-Prolog-
„Corvin? Corvin!“, die Stimme von Jannika, einer der Küchenmägde, erschall auf dem Hof. Der Junge, nach welchem sie rief mochte etwa sieben Winter alt sein, sein Haar war von einem rötlichen Braun und seine grauen Augen blickten neugierig aus seinem momentan sehr verdreckten Gesicht.
Seine Mutter, Jannika, war eine hübsche Frau von zweiundzwanzig Sommern, ihr Haar leuchtete wie eine Mohrrübe und ihre strahlend blauen Augen hatten schon so manchen Mann bezaubert.
Corvin erhob sich aus der Mitte der Schar Kinder, die zu Keinem recht gehörten, die aber irgendwie am Hofe aufwuchsen, meist, um später als Knechte und Mägde zu arbeiten. Erneut klang es: „Corvin komm gefälligst her! Schnell!“. Der schlaksige Junge beeilte sich. Seine Mutter war freundlich und kümmerte sich gut um ihn, aber wenn sie wütend wurde, griff sie gelegentlich zum Kochlöffel um ihn ein wenig mehr Gehorsam zu lehren, er erinnerte sich nur zu gut daran, wie schmerzhaft es war, einen Tag, nachdem sie den Löffel über sein Hinterteil gezogen hatte, irgendwo zu sitzen oder auch nur zu laufen.
„Los, rein mit Dir, wasch' Dich gefälligst und zieh' Dein sauberes Hemd an, der Graf will Dich sehen.“ Kurz blickte Corvin ungläubig, dann spurtete er sich, rannte zur Wasserschüssel, tauchte die Arme tief hinein und rieb sie kräftig, schlug sich dann mehrere Ladungen Wasser ins Gesicht. Warum sollte der Graf ihn sehen wollen? Kinder gab es viele in der Burg, bei vielen war nicht einmal klar, wer die Eltern waren und auch er selbst kannte nur seine Mutter.
Er legte sein schmutziges Hemd auf einen Schemel und wollte sich das saubere Hemd gerade anziehen, als seine Mutter ihn erneut zur Waschschüssel zerrte und ihm den Oberkörper schrubbte bis er rot war und brannte. Dann streifte sie ihm das Hemd über den Kopf.
Corvin musste daran denken, was Arlek, der Barde des Grafen neulich erzählt hatte. Von einem vaterlosen Jungen hatte er berichtet, der im Alter von sieben Jahren von einem Ritter als Knappe angenommen wurde und später selbst zum Ritter wurde, schon mit fünfzehn Sommern einen großen roten Drachen erschlug und als Lohn dafür mit der schönen Prinzessin, die der Drache gefangen gehalten hatte, vermählt wurde. Leider war seine Gattin, wie sich später herausstellte, in ihrer Gefangenschaft dem Wahnsinn verfallen. Sie erschlug den jungen Ritter, trennte ihm das Herz heraus, opferte es einem Dämon, der daraufhin die Prinzessin versklavte und sie angeblich bis heute als seinen Fußabtreter benutzte. Aber Corvin wusste, dass alle Geschichten ein schlimmes Ende nehmen müssen, sonst, so sagte Arlek, seien es ja keine guten Geschichten.
War es möglich, dass der Graf ihn, Corvin, auch zum Knappen machen wollte? Dann würde er irgendwann eine Rüstung tragen dürfen, ein in der Sonne glänzendes Langschwert und einen der schönen Wappenröcke mit dem einäugigen Adler darauf, das Symbol der Region Waan, in der er lebte und er würde...
„Corvin, hör' auf zu träumen, komm!“ Jannika griff nach dem linken Ohr ihres Sohnes und zog ihn quer über den Burghof zum Haupthaus. Erst vor der Tür ließ sie ihn los. „Stell' Dich gerade hin, verbeug' Dich, wenn Du den Grafen siehst und sprich nur, wenn Du gefragt wirst, hast Du verstanden?“
„Ja, Mama.“, der Junge rieb sich das schmerzende Ohr.
