Nachspiel
»Nicht die Stiefel!«
Boras schrak aus dem Schlaf auf. Er brauchte ein paar Momente, um sich zu orientieren. Sein Schädel brummte. Seine Geliebte lag neben ihm und glänzte wie frisch geschliffen. Er hatte seine beste Kleidung rausgelegt – sogar frische Unterwäsche. Die Kleidung war für das Treffen mit Dirim und dem Rest seiner Freunde zur Mittagszeit. Mittag…
Boras legte den Kopf in die Hände. Er hatte verschlafen.
-
Ein dunkelrotes Schimmern umgab Jørgen, als er seine Befehle gab. Das Schimmern zeugte sowohl von seiner Verärgerung als auch davon, dass er von Dirim von den Toten zurückgeholt worden war. Jørgen stand vor dem Stadthaus und redete zu den zurückgekehrten Adeligen sowie Skylar Krewis. Dirim stand schweigend hinter ihm und wirkte mit seinem brennenden und seinem gleißenden Auge wie Teufel und Engel zugleich. Es fehlte nur noch, dass er auf Jørgens Schulter saß. In Dirims tragbarem Loch befanden sich außerdem die Leichen von Thamior und Thargad zur baldigen Wiedererweckung sowie die Leiche von Rogart von Kelemvor zur Plünderung in einem ruhigen Moment.
»Die Wachen sollen besonders aufmerksam sein«, sagte Jørgen und wandte sich speziell an den Adel, »und Euch bitte ich, sich auf die Verteidigung eurer Anwesen vorzubereiten, aber auch auf eine spontane Abreise.«
»Hatte der Angriff denn etwas mit den Vorfällen des letzten Jahrs zu tun?«, fragte Fürst Taskerhill.
»Wahrscheinlich nicht. Das bedeutet nicht, dass die Käfigmacher diese Gelegenheit nicht nutzen werden. Das Flutfest war schon einmal der Moment einer großen Gefahr.«
»Zugegeben«, entgegnete Taskerhill. »Aber auch die Vorfälle um die dunkle Triade müssen separat von diesen Käfigmachern betrachtet werden. Ich finde-«
»Fürst Taskerhill«, fuhr Zacharias Aslaxin dazwischen, »der Herr der Silbermark hat Euch einen Auftrag erteilt.«
Taskerhills Mund schnappte zu. Er starrte Aslaxin an, aber dann lächelte er und neigte den Kopf. »Und ich gehorche natürlich.«
»Gut«, sagte Jørgen. »Nachdem das geklärt ist, werde ich selbst den Dingen auf den Grund gehen. Wenn sonst nichts mehr passiert, sehen wir uns bei Sonnenuntergang im Haus des neuen Stadtherren wieder. Bis dahin könnt ihr mich über den Tyrtempel oder den Helmtempel erreichen.« Er nickte den Anwesenden zu und wandte sich ab. Dirim ließ seinen Blick noch einmal schweigend schweifen, dann folgte er.
-
Celeste trug ein Kleid aus Gold- und Silberfäden, das ihre Kurven so sehr unterstrich, dass man ihre Unterwäsche hätte sehen können. Ihre Haare waren flammend rot und wogten über ihre Schultern, als wären sie lebendig. Sie schenkte Dirim und Jørgen ein breites Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte, und dann schenkte sie ihnen noch Wein ein.
»Setzt euch doch.« Sie deutete auf den leeren Aufenthaltsraum. »Sucht euch einfach einen Platz aus. Ich muss gestehen, ich hatte gehofft, dass Thargad mitkommen würde.«
»Thargad ist auch mitgekommen«, sagte Dirim. »Ich habe seine Leiche dabei.«
Ihr Lächeln verschwand. »Thargad ist schon wieder tot?« Sie blickte zu Jørgen und seiner Aura. »Ihr auch?«
Jørgen nickte. »Und Thamior. Ein Attentat, das fast erfolgreich war.«
Celeste wandte den Blick von Jørgen zu Dirim und hob eine Augenbraue. Dirim zuckte mit den Schultern.
»Nun«, sagte Celeste. »Mir scheint, ich kann euch noch mehr helfen, als ich ohnehin gedacht habe.« Sie verneigte sich, und Dirim stellte sich unwillkürlich etwas auf die Zehen, um besser sehen zu können. Celeste teleportierte.
»Ich habe ja nie was an Menschenfrauen gefunden«, sagte Dirim. »Aber manchmal frage ich mich, ob ich da nichts verpasse.«
»Das ist keine Menschenfrau«, sagte Jørgen.
»Wahrscheinlich deshalb«, meinte Dirim.
