Das Problem in einer Diskussion ist oft, dass von der engen auf die weite Definition geschlossen wird. Denn eine Trennung von Metawissen und Charakterwissen i.S. der engeren Definition von Metagaming ist durchaus erwünschenswert, ja für den von mir im Folgenden vorgeschlagenden Ansatz unerlässlich. Darum noch einmal abgesetzt eine erste Voraussetzung für die Gültigkeit meiner Aussagen:
Nur, wenn man mit Spielern spielt, die Metawissen und Charakterwissen trennen können, kann man Metawissen zu seinem Vorteil, also dem Vortel des Spiels, einsetzen.
Für den nächsten Schritt meiner Argumentation bediene ich mich einiger Beispiele aus der Popkultur. Ich hoffe, die folgenden Bücher/Filme sind bekannt oder zumindest oberflächlich ein Begriff. Ich habe einzelne Situationen herausgegriffen:
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Der Herr der Ringe: Gollum hält während der Nachtwache ein Zwiegespräch mit Smeagol bzw. sich selbst, ob er die Hobbits verraten soll. Später entscheidet er sich, sie zu Kankra zu bringen, die für ihn das Töten übernehmen soll.
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Titanic: Das Schiff sinkt.
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Star Wars: Luke fliegt auf den Lüstungsschacht zu. Seine ferngesteuerte Rakete geht daneben. Hinter ihm nimmt ihn Vader aufs Korn.
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Minority Report (oder eine Fülle ähnlicher Momente): Ein Polizist glaubt dem fälschlich gesuchten Hauptdarsteller. Er schütttet dem Polizeichef sein Herz aus und wird dafür ermordet, weil der Polizeichef einer von den Bösen (der Böse) ist.
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Mehr dazu gleich.
Rollenspiel ist ein soziales Unternehmen mit dem vordringlichsten Ziel, gemeinsam Spaß zu haben. I.d.R. läuft Rollenspiel über erzählerische Situationen ab, hat also eine narrative Struktur. Der Spaß kann dabei aus vielerlei Dingen entstehen, z.B. dem Ausspielen einer Rolle, dem Bestehen von Herausforderungen, dem Entdecken und Erspielen einer Geschichte, ...
Die Auswirkungen von Metagaming und Metawissen werden nun i.A. als negativ beschrieben. Um nun auf die obigen Kritikpunkte einzugehen (wozu ich die Beispiele benutzen werde), muss ich noch einen kleinen Exkurs in die Literaturtheorie machen.
In dieser wird i.d.R. zwischen zwei Spannungsmomenten unterschieden. Einerseits
Suspense und andererseits
Tension. Ich werde dafür im Folgenden aber der Einfachheit halber die Begriffe von oben aufgreifen, nämlich Spannung (für Suspense) und Überraschung (für Tension).
Überraschung ist nämlich ein wesentliches Element der kurzzeitigen Tension. Sie wirkt primär durch die Frage
Wie: Wie kommt der Held da wieder raus? Tension wirkt immer nur kurzzeitig, bis nämlich die Überraschung verdaut bzw. ihre Quelle "behoben" wurde.
Wenn in einem Horrorfilm ein Geräusch gehört wird und plötzlich eine Katze durchs Bild springt, ist das Tension. Man sieht eine Bewegung, aber sobald die Katze erkannt ist, lässt die Spannung nach. Ebenso ist, wenn der Held von einem Attentäter überrascht wird, die Spannung in dem Moment vorbei, wo der Attentäter fürs Erste ungefährlich ist (tot, geflohen, etc.)
Gleichzeitig hat Überraschung natürlich noch den sogenannten Überraschungseffekt. Dieser arbeitet mit enttäuschten Erwartungen; anstatt eine Erwartung aber einfach zu negieren, wird stattdessen ein anderes Element eingeführt. Ein solcher Überraschungsmoment ist z.B. in Star Wars, wenn Han Solo im letzten Moment zur Rettung geflogen kommt.
Spannung (oder Suspense) wiederum arbeitet nicht mit Überraschung, sondern mit Ungewissheit. Diese ist nicht zu verwechseln mit Unwissen. Unwissen ist eine Leere voller Möglichkeiten. Ungewissheit bezieht sich auf konkrete Erwartungen und deren Erfüllung. Wikipedia zitiert Hitchcock:
meint der Begriff Suspense die Erwartung eines Ereignisses ohne sein Eintreffen.
