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Stadt der gläsernen Gesänge

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Niobe:
Kapitel III: Über den Wolken

Winter
Myth Drannor, 4 Tage später
„Die Schweigenden Schwestern?“, fragte Grimwardt skeptisch, während er mürrisch einen Marienkäfer fortschnippte, der sich in seinen langen Barthaaren verfangen hatte.
„Scarlet wäre dort gut aufgehoben“, beteuerte Winter, während sie ungeduldig unter der Schattenkrone auf und ab lief, in der sich das Heim des Weisen Belivimir befand, von dem sich die Gefährten Hinweise auf den möglichen Verbleib der Todesklaue erhofften. Da Winter kein Elfisch sprach, und Grimwardt sich schlichtweg weigerte mit Leuten zu reden, die in Bäumen lebten, waren Nimoroth und Dorien allein hinauf gestiegen.
Seit vier Tagen suchten sie bereits nach der Klaue – bisher ohne Erfolg. Dass Dorien weder den Kieselstein noch den Tintenklecks hatte zurückverfolgen können, musste bedeuten dass die beiden Peiler entweder entdeckt worden waren oder die Klaue sich an einem Ort befand, der gegen magische Ausspähungen geschützt war. Auch die Suche nach Drake hatte sie nicht weiter gebracht. Winter, die am besten mit den Symbolen und Praktiken der Unterwelt bekannt war, hatte die sprechenden Hüte, die der Entführer ihrer Tochter an den beiden Tatorten zurück gelassen hatte, als das Symbol einer Diebesorganisation erkannt, die sich selbst „Der lachende Hut“ nannte. Die Organisation war ein kleiner und noch junger Verband von Dieben, Assassinen und Giftmischern, deren Hauptquartier in den Silbermarken oder an der nördlichen Schwertküste vermutet wurde. In Silbrigmond hatten die Gefährten mit Nachforschungen zu Drake und der Diebesorganisation begonnen. Sie hatten jedoch lediglich herausfinden können, dass diese offensichtlich in Zellen organisiert und darum äußerst schwierig zu knacken war. Schließlich waren sie nach Myth Drannor zurückgekehrt, weil ein Ortungszauber, der Drakes Aufenthaltsort ermitteln sollte, sie hierher geführt hatte. Doch anstatt auf ihren Erzfeind waren sie lediglich auf eine Illusion gestoßen, die ihnen dessen Anwesenheit vorgegaukelt hatte und Nimoroth einen unfreiwilligen Fall durch den Boden eines morschen Dachstuhls beschert hatte. Zu allem Überfluss hatte man sie schließlich wegen der Entweihung der Krypta, die inzwischen entdeckt worden war, festgenommen und dem Hauptkommandanten der Schwertgarde vorgeführt: Fflar Sternbraue hatte ihnen den Eid abgenommen, die Klaue zurück zu bringen. Ansonsten drohten ihnen die Kerker der Elfenstadt. Einzig aus Respekt für seinen Ersten Leutnant, Kalith Lysan, einen Freund der Gefährten, war der Hauptmann geneigt gewesen, ihnen ihre Geschichte überhaupt abzukaufen. Von Kalith selbst hatten die Gefährten noch nichts gesehen; Der Elfenhauptmann hatte behauptet, er sei in außenpolitischer Mission unterwegs. Winter empfand die ganze Aufregung um das Artefakt indes als überaus lästig, da sie im Moment ganz andere Sorgen plagten.
„Bei den Schweigenden Schwestern wäre Scarlet sicher“, versuchte sie gerade ihren Bruder von dem Plan zu überzeugen, ihre Tochter in ein Klosterinternat zu schicken. Scarlets Entführung hatte ihr bewusst gemacht, wie angreifbar sie durch ihre Tochter geworden war. „Ich habe mich über den Kult informiert. Ein kleines Kloster in den Bergen, magisch geschützt. Erstklassige Ausbildung. Und niemand würde sie dort vermuten. Was meinst du?“ Für den Augenblick hatten sie Scarlet bei Nimoroths Familie in den Sternwäldern untergebracht. Doch Winter ließ der Gedanke keine Ruhe, dass ihre Tochter noch einmal das Ziel eines Anschlags werden könnte, der ihr selbst galt. Am liebsten hätte sie Scarlet in Watte gepackt und in eine andere Dimension gebannt. Ein abgeschiedenes Bergkloster schien dieser Idee am nächsten zu kommen.
