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Autor Thema: Stadt der gläsernen Gesänge  (Gelesen 72212 mal)

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Niobe

  • Mitglied
Stadt der gläsernen Gesänge
« am: 09. Oktober 2009, 00:36:16 »
Nach langer Pause gibt's eine neue High-Level-Kampagne mit den Helden aus Rundreise durch die Reiche/ Bastion der Gebrochenen Seelen (http://forum.dnd-gate.de/index.php/topic,14854.0.html). Spielsystem ist eine Mischung aus 3.5, Pathfinder und einigen Hausregeln. Zu Beginn sind alle Charaktere auf Stufe 17.
Die neue Kampagne spielt etwa 8 Jahre nach den Ereignissen der alten. Nach einer beinahe tödlichen Begegnung mit zwei Nachtkriechern in einer Pocketdimension der Schattenebene mussten sich die Gefährten geschlagen geben und das Abenteuer abbrechen.  Inzwischen haben sie alle wieder zu ihrem vor-abenteuerlichen Leben zurückgefunden, haben geheiratet, sind Eltern geworden... Oder so ähnlich.


ERSTES BUCH
STADT DER GLÄSERNEN GESÄNGE


Kapitel I: Die Entführung  


Grimwardt
Abtei des Schwertes, Schlachtental, am Nachmittag
Grimwardt Fedaykin schnaubte missmutig, als er den Turnierplatz betrat und ehrfurchtsvolles Raunen die Menge der Zuschauer erfasste. Wie er diesen Humbug hasste!
Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie in der letzten Reihe der Tribüne die Rekruten des dritten Jahrgangs unter der Hand Wetten darauf abschlossen, wie lange sein Gegner wohl gegen ihn durchhalten würde. Eine Reihe unter ihnen reckte Grimwardts junge Nichte Scarlet ihren hübschen roten Lockenkopf, um ja nichts von dem zu verpassen, was dort unten vor sich ging, während Dorat der Bibliothekar, wenig begeistert von seiner Rolle als Kindermädchen, sie immer wieder auf ihren Platz zurück zerren musste, damit sie bei all dem Gerecke und Gehopse nicht vorn über fiel. Der Gedanke an Scarlets Mutter trug nicht eben dazu bei, Grimwardts düstere Stimmung zu heben. Erst gestern hatte seine Schwester ihre Tochter wieder in der Abtei abgeladen ohne es für nötig zu befinden, irgendeine Erklärung abzugeben. Sie schien in Eile, doch das war Winter eigentlich immer. Und die Götter mochten wissen, wer der Vater der Kleinen war.
Sicher war nur, dass Grimwardt Scarlets Anwesenheit hier wenig zugetan war: Schließlich war die Abtei des Schwertes seit dem verheerenden Überfall vor fünf Jahren kein sicherer Ort mehr. Eine Allianz abtrünniger Drow-Familienclans aus dem Unterreich, die nach Lolths Wiedergeburt von den Priesterinnen der Spinnenkönigin vertrieben worden waren, war mit vereinten Kräften in die Talländer eingefallen. Bei der Verteidigung des Schlachtentals hatte die Abtei des Schwertes eine zentrale Rolle gespielt. Nur unter schweren Verlusten hatten sie die Invasion abwehren können.
Welche Verschwendung von Kampfeswillen, dachte Grimwardt darum grimmig, während von der anderen Seite sein Turniergegner, Jareth Burlisk, der Anführer der Schwertgeschworenen, den Turnierplatz betrat und mit allerlei Klamauk die Menge bei Laune hielt. Hätte es die Abtei, der es seit dem Überfall an Männern fehlte,  nicht bitter nötig, für sich zu werben, so hätte Grimwardt diesem Mummenschanz niemals zugestimmt.
Nachdem der zwergische Waffenmeister Borgo vom Clan der Feisten Faust die Regeln verlesen hatte, begann der Kampf. Bereits Grimwardts erster Axthieb brachte Jareth völlig aus dem Gleichgewicht, während dessen Verteidigung allenfalls einen Kratzer in Grimwardts Rüstung hinterließ. Ein enttäuschtes Raunen ging durch die Reihen der Zuschauer und Grimwardt fing Jareths tadelnden Blick auf, der so etwas wie „Du sollst ihnen eine Schau liefern“ zu besagen schien. Grimwardt zuckte mit den Schultern. Dann eben anders. Da sein Versuch, Jareth zu entwaffnen nicht fruchtete, versuchte er ihn zu Boden zu ringen, was dank seiner massigen Gestalt und der dicken Rüstung auch ohne weiteres gelang. Der Krieger ächzte vernehmlich, als Grimwardt es sich mit dem gelangweilten Blick des überlegenen Siegers auf seinem Rücken bequem machte und gelassen seinen feuerroten Bart streichelte. Die Menge grölte vor Lachen.
In all dem Tumult wäre Scarlets überraschter Schrei beinahe untergegangen. Als Grimwardt zu seiner Nichte blickte, sah er nur noch, wie das Mädchen bewusstlos in die Arme des Bibliothekars sank. Ehe der Abteileiter auch nur aufspringen und ihren Namen rufen konnte, waren beide verschwunden. Sofort brach die Hölle los: Die Novizen aus der obersten Reihe, die alles mit angesehen hatten, sprangen Zeter und Mordio schreiend von ihren Sitzen auf. Die Menschen auf den Tribünen, von denen kaum jemand das eigenartige Schauspiel verfolgt hatte, schienen zu glauben, ihnen selbst drohe Gefahr und sprangen gehetzt von den Bänken auf, um wie eine aufgebrachte Herde dem Ausgang zuzuströmen.
„Kümmere dich darum“, knurrte Grimwardt an Jareth gewandt, den er unsanft auf die Beine zog, ehe er sich, immer zwei Bänke auf einmal nehmend, durch die Menge an den Ort des Geschehens kämpfte. Nachdem er die aufgebrachten Rekruten zur Ruhe gerufen hatte, ließ er sie einzeln vortreten. Ihren Ausführungen zufolge hatte der Entführer Scarlet zunächst mit einem Giftpfeil betäubt und sich dann mit ihr fort teleportiert.
Einer der Schüler überreichte Grimwardt einen schwarzen Hut, der auf Scarlets Sitzplatz gelegen hatte. Ein anderer Rekrut wollte gesehen haben, wie der Bibliothekar ihn kurz vor der Entführung hatte fallen lassen. Als der Oberste Gläubige das Kleidungsstück in die Hand nahm, vibrierte es leicht und ein magischer Mund, der sich über der Hutkrempe bildete, sprach: „Grimwardt Fedaykin, wenn Ihr Eure Nichte wieder sehen wollt, seid heute Abend zur Achten Stunde in Whisper’s Braustube in Myth Drannor.“ Kaum war die Nachricht übermittelt, verschwand der magische Mund und der Hut zerfiel zu Staub.
„Als ob wir nicht genug Probleme hätten“, grummelte Grimwardt. Doch es wollte ihm nicht ganz gelingen, seine Sorge mit Missmut zu überspielen.
Myth Drannor. Ein eigenartiger Treffpunkt. Grimwardts Wissen nach glich die wiedererrichtete Elfenstadt noch immer einem Trümmerfeld. Doch Grimwardt war ein Kämpfer, der keinen unnötigen Gedanken verschwendete, wenn die Situation Taten erforderte.
„Sattelt mein Pferd“, befahl er darum einem der Absolventen. Wenn er zur achten Stunde in Myth Drannor sein sollte, würde er die Schnelligkeit seines Kampfrosses durch magische Mittel verstärken müssen. Vor seiner Abreise suchte er Jareth auf, um ihm für die Zeit seiner Abwesenheit die Leitung der Abtei zu übertragen und ihm den Auftrag zu geben, die Bibliothek zu durchforsten. Grimwardt glaubte nicht daran, dass diese Aktion auf dem Mist eines siebzigjährigen Bücherwurms gewachsen war, dessen einziges Laster bisher seine Liebe zum Rum gewesen war. Gerade als er aufbrechen wollte, erschien Borgo, der Waffenmeister, um Grimwardt mitzuteilen, dass er soeben einen Mann in Grimwardts Arbeitszimmer geführt habe, der vorgab, Scarlets Vater zu sein.
Tempus steh mir bei, dachte Grimwardt düster. Offenbar die Art von Vater, die immer nur dann auftaucht, wenn man sie gerade nicht braucht. Und so staunte der Abteivogt nicht schlecht, als er sein Arbeitszimmer betrat: Der Besucher, der es sich mit lässig unterschlagenen Beinen auf Grimwardts Arbeitstisch bequem gemacht hatte, war kein Anderer als Dorien Dantés, magiekundiges Mitglied seiner alten Abenteuergruppe und ein unverbesserlicher Weiberheld.
„DU bist Scarlets Vater?“, fragte Grimwardt fassungslos. Ein wenig mehr Verstand hätte er sogar seiner Schwester zugetraut.
„Ich freue mich auch dich zu sehen“, erwiderte Dorien sarkastisch. „Ich sehe, du bist beschäftigt“, fügte er mit einem abwertenden Blick auf Grimwardts dreckverschmierte Rüstung hinzu. „Keine Angst, ich bin schon wieder so gut wie weg. Ich bin nur hier, um Scarlet abzuholen. Alle zwei Monate wohnt sie bei mir. Heute sollte ich sie auf Winters Hausboot in Hlondeth abholen. Doch Winter und Scarlet waren nicht dort und dieser Dreikäsehoch von einem Stellvertreter gab mir die Auskunft, dass ich meine Tochter hier finden würde.“
„Sie ist nicht hier“, erklärte Grimwardt brüsk. „Sie wurde entführt.“
Der entsetzte Aufschrei und die Schimpftirade, die der Tempelvorsteher erwartet hatte, blieben aus. Stattdessen blickte Dorien seinen ehemaligen Mitstreiter mit skeptisch gerunzelter Stirn an, als warte er auf irgendetwas. Dann wurde er plötzlich kreidebleich.
„Du… du meinst das ernst, ja?“
„War ich je für meine Scherze bekannt?“, knurrte Grimwardt.
Leicht verzögert kamen der Aufschrei und die Schimpftirade dann doch noch. Grimwardt stellte seine Ohren auf Durchzug und begann ein paar Dinge einzupacken, die er für die Reise brauchen würde. Gut, dass er dank des Turniers bereits gerüstet war. Die Rüstungszeremonie nahm immer Ewigkeiten in Anspruch. Allerdings musste er sich nun, da Dorien mit seinem Hokuspokus hier war, ohnehin nicht mehr beeilen, um rechtzeitig in Myth Drannor zu sein. Als sein früherer Mitstreiter sich ein wenig beruhigt hatte, ging er dazu über, ihm den Tathergang zu schildern.
„Sollen wir Winter benachrichtigen?“, fragte der Vater der Entführten schließlich zögernd.
„Sie wird ausrasten.“
„M-hm.“
Grimwardt zuckte mit den Schultern. „Meinetwegen. Gehen wir sie suchen.“
In diesem Moment platzte Jareth mit einer weiteren Neuigkeit ins Zimmer. Dorat, der Bibliothekar, war tot in der Bibliothek aufgefunden worden. Von einem Giftpfeil durchbohrt. Höchstwahrscheinlich ermordet von dem Entführer, der seine Gestalt angenommen hatte, um in Scarlets Nähe zu gelangen. Grimwardt seufzte und legte Jareth den Arm auf die Schulter.
„Sorg’ dafür, dass er ein anständiges Begräbnis erhält.“
   