Spannung lässt sich demnach in eine Erwartung und Zweifel über das Eintreten derselben zerlegen.
Kommen wir also zum eigentlichen Teil der Argumentation. Hier meine konkrete These:
Metagaming (in der weiten Definition) bzw. Metawissen fördert Spannung, schadet zumindest nicht der Überraschung und fördert den Spielspaß auch darüber hinaus. Voraussetzung dafür ist (s.o.), dass man Spieler hat, die zwischen Metawissen und Charakterwissen trennen können, die also kein Metagaming im engeren Sinne betreiben.Also los. Gehen wir die Kritikpunkte einzeln durch.
Spannung ist das einfachste, also zuerst damit arbeiten. Auf den ersten Blick ist die Kritik gerechtfertigt, dass Metawissen der Spannung schadet. Oder hat jemand gezittert, was denn wohl mit der Titanic passieren wird?
Allerdings gilt das tatsächlich nur auf den ersten Blick. Wie wir oben festgestellt haben, ist Spannung nicht bloße Ungewissheit (was wird wohl passieren?) – diese ist einfach nicht konkret genug, um uns zu fesseln. Vielmehr benötigen wir ein bestimmtes Ereignis bzw. eine bestimmte Erwartung. Die Spannung entsteht dann dadurch, dass man nicht sicher ist, ob dieses Ereignis eintritt bzw. wie und wann. Wir wissen z.B., dass Luke den Luftschacht treffen muss. Aber wird er das auch? Wenn ja, wie? Schafft er es rechtzeitig (wann), um die Rebellen zu retten? Ebenso verhielte es sich, wenn wir Han umkehren sähen: Kommt er noch rechtzeitig zum Kampf? Kann er Luke retten oder nicht?
In Herr der Ringe entsteht die Spannung, weil wir zuerst wissen, dass Gollum mit sich ringt, aber ungewiss ist, welche Seite gewinnt. Wüssten wir nicht davon, wäre seine Rolle vielleicht nicht so spannend (natürlich hat das noch andere, tragische Elemente). Auch sein Verrat an den Hobbits – ebenso wie der Verrat des Polizeichefs in Minority Report – wird dem Pubikum offenbart, obwohl die Charaktere darüber im Unklaren gelassen werden. Darum verspüren wir die Spannung, ob der Held sich da gerade in die Scheiße reitet oder den Verrat noch rechtzeitig bemerkt.
In L.A. Confidential wird diese Spannung übrigens umgedreht. Da wischt der erschossene Polizist dem Verräter noch eins aus und streut falsche Informationen. Nun ist die Spannung nicht, ob der Held den Verrat durchschaut, sondern ob/wann der Verräter sich verrät. Dennoch ist die Spannung sehr klar auf ein bestimmtes Ereignis gerichtet. In Titanic wiederum ist die ganze Zeit völlig klar, dass das Schiff untergehen wird. Da gibt es keinen Zweifel an dieser Erwartung, ergo keine Spannung. Wenn ein Uri-Geller-Kandidat einen lebensbedrohlichen Stunt ankündigt, den er vor zwei Tagen aufgezeichnet hat, besteht ebenfalls kein Zweifel und daher keine Spannung, ob er das überleben wird.
Eigentlich sollte damit schon klar sein, dass Metawissen bzw. Metagaming i.w.S. einen positiven Effekt auf die Spannung am Spieltisch ausübt. Anstatt nämlich ins Blaue hinein zu würfeln, ist die Erwartung der Spieler genau beschrieben. Aber die Zweifel sind in das System eingebaut: der Würfelwurf. Damit wird die Spannung im Spiel verschoben. Während ohne Metawissen die Spannung auf der Erzählung des Spielleiters ruht – reicht der Erfolg aus, gibt er mir was ich will? – wird diese Spannung nun in Spielerhand gelegt. Der Spieler hat mit dem Würfelwurf das Schicksal selbst in der Hand, und zwar konkret und ganz bewusst. Die Würfel verkörpern die Ungewissheit: kriege ich genug Erfolge?
