellte. Gebannt beobachteten wir, was nun geschehen würde.
Lady Gordon und Mrs. Stevens-McCormmick machten einen zaghaften Schritt auf die Blase zu, wobei sie ihr die Symbole entgegenhielten. Die Blase wich die gleiche Strecke zurück. Ich hielt den Atem an - jeden Moment rechnete ich damit, dass sie einen Lichtschlauch auf eine der Damen abschießen oder eine von ihnen ihrem Willen unterwerfen würde. Doch nichts dergleichen geschah. Offenbar hatten die Damen nun etwas mehr Mut gefasst und machten einen weiteren Schritt auf die Blase zu. Wieder wich sie zurück und hatte nun das Ende des Stegs erreicht. Nun würde sich zeigen, ob die Geschichte der Annephis, wie sie im Castro-Manuskript niedergeschrieben worden war, stimmte. Würde sich dieses Mistding wirklich ins Meer treiben lassen? Ich wagte es kaum zu hoffen.
Entschlossen gingen Mrs. Stevens-McCormmick und Lady Gordon einen weiteren Schritt auf die Blase zu. Einige Sekunden lang, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, passierte nichts. Dann geschah es: Mit einem Mal wälzte sich die Blase von uns aus gesehen nach links vom Steg herunter und ließ sich ins Wasser fallen! Sofort eilten Lady Gordon und Mrs. Stevens-McCormmick zurück, sprangen vom Steg herunter und bauten sich vor mir und Pater Benedict auf. Vorsichtig wateten sie etwa knietief ins Wasser hinein und richteten die Symbole auf das offene Meer hinaus, um zu verhindern, dass sich das Ding wieder ans Ufer wälzen konnte.
Es verstrichen einige Sekunden, ohne dass etwas geschah. "Ich glaube, da drüben ist was!", rief Pater Benedict und deutete auf das Wasser auf der anderen Seite des Stegs. Lady Gordon fluchte, dann rannten die Damen schleunigst über den nur noch schwach glimmenden Steg hinweg auf die andere Seite, wo sie sich erneut aufbauten.
"Hier ist es, direkt vor mir!", kreischte Mrs. Stevens-McCormmick. Kaum hatte sie diesen Satz beendet, explodierte vor ihr die Wasseroberfläche und eine Fontäne aus rötlichem Schleim ergoss sich über sie. Sie stieß einen spitzen Schrei aus und ließ sich ins Wasser fallen, wo sie offenbar verzweifelt versuchte, sich den Schleim vom Körper zu rubbeln. Lady Gordon sprang zu ihr hin, hielt das Symbol über sie und versuchte, sie dabei so gut wie möglich zu unterstützen. All dies geschah so schnell, dass Pater Benedict und ich noch nicht einmal die Zeit hatten, vor Schreck aufzuschreien. Noch ehe wir uns wieder gefangen hatten, half Lady Gordon Mrs. Stevens-McCormmick schon wieder auf die Beine.
"Alles in Ordnung?", rief Pater Benedict den Damen zu. "Sie ist nicht verletzt", antwortete Lady Gordon, allerdings stand Mrs. Stevens-McCormmick der Schock ins Gesicht geschrieben. Keuchend rang sie nach Atem. Lady Gordon führte sie auf den Strand hinauf, dann watete sie jedoch zurück und fischte das Blatt aus den Wellen, das Mrs. Stevens-McCormmick bei ihrem Sturz natürlich fallen gelassen hatte. "Aber das Symbol ist hinüber!", informierte sie uns schließlich. "Behalten Sie drüben das Wasser im Auge, ich passe weiter hier auf!", fügte sie hinzu. Ein paar Minuten lang starrten Lady Gordon und Pater Benedict auf die Wellen, ohne dass sich etwas tat. Als Mrs. Stevens-McCormmick sich wieder etwas gefasst hatte, tat sie es ihnen gleich.
Zehn ereignislose Minuten später versammelten wir uns an der Stelle, an der ich saß, um uns zu beratschlagen. "Glauben Sie, das Ding ist tot?", fragte Pater Benedict in die Runde. Niemand von uns konnte dies mit Sicherheit beantworten. Falls nicht, standen wir allerdings mit nunmehr nur noch einem Symbol auf ziemlich verlorenem Posten. Lady Gordon zeigte uns das Blatt, das Darlene in ihrer Annephis-Identität gezeichnet hatte: Von dem Symbol war nur noch ein verwaschener Fleck übrig.
Ich fühlte mich inzwischen wieder kräftig genug, um zu versuchen, aufzustehen. Mit der Hilfe von Pater Benedict kam ich wieder auf die Beine. Ich wollte so schnell wie möglich zu Dr. Tiller, um mich von ihm untersuchen zu lassen. Die anderen wollten jedoch auf Nummer sicher gehen und mindestens noch so lange das Meer beobachten, wie es ihnen der letzte Rest Tageslicht gestatten würde. Mit vereinten Kräften hievten mich Pater Benedict und die Damen die 1,50 Meter zu den Steinstufen empor, danach konnte ich meinen Weg allein fortsetzen.
Ich schleppte mich die Treppe hinauf und dann den Weg entlang zum Sanatorium. Nach wie vor konnte ich nur sehr flach atmen und musste langsam gehen, um nicht vor Anstrengung die Besinnung zu verlieren. Schließlich fand ich Dr. Tiller in der Bibliothek, zusammen mit Darlene und Colonel Billings. Als er mich sah, sprang er sofort auf und holte eilends seine Arzttasche. Ich berichtete ihm, dass ich ins Wasser gefallen und fast ertrunken wäre. Er klopfte mir auf den Rücken und horchte mit einem Stethoskop meinen Brustkorb ab. "Ich fürchte, da kann ich nicht viel tun", teilte er mir schließlich mit, "Sie haben immer noch Wasser in der Lunge. Sie muss wahrscheinlich punktiert werden. Tut mir leid, aber das geht nur in einem Krankenhaus. Bis dahin sollten Sie sich aber auf jeden Fall schonen - vermeiden Sie jede Art von Anstrengung."
Wie es schien, würde ich ab jetzt für uns nicht mehr von großem Nutzen sein. Ich konnte nur hoffen, dass dies auch nicht mehr nötig war. Dafür sprach, dass sich dieses Ding hatte ins Meer treiben lassen, genau wie im Castro-Manuskript beschrieben. Das ließ natürlich die Hoffnung zu, dass es nun - genau wie dort auch beschrieben - vernichtet worden war. Andererseits: Konnten wir uns wirklich den Luxus leisten, diesem Manuskript voll und ganz zu vertrauen? War dieses Blasen-Ding tatsächlich eines jener Wesen, die darin als "jene, die warten" bezeichnet wurden? Wie auch immer, für mich zumindest würde dieser Tag vorbei sein. Ich zog mir trockene Kleidung an und legte mich auf eine der Matratzen in der Bibliothek.
Bevor ich einschlief, sagte ich mir immer wieder, dass wir es jetzt überstanden hatten.
Und doch - irgendwie hatte ich ein ungutes Gefühl.
Ende Session 05.04.2008
Fortsetzung in Teil 28: Phönix