Nimoroth
Windigwasser, ein Waldelfendorf im Cormanthorischen Wald
Es hatte den ganzen Tag geregnet und noch immer tropfte es hier und da von den Blättern der Schattenkronen. Unter dem Geruch des regennassen Waldes erschnupperte Nimoroth den Duft seiner Heimat. Auch wenn er sie nicht hörte, spürte er doch die Anwesenheit der Elfenwächter, die durch das Gebüsch schlichen. Seine Ankunft in Windigwasser war also nicht ungemerkt geblieben. Ein Blick auf Nerûl, seinen treuen Gefährten, verriet dem Druiden, dass auch der Tiger erkannte, wo sie waren. Allein Laguna, sein sechsjähriger Sohn, tapste ganz in Gedanken versunken neben seinem Vater her. Dies war das erste Mal, dass er Laguna mitnahm in sein Heimatdorf und die Aussicht auf Gesellschaft machte den Jungen sichtlich nervös. Immerhin waren die einzigen Lebewesen, die Laguna bisher neben den tierischen Bewohnern des Waldes kennen gelernt hatte, seine dryadische Mutter und sein elfischer Vater. Als Nimoroth die Nachricht seiner Mutter erhalten hatte, die ihn zur Hochzeit seiner Schwester einlud, war sein erster Gedanke gewesen, dass das Fest die ideale Gelegenheit wäre, um Laguna seiner Familie in Windigwasser vorzustellen.
„Ist es noch weit?“, fragte Laguna.
„Wir sind bereits da“, erklärte Nimoroth und blieb vor einer der Schattenkronen stehen. Unter den staunenden Augen seines Sohnes sprach er die magischen Worte, die die Sprossen im Stamm des mächtigen Baumes entstehen ließen.
Im Baumhaus, das vom Boden aus nicht zu sehen war, empfing Nimoroths Mutter die Gäste. Nachdem sie Sohn und Enkel herzlich begrüßt hatte, bat sie die beiden zu Tische und reichte Laguna zum Tee kandierte Früchte.
„Eine ziemlich spontane Entscheidung, diese Hochzeit“, leitete Nimoroth das Gespräch ein.
„Du kennst doch deine Schwester“, seufzte seine Mutter. „Wechselhaft und unbeständig wie ein Blatt im Wind. Heute will sie Priesterin werden und morgen beschließt sie aus heiterem Himmel sich den Widerkehrern von Myth Drannor anzuschließen. Und diesmal sollte es eben eine Hochzeit sein.“ Nimoroths Mutter schüttelte besorgt den Kopf. „Wenn du mich fragst, ist sie viel zu jung zum Heiraten. Keine hundert Jahre. Aber was rede ich; ich kann sie ja doch nicht davon abhalten. Ich hoffe nur, sie macht sich nicht unglücklich.“
„Wer ist eigentlich der Bräutigam?“
„Gelodin Silberreif“, erklärte seine Mutter mit einem müden Lächeln. „Der Sohn des Dorfpriesters. Ein angesehener junger Mann und äußerst vernünftig. Aber steif wie ein Sonnenelf, wenn du weißt, was ich meine.“
Einen Augenblick später erschien Nimoroths Schwester Esme, umringt von einem Pulk kichernder Freundinnen, auf dem Treppenabsatz und flog ihrem Bruder förmlich in die Arme. Lachend präsentierte sie sich ihm in ihrem Hochzeitsstaat, während sie ihm zehn Fragen auf einmal stellte ohne eine einzige Antwort abzuwarten und dazwischen noch Zeit fand Laguna zu begrüßen, der seine Tante mit derselben furchtsamen Faszination betrachtete, die er auch einer unbekannten Monsterspezies entgegengebracht hätte.  
Am Abend begann die Hochzeitsfeier: Wie es in Windigwasser Brauch war, kam die Familie des Bräutigams mit Geschenken zum Haus der Braut, wo Esme in ihrer Überschwänglichkeit beinahe ihren Hochzeitskranz vergessen hätte, als sie dem überrumpelten Gelodin um den Hals fiel. Zusammen zogen die beiden Familien, von Gesang und Harfenspiel begleitet, über die Hängebrücken, die die Schattenkronhäuser des Dorfes miteinander verbanden, zum Tempel des Corellon Larethian. Auf dem Weg schlossen sich ihnen andere Dorfbewohner an, während Kinder Feenstaub verstreuten. Im Tempel tauschten Esme und Gelodin die Trautschwüre und der Dorfpriester setzte ihnen die Brautkränze auf. In Windigwasser gab es keine rituellen Hochzeitsformeln. Es gab auch keine arrangierten oder zweckmäßigen Ehen wie es unter Mond- und Sonnenelfen manchmal Brauch war. Tatsächlich waren Hochzeiten zwischen waldelfischen Geliebten nichts weiter als eine öffentliche Bekanntgabe ihrer Liebe. Doch umso selbstverständlicher war es für die Bewohner von Windigwasser, dass eine Ehe, einmal geschlossen, für immer andauerte; und für Elfen war „für immer“ eine lange Zeit. Kein Wunder also, dass sich Esmes Mutter Gedanken machte um ihre wankelmütige Tochter…
Nachdem das Hochzeitspaar die Liebesschwüre ausgetauscht hatte, begab sich die Gesellschaft zum Dorfplatz. Am Rande der Lichtung war ein Büffet aufgebaut und Bänke aus umgestürzten Baumstämmen luden zum Verweilen ein. Es dauerte nicht lange, bis Laguna von den Dorfkindern zum Spielen entführt wurde und Nimoroth ein wenig Zeit fand, sich nach alten Bekannten umzusehen. Neben alten Freunden traf er auch die Elfe Hanali wieder, die sein Cousin Kalith und er einst in Westtor vor der Blutgier der Nachtmasken gerettet hatten. Von Hanali erfuhr Nimoroth, dass Kalith es bei den Elfenrittern von Myth Drannor zu einigem Ruhm gebracht hatte. Hanalis eigener Sohn diente unter seinem Befehl. Nimoroth freute sich für seinen Cousin, doch zugleich weckte der Gedanke an Kalith und die Abenteuer, die sie gemeinsam durchstanden hatten, in ihm eine eigenartige Schwermut. Nimoroth war niemals darüber hinweg gekommen, dass sie ihren letzten Auftrag nicht hatten vollenden können. Auf der Suche nach dem Seelenquell waren sie in die Katakomben der Stadt Westtor hinab gestiegen und von der Diebesorganisation der Nachtmasken in eine Falle gelockt worden, die sie auf die Schattenebene geführt hatte. Der Kampf gegen zwei Schattenkriecher hätte Kalith beinahe das Leben gekostet. Letztendlich hatten die Gefährten sich zurückziehen und ihre Suche aufgeben müssen. Wie viele schlaflose Nächte waren seither vergangen, in denen Nimoroth sich gefragt hatte, wie viele unschuldige Seelen durch seine Kapitulation den Tod gefunden hatten. Welches Unglück hätten sie verhindern können? Welche Verbrechen wären niemals geschehen, hätten sie damals nicht den Mut verloren?
Schlagartig riss der Schrei seines Sohnes Nimoroth aus seinen düsteren Gedanken. Alarmiert sprintete er zu der Gruppe von Kindern, die sich um Laguna und einen jungen Halbelfen geschart hatten, die sich ringend am Boden wälzten. Mit durchgreifender Hand beendete Nimoroth den Streit.
„Was ist hier passiert?“ verlangte er zu wissen, während er einige Mühe hatte, die beiden Streithähne davon abzuhalten, gleich noch einmal aufeinander loszugehen.
„Er sagt, ich sehe aus wie ein alter, runzliger Baum!“, keiferte Laguna.
„Petze!“
„Und dass mein Name klingt wie ein Mädchenname!“
Seufzend ließ Nimoroth von dem anderen Jungen ab, der sich gleich aus dem Staub machte, und zog seinen Sohn mit sich an den Rand der Lichtung. In Lagunas schwarzen Augen glitzerten bittere Tränen und auf seiner rindenbraunen Stirn hatte sich eine tiefe Zornesfalte gebildet. Nimoroth fasste den Jungen fest bei den Schultern, sodass er gezwungen war, seinem Vater ins Gesicht zu blicken.
„Laguna, der Junge hatte Unrecht“, sagte er ernst. „Doch du wirst noch oft erfahren, dass dein dryadisches Erbe bei anderen auf Unverständnis stößt. Du darfst deinem Zorn nicht freien Lauf lassen. Du musst lernen…“
„Wieso warst du mit mir nie in einer Stadt?“
„Was?“ Erstaunt hielt Nimoroth inne.
„Ich weiß, dass du manchmal in die Stadt gehst, um Re… Recherche zu machen“, erwiderte Laguna trotzig. „Warum hast du mich noch nie mitgenommen? Warum weiß ich nicht, was ein Aquadings ist? Und warum ist mein Wams dreckig und aus der Mode? Meluin hat gesagt, ich bin dumm, weil ich diese Sachen nicht weiß und die Mädchen haben alle gekichert...“
Nimoroth war sprachlos. Also darum ging es hier. Bis jetzt hatte er immer angenommen, Laguna liebe die Freiheit, die der Wald ihm bot. Das Baden im See. Das Herumtollen mit Nerûl. Die ausgedehnten Wanderungen mit seinem Vater.
Natürlich liebt er all das, erkannte er nun. Weil er nichts anderes kennt.
Nimoroth überlegte noch, wie er seine Abneigung gegen die Stadt mit all ihren Lastern und falschen Versprechungen seinem Sohn vermitteln sollte, als er einen dunklen Schatten über sich gewahrte. Als er nach oben sah, erblickte er einen großen Kolkraben. Der Vogel trug einen Hut im Schnabel, den er nun in Nimoroths Hände gleiten ließ. Gerade als der Elf die seltsame Zustellung herumdrehen wollte, formte sich eine Falte über der Hutkrempe, die einem sprechenden Mund ähnelte: „Nimoroth, wenn Ihr die Dryade Nyrael wieder sehen wollt, seid heute Abend zur Achten Stunde in Whisper’s Braustube in Myth Drannor.“
Der Hut vibrierte leicht, als der Mund zu lachen begann, und zerfiel dann zu Staub.
Nimoroth erstarrte. Seine Geliebte entführt? Er wusste, was das bedeutete: Entfernte sich eine Dryade für länger als einen Tag von ihrem Lebensbaum, so starb sie. War den Entführern bewusst, in welche Gefahr sie ihre Geisel gebracht hatten? War das etwa Teil ihres Plans? Sicher war nur, dass ihm nicht viel Zeit blieb. Zur Achten Stunde in Myth Drannor.
Eilig schickte Nimoroth seinen Sohn zu seiner Großmutter. Dann wirkte er einen Zauber, um den Raben nach dem Absender der Nachricht zu fragen. Ohne viel Erfolg. Nachdem er Laguna in der Obhut Nerûls und seiner Mutter zurück gelassen hatte, teleportierte Nimoroth in die Sternwälder. Dort, in der Krone von Nyrales Lebensbaum, der Eiche Nesaja, hatten sie ihr schlichtes Heim errichtet.
Ein Schaudern durchfuhr Nimoroth, als er erkannte, dass sich die ersten Blätter Nesajas bereits gelb verfärbt hatten…

