Schatzsuche
Das Innere von Schädelfäule war in beinahe ein Dutzend Etagen aufgeteilt. Die untere Hälfte der Etagen bestand jeweils aus einem drei Schritt breiten Rundgang und vier nach außen gestreckten Gängen, wo die Zellen für die Gefangenen waren. Die Mitte des Turmes war offen, sodass ein Schacht von unten bis ganz nach oben führte. In den unteren Etagen trennte nur ein Gitter den Rundgang vom Schacht, sodass man dort hinein und auch auf die entgegengesetzte Seite sehen konnte. In jeder der vier Ecken der Etagen waren Treppen, die nach oben bzw. unten führten.
Als die Kettenbrecher im Rundgang materialisierten, sahen sie Slouva zwei Etagen über ihnen gerade aus einem der Gänge kommen. Slouva war eine riesenhafte alte Frau mit knorriger Haut und langen Klauennägeln, eine Annishexe mit dämonischen Vorfahren. In einer Hand hielt sie eine große Schöpfkelle aus schwarzem Eisen. Außerdem war sie in einen mit Moos besetzten Brustpanzer aus Mithril gekleidet. Sie wurde von zwei Fleischgolems begleitet; einer von ihnen trug einen eisernen Eimer, aus dem grauer Schleim schwappte.
Dies sahen die Kettenbrecher. Sie bemerkten außerdem, dass die Schreie hier im Inneren von Schädelfäule lauter waren als draußen, und dass auch das schummrige Licht ihnen Deckung geben könnte, wenn sie die Kerkermeisterin angriffen. Kurze Untersuchung der Seitenarme enthüllte, dass diese großen Zellen allesamt für nichtmenschliche Kreaturen reserviert waren: andere Dämonen und schlimmeres, die mit in ihr Fleisch eingelassenen Fesseln an die Zellen gekettet waren. Und dann war da noch der Seelenkäfig.
Es war unverkennbar, dass dieser große Käfig als Vorlage für die Seelenkäfige gedient hatte, die von den Käfigmachern für ihr Ritual benutzt worden waren. Dieser Käfig war vielleicht etwas schmaler und länger; die Figur, die in dem Käfig gefangen war, hatte kaum Platz, zu kauern, geschweige denn zu liegen. Diese Figur war Adimarchus.
Der Dämonenfürst kauerte tatsächlich auf dem Boden des Käfigs. Mal schluchzte er anscheinend, dann wieder zuckten seine Schultern in irrem Gelächter, dann sprang er plötzlich auf und schrie gellend. Auch sein Körper veränderte sich ständig, von einer androgynen Engelsform mit purpurner Haut, goldenen Mustern, die auf seinem Fleisch pulsierten und verschwammen, goldenen und anscheinend messerscharfen Flügeln, einem goldenen Brustpanzer und einen ebensolchen Klauenhandschuh hin zu einer dämonischen Form mit aschfarbener Haut, vier schwarzen Tentakeln, die aus seinem Rücken wuchsen und kleine Mäuler am Ende hatten, und einem Zweihänder aus Kohle und Asche. In beiden Formen war er machtlos gegen seine Einkerkerung, und als der Engel versuchte, eine glühende Peitsche zu schwingen, kam auch diese Waffe nicht über die Grenzen des Käfigs hinaus. Neben dem Wahnsinn und der Machtlosigkeit hatten die Formen aber noch etwas gemein: das rechte Auge rauchte und glühte wie ein aktiver Vulkan.
Die Anwesenheit von Adimarchus war die letzte Bestätigung für die Kettenbrecher, dass sie am richtigen Ort waren. Nun galt es also, die Schätze zu finden, sie zu befreien und sich dann den Dämonen vorzunehmen. Jørgen betrachtete Adimarchus eingehend auf der Suche nach einem Zeichen für die Güte, die dieser einst besessen haben musste. Nur unwillig wandte er sich ab und der aktuellen Aufgabe zu, doch da waren Thamior und Boras schon vorausgegangen.
Thamior schlich die Treppe hoch. Er bedeutete Boras, genügend Abstand zu lassen, damit er sich Slouva und ihr Gefolge erst einmal ansehen konnte. Ungesehen und – dank der Schreie nicht verwunderlich – ungehört näherte er sich den dreien. Direkt neben einem Fleischgolem stehend beobachtete er, wie Slouva in Zelle für Zelle einen schmalen Spalt öffnete, mit ihrer Kelle in den Eimer griff und den geschöpften Schleim achtlos durch den Spalt schleuderte. Sie achtete nicht auf Flehen und Betteln der gefangenen Dämonen, kicherte höchstens einmal bei einem besonders gelungenen Schleimwurf. Als sie wieder zurück zum Rundgang kam, zog sich Thamior bis zur Ecke zurück und spannte den Seelenbogen.