Seine Mutter nahm ihn an die Hand und schritt mit ihm durch die Tür. Noch nie war Corvin hier gewesen, die Decke war gewaltig hoch, sicher ein vierfaches seiner Größe, an den Wänden hingen dicke, bunte Teppiche auf denen allerlei Kämpfer und andere Helden zu sehen war. Ein Teppich war besonders schön, er zeigte eine Iârelbin, die sich mit hoch erhobenem Schwert und Haupt todesmutig gegen einen grauen Slaad stürzte, auf ihrem Kopf die Krone der elfischen Hochkönige. Vor dem Eingang zum Thronsaal standen zwei Männer aus dem Hausvolk des Grafen, seine Leibwachen. Auch sie trugen den Wappenrock mit dem einäugigen Adler, welcher in den Klauen ein Schwert und im Schnabel eine Flöte trug. Es war das Wappen des Grafen und der Burg Waanbek. Die Wachen kümmerten sich nicht groß um den Jungen und seine Mutter, öffneten nur die Tür.
Und dort, vor dem Thron stand er: Graf Morten von Waanbek, ein wahrer Hüne, das lange braune Haar mit den vereinzelten grauen Strähnen und den braunen Bart geflochten, an der Seite ein Langschwert, die Augen weiß, als wäre er blind, ein Zeichen dafür, dass er in den kupfernen Tagen geboren ward, auf dem Haupt trug er den silbernen Reif, der ihm ob seines Standes gebührte. Er galt allen in der Burg als gerechter, aber sehr strenger Herrscher, ohne Gnade, aber mit Mitleid.
„Tritt vor, Junge.“
Zitternd trat Corvin vor und beugte sich vor dem Grafen.
„Sieh' mich an. Corvin, nicht wahr?“
„J...ja... He... Herr.“ brachte Corvin hervor.
„Wie alt bist Du?“
„Sieben Winter, Herr.“
„Weißt Du auch, an welchem Tage Du geboren wurdest?“
„Ja, Herr. Am zweiten Steintag im Erntemond, Herr.“
„Soso, ein Steintagskind. Na dann komm' mal näher, lass' Dich ansehen, Corvin.“ der Graf lächelte freundlich und streckte die Hand nach Corvin aus. Der Junge ging vorsichtig näher zum Grafen. „Du bist groß für Dein Alter. Ein bisschen schlecht genährt allerdings. Oder bist Du gerade gewachsen?“ Corvin nickte nur. Graf Morten strich ihm behutsam über das Haar. „Du kennst doch sicher Arlek, meinen Barden?“ fragte er. Wieder konnte Corvin nur nicken. Morten ging in die Hocke und blickte dem Jungen fest in die Augen. „Du musst keine Angst vor mir haben, Corvin.“ Dann erhob er sich wieder und begann, unruhig und geschmeidig wie ein Wolf auf der Jagd auf und ab zu laufen.
„Arlek meinte, Du hättest eine gewisse Neigung zur freien Magie. Deshalb habe ich beschlossen, dass Arlek Dich ausbilden wird. Nach Deiner Ausbildung wirst Du mir verpflichtet sein, bis die Kosten für Deine Ausbildung abbezahlt sind. Dannach steht es Dir frei in meinen Diensten zu bleiben, oder Deine Fähigkeiten anderweitig zu nutzen. Deine Ausbildung beginnt morgen. Sei kurz nach Sonnenaufgang am Nephala-Schrein, Arlek wird Dich dort erwarten. Ich verlange von Dir, dass Du Deine Ausbildung zügig abschließt, Arlek ist alt und wird nicht mehr lange leben. Du sollst an seine Stelle treten, aber dafür musst Du einer der besten Barden werden, sonst bist Du mir zu nichts nütze. Jetzt geh'!“
Verwirrt wandte Corvin sich zum Gehen und seine ebenfalls irritiert aussehende Mutter legte ihm sanft die Hand auf die Schulter, als sie beide den Thronsaal verließen.
Barde sollte er werden?