Winter
Atkatla in Amn, Schwertküste
Über dem Eingang des Roten Stiers schaukelte ein rostiges Tavernenschild quietschend im Wind und aus dem Inneren der Hafenspelunke drang Winter ein Übelkeit erregender Geruchscocktail aus Schweiß, Bier und Pfeifenrauch entgegen. Das hysterische Zirpen der Grillen, untermalt vom Kreischen der Möwen,  war auch nicht eben atmosphärisch zu nennen.
„Nisch sehr einladend“, bemerkte Winters kalimshitischer Begleiter.
„Dann sind wir hier genau richtig“, erwiderte die Anführerin der Schwarzen Dahlie. Sie setzte ihren magischen Hut auf und ließ ihn einmal um ihren Kopf kreisen, um ihr Aussehen zu verändern. Dann trat sie ein.
Das Innere hielt was das Äußere versprach. Ein heruntergekommener Musikant spielte schwermütige Melodien auf einem klapprigen Klavier, während zwei Billardspieler die beiden Neuankömmlinge über das Spiel hinweg misstrauisch beäugten. Der muskulöse Wirt – Winter tippte auf mindestens ein Viertel orkisches Blut in seinen Adern – stand hinter dem Tresen und säuberte Bierkrüge wie Gastwirte es immer zu tun pflegen, wenn sie es darauf anlegen beschäftigt auszusehen.
„Hier wegen Arbeit?“, empfing sie der Wirt, der zu der Sorte Mann zu gehören schien, die davon überzeugt waren, dass vollständige Sätze ihre Männlichkeit untergruben. Winter folgte seinem Blick, der auf einen schmuddeligen Aushang neben der Theke wies. „Tänzerin gesucht.“
„Nein, eigentlich…“
„Hatte auch eher an was Jüngeres gedacht.“
Winter versteckte ihre Empörung hinter einem dümmlichen Lächeln. Was Jüngeres?!? Was bildete sich der Kerl eigentlich ein? Immerhin war sie gerade einmal Mitte Dreißig und hatte erst kürzlich horrende Summen für einen prächtigen Umhang ausgegeben, der angeblich die Haut um zehn Jahre verjüngte.
„Ha’n nur Bier“, kam der Wirt einer Bestellung zuvor.
„Ich hatte eigentlich eher an etwas… Anderes gedacht“, erwiderte Winter mit einem Wimpernaufschlag, der noch um einiges erotischer hätte sein können, wenn der Kerl sich seine letzte Bemerkung gespart hätte. „Sagt euch der Name Engelsstaub etwas? Wie steht es mit Teufelskraut, hm?“ Aus den Augenwinkeln beobachtete sie auch die Reaktion der beiden Billardspieler. Volltreffer. Ein Zucken um die Mundwinkel verriet den einen, ein zu abruptes Zustoßen mit dem Queue den anderen. Der Wirt blinzelte und leckte sich über die Lippen.
„Keine Ahnung, wovon Ihr sprecht.“
Es bedurfte noch einige Minuten intensiver Überredungskunst, ehe Winter bekam, was sie wollte.
„Wartet hier“, murmelte der Wirt, nachdem er einen alarmierten Blick mit einem der Billardspieler ausgetauscht hatte und verschwand in der Küche. Winters kalimshitischer Begleiter verlagerte nervös das Gewicht von einem auf das andere Bein. Offensichtlich hatte er sich seinen Aufstieg in der Hierarchie der Schwarzen Dahlie ein wenig einfacher vorgestellt.
Winter hatte schon seit einiger Zeit mit dem Gedanken gespielt, ins Drogengeschäft einzusteigen; bisher hatten ihr jedoch die Kontakte gefehlt. Alchemistische Substanzen, die eine kurzzeitige Steigerung der geistigen oder körperlichen Fähigkeiten bewirkten, standen bei Abenteuern an der Schwertküste derzeit hoch im Kurs. Der Rauschgifthandel wurde hier von den Schattendieben kontrolliert. Am Vilhongriff dagegen war die Konkurrenz noch gering und Winter war entschlossen, sich dieses viel versprechende Geschäft unter den Nagel zu reißen, ehe ein anderer es tat. Dazu kam, dass sie kurz vor der Hochzeit mit einem Piratenbaron stand, der eine Flotte auf der See des Sternregens befehligte. Sollte sich der Drogenhandel als Erfolg erweisen, so hätte Winter durch ihren zukünftigen Gatten die Möglichkeit, das Geschäft auf die Länder nördlich des Ozeans auszuweiten. Da erschien ihr Hamid, der kalimshitische Informant, der zuvor für die Schattendiebe gearbeitet hatte, wie ein Geschenk des Himmels. Durch Hamid hatte sie erfahren, dass der Drogenhandel der Schattendiebe in den Händen dreier Männer lag, die sich „das Triumvirat“ nannten. Ihr Hauptquartier befand sich angeblich hier in Atkatla. Ein Zauber, der eine große Menge an Pillen ausfindig machen sollte, hatte sie geradewegs hierher, in den Roten Stier geführt.
Nach einigen Minuten kehrte der Wirt zurück und machte Winter ein Zeichen ihm zu folgen. Als Hamid sich ihnen anschließen wollte, schüttelte er den Kopf.
„Er bleibt hier.“ Er sah zu den beiden Billardspielern hinüber. „Als Pfand.“
Hamid schien nicht allzu glücklich darüber, als Pfand herhalten zu müssen, fügte sich aber, als er Winters warnenden Blick auffing. Der Wirt führte sie in den Keller. Vor einer der Türen waren zwei fettleibige Kalimshiten mit Krummschwertern postiert. Auf ein Zeichen des Wirts hin ließen sie Winter passieren. Sie trat in einen schmutzigen Hinterhof, der zu allen Seiten von Hauswänden umschlossen war. In der Nähe der Tür saßen drei menschliche Roulette-Spieler an einem Spieltisch: ein Hüne von einem Mann, dessen dicke Oberlippen und raue Gesichtszüge ihn als einen Barbaren aus dem Norden auswiesen, eine Lady im Reifrock, die mit ihrer Turmfrisur und dem Schönheitsfleck über der Oberlippe wie eine Personifikation adliger Dekadenz wirkte, und schließlich ein kleiner, hagerer Kamlimshit, der, zwei Krummsäbel im Schoß überkreuzt, im Schneidersitz auf einem fliegenden Teppich harrte und grinsend sein diamantenes Gebiss zur Schau stellte. Die drei waren in eine Runde Roulette vertieft, doch anstelle von Geld oder Coupons horteten sie vor sich Berge von kleinen Beutelchen, die mit weißem, porösem Pulver und Pillen gefüllt waren. Turmfrisur hob als erste ihren gepuderten Kopf.
„Und wer seid Ihr?“
Winter nannte ihr ihren Decknamen. In den Augen der Spielerin blitzte ein blauer Funke und sie murmelte einige magische Worte. „Wer seid Ihr wirklich?“, fragte sie gelangweilt. „Und lasst doch bitte diese lächerliche Verkleidung.“
Scheinheilige Schlampe, dachte Winter, während sie ihre Verkleidung fallen ließ und den Roulette-Spielern ihren wirklichen Namen und ihr Anliegen nannte. Meine Verkleidung ist jedenfalls nicht halb so einfallslos wie deine.
Nun meldete sich Diamantengebiss zu Wort. „Ihr wollt Linzens für Drogenhandel an Vilhorngriff?“, fragte er mit einem Akzent, der zu stark war, um echt zu sein. „Die kann nur Triumvirat ausstellen.“ Dicke Lippe grunzte zustimmend.
„Und wie finde ich das Triumvirat?“
„Vielleicht könnten wir Euch weiterhelfen“, schlug Turmfrisur mit einem süffisanten Lächeln vor und wies einladend auf einen leeren Stuhl zu ihrer Rechten. „Wie Ihr seht ist noch ein Platz frei an unserem Tisch. Als Einsatz könntet Ihr einige Eurer magischen Gegenstände ins Spiel einbringen. Wie ich sehe tragt ihr derer nicht wenige. Spielt mit uns und wir sehen weiter.“
Winter lehnte ab. Tymora schien ihr heute wenig gewogen zu sein. Außerdem konnte selbst ein Blinder sehen, dass ihre Gegenstände weitaus wertvoller waren als die sich im Spiel befindlichen Rauschmittel. Turmfrisur zuckte nur mit den Schultern und widmete sich wieder dem Spiel. Offensichtlich hatten sie bereits das Interesse an Winter verloren. Während sie noch überlegte, was sie weiter tun sollte, wurde die Szene jäh unterbrochen: Hinter der Tür, die in den Roten Stier führte, erklangen laute Stimmen und das Surren von Klingen, die aus den Scheiden gezogen wurden. Die drei Roulette-Spieler warfen sich alarmierte Blicke zu. Der Kalimshite griff nach seinen Säbeln und lenkte seinen fliegenden Teppich über den Türrahmen, bereit jeden ungebetenen Gast von oben zu überraschen. Der schweigsame Nordmann brachte einen Knüppel zum Vorschein, den er wer weiß wo versteckt hatte, und die Frau mit der Turmfrisur ließ hastig die Pillen und Pulverbeutel unter einer magischen Illusion verschwinden und warf einen Blick über die Schulter. Winter folgte ihrem Blick mit den Augen und meinte in einem der Dachfenster Metall aufblitzen zu sehen.
Plötzlich begann die Luft zu vibrieren und ließ die Umgebung kurzzeitig verschwimmen. Winter wusste, was das zu bedeuten hatte: Jemand teleportierte sich in diesem Moment in den Hinterhof. Als die beiden Eindringlinge jedoch sichtbar wurden, klappte auch ihr die Kinnlade herunter.
„Grimwardt? Dorien? Was, zum Henker, macht ihr denn…?“
„Scarlet wurde entführt“, brüllte Dorien ihr über den Kampf hinweg zu, der in diesem Moment losbrach. Armbrustbolzen prasselten auf die Eindringlinge hinab. Der kleine Kalimshit näherte sich Grimwardt von hinten und rammte ihm gewieft seine beiden Krummsäbel in die Seite, ehe der gestandene Krieger den Gegner auch nur erblickt hatte. Erzürnt beim Anblick ihres verletzten Bruders schleuderte Winter ihm einen sengenden Strahl entgegen, der den Säbelschwinger beinahe von seinem fliegenden Teppich gefegt hätte.
„Nun komm endlich!“, dröhnte Grimwardt, während Dorien bereits begonnen hatte, die Teleportationsformel zu sprechen. Winter bekam noch in letzter Sekunde die Hand ihres Bruders zu fassen, ehe sie spürte, wie die Dimensionen sich überlagerten und ihre Umgebung vor ihren Augen verschwamm.
„Entführt!“, tobte sie los, kaum dass sie wieder festen Boden unter den Füßen spürte. „Was soll das heißen, Scarlet wurde entführt? Grim, wie konntest du das zulassen?“
„Ich habe dir gesagt, sie ist in der Abtei nicht sicher“, verteidigte sich ihr Bruder ruhig. „Ganz abgesehen davon, war ich da, als es passierte, während ihr zwei mal wieder irgendwo in der Weltgeschichte herum getingelt seid.“
Winter ging nicht auf seine Worte ein. Gerade war ihr eingefallen, dass sie sich vor einiger Zeit von einem Magier einen sehr nützlichen Zauber abgeschaut hatte: Der Magier hatte sich tanzend im Kreis gedreht und auf diese Art und Weise Aufschluss über die Gefühlslage eines Freundes erhalten, der sich meilenweit entfernt befand. Winter tat es ihm gleich und sprach dabei die magischen Worte des Magiers aus der Erinnerung. Doch nichts geschah. Scarlets Gefühle blieben ihr verschlossen.
„Hast du jetzt völlig den Verstand verloren?“, knurrte Grimwardt, der Stirn runzelnd ihre kleine Tanzeinlage beobachtet hatte. Dorien konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen… was er kurz darauf bitter bereute.
„Lach nur!“, fuhr Winter ihn an. „Das ist auch das einzige, was du beizutragen hast, wie? Wo warst du überhaupt die letzten acht Jahre?“
„Winter, wir…“
„Na sag schon!“
„Maztika. Winter, du…“
„Maztika!“, schnaubte Winter. „Weiter weg ging wohl nicht! Ist es dir je in den Sinn gekommen, dass Scarlet ihren Vater brauchen könnte?“
„Du bist doch diejenige, die hochschwanger bei Nacht und Nebel davon gelaufen ist“, grollte Dorien. „Ganz abgesehen davon, dass Scarlet über die Jahre hinweg genug Männer ihre Väter genannt hat!“, fügte er bissig hinzu. „Vielleicht hat ja einer deiner Ex-Ehemänner herausgefunden, dass du ihm ein Kuckuckskind ins Nest gesetzt hast, und hat sie aus Rache entführt!“
„Was soll das heißen?“, fauchte Winter. „Bin ich jetzt an dem Schuld, was passiert ist?“
„RUHE, ALLE BEIDE!“, donnerte Grimwardt mit seiner Titanenstimme.
Trotziges Schweigen.
Erst jetzt wurde sich Winter ihrer Umgebung bewusst. Sie standen im Schilf am Rande eines kleinen Weihers. Die Wellen glitzerten sanft im Abendlicht und ein Reiher hob elegant von der Wasseroberfläche ab. Hinter den Weiden am Uferrand erhoben sich die Türme einer wunderschönen Stadt vor dem vanillefarbenen Abendhimmel. Myth Drannor. Die Stadt der Liebe. Winter seufzte ernüchtert.
Plötzlich raschelte es hinter ihr im Unterholz.    
„Was macht ihr denn hier?“, fragte Nimoroth.
« Letzte Änderung: 11. Oktober 2009, 15:51:11 von Niobe »

Nightmoon

  • Mitglied
    • Schicksalsstreiter
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #1 am: 09. Oktober 2009, 17:31:30 »
Sehr schön! Freue mich auf die Fortsetzung! ...und auf Hades ;)

szorn

  • Mitglied
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #2 am: 09. Oktober 2009, 19:08:49 »
Ich auch. Gute Story. Gut geschrieben.
Auch Kulturlosigkeit ist harte Arbeit und Entbehrung.

Niobe

  • Mitglied
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #3 am: 11. Oktober 2009, 15:09:53 »
Kapitel II: Die Krypta des Baelnorn

Nimoroth
Kurz darauf in Myth Drannor
Die Elfenstadt Myth Drannor war einst berühmt gewesen für ihre atemberaubende Architektur und ihr kulturelles Vermächtnis. Doch nach der Verwüstung der Stadt durch die Armeen der Finsternis hatten Myth Drannor und der Elfenhof sechshundert Jahre lang in Ruinen gelegen – ein Eldorado für todesmutige Grabräuber und waghalsige Abenteurer. Erst acht Jahre war es her, dass sich im Zuge des Elfenkreuzzuges Elfen aus Immerdar hier niedergelassen hatten. Doch der Wiederaufbau der Stadt würde noch Jahre in Anspruch nehmen: Noch immer gab es zahlreiche Stadtviertel, in denen die Magie aufgrund des zerstörten Mythals, der die Stadt einst als Schutzschild umgeben hatte, verrückt spielte oder gar nicht funktionierte. Da architektonische Arbeiten in diesen Gebieten äußerst schwierig waren, lagen die meisten Gebäude hier noch immer in Schutt und Asche. Zudem gab es auch heute noch ungesicherte Portale. Um das liederliche Gezücht zu bekämpfen, das sich in den ungesicherten Gebieten von Myth Drannor herumtrieb, oder auch um noch etwas von den vielen versunkenen Schätzen der Hauptstadt von Cormanthyr abzustauben, bevor alles wieder in den Besitz der Elfen überging, waren aus ganz Faerûn Abenteuergruppen angereist. Die Regierung der Stadt um Fürstin Ilsevele Miritar war dankbar für jede Hilfe, hatte sie selbst doch wenig Zeit sich um den Wiederaufbau der Stadt zu kümmern. Schließlich lauerten im Norden bereits die Zhentarim, die der Wiedererrichtung einer elfischen Nation in ihrem Einflussgebiet wenig zugetan waren. Und auch die Menschenstädte des Mondsees und der Talländer blickten mit Misstrauen in Richtung des Elfenhofs.
Whispers Braustube lag am Rande eines Ruinengebiets. Das Wirtshaus, das einen großen, rustikalen Schankraum und eine Galerie umfasste, war bis auf den letzten Winkel besetzt. Und obgleich die Mehrzahl der Kundschaft elfischer Herkunft war, konnte Nimoroth auch zahlreiche Menschen und sogar den ein oder anderen Halbling unter den Gästen ausmachen. Wie in Abenteurerkneipen üblich wurde gelacht, getrunken, lamentiert, musiziert und Karten gespielt was das Zeug hielt. Die Wirtin war eine kleine grünhäutige Elfe (Nimoroth meinte auch ein wenig Nymphenblut und vielleicht sogar etwas von einer Seeelfe in ihr zu sehen) mit sehr eigenwilliger, zu Berge stehender Haarfrisur, die flink wie ein Eichhörnchen zwischen den Gästen umherwuselte, Bestellungen aufnahm, Essensberge auf winzigen Servierbrettern balancierte, mit dem ein oder anderen Besucher schäkerte und dazwischen noch die Zeit fand, einen Streit zu schlichten, der sich zwischen zwei konkurrierenden Abenteurergruppen anbahnte. Kaum hatten Nimoroth und seine Gefährten sich am letzten freien Tisch niedergelassen, war sie auch schon zur Stelle, um die Bestellung aufzunehmen. Als sie Grimwardt erblickte, stutzte sie.
„Ihr habt eine Nachricht für uns?“, tippte Nimoroth. Offenbar hatte er ihren Blick richtig gedeutet, denn die Elfe nickte eifrig und begann die zahlreichen Taschen und Beutelchen, die sie um die zierliche Hüfte trug, nach der Mitteilung zu durchsuchen.
„So muss es sein“, antwortete die quirlige Wirtin. „Ein großer, rotbärtiger Krieger und ein Waldelf, so hat er euch beschrieben. Wartet – hier ist die Nachricht.“
„Wer ist ‚er’?“, fragte Nimoroth, während die anderen die Pergamentrolle in Augenschein nahmen, die Whisper ihnen über den Tisch reichte. Sie enthielt einen Ring und den Ausschnitt einer Stadtkarte.
„Ein Mensch; hat seinen Namen nicht genannt“, erklärte Whisper, während sie den Nachbartisch abräumte und gleichzeitig ein Tablett mit Metkrügen, die der Küchenjunge zur Abholung auf die Theke gestellt hatte, per Magierhand durch den Raum lenkte. „Sehr blasses Gesicht, weißes Haar, dunkle Kleidung. Sagt euch das etwas?“
„Drake!“, riefen die vier Gefährten wie aus einem Mund. Der zwielichtige Schurke, der ihnen vor zehn Jahren schon einmal einen schweren Verlust zugefügt hatte, bevor die Umstände ihn zu einem ihrer Gefährten gemacht hatten, war seinem Handwerk offensichtlich treu geblieben.
„Dieser Schweinehund“, entfuhr es Winter. „Wenn ich den zu fassen bekomme...“
Der Kartenausschnitt aus der Pergamentrolle enthielt die Wegbeschreibung zu einer alten Tempelruine und die Anweisung, dort nach „der Krypta des Baelnorn“ zu suchen. Den Ring, den Drake der Karte beigefügt hatte, identifizierte Winter mit Hilfe ihres magischen Monokels als einen Sklavenring. Der Träger eines Sklavenrings stand in telepathischer Verbindung zum Träger eines mit ihm verbundenen Rings, des Meisterrings. Wurde seinen Anweisungen nicht Folge geleistet, so konnte der „Meister“ dem „Sklaven“ über den Ring Züchtigungen in Form von magischen Schocks zuteil werden lassen. Da niemand besonders erpicht darauf war, Drake diese Genugtuung zu verschaffen, steckte Grimwardt den Ring ein.
„Lasst uns diese Krypta suchen und herausfinden, was Drake will“, sagte Nimoroth, der es nicht mehr länger ertrug, tatenlos herum zu sitzen. Jede Minute, die verging, brachte Nyrael ihrem Ende ein Stück näher.