„Sie wünscht sich eine Axt.“
Jäh blieb Winter stehen. „Wie bitte?“
„Scarlet. Sie wüscht sich eine Axt zu ihrem nächsten Geburtstag.“
„Hast du mir überhaupt zugehört?“
„Ich habe ihr eine versprochen.“
„WAS?“ Fassungslos starrte Winter ihren Bruder an. „Ich mache Pläne, wie ich meine Tochter beschützen kann und du versprichst ihr eine Axt?“
„Angriff ist die beste Verteidigung.“
„Sie ist sieben Jahre alt!“
„Und wird in einem Monat acht.“ Grimwardts Gelassenheit trieb Winter zur Weißglut. „So alt wie die jüngsten meiner Schüler.“
„Sie ist meine Tochter, nicht eine deiner Schülerinnen“, schnaubte Winter. „Und ich sage, sie kommt zu den Schweigenden Schwestern!“
„Sollte ich da nicht ein Wörtchen mitzureden haben?“
Winter wandte sich um: Dorien war mit Nimoroth vom Gespräch mit dem elfischen Weisen zurückgekehrt.
„Was herausgefunden?“, lenkte Grimwardt, der einen neuerlichen Disput befürchtete, das Gespräch auf ihre Mission zurück.
„Nicht viel“, erwiderte Nimoroth. „Die Klaue erlaubt es dem Träger mächtige Untote - Zinkarlas und Geister - zu erschaffen und eine beliebige Anzahl dieser Kreaturen zu kontrollieren. Von einer zweiten Klaue wusste Belivimir nichts.“
„Vielleicht solltest du Mielikki um Hilfe bitten“, schlug Dorien vor. „Sie hat dir schon früher in solchen Situationen weitergeholfen.“
„Vielleicht“, sagte Nimoroth zögernd. „Wenn das die letzte Möglichkeit ist.“

Nimoroth
Am nächsten Morgen
Der Wald ist mit Raureif überzogen und wabernde Nebel verklären Nimoroths Sicht. Sie ist in Gestalt eines Einhorns gekommen. Ein Einhorn mit unendlich traurigen Augen. Nimoroth ruft ihren Namen, während er auf sie zu läuft, doch er kann sie nicht erreichen. Wie in einem Traum, in dem man langsamer wird, je schneller man läuft. Dann wendet sie sich um und er folgt ihr durch den Morgenwald. Während sie laufen, beginnt sich seine Umgebung zu verändern. Pflanzen verdorren; Bäume altern wie im Zeitraffer. Schnee fällt, bis er die Erde mit einer weißen Schicht überzogen hat, die sich wie ein Leichentuch über die Verwüstung senkt. Das Einhorn läuft immer schneller, bis ihm Flügel wachsen und es von der Erde abhebt. Nimoroth verliert den Boden unter den Füßen und schwebt in einem Nichts aus Dunstschleiern. Dem Einhorn folgend steigt er höher und höher, bis er die Wolkendecke durchbricht. Hier bietet sich ihm ein atemberaubender Anblick: In der Ferne ragt eine Stadt aus dem Wolkennebel: eine Stadt aus Glas, umspielt von leisen, gläsernen Tönen, erstrahlt im gleißenden Licht der Sonne. Als er näher kommt, erblickt Nimoroth die Silhouetten geflügelter Wesen. Plötzlich zuckt ein Blitz vom Himmel und die Stadt über den Wolken versinkt in Dunkelheit.
Schweißgebadet wachte Nimoroth auf.
„Alles in Ordnung?“, grummelte Grimwardt.
Winter half dem Elfen sich aufzusetzen. „Du hast den Zauber gesprochen und bist umgekippt.“
„Wie müssen ins Sonnenaufgangsgebirge“, sagte Nimoroth. „Die Klaue ist in Immerschwinge."
So musste es sein. Nimoroth kannte die Stadt der Avariel nur aus Mythen und Legenden. Doch was sonst konnte die Botschaft seiner Vision sein?
„Avariel?“, fragte Dorien überrascht. „Geflügelte Elfen? Was wollen die mit einem Drowartefakt?“
„Finden wir’s heraus.“

Winter
Am selben Abend in Pyrados, östliches Tay
„Wucherer“, knirschte Winter und verließ wütenden Schrittes das Gasthaus Zum Guckloch. Diese ganze Stadt war ein Nest aus Geizhälsen, Wucherern und Fremdenhassern. Nicht genug damit, dass Nimoroth, der einzige Elf der Gruppe, den doppelten Preis für sein Abendessen hatte zahlen müssen („Loyalitätszuschlag“, hatte der Gastwirt es genannt, als Absicherung, dass er nicht die tayanischen Sklavenfänger auf sie hetzte). Für jedes verdammte Wort, das aus seinem Mund drang, hatte der Schnösel mit dem aalglatten Grinsen eine Goldmünze verlangt. Nicht einmal den Namen des höchsten Berges des Sonnenaufgangsgebirges hatte er Winter ohne Bezahlung preisgeben wollen. Wenn seine Informationen sie wenigstens weiter gebracht hätten! Aber nein! Die Existenz von geflügelten Elfen hatte der Kerl für ein Märchen gehalten. Und als sie ihn nach einer gläsernen Stadt über den Wolken gefragt hatte, hatte er sie schlichtweg ausgelacht.