Slouva sah erst auf, als der Pfeil bereits in ihrer Brust steckte. Sie brüllte einen Angriffsschrei und zog den Pfeil grunzend heraus. Ihr ohnehin muskulöser Körper spannte sich noch ein wenig mehr an, und dann folgte sie den Fleischgolems, die bereits die Jagd nach Thamior aufgenommen hatten.
Thamior nutzte seine Beweglichkeit, um vor den Golems zurückzuweichen. Während die Kolosse auch Slouva das Fortkommen erschwerten, blieb Thamior in großzügigem Abstand. Jetzt war er an der nächsten Ecke angekommen. Er spannte fünf Pfeile gleichzeitig auf den Bogen, zielte kurz und ließ dann los. Die Pfeile hämmerten in den Golem mit solcher Wucht, dass sie trotz dessen gummiartiger Haut tief eindrangen.
Endlich hatte sich Slouva an den Golems vorbeigequetscht und raste auf den Elfen zu. Thamior blieb an der Ecke stehen. Ein weiteres Gebrüll erklang, und dann tauchte Boras auf der Treppe ins Untergeschoss auf und rannte Slouva entgegen. Die beiden prallten geradezu ineinander. Slouva krallte sich an Boras’ Brust fest. Boras stemmte Slouva in die Höhe und rammte sie in die Gitterwand. Slouva ließ ihn los, und Boras hob Uthgars Zahn auf.
»Weiter auf die Golems«, rief Jørgen, der mit Dirim noch etwas zurück lag. Thamior brauchte allerdings keine Anleitung. Annastrianna erstrahlte im Seelenfeuer. Thamiors Pfeile sprenkelten den Leib des Golems, doch die Kreatur spürte keinen Schmerz. Der Golem griff von hinten nach Boras, der zwar ausweichen konnte, aber der Angriff des Golems riss einige Ranken von Boras’ Rüstung. Boras konnte sich aber nicht darauf konzentrieren, denn Slouva hatte inzwischen die Kelle fallengelassen und griff mit beiden Klauen an. Boras hatte alle Hände voll zu tun, ihre wilden Angriffe abzuwehren oder ihnen auszuweichen.
»Betäubung!«, rief Dirim. Er war zwar noch etwas entfernt, aber nahe genug, um Slouva anvisieren zu können. Die Hexe erstarrte für einen Moment, dann blieb sie halb bewusstlos stehen und schüttelte ihren Kopf, um wieder Klarheit zu bekommen. Boras lachte.
»Jetzt aber!«, rief er und holte mit der Axt aus. Da packte ihn der Golem von hinten am Nacken und hob ihn hoch. Boras blieb die Luft weg, er strampelte, aber ohne freizukommen. Seine Hand fummelte an der Pranke des Golems, doch dessen Griff war eisern. Boras’ Strampeln wurde langsamer.
Der erste Pfeil zerstörte das Handgelenk des Golems, der zweite den Ellbogen, der dritte stach tief in die Schulter des Umgetüms. Boras fiel auf ein Knie und tat einen tiefen Atemzug, dann sah er dankbar zu Thamior. Der Elf feuerte noch weitere drei Mal, dann kippte der Golem endlich um. Sein Gefährte trat direkt über den leblosen Körper und nahm seinen Platz ein. Thamior unterdrückte einen Fluch und hob erneut den Bogen. Boras aber wartete nicht länger. Ohne erst aufzustehen trieb er die Axt seitwärts in Slouvas Hüfte, zog sie wieder heraus, drehte sich um die eigene Achse und schlug ihr den Kopf ab. Dann war Jørgen plötzlich da und stieß Läuterung wie einen Speer beidhändig in die Brust des Golems. Der, bereits von einigen Pfeilen Thamiors geschwächt, blieb einfach regungslos stehen, auch als Jørgen das Schwert entfernte. Die Kerkermeisterin und ihre Diener waren besiegt.
Die Schatzsuche konnte beginnen.