Grimwardt
Wenig später im Ruinenviertel
Von dem Trümmerhügel, auf dem Grimwardt harrte, war zu erkennen, dass der Tempel, der einst auf dem Platz gestanden hatte, gigantisch gewesen sein musste. Die marmornen Mauerreste, das aufwendige Bodenmosaik und die Überreste von Pfeilergruppen, die noch aus dem Boden ragten, ließen nur erahnen, welche Pracht diesen Mauern einst innegewohnt haben musste. Das Bemerkenswerteste an dieser Ruine jedoch war ihr Zentrum: Hier ragte der gigantische, verkohlte Baumstumpf einer Trauerweide aus dem Boden, deren Zweige die Gebetshalle einst wie eine riesige Kuppel umschlossen haben mussten. Das Wurzelgeflecht des toten Baumes durchzog die Halle wie ein obskuren Adergeflecht und Grimwardt spürte, dass etwas Unheimliches von diesen Wurzeln ausging: Sie waren knochenbleich und stachen aus der Erde wie die Arme eines Ertrinkenden.
„Ein todloser Baum“, erklärte Nimoroth, der lautlos neben Grimwardt getreten war.
„Todlos?“, grummelte Grimwardt. „Du meinst, ein untoter Baum?“
Auf Nimoroths Gesicht stahl sich eines dieser elfischen Lächeln. „Nicht alles, was nach dem Tod nicht die Schwelle überschreitet, ist böse. Dieser Baum hat noch eine Aufgabe zu erfüllen.“
„Kommt schnell her, ich habe etwas gefunden!“, rief in diesem Moment Winter, die zusammen mit Dorien die Ruine erkundet hatte. Grimwardt beobachtete von seinem Hügel aus, wie seine Schwester sich vor der Weide zu Boden kniete und konzentriert über eine der mächtigen Wurzeln strich. Dann sprang sie plötzlich zurück. Wie eine riesige verwundete Schlange wuchtete sich die Wurzel schwerfällig aus der Erde, bis sie einen Torbogen gebildet hatte, unter dem bequem zwei Menschen Platz fanden.
„Scheint so, als hätte sie herausgefunden, was seine Aufgabe ist“, brummte Grimwardt, schulterte seine Axt und schlenderte den Hang hinunter. Bei Winter angelangt, griff er in seine Tasche und brachte den Sklavenring zum Vorschein.
„Denke, es ist an der Zeit, herauszufinden, was Drake von uns will“, meinte er und streifte sich den eisernen Ring über den Finger, bevor irgendwer protestieren konnte.
„Es geschehen noch Zeichen und Wunder“, hörte er Drakes spöttische Stimme in seinem Kopf. „Ich dachte schon, ich hätte die Anweisung ‚Streift mich über’ besser in den Ring gravieren lassen sollen, um sicher zu gehen, dass wir uns verstehen.“
„Was willst du?“, fragte Grimwardt ruhig.
„Grimwardt Fedaykin“, lachte Drake. „Du verlierst wie immer nicht viele Worte.“ Aus irgendeinem Grund stellte Grimwardt sich den Albino auf einem Diwan liegend vor, die Beine von sich gestreckt und ein Glas Wein in der Hand.
„Wo ist eigentlich der fünfte im Bunde?“, fragte Drake. „Ich dachte, Kalith lebt hier in Myth Drannor? Ich hätte es bevorzugt, die ganze Gruppe zu… rekrutieren. Dumm nur, dass mir in Kaliths Fall das Druckmittel fehlte…“
Weil du seine Familie bereits umgebracht hast, Witzbold, dachte Grimwardt.
„Was willst du?“, fragte er, entschlossen sich von Drakes Sticheleien nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.
„Warum sucht ihr nicht die Krypta und findet es heraus?“
„Soll ich dir sagen, was ich denke? Ich denke, dass da unten irgendein Untoter auf uns wartet, der etwas besitzt, was du haben willst. Und da du gegen Untote nicht viel ausrichten kannst, brauchst du unsere Hilfe.“
Grimwardt schloss aus Drakes Schweigen, dass er nicht ganz falsch lag.
„Weißt du, Drake“, fügte er nüchtern hinzu. „Du hättest auch einfach fragen können!“ Er selbst hatte sich immer gut mit Drake verstanden… Allerdings waren es auch nicht seine Eltern, die der Schuft ermordet hatte.
Drake lachte leise. „Darauf wärt ihr niemals eingegangen.“
„Woher willst du das wissen?“
„Findet die Krypta.“
Die Verbindung brach ab.
Grimwardt zuckte mit den Schultern und trat als erster durch das Wurzelportal. Für einen Augenblick überkam ihn Schwindel und ein Gefühl, als verliere er den Boden unter den Füßen. Dann Dunkelheit. Kurz darauf enthüllte Doriens Lichtzauber einen engen Erdtunnel, der von den Wurzeln der todlosen Weide fast vollständig versperrt wurde. Doch als Grimwardt mit seiner Axt nach den Wurzeln schlagen wollte, wischen sie vor ihm zurück und gaben den Weg frei. Offenbar hatte das Portal sie tief ins Erdreich geführt. Der Tunnel endete nach wenigen Schritten vor einer morschen Tür, durch deren Ritzen ein schwacher Lichtschein in den Gang fiel. Hinter der Tür befand sich eine Grabkammer mit zehn Sarkophagen. Aus einem seitlich angrenzenden Raum schien ein gleißend heller Lichtkegel in den Raum hinein. Die Sarkophage, die von dem Licht berührt wurden, waren unversehrt. Jene jedoch, die außerhalb des Lichtkegels lagen, waren geplündert und entweiht worden. Das verkohlte Skelett eines Humanoiden vermittelte den Gefährten eine Ahnung davon, was mit Grabräubern geschehen war, die ihr Glück an den anderen Sarkophagen versucht hatten.
Sie sahen einander ratlos an. Grimwardt zuckte mit den Schultern und hielt den kleinen Finger seiner linken Hand ins Licht. Ein Finger war entbehrlich. Doch nichts geschah. Grimwardt spürte im Gegenteil sogar eine angenehme Wärme durch seinen Körper strömen. Entschlossen trat er vor. Und tatsächlich: Er wurde von einem angenehmen Schauer überkommen, der seinen Geist belebe und seine Sinne schärfte.
„Darum braucht Drake also unsere Dienste“, murmelte Nimoroth. „Das Licht hätte seine niederträchtigen Absichten erkannt und ihm den Zutritt verwehrt.“
Die Lichtquelle war ein geweihter Altar im hinteren Teil des Raumes. Nimoroth konnte die Symbole und Runen darauf Corellon Larethian, dem Göttervater der Seldarine, zuordnen. In der Mitte des Raumes erhob sich ein weiterer Sarkophag, feiner gearbeitet als jene im Vorraum. Den Grabdeckel zierte ein Relief des Verstorbenen: das friedliche Bild eines Sonnenelfen mit edlen Gesichtszügen, der in prunkvolle Roben gewandet war. „Eoleth Keluvin“ lautete die elfische Grabinschrift.
Ein leises, spöttisches Lachen mischte sich in Grimwardts Gedanken.
„Eoleth Keluvin“, sagte Drake. „Ein Elfenmagier, begraben in einem geweihten Grab. Und du hast Recht, Grimwardt. Er besitzt etwas, das ihm nicht gehört. Ein Drowartefakt, genannt die Todesklaue. Und nun sag mir, Grimwardt“, fügte er sarkastisch hinzu. „Hättet ihr mir hierbei geholfen, wenn ich euch nett darum gebeten hätte?“
Grimwardt gab ein unverständliches Grummeln von sich und gab Drakes Worte an die anderen weiter. Dann sagte er mit düsterer Entschlossenheit: „Ich werde diesen Ort nicht entweihen.“
Winter drehte sich jäh zu ihm herum.
„Grim! Es geht um Scarlet!“
„Nichts wird mich dazu bringen, zum Grabräuber zu werden“, erklärte Grimwardt mit Nachdruck. Er hatte seine Entscheidung getroffen und würde sie nicht widerrufen. Die anderen starrten ihn betreten an. Ihnen allen war klar, dass Nimoroth allein mit der Hilfe der beiden Hexenmeister den Deckel des Grabes nicht würde lüften können.
„Also schön“, schnaubte Winter und funkelte ihn böse an. „Wenn du uns nicht helfen willst, dann werde ich eben einen Weg finden müssen, da hineinzugelangen.“ Mit ähnlicher Entschlossenheit wie ihr Bruder, gepaart mit einer erheblichen Portion Trotz, stieg sie auf das Grab und legte sich flach darauf.
„Was hast du vor?“, grummelte Grimwardt. „Willst du dich in das Ding hinein teleportieren?“
„Genau das habe ich vor!“, schnappte Winter. „Ich gehe da rein und hole mir diese dumme Artefakt.“
Gesagt, getan.
Nimoroth riss seinen Krummsäbel aus der Scheide und Dorien erhob seinen Zauberstecken. Gespenstige Stille. Dann plötzlich ein ohrenbetäubendes Bersten und Grimwardt konnte gerade noch der Sargplatte ausweichen, die von einer unsichtbaren Kraft in die Höhe geschleudert und dann zur Seite geschmettert wurde.

« Letzte Änderung: 11. Oktober 2009, 15:46:28 von Niobe »

Alcarin

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Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #4 am: 11. Oktober 2009, 15:57:15 »
Sehr schön geschrieben, bitte mehr :)
百聞不如一見。 / 百闻不如一见。 -  Einmal sehen ist besser als hundertmal hören.

Nightmoon

  • Mitglied
    • Schicksalsstreiter
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #5 am: 12. Oktober 2009, 00:25:15 »
Ich muss gerade an die äußerstlustige Ingame-Situation denken, als Winter sich da rein teleportierte... :D
...Und ich überlegte gerade, dass da ja eigentlich noch der Kampf gegen die Dämonen vorher statt fand, aber andererseits sind ein Glabrezu und ein paar Vroks in unserer Gruppe ja tatsächlich nicht mehr das, was man einen Gegner nennen würde  :wink:

Niobe

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Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #6 am: 12. Oktober 2009, 01:35:06 »
Ja, die Glabrezu-Begegnung habe ich absichtlich rausgelassen. War, wie du schon sagtest, nicht wirklich herausfordernd und hätte außerdem den Handlungsfluss gestört. Im Nachhinein finde ich die auch ziemlich unnötig und unpassend, hätte ich mir sparen können. Kleine Schönheitsoperation am Rande sozusagen...

@all
Danke für das Lob. Hoffe, das hält mich bei der Stange :-)

Niobe

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Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #7 am: 12. Oktober 2009, 17:46:55 »
Nimoroth
Eoleth Keluvin stand aufrecht in seinem eigenen Sarg. Seine bleichen, pupillenlosen Augen waren auf Winter gerichtet, die vor ihm kauerte, und seine ausdruckslosen Lippen formten magische Worte. Die einstmals prächtigen Samtroben des Elfenmagiers hingen ihm in Fetzen vom Leib und seine Haut spannte sich wie Pergament über die knirschenden Knochen.
Ein Baelnorn. Ein Elfenleichnam.
Am rechten Arm trug Eoleth einen schwarz glänzenden Panzerhandschuh aus einem organisch wirkenden Material, das sich in Ringen um sein knochiges Handgelenk wand. Dies musste die Todesklaue sein, von der Drake gesprochen hatte. Verblüfft starrte Nimoroth das Artefakt an: Die Klaue an Eoleths Handgelenk erinnerte ihn an einen Gegenstand, den er einst am Arm einer fanatischen Drow-Priesterin gesehen hatte, die er mir seiner alten Abenteuergruppe im Unterreich bekämpft hatte. Im Augenblick ihres Todes hatte sich die Priesterin samt der Klaue aus ihrem Turm teleportiert. Eoleths Panzerhandschuh war identisch mit jenem Artefakt, das sie damals nicht hatten bergen können, mit der Ausnahme, dass dieser Gegensand von einer in Silber gefassten Obsidianspinne geziert wurde.
Blinzelnd lenkte Nimoroth seine Aufmerksamkeit von dem rätselhaften Artefakt auf seinen Träger. Im Gegensatz zu anderen Untoten roch Eoleth nicht nach Verwesung und Verfall. Nimoroth hatte nichts anderes erwartet: Baelnorns waren heilige Wesen, von den Seldarine gesegnet und auf ewig einer Aufgabe auf der Erde verschrieben. Was ihn jedoch verwunderte war die völlige Geruchlosigkeit dieses Wesens.
Irgendetwas stimmte nicht.
Doch Nimoroth blieb keine Zeit, sich darüber klar zu werden, was der fehlende Eigengeruch des Leichnams zu bedeuten hatte. Der Magier hatte eine Salve magischer Geschosse auf Winter abgefeuert und wurde nun seinerseits von Dorien unter Beschuss genommen. Nimoroth flüsterte die göttliche Formel, die seine Muskeln anschwellen ließ und seine Kampfinstinkte schärfte, und preschte vor. Ein einziger Angriff reichte aus, den Magier zu Fall zu bringen. Doch anstatt besiegt in sein Grab zurück zu sinken, löste sich Eoleth samt seiner Ausrüstung in Luft auf als hätte es ihn niemals gegeben.
„Weshalb trachtet ihr nach der Klaue der Spinnenkönigin?“, fragte eine eisige Stimme und Nimoroth fuhr mit gezücktem Säbel herum. Eoleth Keluvin schwebte, umgeben von einem energetischen Schutzfeld, das in allen Farben des Regenbogens schimmerte, vor dem Eingang der Grabkammer und die Strahlen des Lichts von Arvandor brachen sich myriadenfach in seinen weißen blicklosen Augen. Nimoroth nahm seinen Duft auf: Er roch nach den Gestaden des gepriesenen Landes. Sie hatten nichts weiter als eine Projektion besiegt.
Mit demütig gesenktem Haupt schilderte Nimoroth dem Baelnorn ihr Dilemma: Um seine Geliebte und die Tochter seiner Freunde aus den Klauen eines hinterhältigen Erpressers zu befreien, mussten sie diesem die Todesklaue liefern.
Eoleths tote Augen blieben unbewegt.  
„Die Klaue ist bis zu meiner Zerstörung an mich gebunden“, sagte er. „Selbst wenn ich wollte, so könnte ich sie nicht ablegen, denn es ist meine heilige Aufgabe, sie vor jenen zu schützen, die durch sie unsägliches Leid über Toril bringen könnten. Der Träger dieses Zeugnisses nekromantischer Schaffenskraft vermag diese Welt innerhalb weniger Jahre mit seinen untoten Dienern zu überziehen. Ich habe Lolths dunkle Macht am eigenen Leibe erfahren“, fügte er mit leiserer Stimme hinzu. „Mehr als 400 Jahre muss es her sein, dass ich die Straßen Myth Drannors in sterblicher Gestalt durchwandelte. Damals erhielt ich die Aufgabe, eine Drowpriesterin zu verfolgen, die die Todesklaue einsetzen wollte, um die Welt unter der Sonne in Lolths Namen zurückzuerobern.“
„Ihr sagt, es ist ein Artefakt der Spinnenkönigin?“, fragte Nimoroth Stirn runzelnd. „Seid ihr euch dessen gewiss?“ Die Drowpriesterin, die sie damals im Unterreich bekämpft hatten, war Anhängerin einer anderen Göttin gewesen. Sie hatte Kiaransalee, die dunkelelfische Göttin des Untodes, verehrt.
„So ist es.“
„Was wisst ihr von einer zweiten Klaue?“
Der Baelnorn neigte den Kopf; seine blicklosen Augen blieben unbewegt.
„Ich weiß nur von dieser einen Klaue. Ich verfolgte ihre Trägerin bis ins Unterreich. Doch der entscheidende Kampf brachte auch mich an die Schwelle des Todes. Kurz bevor meine Sinne mich verließen, legte ich das Artefakt an. Ich konnte die Klaue nicht im Unterreich zurücklassen, wo sie über kurz oder lang nur wieder den Dunkelelfen in die Hände gefallen wäre. Die dunkle Macht des Artefakts rettete mir das Leben, doch mein Geist war zu schwach, um den Einflüsterungen der Klaue zu widerstehen und so wurde ich als ihr Träger zu Lolths Diener, einzig darauf bedacht meine Brut zu vergrößern. Meine Missetaten blieben nicht unbemerkt und Myth Drannor sandte seine Elfenritter gegen mich und meine untoten Konsorten aus. Sie bezwangen mich und als ich wieder ich selbst war, gaben die Seldarine mir die Chance Buße zu tun für meine Verbrechen. In Gestalt eines Baelnorns bannten sie mich in diese Krypta. Und hier werde ich auf Ewigkeiten bleiben, um zu beschützen, was mir anvertraut wurde. Ihr seht also“, wandte sich Eoleth wieder an Nimoroth: „Dieses Artefakt kann in den Händen eines jeden Sterblichen zur Gefahr werden. Mein Herz ist von Mitleid erfüllt für euch und jene, die ihr zu schützen versucht. Doch selbst das Leben zweier Sterblicher macht das Grauen nicht wett, das dieses Artefakt anzurichten vermag.“
Nimoroth seufzte schwer und verfluchte Drake im Stillen. Nein, ihnen würde kein anderer Ausweg bleiben als gegen den Wächter der Todesklaue zu kämpfen, so sehr ihm diese Vorstellung auch zuwider war. Grimwardt indessen war nicht dazu zu bewegen, gegen sein Gewissen zu handeln und diesen heiligen Ort zu entweihen. Mit düsterer Miene kehrte er seinen Gefährten den Rücken und verließ die Grabkammer. Nimoroth schüttelte traurig den Kopf. Er selbst hatte den Glauben daran, die Welt in einen besseren Ort zu verwandeln, vor acht Jahren in den Katakomben von Westtor verloren. Es gab zu viel Unglück auf Faerûn. Alles, was er tun konnte, war jene zu schützen, die er liebte.
Entschlossen packte er seine Waffe fester und flüsterte einen Flugzauber. Bevor Eoleth reagieren konnte, schwang er sich in die Lüfte und griff den schwebenden Magier im Sturzflug an. Sein magischer Säbel schnitt mühelos durch das vielfarbige Schutzschild, das den Baelnorn umgab und fügte ihm eine schwere Wunde zu, doch im selben Moment durchfuhr Nimoroth brennende Hitze und er taumelte betäubt einige Schritte zurück. Winter und Dorien versuchten dem Magier mit Angriffszaubern beizukommen. Als diese an dem Regenbogenschild abprallten, änderten sie ihre Taktik und versuchten Nimoroth mit ihren Zaubern zu schützen. Als nächstes spürte Nimoroth Eoleths leeren Blick auf sich, als der Magier einen Bannzauber wirkte, der Nimoroth seiner göttlichen Verstärkungen beraubte und seinen Flugzauber beendete. Während er fiel, durchfuhren ihn elektrische Stöße, die seine Glieder unkontrolliert zucken und ihn vor Schmerz aufschreien ließen.
„Ihr Elenden“, flüsterte Eoleth und aus seinen gespreizten Fingern schoss ein Kegel bunter Strahlen. Das letzte, was Nimoroth sah, war Grimwardt, der mit erhobener Axt aus dem Nebenraum gestürzt kam. Selbst die eherne Entschlossenheit des Tempuskriegers zerfiel wie Staub im Wind, wenn es darum ging, seine Schwester zu retten.
Dann erstarrte Nimoroths Geist, als ein grüner Strahl ihn traf und in Stein verwandelte.