Wer einmal die Situation hatte, dass nur eine 20 (bei D&D) half, konnte diesen Effekt sicher selbst erleben. Plötzlich starrt der ganze Tisch auf den Würfel des Spielers, der sich selbst und dem Würfel noch mal Mut zuredet. Die Spannung steigt im wahrsten Sinne des Wortes, weil sie auf einen Wurf verlagert wird, der direkt das Ergebnis, also das Eintreten der Erwartung oder auch nicht, verkündet. Es gibt nicht mehr die Zwischenschalte zum SL. (was nicht bedeutet, dass der SL an Macht verlieren muss. Er verlagert sie nur auf andere Momente)
Die Überraschung ist zugegeben ein schwieriges Feld. Schließlich ist es wenig überraschend, Wachen auftauchen zu lassen, wenn der Spieler weiß, dass gleich Wachen auftauchen. Einerseits entsteht durch dieses Wissen als Überraschungsersatz Spannung (s.o.).
Andererseits ist die Lage aber nicht so finster, wie man glauben könnte. Denn nicht jede Überraschung im Rollenspiel wird durch einen Würfelwurf eingeleitet. Auch bedeutet meine Forderung nach Metagaming im Rollenspiel nicht, dass man den Spielern alle Einzelheiten des Abenteuers oder auch alle Ideen, die einem spontan improvisierend einfallen, direkt mitteilt. Man muss schon eine gesunde Mischung haben – aber eben inklusive Metagaming.
Tension entwickelt sich wiederum im Rollenspiel sehr häufig über Proben (Schleichen gg. Aufmerksamkeit, um nicht vom Assassinen überrascht zu werden). Tension entsteht aber mehr oder minder automatisch in solchen Momenten, ob mit oder ohne Metawissen:
Überraschung lässt sich immer noch in der genauen Beschreibung von Sachverhalten gewinnen. Ich finde das Tresorbeispiel aus Ravens Thema nicht sehr gelungen, daher hier ein anderes. Sagen wir, ein Spieler möchte die geheime Identität von Superman herausfinden. Dann kann man problemlos auch erst nach erfolgreicher Probe sagen, dass es sich dabei um Clark Kent handelt. Das Metawissen bezöge sich dann vorab nur darauf, dass es eine geheime Identität gibt.
Ein zweiter Punkt betrifft den Überraschungseffekt an sich: dieser Effekt tritt nicht ein, wenn die Spielercharaktere überrascht werden, sondern wenn die Spieler überrascht werden. Man kann also getrost gewisse Überraschungen auch vor ihrem Eintreten im Spiel ausposaunen, da man damit die Überraschung für die Spieler nur vorzieht. Der Effekt bleibt aber erhalten. Aus dem obigen Beispiel könnte man also auch sagen: "Würfel mal gegen DC 40, ob du herausfindest, dass Superman in Wahrheit Clark Kent ist." Dann gucken die Spieler auch dann blöde. Außerdem bleibt die Spannung erhalten; je nach Situation vielleicht sogar gesteigert.
Wormys Satz ist damit nicht ganz korrekt: ja, es gibt keine Überraschung, dass eine Wache kommt, aber die Spannung, ob sie kommt. Oder, um auf das Eingangsbeispiel mit dem Assassinen zurückzukommen: "Würfel hoch, Mann, damit du den Kerl siehst!" – egal, wie dieser Wurf ausgeht, wird zudem der Kampf eine spannende (i.S. von Tension) Situation sein.
Womit wir beim dritten Kritikpunkt wären und gleichzeitig, auch wenn es nicht so scheint, beim dritten Punkt meiner These. Führt Metagaming i.w.S. nicht automatisch zu Metagaming i.e.S.? Das würde bedeuten, dass die zentrale Voraussetzung meiner These nicht gültig wäre und damit dieser ganze Schmuh für die Katz. Dem ist aber nicht so. Es ist natürlich möglich, zwischen Metawissen und Charakterwissen zu unterscheiden und diese Trennung bewusst vorzunehmen. Wir tun dies ständig und können bei fiktionalen Inhalten eigentlich sehr gut trennen – so können wir z.B. von einem guten Buch oder Film so sehr in Bann gezogen werden, dass wir das Wissen ausblenden, dass das alles nicht "echt" ist. Gleichzeitig spielt aber das Metawissen um Genre oder Ereignisse außerhalb der Wahrnehmung der Sympathieträger immer mit in unser Erleben hinein.