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Die obere Hälfte der Etagen war kleiner als unten und wies keine Gänge mehr auf. Stattdessen waren die Zellen auf die Innenseite des Rundgangs eingelassen, wo vorher das Gitter den Blick auf Adimarchus ermöglicht hatte. Diese Zellen waren kleiner und ihre Insassen nicht angekettet, sondern mit Zwangsjacken aus einer lederartigen Haut gefesselt. Jeder Gefangene wirkte so, als habe er den Verstand verloren.
»Sollen wir sie befreien?«, fragte Boras. »Ich meine, wo wir schon hier sind.«
»Mir gefällt auch nicht, dass sie hier sind«, sagte Jørgen. »Aber was für eine Zukunft hätten sie, wenn wir sie rauslassen? Wir können nicht alle heilen, und schon gar nicht wegbringen.«
»Außerdem kennen wir sie nicht«, sagte Dirim. »Carceri ist auch ein Gefängnis. Vielleicht haben sie es ja verdient, hier zu sein?«
»Vielleicht«, sagte Thamior. »Suchen wir einfach die Schätze und denken nicht weiter darüber nach. Wir haben andere Pläne.«
Und so, mit mehr oder weniger schwerem Herzen, setzten sie die Suche fort.
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»Hier ist einer!«, rief Dirim. »Hier ist Boros!«
Der Barbar war wie alle Gefangenen nackt, aber trotz fehlender fauliger Unterhose war die Ähnlichkeit zu Boras unverkennbar: langes, schwarzes und verfilztes Haar, vernarbter Muskelkörper und in den seltenen Momenten, in denen er klar denken konnte, kaum von den Zeiten, in denen er es nicht konnte, zu unterscheiden.
Nach dem ersten Fund folgten die anderen auf dem Fuß: die Schätze Tethyrs hatten nebeneinander liegende Zellen gehabt. Und dann standen sie alle endlich von Zelle und Zwangsjacke befreit vor den Kettenbrechern.
Der einzige, der nicht so aussah, als würde er jeden Moment sterben, war der durchtrainierte und mit Tätowierungen überzogene Kheyne. Der Mann hatte kein einziges Haar am Körper. Der große Raubvogel auf seiner Brust glühte schwach, und seine Wunden schlossen sich langsam, aber stetig. Kheyne wirkte in sich gekehrt, nicht ansprechbar.
Der dritte Mann im Bunde war Horas Lutharia, ein ohnehin schon hagerer Mann mittleren Alters, der nun wie der Überlebende eines Zwangslagers wirkte; nur mehr Haut und Knochen, und seine Haltung war die eines alten Mannes. Sein Haar war weiß wie Schnee. Er plapperte stumm vor sich hin.
Lyanna Dambrodal wies eindeutige Spuren von Misshandlung auf. Ihre Hände und Arme waren frisch gebrochen, zeigten aber auch die Verkrümmungen alter, nicht richtig verheilter Brüche. Ihre Augen blickten starr voraus, ihr Gesicht war zu einer Fratze des Hasses verzerrt.
Schließlich war da noch Branda Gratur. Ihr Körper war der mit den meisten Narben – und das wollte etwas heißen. Schwärende Wunden bedeckten ihre Haut und sie hatte fast keine Zähne mehr im Mund. Trotzdem lächelte sie beständig. Sabber tropfte ihr aus dem Mund.
»Diese verdammten Schweine«, sagte Thamior. »Ich würde Slouva gerne noch mal töten.«
»Oh«, sagte Dirim. »Keine Sorge. Wir sind hier noch nicht fertig.«
»Kannst du nicht endlich etwas tun?«, fragte Boras. »Mach doch was, Dirim. Bitte!«
»Selbst mir fällt es schwer, sie anzusehen«, sagte Jørgen. »Und ich kenne sie nicht einmal. Boras hat Recht. Tu etwas.«
Dirim griff sein heiliges Symbol. Er schloss die Augen, vielleicht auch, um die Feuchtigkeit darin zu vertuschen. »Tyr, wenn du mir je eine Bitte erfüllt hast, dann diese: Heile sie. Heile sie alle!«
Das Symbol begann zu leuchten, erst schwach, dann so hell, dass man nichts sehen konnte. Das Licht erstarb nicht, sondern es verteilte sich, wurde zu fünf kleinen Lichtpunktpaaren, die durch die Augen in die Geknechteten fuhren. Wunden schlossen sich, Knochen richteten sich und gebeugte Rücken streckten sich. Klarheit kehrte in Blicke zurück.
Jetzt hatten sie die Schätze wirklich gefunden.