Grimwardt
Teils fluchend, teils um Vergebung bittend, rammte Grimwardt seine Axt in den ungeschützten Körper des Magiers. Eoleths blicklose Augen weiteten sich, als er in die Arme des Priesters sank.
„Bringt die Klaue… zurück“, keuchte er, während sein untoter Körper dem Verfall anheim fiel, den göttliche Magie über all die Jahre aufgehalten hatte. Am Ende blieb nichts als Staub und die vermaledeite Klaue. Als der Baelnorn starb, erlosch das Licht von Arvandor und ein Riss spaltete den Altar. Dunkelheit senkte sich über die Höhle des Baelnorn.
„Wir haben sie“, knurrte Grimwardt an Drake gewandt. „Was nun?“
„Lauft weiter nach Osten und betretet das letzte intakte Haus im Ruinengebiet. Erster Stock, erste Tür auf der linken Seite.“
Grimwardt fuhr sich über den Bart. Die ganze Aktion stank zum Himmel.
„Wenn du das Ding haben willst“, knurrte er düster: „Dann komm und hol es dir aus meinen kalten, toten Händen!“  Mit diesen Worten machte er Anstalten sich die Klaue überzustreifen, doch Winter griff hastig ein und entrang das Artefakt dem Griff ihres Bruders.
„Nicht, Grim! Hast du nicht gehört, was der Elfenleichnam gesagt hat? Die Klaue würde dich beherrschen wie ihn! Wir müssen eine andere Lösung finden. Soll Drake das Ding haben. Fürs erste. Sicher will er es an irgendwen verkaufen. Wir machen den Käufer ausfindig und holen es uns wieder.“
„Und wie stellst du dir das vor?“
Da sich der Aufenthaltsort von Artefakten nicht durch Erkenntniszauber ermitteln ließ, versteckten die Gefährten einen Kiesel und einen Tintenklecks, zwei Dinge von denen sie hofften, dass sie unauffällig genug waren und sich dennoch zurückverfolgen ließen, im Innern der Klaue. Grimwardt warf sich den versteinerten Nimoroth über die Schulter und sie machten sich auf den Weg zu dem Übergabeort, den Drake ihnen genannt hatte. Im ersten Stock der Ruine fanden sie eine magische Truhe mit arkanen Motiven vor, die an diesem trostlosen Ort seltsam fehl am Platze wirkte. Der Deckel stand offen. Gemäß Drakes Anweisungen legten sie das Artefakt in die Truhe. Kaum hatten sie den Deckel zugeklappt, erbebte die Truhe kurz und verschwand dann ohne einen Laut.
 „Zufrieden?“, knurrte Grimwardt. „Also wo sind die Geisel?“
„Fragt in Whispers Braustube nach einer Nachricht… und Grimwardt…“ Drake lachte spöttisch. „Danke für die gute Zusammenarbeit.“
Wie sie kurz darauf feststellten, war bei Whisper tatsächlich eine zweite Nachricht für sie abgegeben worden. Darin nannte Drake den Ort, an dem er Scarlet und Nyrael festhielt: ein kleines, spärlich eingerichtetes Dachzimmer in einem der magietoten Gebiete der Stadt. Die Antimagie, die durch den zerstörten Mythal bedingt war, musste Winters Ortungszauber in die Irre geführt haben.
Als Grimwardt mit den anderen in dem Zimmer eintraf, fanden sie Nimoroths Lebensgefährtin in tiefer Bewusstlosigkeit vor: Ihre Haut und ihr moosgrünes Haar waren gelb verfärbt und vertrocknet wie die vergilbten Blätter eines sterbenden Baumes. Die kleine Scarlet, die verunsichert und befremdet zu den Füßen der sterbenden Fremden saß, sprang von Erleichterung überwältigt auf, kaum dass sie den Raum betreten hatten, und flog erst ihrer Mutter und dann ihrem Onkel in die Arme. Dorien, den sie erst seit einigen Monaten kannte, begrüßte sie verhaltener. Nicht ohne Stolz bemerkte Grimwardt, dass seine Nichte keine einzige Träne vergossen zu haben schien. Doch Zeit für ausgiebige Umarmungen blieb nicht. Die Dryade musste dringend zu ihrem Lebensbaum zurückgebracht werden. Behutsam nahm Dorien sie in die Arme und teleportierte alle, nachdem sie den magietoten Bereich verlassen hatte, in die Sternwälder. Kaum hatten sie die Dryade mit dem Rücken gegen ihren Lebensbaum gebettet, erholte sie sich sichtbar. Ihre Augenlider flackerten.
„Irgendjemand sollte Nimoroth dringend entzaubern“, murmelte Grimwardt, der ächzend die schwere Steinstatue von seinem Rücken wuchtete. „Sonst trifft die Kleine der Schlag, kaum dass sie aufwacht.“
Da sie genug mächtige Magierfreunde in Tiefwasser und Umgebung hatten, wussten sie, an wen sie sich in solchen Fällen zu wenden hatten.
« Letzte Änderung: 12. Oktober 2009, 17:53:05 von Niobe »

Alcarin

  • Mitglied
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #8 am: 12. Oktober 2009, 19:29:35 »
Das will ich doch hoffen, und deswegen gleich nochmal:
Neuer Post = sehr schön und detailiert geschrieben :)

Mehr bitte!
百聞不如一見。 / 百闻不如一见。 -  Einmal sehen ist besser als hundertmal hören.

Nightmoon

  • Mitglied
    • Schicksalsstreiter
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #9 am: 13. Oktober 2009, 00:33:02 »
Ich hab schon so viele schöne Kleinigkeiten wieder vergessen... ich war ja versteinert...  :boxed:
Ist toll, wenn man das alles nochmal in seinem Geist wiederholen kann :)

Niobe

  • Mitglied
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #10 am: 15. Oktober 2009, 19:38:37 »
Kapitel III: Über den Wolken

Winter
Myth Drannor, 4 Tage später
„Die Schweigenden Schwestern?“, fragte Grimwardt skeptisch, während er mürrisch einen Marienkäfer fortschnippte, der sich in seinen langen Barthaaren verfangen hatte.
„Scarlet wäre dort gut aufgehoben“, beteuerte Winter, während sie ungeduldig unter der Schattenkrone auf und ab lief, in der sich das Heim des Weisen Belivimir befand, von dem sich die Gefährten Hinweise auf den möglichen Verbleib der Todesklaue erhofften. Da Winter kein Elfisch sprach, und Grimwardt sich schlichtweg weigerte mit Leuten zu reden, die in Bäumen lebten, waren Nimoroth und Dorien allein hinauf gestiegen.
Seit vier Tagen suchten sie bereits nach der Klaue – bisher ohne Erfolg. Dass Dorien weder den Kieselstein noch den Tintenklecks hatte zurückverfolgen können, musste bedeuten dass die beiden Peiler entweder entdeckt worden waren oder die Klaue sich an einem Ort befand, der gegen magische Ausspähungen geschützt war. Auch die Suche nach Drake hatte sie nicht weiter gebracht. Winter, die am besten mit den Symbolen und Praktiken der Unterwelt bekannt war, hatte die sprechenden Hüte, die der Entführer ihrer Tochter an den beiden Tatorten zurück gelassen hatte, als das Symbol einer Diebesorganisation erkannt, die sich selbst „Der lachende Hut“ nannte. Die Organisation war ein kleiner und noch junger Verband von Dieben, Assassinen und Giftmischern, deren Hauptquartier in den Silbermarken oder an der nördlichen Schwertküste vermutet wurde. In Silbrigmond hatten die Gefährten mit Nachforschungen zu Drake und der Diebesorganisation begonnen. Sie hatten jedoch lediglich herausfinden können, dass diese offensichtlich in Zellen organisiert und darum äußerst schwierig zu knacken war. Schließlich waren sie nach Myth Drannor zurückgekehrt, weil ein Ortungszauber, der Drakes Aufenthaltsort ermitteln sollte, sie hierher geführt hatte. Doch anstatt auf ihren Erzfeind waren sie lediglich auf eine Illusion gestoßen, die ihnen dessen Anwesenheit vorgegaukelt hatte und Nimoroth einen unfreiwilligen Fall durch den Boden eines morschen Dachstuhls beschert hatte. Zu allem Überfluss hatte man sie schließlich wegen der Entweihung der Krypta, die inzwischen entdeckt worden war, festgenommen und dem Hauptkommandanten der Schwertgarde vorgeführt: Fflar Sternbraue hatte ihnen den Eid abgenommen, die Klaue zurück zu bringen. Ansonsten drohten ihnen die Kerker der Elfenstadt. Einzig aus Respekt für seinen Ersten Leutnant, Kalith Lysan, einen Freund der Gefährten, war der Hauptmann geneigt gewesen, ihnen ihre Geschichte überhaupt abzukaufen. Von Kalith selbst hatten die Gefährten noch nichts gesehen; Der Elfenhauptmann hatte behauptet, er sei in außenpolitischer Mission unterwegs. Winter empfand die ganze Aufregung um das Artefakt indes als überaus lästig, da sie im Moment ganz andere Sorgen plagten.
„Bei den Schweigenden Schwestern wäre Scarlet sicher“, versuchte sie gerade ihren Bruder von dem Plan zu überzeugen, ihre Tochter in ein Klosterinternat zu schicken. Scarlets Entführung hatte ihr bewusst gemacht, wie angreifbar sie durch ihre Tochter geworden war. „Ich habe mich über den Kult informiert. Ein kleines Kloster in den Bergen, magisch geschützt. Erstklassige Ausbildung. Und niemand würde sie dort vermuten. Was meinst du?“ Für den Augenblick hatten sie Scarlet bei Nimoroths Familie in den Sternwäldern untergebracht. Doch Winter ließ der Gedanke keine Ruhe, dass ihre Tochter noch einmal das Ziel eines Anschlags werden könnte, der ihr selbst galt. Am liebsten hätte sie Scarlet in Watte gepackt und in eine andere Dimension gebannt. Ein abgeschiedenes Bergkloster schien dieser Idee am nächsten zu kommen.
„Sie wünscht sich eine Axt.“
Jäh blieb Winter stehen. „Wie bitte?“
„Scarlet. Sie wüscht sich eine Axt zu ihrem nächsten Geburtstag.“
„Hast du mir überhaupt zugehört?“
„Ich habe ihr eine versprochen.“
„WAS?“ Fassungslos starrte Winter ihren Bruder an. „Ich mache Pläne, wie ich meine Tochter beschützen kann und du versprichst ihr eine Axt?“
„Angriff ist die beste Verteidigung.“
„Sie ist sieben Jahre alt!“
„Und wird in einem Monat acht.“ Grimwardts Gelassenheit trieb Winter zur Weißglut. „So alt wie die jüngsten meiner Schüler.“
„Sie ist meine Tochter, nicht eine deiner Schülerinnen“, schnaubte Winter. „Und ich sage, sie kommt zu den Schweigenden Schwestern!“
„Sollte ich da nicht ein Wörtchen mitzureden haben?“
Winter wandte sich um: Dorien war mit Nimoroth vom Gespräch mit dem elfischen Weisen zurückgekehrt.
„Was herausgefunden?“, lenkte Grimwardt, der einen neuerlichen Disput befürchtete, das Gespräch auf ihre Mission zurück.
„Nicht viel“, erwiderte Nimoroth. „Die Klaue erlaubt es dem Träger mächtige Untote - Zinkarlas und Geister - zu erschaffen und eine beliebige Anzahl dieser Kreaturen zu kontrollieren. Von einer zweiten Klaue wusste Belivimir nichts.“
„Vielleicht solltest du Mielikki um Hilfe bitten“, schlug Dorien vor. „Sie hat dir schon früher in solchen Situationen weitergeholfen.“
„Vielleicht“, sagte Nimoroth zögernd. „Wenn das die letzte Möglichkeit ist.“