Celeste kehrte zurück und gab den Kettenbrechern sowohl einen Packen Heiltränke zur sofortigen Verwendung und zwei Schriftrollen. Mit deren Hilfe improvisierte Dirim zwei Auferstehungsrituale, und kurz darauf waren die Kettenbrecher wieder mehr oder weniger komplett. Sowohl Thamior als auch Thargad trugen Zeichen ihrer Wiedererweckung: der Elf war von einem unverständlichen Flüstern umgeben, wohingegen die Hände Assassinen rostig und zerfallen aussahen, obwohl sie nichts an Stärke eingebüßt hatten.
»Es tut gut, dich zu sehen«, sagte Celeste zu Thargad.
»Mutter«, erwiderte Thargad mit einem leichten Ton der Herausforderung.
Celeste reagierte nicht. »Was macht die Liebe?«
»Du wolltest uns sehen«, unterbrach Dirim. »Also raus mit der Sprache. Was ist los?«
Celeste seufzte. »Ich wollte mich verabschieden.«
»Verabschieden?«
»Ich werde noch verrückt hier. Seit ich euch geholfen habe, rechne ich jeden Tag damit, dass die Käfigmacher mit mir abrechnen. Im Höchsten Sonnenstrahl bin ich halbwegs sicher, aber jeder Gast könnte ein Attentäter sein. Also gehe ich nicht mehr vor die Tür und lasse niemanden mehr hier rein. Das kann so nicht weiter gehen.« Sie schloss für einen Moment die Augen, bevor sie fortfuhr. »Ich wollte aber nicht einfach verschwinden, sondern euch noch erzählen, was meine Rolle in diesem Spiel war.«
»Du suchst nach Kheyne – meinem Vater«, sagte Thargad trocken.
Celeste lächelte. »Ja, das tue ich. Kheyne ist mit den anderen Schätzen Tethyrs auf Carceri gefangen. Ich will ihn dort herausholen. Darum habe ich mit den Käfigmachern gearbeitet – sie planen, ein Tor nach Carceri zu öffnen und ihren Meister zu befreien. Gleichzeitig habe ich versucht, euch lange genug zu beschützen, bis ihr stark genug wart, um im Fall der Fälle durch dieses Tor zu gehen und die Schätze zu retten.«
»Das hat nicht wirklich funktioniert«, sagte Thamior und dachte an Helion und Anna, aber auch an die vielen Male, bei denen einer der Kettenbrecher von den Toten zurückgeholt wurde. Das unverständliche Flüstern, das ihn umgab, war Zeuge genug.
»Es könnte schlimmer sein«, gab die Dämonin zurück. »Allerdings weiß ich nicht, ob und wie die Käfigmacher jetzt planen, das Tor zu öffnen. Ursprünglich wollten sie die Seelenkäfige für ein Ritual nutzen, aber dazu fehlte ihnen die nötige Energie. Und ihren Ausweichplan habt ihr auch vereitelt. Ich weiß also nicht-«
Dirim hob die Hand. Seine Ohren zuckten. »Habt ihr das gespürt?«
»Was?«, meinte Jørgen. »Das leichte Beben? So was kommt doch öfter vor.«
»Nein«, sagte Dirim. Seine Zwergensinne spielten verrückt. »Dies Mal ist es anders.«
Wieder zitterte der Boden leicht.
»Fühlt sich nicht anders an als sonst«, sagte Thamior. »Höchstens vielleicht etwas… stärker?«
Ein weiteres Mal erzitterte der Boden, diesmal stark genug, um die Gläser auf dem Tisch leicht zu verrücken.
»Celeste«, sagte Jørgen, »Ihr sagtet, die Käfigmacher bräuchten mehr Energie, um ihr Ritual durchzuführen. Könnten sie diese Energie irgendwie erzeugen? Und dann für das Ritual missbrauchen?«
»Nun, das hängt von der Art der Energie ab«, sagte Celeste.
»Hitze?«
»Wie heiß?«
Jetzt war es schon kein Zittern mehr, sondern ein Beben. Die Kettenbrecher sahen sich an. Keiner musste etwas sagen, aber Dirim tat es dann doch: »Der Vulkan.« Sie sprangen auf und liefen zur Eingangstür des Höchsten Sonnenstrahls. Von dort hatten sie einen sehr guten Überblick über die Stadt, die sich unter ihnen ausbreitete. Dichte Schwaden Schwefel dampften über dem Kratersee, und überall waren die Menschen aus den Häusern gekommen und unterhielten sich unruhig. Das sonst ruhige Seewasser schwappte in großen Wellen gegen die untersten Gebäude, und man sah Menschen, die vor dem Wasser flüchteten, als hätten sie sich verbrannt.
»Helm steh uns bei«, sagte Thargad. Im selben Moment öffnete sich auf der Lavaallee ein Riss im Boden und spie glühende Lava in den Himmel. Das Geschrei begann, das Chaos würde folgen.
Die Käfigmacher hatten sich zurückgemeldet.