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»Dirim?« Branda umarmte ihren Sohn und drückte ihn fest. »Es tut gut, dich zu sehen.«
Boros stand eine Armlänge entfernt von seinem Sohn und betrachtete ihn genau. »Du bist groß geworden.«
»Und stark«, sagte Boras stolz. »Aber deine Axt ist kaputt.«
Boros runzelte die Stirn. Dann sagte er: »Darüber reden wir später.«
Thamior stand bei Lyanna Dambrodal. Er hielt den Seelenbogen voraus. »Erinnert ihr euch an Annastrianna? Sie ist hier. In diesem Bogen.«
»In dem Bogen?«, wollte Lyanna wissen.
»Ja«, antwortete Anna. »Hallo, Mutter. Ich war auf der Suche nach dir, als ich starb. Ich sollte in die Klagemauer, aber dann kam ich in den Bogen, und jetzt gibt es einen Himmel, und es ist so schön, dich endlich zu sehen.«
Lyanna lächelte. »Es ist auch gut, dich wenigstens zu hören. Und Helion? Ist Helion nicht da?«
»Natürlich ist er das«, mischte sich Horas ein. »Wahrscheinlich hat der Junge die Aufgabe übernommen, die Ausgänge zu bewachen.«
»Helion ist tot«, sagte Jørgen. »Nach allem, was ich höre, ist er als Held gestorben.«
Lyanna stand reglos da. Dann senkte sie den Kopf und schluchzte. Horas nahm sie in den Arm. »Schon gut. Es ist gut.« Beide erstarrten. Sie taten fast gleichzeitig einen Schritt zurück. Dann sahen sie in unterschiedliche Richtungen.
»Und Thargad?« Kheyne stand etwas abseits.
»Thargad ist in eine Maschine verwandelt worden und gerade mit seiner Mutter, dem Sukkubus,« Jørgen betonte das Wort, »unterwegs, um wieder ein Mensch zu werden, damit er mit einer Assassinin, die er liebt, zusammen sein kann.«
Kheyne nickte. »Aha.« Er wirkte unbekümmert.
Lyanna kam zu Dirim und Branda. »Wenn ich die Umarmung mal stören dürfte?« Sie wies auf sich und die anderen Schätze. »Wenn ich uns so ansehe, fehlt uns etwas.«
»Genau«, sagte Boros. »Waffen.«
Lyanna nickte bestätigend.
»Sprecht für euch selbst«, sagte Kheyne.
»Vielleicht auch ein Zauberbuch«, sagte Horas. »Die wenigen Zauber, die ich auswendig kann, ergeben kein großes taktisches Spektrum.«
»Wollt ihr etwa kämpfen?«, fragte Dirim.
»Natürlich«, sagten die Schätze und Boras im Chor.
»Aber…« Dirim wechselte einen Blick mit Jørgen und Thamior. Beide sahen eindringlich zurück. Wahrscheinlich wäre das ihr Todesurteil, schlecht ausgerüstet und nach zwanzig Jahren Folter gegen mächtige Dämonen zu kämpfen.
Branda nickte. »Ich verstehe. Dies ist nicht die Zeit der Schätze. Dies ist… habt ihr einen Namen?«
»Kettenbrecher«, sagte Dirim.
»Dann ist dies die Zeit der Kettenbrecher.«
»Pah«, machte Boros. »Wir sind noch nicht beim alten Eisen.«
»Wir müssen doch etwas tun können«, sagte Lyanna.
»Wir wollen uns rächten«, sagte Kheyne klar.
»Ihr werdet anderswo gebraucht«, sagte Thamior. »In Cauldron.«
»Genau«, fügte Dirim hinzu. »Cauldron ist voller Dämonen. Wir mussten die Stadt im Kampf zurücklassen.«
»Zurückkommen und Cauldron vor Dämonen beschützen?«, fragte Boros. »Das klingt gut.«
»Wo sind Dämonen?«, fragte Boras verwirrt.
Boros gab ihm eine Kopfnuss. »Hör doch zu, Sohn. In Cauldron.«
Boras rieb sich den Kopf. »Ach so.«
Kheyne studierte Dirims Miene. »Also«, sagte er. »Nach Cauldron?«
Horas nickte. »Wahrscheinlich ist es so am Besten.«
»Aber nicht nackt«, sagte Lyanna.
»Keine Sorge«, sagte Dirim und öffnete das tragbare Loch. »Hier drin haben wir Waffen, Rüstungen und bestimmt auch was zum Anziehen.«
(morgen: Asyl)