Nimoroth
Am nächsten Morgen
Der Wald ist mit Raureif überzogen und wabernde Nebel verklären Nimoroths Sicht. Sie ist in Gestalt eines Einhorns gekommen. Ein Einhorn mit unendlich traurigen Augen. Nimoroth ruft ihren Namen, während er auf sie zu läuft, doch er kann sie nicht erreichen. Wie in einem Traum, in dem man langsamer wird, je schneller man läuft. Dann wendet sie sich um und er folgt ihr durch den Morgenwald. Während sie laufen, beginnt sich seine Umgebung zu verändern. Pflanzen verdorren; Bäume altern wie im Zeitraffer. Schnee fällt, bis er die Erde mit einer weißen Schicht überzogen hat, die sich wie ein Leichentuch über die Verwüstung senkt. Das Einhorn läuft immer schneller, bis ihm Flügel wachsen und es von der Erde abhebt. Nimoroth verliert den Boden unter den Füßen und schwebt in einem Nichts aus Dunstschleiern. Dem Einhorn folgend steigt er höher und höher, bis er die Wolkendecke durchbricht. Hier bietet sich ihm ein atemberaubender Anblick: In der Ferne ragt eine Stadt aus dem Wolkennebel: eine Stadt aus Glas, umspielt von leisen, gläsernen Tönen, erstrahlt im gleißenden Licht der Sonne. Als er näher kommt, erblickt Nimoroth die Silhouetten geflügelter Wesen. Plötzlich zuckt ein Blitz vom Himmel und die Stadt über den Wolken versinkt in Dunkelheit.
Schweißgebadet wachte Nimoroth auf.
„Alles in Ordnung?“, grummelte Grimwardt.
Winter half dem Elfen sich aufzusetzen. „Du hast den Zauber gesprochen und bist umgekippt.“
„Wie müssen ins Sonnenaufgangsgebirge“, sagte Nimoroth. „Die Klaue ist in Immerschwinge."
So musste es sein. Nimoroth kannte die Stadt der Avariel nur aus Mythen und Legenden. Doch was sonst konnte die Botschaft seiner Vision sein?
„Avariel?“, fragte Dorien überrascht. „Geflügelte Elfen? Was wollen die mit einem Drowartefakt?“
„Finden wir’s heraus.“

Winter
Am selben Abend in Pyrados, östliches Tay
„Wucherer“, knirschte Winter und verließ wütenden Schrittes das Gasthaus Zum Guckloch. Diese ganze Stadt war ein Nest aus Geizhälsen, Wucherern und Fremdenhassern. Nicht genug damit, dass Nimoroth, der einzige Elf der Gruppe, den doppelten Preis für sein Abendessen hatte zahlen müssen („Loyalitätszuschlag“, hatte der Gastwirt es genannt, als Absicherung, dass er nicht die tayanischen Sklavenfänger auf sie hetzte). Für jedes verdammte Wort, das aus seinem Mund drang, hatte der Schnösel mit dem aalglatten Grinsen eine Goldmünze verlangt. Nicht einmal den Namen des höchsten Berges des Sonnenaufgangsgebirges hatte er Winter ohne Bezahlung preisgeben wollen. Wenn seine Informationen sie wenigstens weiter gebracht hätten! Aber nein! Die Existenz von geflügelten Elfen hatte der Kerl für ein Märchen gehalten. Und als sie ihn nach einer gläsernen Stadt über den Wolken gefragt hatte, hatte er sie schlichtweg ausgelacht.
„Er kann es sich erlauben“, sagte Nimoroth, der die Erniedrigungen des Gastwirts mit stoischer Miene hingenommen hatte. „Pyrados ist die letzte Stadt vor dem Sonnenaufgangsgebirge. Alle Handelskarawanen nach Kara-Tur müssen hier durch. An Kundschaft mangelt es den Gastwirten hier sicher nicht.“
„Dem werd’ ich’s zeigen“, murmelte Winter und trat kurz entschlossen an ein altes Waschweib heran.
„Verzeiht, gute Frau, könnt Ihr mir sagen, wie der Name des höchsten Berges in dieser Gegend lautet?“
Die Frau beäugte die Gefährten misstrauisch.
„Das muss die Schmelzwasserspitze sein“, erwiderte sie, ohne dass der Argwohn aus ihrer Stimme wich.
Mit einem zuckersüßen Lächeln bedankte sich Winter bei der Frau und belohnte sie mit der Goldmünze, die sie dem Gastwirt des Gucklochs verweigert hatte. Da es im gesamten Sonnenaufgangsgebirge nur einen einzigen Berg gab, der über die Wolkendecke hinausragte, konnte sich die Stadt, die Nimoroth in seiner Vision gesehen hatte, nur auf jener Schmelzwasserspitze befinden.
Mit diesem Wissen machten sich die Gefährten auf den Weg zu einem Zauberladen, den der Wirt des Gucklochs ihnen empfohlen hatte, um sich die nötige Ausrüstung zu beschaffen. Der Besitzer des Ladens, ein jungenhafter Magier mit Segelohren, dem die tätowierte Glatze, die unter den Roten Magiern von Tay Brauch war, nicht eben zum Vorteil gereichte, verkaufte ihnen (natürlich zum doppelten Preis) Schriftrollen mit Atemzaubern gegen den abnehmenden Luftdruck im Hochgebirge, sowie Schutzzauber gegen die Kälte und einige grundlegende Bergsteigerutensilien. Gegen die entsprechende Bezahlung empfahl er ihnen auch einen Bergsteiger: Devon Jadsat.
Das Haus des Gebirgsführers, das die Gefährten kurz darauf ausfindig machten, sah wenig einladend aus: eine heruntergekommene Hütte mit verwüstetem Vorgarten im ärmeren Teil der Stadt. Der bissige Kläffer, der die Gefährten am Tor erwartete, ließ sich dank Nimoroths Beruhigungskünsten zähmen. Sein Herrchen, das kurz darauf fluchend aus dem Haus gestolpert kam, hatte durchaus das Potential, dem Hund in Sachen Ungekämmtheit die Schau zu stehlen. Die penetrante Alkoholfahne, die ihm anhaftete, machte ihn auch nicht unbedingt liebenswerter. Nach Austausch der üblichen Begrüßungsfloskeln kam Winter gleich auf ihr Anliegen zu sprechen.
„Die Schmelzwasserspitze?“ Devon lachte und zog die verschnupfte Nase hoch. „Ihr werdet keinen Gebirgsführer finden, der euch da hinauf bringt.“
„Wieso nicht?“
„Der Berg wird von einem unermüdlichen Hagelsturm umbraust, der den Aufstieg praktisch unmöglich macht. Ein Überbleibsel der alten Raumatar-Magie, wie die Roten Magier sagen. Dafür spricht auch, dass im Umkreis von fünf Meilen um die Schmelzwasserspitze keine Dimensionsreisen möglich sind. Die Magie des alten Imperiums ist noch mächtig in dieser Gegend.“
Die Gefährten sahen einander an. Das roch verdächtig nach einem Schutzmechanismus. Ein weiteres Indiz dafür, dass sich die Stadt der Avariel auf dem Berg befinden musste.
„Könnt Ihr uns denn bis zum Fuß der Schmelzwasserspitze führen?“
Devon kratzte sich am Hintern. „Ihr wollt es wirklich wissen, hm? Bedenkt aber, dass ich euch gewarnt habe. Für 400 Gold am Tag plus Verpflegungs- und Ausrüstungskosten kann ich euch hinbringen. Und mit einem Augenzwinkern fügte er hinzu. „Gegen ein Schlückchen Wein hin und wieder hätte ich natürlich auch nichts einzuwenden.“
Winter war erstaunt: Nach der Habgier des Gastwirts und den Wucherpreisen des Zauberhändlers hatte sie nicht mehr erwartet, hier so günstig davonzukommen.
„Ihr seid nicht von hier, oder?“, riet sie.
„Bei den Göttern, nein“, wehrte Devon ab. „Wir sind Herumtreiber, nicht wahr?“ Er tätschelte den Hund hinter den Ohren. „Denke nicht, dass es mich lange in diesem Nest von Halunken und Halsabschneider halten wird.“
Der Handel war schnell geschlossen und Devon, der nicht so übel war wie sein Geruch, zum Abendessen eingeladen. Seitdem Dorien sich eine außerdimensionale Villa im Taschenformat zugelegt hatte, die sich an jedem beliebigen Ort in Originalgröße aufzaubern ließ, und Tempus Grimwardt die Fähigkeit gewehrt hatte, Heldenmahle zu erschaffen, die eine ganze Armee verköstigt hätten, waren abendliche Festgelage bei den Gefährten an der Tagesordnung. Devon hatte nichts dagegen einzuwenden, die Nächte im Gebirge zur Abwechslung in einem weichen Federbett zu verbringen und der tägliche Kulturschock (oder besser: Naturschock), wenn sie aus dem prunkvollen Ambiente des Herrenhauses in die Eiseskälte des Hochgebirges hinaustraten, war ein wahrlich geringer Preis für die Annehmlichkeiten, die Doriens Villa ihnen bot.
« Letzte Änderung: 15. Oktober 2009, 19:50:13 von Niobe »