Ich sage jetzt nur, dass diese Trennnung konsequent gezogen werden muss. Beim Rollenspiel verkörpern wir einen Charakter mit unvollständigem Wissen, obwohl wir selbst mehr wissen.
Das bedeutet nun, dass es tatsächlich möglich ist, dass ein Spieler aufgrund von Metawissen entscheidet, dass er z.B. aus den Konsequenzen der Konfliktlösung erfahren hat. Das ist allerdings dann ein Fehlverhalten des Spielers, da er nämlich ihm eigentlich nicht zustehende Ressourcen verwendet. I.d.R. wird ein Chemiestudent auch in den Reichen nicht einfach Schwarzpulver nachkochen, weil er halt weiß, wie das geht. Das Risiko dieses Fehlverhaltens muss also einerseits in Kauf genommen werden, um die Spannung (s.o.) und den Spielspaß (s.u.) zu erhöhen, und andererseits wird z.B. in einem Konfliktsystem durch die offene Art der Konfliktlösung verhindert, dass dies zu sehr ausgenutzt wird:
es gibt ja kein "noch mal versuchen, bis ich die Falle finde", sondern nur einen Wurf mit Erfolg oder Fehlschlag. (Ich habe dies unterstrichen, weil ich nicht sicher bin, ob Ardwulf das bewusst war, als er seine Kritik äußerte).
Drittens obliegt es natürlich der Formulierung des SLs, wie viel er im Voraus verrät. Der Spielleiter muss durchaus auch durch Hinhalten der Spieler und Informationsengpässe das Spiel anheizen und nicht nur dadurch, dass er die Spannung durch Erwartungen ansteigen lässt.
Das Problem mit Metawissen ist also, seine Spieler dazu zu kriegen, dass sie dieses nicht missbrauchen. Metawissen auf der Metaebene – für den Spieler – ist gut. Metawissen auf Ebene des Charakters ist schlecht. Da muss man zur Not auch eingreifen. Wenn man es aber schafft, dass die Spieler sich daran halten, dann... oh ja, dann...
Dann öffnen sich weitere Vorzüge, die man vorher gar nicht kannte. Plötzlich muss man als Spieler nicht sofort auf etwas reagieren, was der Charakter erfährt, sondern kann sehenden Auges in die Gefahr gehen oder sogar das Unheil und damit wesentlich freier tatsächlich so spielen, wie man sich den Charakter vorstellt oder wie es dem Spielspaß förderlich ist. Das Charakterspiel kann sich also verbessern.
Außerdem bekommt man vielleicht Dinge mit, die hinter den Kulissen ablaufen, und erlebt dann die Frustration, dass der Charakter diese Dinge nicht herauskriegt. Dabei ist dies keine "schlechte Frustration" in dem Sinne, dass man eben nicht weiß, was los ist. Man weiß es ja, man darf nur nicht danach handeln.
Das führt zu Situationen, die sonst Frust hervor rufen könnten, nun aber das Spiel beleben. Nehmen wir an, ein SC ist ein Spion für den Bösewicht. Wenn dieser SC nun Pläne an den Bösewicht verrät und dieser deshalb total vorbereitet ist, dann kann das als unfair und frustrierend aufgefasst werden, weil man dagegen nichts unternehmen konnte. Wenn man aber Metagaming i.e.S. unterbindet, dann kann der Spieler der Gruppe offen sagen: "Mein Charakter mag deinen Charakter, aber bei Gelegenheit wird er dich verraten. Ist das okay?" Dann kann der andere Spieler sich darauf einlassen und dann zusehen, wie der SC im Spiel den Verrat aufbaut – und ja, er kann Spaß daran haben, seinen eigenen Charakter in die Falle tappen zu sehen.
Und manchmal kann man dann Metawissen konkret ins Spiel einfließen lassen, um zu sehen, wie die Charaktere dann reagieren. Aber das ist eigentlich schon Thema des nächsten Essays.