Niobe

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Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #11 am: 18. Oktober 2009, 20:03:51 »
Nimoroth
Etwa eine Woche später im Sonnenaufgangsgebirge
Früh am Morgen hatten sie sich von Devon Jadsat und seinem tierischen Begleiter verabschiedet. Inzwischen war es Nachmittag und der Fuß der Schmelzwasserspitze lag schon meilenweit unter ihnen. Die Kälte, die Nimoroth selbst noch durch die magische Schutzschicht spürte, die seinen Körper vor dem Schlimmsten schützte, und die Erschöpfung, die sich unter den Gefährten breitgemacht hatte, waren nicht der einzige Grund für ihre Schweigsamkeit. Etwa zwei Stunden war es her, dass sie das beständige Tosen des Hagelsturms, von dem Devon gesprochen hatte, zum ersten Mal vernommen hatten. Seither war das monotone Dröhnen immer lauter geworden, bis es sich wie ein Knebel über ihre Ohren gelegt und jede Kommunikation unmöglich gemacht hatte. Um sich im dichter werdenden Wolkennebel nicht zu verlieren, hatten die Gefährten sich mit Seilen aneinander gekettet. Alles, was Nimoroth sehen konnte, war Grimwardts breite Rüstung vor ihm; alles andere verschwand hinter einem Schleier der Unkenntlichkeit. Und so kletterten sie, all ihrer Sinne beraubt, Stunde um Stunde in die Höhe.
Und dann prasselten die ersten Hagelkörner auf sie ein.
Zunächst schienen die feinen Körnchen harmlos. Doch der Wind wurde stärker und beschleunigte die eisigen Geschosse, die sich wie Pfeile einen Weg durch die Kleidung der Gefährten bohrten. Mit Sorge gewahrte Nimoroth Doriens Flüche hinter sich. Er und Winter würden diese Tortur nicht lange überstehen. Dann spürte er Winters Hand auf seiner Schulter. Ein Flugzauber. Fliegend übernahm Nimoroth die Führung und führte die Gruppe, sich im Neunzig-Grad-Winkel von der Bergwand fortbewegend, aus dem Hagelsturm hinaus. Die Wolkenschlieren, die ihn umgaben, nahmen ihm jede Orientierung. Endlich, nach einer halben Ewigkeit, durchstießen sie, die Wolkenschicht. Etwa eine Meile entfernt erblickte Nimoroth die Stadt aus seiner Vision: Im Licht der untergehenden Sonne erhob sich Immerschwinge, die sagenumwobene Stadt der Avariel, aus dem glühenden Wolkenmeer.
„Und wo ist sie nun, deine gläserne Stadt?“
Nimoroth wandte sich verständnislosen Blickes zu Grimwardt um.
„Soll das heißen, du kannst sie nicht sehen?“
Seine drei menschlichen Begleiter sahen ihn an als habe er den Verstand verloren. Eine Illusion also. Das erklärte, wie es den Avariel über all die Jahrhunderte gelungen war, die Existenz der Stadt vor den Augen der Welt geheim zu halten. Gerade wollte er seine Entdeckung seinen Gefährten mitteilen, als sechs Avariel-Krieger pfeilschnell aus der Wolkendecke stoben und sie mit gezückten Schwertern einkreisten. Ihre weißen Schwingen glühten rot im Abendlicht und auf ihren Stirnen trugen sie dünne, farbige Tätowierungen. Familieninsignien, wie Nimoroth vermutete. Die Blicke der Anführerin verhießen nichts Gutes.
„Was wollt Ihr in Immerschwinge?“, fragte sie in einem seltsam archaischen Elfisch. „Seit 1000 Jahren hat kein N’Tel-Quessir mehr die Stadt der Gläsernen Gesänge betreten. Allein das Wissen um ihre Existenz könnte euch eure Leben kosten.“
 „Wir haben ein Empfehlungsschreiben von Coronal Ilsevele Miritar von Cormanthyr“, erwiderte Nimoroth und überreichte der Anführerin das Schreiben, das sie von der Herrscherin von Myth Drannor erwirkt hatten. In drei Tagen sollte in der Stadt der Gläsernen Gesänge ein Portal nach Cormanthyr eingeweiht werden. Das Portal sollte dem Aufbau diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen zwischen den beiden Elfenreichen dienen. Das Schreiben, das die Herrscherin des Elfenhofs für die Gefährten verfasst hatte, wies diese als Bürger Myth Drannors aus, die – angeblich auf Geheiß des Elfenrats – dem Ereignis beiwohnen sollten. In Wahrheit galt das Schreiben lediglich dem Zweck, Nimoroths menschlichen Gefährten Einlass in die Stadt der Avariel zu verschaffen.
Die Anführerin überprüfte das Siegel und überreichte das Schreiben dann einem ihrer Krieger, der damit zur Stadt zurück flog.
„Mitkommen“, befahl sie schroff und führte die Gefährten zu einem Aussichtsturm, der auf einem nahe gelegenen Berggipfel gelegen war. Während die anderen sich im Innern des Turms ausruhten, suchte Nimoroth das Gespräch mit der Avariel-Kriegerin.
„Ihr seid nicht sehr gut auf menschlichen Besuch zu sprechen“, stellte er fest. Ihm war nicht entgangen, wie die Avariel seine menschlichen Freunde genannt hatte: N’Tel-Quessir – jene, die nicht dem Volk angehören. „Ihr haltet Euch für privilegiert.“
Die Avariel-Kriegerin starrte in die Ferne. „Wir sind privilegiert“, ließ sie sich schließlich zu einer Antwort herab und breitete demonstrativ ihre eindrucksvollen Schwingen aus. „Wer will das leugnen?“
„Hm“, machte Nimoroth. „Verleiht Euch das nicht eine gewisse Verantwortlichkeit jenen gegenüber, die es nicht sind?“
Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. „Ich hasse die Menschen nicht“, sagte sie schließlich. „Ich bemitleide sie. Ich bemitleide sie wie ich eine Kakerlake dafür bemitleide, dass sie so auf die Welt kommen musste: erdgebunden, parasitisch...“
Nimoroth seufzte. Wie oft hatte er diese Art von Argumentation schon gehört. Von beiden Seiten.
Sie mussten lange warten. Es war bereits dunkel, als Nimoroth drei Greifen gewahrte, die durch die Wolkendecke brachen und auf sie zuhielten. Auf dem Rücken des ersten saß ein Avariel, der in eine weiße Toga gewandet war: ein Diplomat, wenn Nimoroth seine Kleidung richtig deutete. Auf dem zweiten Greifen jedoch…
„Kalith!“, rief Nimoroth verblüfft.
Lachend schwang sich Kalith Lysan von seinem Reittier, kaum dass er festen Boden unter den Füßen spürte, und klopfte seinem Cousin grinsend auf die Schulter. Die anderen, die Nimoroths Ruf aus dem Aussichtsturm gelockt hatte, waren nicht minder erstaunt, den alten Gefährten anzutreffen.
„Ich bin als Botschafter des Elfenhofs hier. Ähnlich wie ihr, wie es scheint.“ Kalith warf Nimoroth einen seiner Ich-habe-wohl-einiges-verpasst-Blicke zu.
„Und das“, Er wies auf den Avariel, der mit ihm gekommen war. „Das ist Fürst Elijas Avalior, der Elf, der mich vor acht Jahren auf der Schattenebene gerettet hat.“
„Verzeiht die Verzögerungen“, erklärte der Avariel in akzentfreier Handelssprache. „Leider ist der Zeitpunkt Eurer Ankunft politisch etwas ungünstig gewählt.“ Er musterte die Gefährten aus kühlen grün-goldenen Augen, ehe sich der Ansatz eines Lächelns auf seinem Gesicht abzeichne. „Dennoch heiße ich Euch willkommen in der Stadt der Gläsernen Gesänge. Die Greife werden Euch nach Immerschwinge bringen.“

Grimwardt
Grimwardt umklammerte mit verkrampftem Griff den Sattelknauf, während sein Greif vorpreschte. Von Zaumzeug schienen diese geflügelten Spitzohren nicht viel zu halten. Grimwardt hasste es, keine Kontrolle über sein Reittier zu haben. Und wo sollte hier eine Stadt sein, wo es meilenweit nichts gab als Wolken und Sterne?
Und dann tauchte sie viel zu plötzlich vor ihm auf, überrumpelte ihn mit ihrer gläsernen Riesenhaftigkeit. Undeutlich vernahm er die Worte des Avarielfürsten, der ihnen erklärte, dass der äußere Ring des Mythals der Stadt verhinderte, dass sie aus der Ferne wahrgenommen werden konnte. Nur Elfen konnten sie sehen. Wie zuvorkommend.
Die Stadt unter Grimwardt war auf vier Plateaus auf dem Gipfel der Schmelzwasserspitze errichtet. Von Fürst Elijas erfuhren die Gefährten, dass die vier Plateaus die Gesellschaftspyramide der Avariel widerspiegelten: Das oberste und kleinste Plateau – das Kronplateau – bestand aus einem riesigen, tropischen Wald, in dessen Mitte sich der Orchideenpalast des Coronal erhob. Wie fast alle Gebäude in Immerschwinge war der Palast aus Glasstahl erbaut und durch Magie verstärkt. Das machte die gläsernen Gebäude, so filigran und zerbrechlich sie auch wirken mochten, geradezu unzerstörbar. Die Mischung aus Magie und Glasstahl erzeugte zudem einen singend-vibrierenden Ton, welcher der Stadt der Gläsernen Gesänge ihren Namen verlieh (und Grimwardt schon jetzt tierisch auf die Nerven ging). Das Ästhetenplateau unter dem Kronplateau beherbergte die wichtigsten Adelspaläste der Kleriker- und Magierfamilien. Das Kriegerplateau darunter war der Kaste der Valendár-Klingensänger vorbehalten, während das Bürgerplateau die Glasbläsereien, Silberweinkeltereien, Gasthäuser und Bürgerhäuser beherbergte. Verbunden waren die vier Plateaus durch einen durchgehenden Ringwall und ein wirres Geflecht kleiner Bäche und Kaskaden, die von Plateau zu Plateau sprangen, sich teilten, wieder vereinten und sich schließlich unterhalb der Wolkendecke in einem Wasserfall in den Thaylambar-Fluss ergossen.
Grimwardt war heilfroh, als er wieder festen Boden unter den Füßen spürte.
Der Palast der Avaliors, in dem sie für die Dauer ihres Aufenthalts untergebracht waren, befand sich auf dem Ästhetenplateau. Das Haus war in den Hang gebaut und Treppen gab es nicht. Da traf es sich gut, dass sie von Fürst Elijas Flugringe überreicht bekamen.
„Ein Begrüßungsgeschenk des Kronrats“, erklärte der Avarielfürst. „Sie funktionieren nur innerhalb des Mythals.“
Der Avarielfürst verabschiedete sich gleich nachdem er den Gefährten eine Einladung für den abendlichen Tränenball im Palais der Familie Shantilea überbracht hatte und überließ sie der Obhut seiner Haushälterin, einer ungeflügelten Elfe namens Lana. Als Nimoroth sie nach ihrer Heimat fragte, erlebten die Gefährten eine Überraschung.
„Meine Heimat ist hier“, erklärte die junge Elfe, während sie eilfertig damit beschäftigt war, den Gästen passende Kleidung für den abendlichen Ball zurechtzulegen. „Ich bin eine Avariel wie Fürst Elijas.“
Im Gespräch mit Lana erfuhren die Gefährten, dass nur etwas mehr als die Hälfte aller Avariel geflügelt waren. Vor zweitausend Jahren, nachdem das Volk der Avariel nach Überfällen weißer Drachen auf ihre Heimatstadt nur knapp dem Untergang entgangen war, hatte sich eine Heiratspolitik durchgesetzt, die vorschrieb, dass keine Hochzeiten zwischen ungeflügelten und geflügelten Avariel geschlossen werden durften, um die Wahrscheinlichkeit für die Geburten geflügelter Kinder zu erhöhen und das Volk der Avariel vor dem Aussterben zu bewahren. Das Resultat war eine gespaltene Gesellschaft. Ungeflügelten Avariel blieb für gewöhnlich der Werdegang als Magier, Priester oder Valendár-Krieger verwehrt; die meisten arbeiteten für den Adel der Stadt. Doch in jüngster Zeit hatte sich eine Gruppe von ungeflügelten Rebellen und geflügelten Sympathisanten in den umliegenden Bergen versteckt, um durch gelegentliche Überfälle auf Valendár-Patrouillen auf ihre Forderungen nach Gleichberechtigung aufmerksam zu machen.
Auch an der Isolationspolitik aus alten Zeiten hielt der Kronrat, der Immerschwinge regierte, noch heute eisern fest: Jahrtausendelang hatten die Avariel die Beziehungen zu allen nichtelfischen Völkern strikt gemieden und den Handel auf Immerdar und die Elfenzivilisationen des Hochwaldes beschränkt. Die Öffnung des Portals nach Myth Drannor, einer Stadt mit gemischter Bevölkerung, war darum ein Meilenstein in der Geschichte Immerschwinges. Ein erster Schritt der Eingliederung. Und ein äußerst umstrittenes Ereignis.
„Ihr seht also“, erklärte Lana. „Eure Anwesenheit hier ist so etwas wie ein Jahrtausendereignis. Wundert euch nicht, wenn man euch anstarren wird wie Jahrmarksattraktionen. Die meisten Elfen hier haben noch nie einen Menschen gesehen.“
„Was ist mit Euch?“, fragte Nimoroth. „Ihr erscheint mir recht… weltoffen. Weshalb geht Ihr nicht fort von hier, wenn man Euch hier wie eine Sklavin behandelt?“
Lana schüttelte den Kopf. „Elijas behandelt mich nicht wie eine Sklavin“, verteidigte sie ihren Herrn. „Er brachte mir Eure Sprache bei und lehrte mich die Geschichte der anderen Völker. Und ist es wirklich so schwer zu begreifen, weshalb die Ungeflügelten hier bleiben wollen? Sie wissen nichts von der Welt da draußen und fürchten sich vor dem, was sie nicht verstehen. Außerdem wurden wir wie die Geflügelten mit der Sehnsucht zu fliegen geboren. Näher als hier werden wir dem Himmel wohl niemals kommen.“

Nightmoon

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    • Schicksalsstreiter
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #12 am: 19. Oktober 2009, 13:02:16 »
Ist ne ganz schöne Arbeit, oder?  :wink:
Aber ich find´s gut, dass du dir die Mühe machst.

Niobe

  • Mitglied
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #13 am: 19. Oktober 2009, 18:33:06 »
Noch macht's Spaß. Mal sehen wie lange das anhält ;)

Niobe

  • Mitglied
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #14 am: 27. Oktober 2009, 01:29:41 »
Kapitel IV: Engelstränen

Winter
Eine Stunde später auf dem Ästetenplateau
Der Palast der Familie Shantilea war ein pompöses, achteckiges Glashaus mit zahlreichen Erkern und Türmen. Wie alle Gebäude der Stadt wirkte es kalt trotz des vielen Lichts - wie ein Spiegel der Seele seiner Bewohner. Von Lana hatten die Gefährten erfahren, dass die Shantileas eines der ältesten und einflussreichsten Häuser der Stadt waren. Die Familie brüstete sich damit, ihre Wurzeln bis zu dem Archon zurückverfolgen zu können, der der Legende nach das Volk der Avariel begründet hatte. Fürstin Mathalaya, die seit Jahrhunderten verbissen nach dem Thron des Coronals strebte, war die mächtigste Verfechterin des Kastensystems und eine erklärte Feindin der ungeflügelten Rebellen. Der Tränenball in ihrem Hause leitete traditionell ein dreitägiges Fest zum Gedenken an den Gründer Immerschwinges ein.
„Halt! Geht zurück, wo ihr hergekommen seid, Fremde!“ Verwirrt hob Winter den Kopf. Die Worte waren in gebrochener Gemeinsprache mit starkem elfischem Akzent gesprochen worden. Der junge Avariel, der ihnen mit dieser wenig schmeichelhaften Begrüßung aufwartete, versperrte den Gefährten schwebend und mit gezücktem Schwert den Weg zum Eingangsportal des Palasts. Sein blanker Schädel glänzte elfenbeinern im Mondschein und in seinen Augenwinkeln glitzerten künstliche Tränen. Die prächtigen, schneeweißen Schwingen hatte er zu ihrer vollen Breite entfaltet und aus seinen goldenen Augen musterte er die Gefährten mit unverhohlener Abscheu. Wäre sein Gesicht nicht verzerrt gewesen von jener Maske aus Hass und Arroganz, so hätte Winter über seine Schönheit nur staunen können. Als sie sich umsah, erkannte sie, dass sie und ihre Gefährten von fünf weiteren Avariel umzingelt waren. Sie alle hatten kahl rasierte Schädel und Tränen in den Augenwinkeln, wenn ihre Flügel auch nicht mit dem strahlenden Glanz des Anführers konkurrieren konnten. Dieser begann die Gefährten auf Elfisch zu beschimpfen, während die Ballgäste, die von allen Seiten herbei geströmt kamen, stehen blieben und mit verhaltener Neugier die Konfrontation verfolgten.
Nachdem er sich den Wortschwall des Goldäugigen eine zeitlang mit versteinerter Miene angehört hatte, rief Nimoroth ihm etwas in seiner Muttersprache zu. Es folgte ein hitziger Wortwechsel, der damit endete, dass Goldauge vor Nimoroth ausspuckte, sein Schwert in die Scheide steckte und davon flog. Seine Gefolgsleute taten es ihm gleich. 
„Was war denn das?“, fragte Winter.
„Er hat uns zum Kampf herausgefordert“, erwiderte Nimoroth mit düsterer Miene.
„Und?“
„Ich habe zugesagt“, erklärte der Elf. „Morgen gegen Mittag in der Arena auf der Bürgerebene.“
„Das war ein Fehler“, bemerkte Fürst Elijas, der die Konfrontation mit ausdrucksloser Miene verfolgt hatte.
„Warum?“
„Das war Silead Shantilea, der Sohn der Fürstin“, erwiderte Elijas. „Der kahlrasierte Schädel soll daran erinnern, von wem er abstammt, doch ihm haftet wenig Engelsgleiches an. Er ist ein skrupelloser Bandenführer; selbst seine Mutter hat sich öffentlich von ihm distanziert. Er ist bekannt dafür, dass er politische Machtkämpfe in der Arena austrägt. Bei vier Mann gegen einen kann er nur gewinnen. Unter Avariel gilt nur ein Kampf Mann zu Mann als fairer Kampf.“
„Auch gut“, knurrte Grimwardt. „Treten wir eben einzeln gegen ihn an.“
Elijas zuckte gleichgültig mit den Schultern und überreichte den Palastwachen die Einladungen. Die Gefährten folgten ihm in ein Atrium, das fünf Galerien und eine riesige Tanzfläche umfasste. In der Mitte erhob sich ein gläserner Baum, der bis unter die kristallene Kuppel des Palasts reichte.  Kaum hatten sie Platz genommen, erschien auf der obersten Galerie der Coronal an der Seite seiner jungen Gemahlin. Doch obgleich er aus Rücksicht auf die Besucher davon absah seine Eingangsrede auf Elfisch zu verlesen, schenkte Winter seinen Worten wenig Beachtung. Ihr Augenmerk war auf die Galerie unter ihm gerichtet, wo die Herrin des Hauses, Fürstin Mathalaya Shantilea, Platz genommen hatte: Ihre Flügel waren ebenso schneeweiß wie die ihres hitzköpfigen Sohnes, ihre Augen golden, ihr Haar silbrig-weiß und ihre Gesichtszüge so ebenmäßig wie aus Stein gemeißelt. Winter fiel zudem auf, dass die junge Gemahlin des Coronals dieselben celestischen Merkmale aufwies.
„Die Familienoberhäupter der  Shantileas pflegen untereinander zu heiraten, um die celestische Blutlinie nicht zu verunreinigen“, erklärte Elijas, der ihrem Blick gefolgt war, mit einem Anflug von Bitterkeit in der Stimme. „Silead und seine Schwester Vanya, die Frau des Coronals, sind das Resultat dieser Tradition.“
Winter blinzelte.
„Seht… ihr das auch“, fragte sie irritiert. Die anderen folgten verständnislos ihrem Blick.
„Ich meine den Kerl, der gerade mit blankem Schwert auf den König zufliegt.“
Der Abend wurde immer skurriler.
Elijas runzelte die Stirn, dann sprang er alarmiert auf und stieß einen Warnruf aus.
Er ist unsichtbar, durchzuckte Winter in diesem Moment die Erkenntnis. Durch eine magische Manipulation ihrer Augen war sie in der Lage Unsichtbares zu sehen.
Doch es war zu spät. Der Unsichtbare hatte die oberste Galerie bereits erreicht und nun schienen ihn auch die anderen sehen zu können. Ehe irgendwer reagieren konnte, hatte der Eindringling die Gemahlin des Coronals gepackt und hielt sie wie ein Schild vor sich, während er ihr drohend sein Schwert unter die Kehle hielt. Dolche wurden gezückt und Fürstin Mathalya rief nach den Wachen, doch niemand wagte etwas zu unternehmen. Winter reagierte schnell. Flüsternd sprach sie die magischen Worte eines Versetzungstricks und tauschte Platz und Aussehen mit der Geisel des Eindringlings. Dieser schien nichts zu bemerken. Seine blitzenden dunklen Augen flackerten spöttisch und seine eindrucksvollen Schwingen vibrierten leicht, als er seine Blicke über die Ballgesellschaft gleiten ließ. Der Coronal stand mit hilflos geballten Fäusten an Winters Seite und zischte einige Worte auf Elfisch. Winter horchte auf, als sie den Namen Thanduin aus seinem Mund vernahm.
Thanduin, der Rebellenführer.
Was folgte war ein weiteres Beispiel elfischer Selbstinszenierung.
 „Ein Vögelchen hat mir gezwitschert“, rief Thanduin an die Ballgesellschaft gewandt, „welch ungewöhnliche Gäste heute Abend hier sind.“ Er nickte in die Richtung von Winters Freunden. „Freunde aus Myth Drannor, es tut mir aufrichtig leid, dass dies der erste Eindruck ist, den Ihr von der Stadt der Gläsernen Gesänge bekommen sollt. Ich hoffe nur, dass Ihr Euch von all dem Lug und Trug nicht die Augen verschließen lasst. Die Einweihung des Portals nach Cormanthyr ist alles andere als eine Annäherung der Avariel an die guten Völker von Faerûn. Wusstet ihr, dass das geplante Portal nur in eine Richtung passierbar ist? Nun ratet mal in welche!“
Mit diesen Worten ließ der Rebellenführer von Winter ab und verschwand, wieder unsichtbar, in einem der Gänge, die von der Galerie abzweigten. Winter hörte, wie Fürstin Mathalaya mit klarer Stimme einen Befehl gab und sogleich wurde der Raum von Wachen gestürmt, die sich an die Fersen des Flüchtigen hefteten. 
Nachdem Winter ihr Verwechslungsspiel aufgeklärt hatte und die Gäste sich von dem Schock erholt hatten, wurde das Essen serviert. Fürst Elijas, dem plötzlich sehr daran gelegen schien, sich den Fragen seiner Gäste zu entziehen, entschuldigte sich noch vor der Vorspeise und verließ den Tisch, um sich anderen Gesprächen zuzuwenden. Den Gefährten war das nur Recht. Es gab viel zu besprechen. In wenigen Worten setzten sie Kalith über ihren eigentlichen Auftrag und die Todesklaue in Kenntnis. Die einseitige Öffnung des Portals warf neue Fragen auf. Grimwardt befürchtete, dass von hier aus ein Angriff auf Myth Drannor seinen Ursprung nehmen könnte. Irgendwer erschaffte eine Armee aus Untoten und Myth Drannor schien ein plausibles Angriffsziel. Doch wer profitierte davon? Die Rebellen, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen und die Regierung zu erpressen? Die Isolationisten, die von Anfang an gegen die Portalöffnung gewesen waren? Oder gab es eine dritte Partei, die noch nicht in Erscheinung getreten war? In jedem Fall musste die Herrscherin von Myth Drannor von der möglichen Gefahr unterrichtet werden.
Der Abend verlief schleppend. Ein Gespräch mit dem Coronal brachte den Gefährten keine neuen Erkenntnisse bis auf die, dass der Herrscher von Immerschwinge ein Schwächling und Zauderer war, der viel reden konnte ohne ein Wort zu sagen. Dorien war auch keine große Hilfe, da er es vorzog, sich auf der Tanzfläche mit diversen Avariel-Damen zu vergnügen, anstatt seinen Freunden bei ihren Ermittlungen zur Hand zu gehen. Sogar Grimwardt hatte eine Eroberung an Land gezogen. Amüsiert beobachtete Winter die steifen Tanzversuche ihres Bruders und die skeptisch-unbehagliche Miene, die er im Gespräch mit seiner geflügelten Tanzpartnerin an den Tag legte.
Dann wurde sie von Kalith abgelenkt, der ihr eine interessante Beobachtung mitteilte: Während des Auftritts des Rebellenführers hatte einer der Diener Elijas Avalior eine Nachricht zugesteckt. Ein Beweis dafür, dass der verschlossene Fürst mit den Rebellen im Bunde war? Winter wollte es genau wissen und stibitzte kurzerhand besagte Nachricht. Dank eines magischen Tricks, der es ihr erlaubte ihre Diebeskünste auch auf die Distanz anzuwenden, gelang es ihr sogar, den Zettel wieder unbemerkt in den Falten von Elijas’ Toga verschwinden zu lassen. Natürlich nicht, ohne dass sie sich von Nimoroth den Inhalt hätte übersetzen lassen.
Morgen Abend zur zehnten Stunde an der Alten Miene“, las Nimoroth vor. „Wenn das eine Falle ist, wirst du es bitter bereuen.
„Ich schätze, Elijas ist nicht der einzige, der morgen um zehn eine Verabredung hat“, sagte Winter nicht ohne eine Spur von Selbstgefälligkeit.
Der Abend hielt noch eine unangenehme Überraschung für Winter und ihre Freunde bereit, als sie bei der Rückkehr in Doriens Villa dieselbe von einer durchweg betrunkenen und größtenteils erotisierten Feiergesellschaft bevölkert vorfanden. Diverse Möbelstücke hatten unter den Auswirkungen der fatalen Mischung von Silberwein mit Aphrodisiakum zu leiden gehabt, sodass Doriens zehnköpfige Dienerschaft einem hätte leid tun können, hätte es sich bei dem Pulk eifriger Butler und Zofen nicht durchweg um magische Konstrukte gehandelt. Der Herr des Hauses, der Elijas’ Warnungen bezüglich der psychotischen Wirkung von Silberwein offenbar in den Wind geschlagen hatte, hatte sich mit zwei Avarieldamen in den Badethermen der Villa verschanzt.
Da der Hexenmeister an diesem Abend zu nichts mehr zu gebrauchen war, war es an Winter Nimoroth nach Myth Drannor zu begleiten, um Ilsevele Miritar von der möglichen Bedrohung des Elfenhofs und der geplanten einseitigen Öffnung des Portals zu unterrichten. Um den Mythal zu umgehen, wechselten sie zunächst von Doriens Villa aus die Ebene (was ihnen einen ungeplanten Aufenthalt im Mondsee bescherte) und teleportierten dann zur Stadt. Die Wachen am Tor verweigerten ihnen jedoch zu so später Stunde den Eintritt und zeigten sich recht unbeeindruckt von der Warnung - was nicht zuletzt an der wenig würdevollen Erscheinung ihrer pudelnassen Überbringer liegen mochte…

Nimoroth
Am nächsten Tag in der Arena
Ein traditioneller Klingensänger-Wettstreit bestand aus drei Runden. In der ersten Runde wurde allein mit Waffengewalt, in der zweiten nur mit Magie gekämpft. In der dritten Runde schließlich galt es, Kriegskunst und arkane Magie zu einem einheitlichen Kampfstil zu vereinen. Die Gefährten hatten sich mit dem Arenenmeister darauf geeinigt, dass sie einzeln gegen Silead antreten würden.
Grimwardt war als erster an der Reihe. Das Amphitheater, welches als Austragungsort diente, war bis auf die letzte Bank besetzt. Da der Kronrat Ausschreitungen zwischen Engelstränen und Sympathisanten der Rebellen befürchtete, waren auf den Tribünen Valendár-Wachen postiert. Weder Fürst Elijas noch die Mitglieder des Kronrats waren irgendwo zu sehen; offenbar wollte sich niemand der offiziell Neutralen am heutigen Tag auf diesem heißen politischen Pflaster sehen lassen. Wer hier war, der war entweder für oder gegen die Öffnung des Portals und die Forderungen der Rebellen. Dass die Gefährten als vermeintliche Gesandte Myth Drannors offiziell nichts mit den Rebellen verband, schien niemanden zu kümmern: Die Fremden traten gegen Silead Shantilea, den Anführer der Engelstränen, an und wandten sich damit gegen alles, was die Rebellen verabscheuten.
Trommelwirbel kündigte den Kampf an und die Gefährten wurden aus einer Versenkung im Boden in die Arena gezogen, während Silead mit ausgebreiteten Schwingen von der Decke herab schwebte. Nimoroth kam nicht umhin die verächtliche Symbolik in dieser Raumanordnung zu bemerken, beließ es aber bei einem stummen Kopfschütteln.
Der Kampf begann.
Wie ein Fels in der Brandung harrte Grimwardt, sein Turmschild erhoben und die Axt fest im Griff, der Angriffe seines Gegners, der im Sturzflug auf ihn hinab stürzte. Ein höhnisches Grinsen machte sich auf dem Gesicht des Avariel breit, als sein erster magisch verstärkter Schwerthieb Grimwardt bereits ins Wanken brachte. Der Tempuspriester schien weniger Glück zu haben – Sileads magische Spiegelbilder bereiteten ihm ernsthafte Schwierigkeiten. Dennoch bewegte er sich keinen Zentimeter vom Fleck. Der Hohn des Klingensängers, der Zauber um Zauber verprasste, um seine Angriffe zu verstärken, verwandelte sich schon bald in frustrierte Ungläubigkeit. Sein Gegner, den er nach dem ersten Angriff bereits abgeschrieben hatte, leistete erbitterten Widerstand. Dann ein letzter zorniger Angriff… und Grimwardt fiel.
„Schweinehund“, entfuhr es Winter. Sie half ihrem Bruder auf die Beine und stellte sich dem Klingensänger. Nimoroth hielt den Atem an. Es stand 1:0 für den Herausforderer. Winter durfte jetzt kein Fehler unterlaufen. Nimoroth fürchtete das launige Gemüt seiner Mitstreiterin. Umso größer war seine Verblüffung, als bereits Winters erster Zauber, ein Blitzgewitter sengender Strahlen, die sie in rasender Abfolge auf Silead abfeuerte, seine Niederlage besiegelte: Die Wucht des Aufpralls schleuderte den Avariel gegen die Bande und raubte ihm das Bewusstsein. Offenbar hatte Grimwardt ganze Arbeit geleistet: Der Avariel musste all seine Schutzzauber im Kampf gegen den zähen Priester verprasst haben. Winter brauchte einen Augenblick, um ihren schnellen Sieg zu begreifen, bevor sie sich vom Applaus der Menge berauschen ließ.
Nun war Nimoroth an der Reihe. Da das magische Feld, welches die Arena umgab, verhinderte, dass Arenenkämpfe tatsächlich blutig endeten, dauerte es nicht lange, bis Silead wieder auf den Beinen war. Die Erkenntnis von einer Menschenfrau besiegt worden zu sein, trieb den selbstgefälligen jungen Avariel zur Weißglut. Aller Hohn war von ihm abgefallen und nichts als blanker Hass starrte Nimoroth aus goldenen Augen entgegen. Silead preschte vor, doch Nimoroth war schneller. Mit irrsinniger Wucht stürmte er gegen seinen Gegner an und rang ihn zu Boden. Der Kampf war zu Ende noch ehe er so recht begonnen hatte. Nimoroth verkniff sich ein Grinsen, als er dem am Boden liegenden Silead die Hand reichte. Der Avariel warf ihm einen wutentbrannten Blick zu und spuckte vor ihm aus.
Doch gegen den aufbrausenden Applaus vermochte er nichts auszurichten.

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