„Er kann es sich erlauben“, sagte Nimoroth, der die Erniedrigungen des Gastwirts mit stoischer Miene hingenommen hatte. „Pyrados ist die letzte Stadt vor dem Sonnenaufgangsgebirge. Alle Handelskarawanen nach Kara-Tur müssen hier durch. An Kundschaft mangelt es den Gastwirten hier sicher nicht.“
„Dem werd’ ich’s zeigen“, murmelte Winter und trat kurz entschlossen an ein altes Waschweib heran.
„Verzeiht, gute Frau, könnt Ihr mir sagen, wie der Name des höchsten Berges in dieser Gegend lautet?“
Die Frau beäugte die Gefährten misstrauisch.
„Das muss die Schmelzwasserspitze sein“, erwiderte sie, ohne dass der Argwohn aus ihrer Stimme wich.
Mit einem zuckersüßen Lächeln bedankte sich Winter bei der Frau und belohnte sie mit der Goldmünze, die sie dem Gastwirt des Gucklochs verweigert hatte. Da es im gesamten Sonnenaufgangsgebirge nur einen einzigen Berg gab, der über die Wolkendecke hinausragte, konnte sich die Stadt, die Nimoroth in seiner Vision gesehen hatte, nur auf jener Schmelzwasserspitze befinden.
Mit diesem Wissen machten sich die Gefährten auf den Weg zu einem Zauberladen, den der Wirt des Gucklochs ihnen empfohlen hatte, um sich die nötige Ausrüstung zu beschaffen. Der Besitzer des Ladens, ein jungenhafter Magier mit Segelohren, dem die tätowierte Glatze, die unter den Roten Magiern von Tay Brauch war, nicht eben zum Vorteil gereichte, verkaufte ihnen (natürlich zum doppelten Preis) Schriftrollen mit Atemzaubern gegen den abnehmenden Luftdruck im Hochgebirge, sowie Schutzzauber gegen die Kälte und einige grundlegende Bergsteigerutensilien. Gegen die entsprechende Bezahlung empfahl er ihnen auch einen Bergsteiger: Devon Jadsat.
Das Haus des Gebirgsführers, das die Gefährten kurz darauf ausfindig machten, sah wenig einladend aus: eine heruntergekommene Hütte mit verwüstetem Vorgarten im ärmeren Teil der Stadt. Der bissige Kläffer, der die Gefährten am Tor erwartete, ließ sich dank Nimoroths Beruhigungskünsten zähmen. Sein Herrchen, das kurz darauf fluchend aus dem Haus gestolpert kam, hatte durchaus das Potential, dem Hund in Sachen Ungekämmtheit die Schau zu stehlen. Die penetrante Alkoholfahne, die ihm anhaftete, machte ihn auch nicht unbedingt liebenswerter. Nach Austausch der üblichen Begrüßungsfloskeln kam Winter gleich auf ihr Anliegen zu sprechen.
„Die Schmelzwasserspitze?“ Devon lachte und zog die verschnupfte Nase hoch. „Ihr werdet keinen Gebirgsführer finden, der euch da hinauf bringt.“
„Wieso nicht?“
„Der Berg wird von einem unermüdlichen Hagelsturm umbraust, der den Aufstieg praktisch unmöglich macht. Ein Überbleibsel der alten Raumatar-Magie, wie die Roten Magier sagen. Dafür spricht auch, dass im Umkreis von fünf Meilen um die Schmelzwasserspitze keine Dimensionsreisen möglich sind. Die Magie des alten Imperiums ist noch mächtig in dieser Gegend.“
Die Gefährten sahen einander an. Das roch verdächtig nach einem Schutzmechanismus. Ein weiteres Indiz dafür, dass sich die Stadt der Avariel auf dem Berg befinden musste.
„Könnt Ihr uns denn bis zum Fuß der Schmelzwasserspitze führen?“
Devon kratzte sich am Hintern. „Ihr wollt es wirklich wissen, hm? Bedenkt aber, dass ich euch gewarnt habe. Für 400 Gold am Tag plus Verpflegungs- und Ausrüstungskosten kann ich euch hinbringen. Und mit einem Augenzwinkern fügte er hinzu. „Gegen ein Schlückchen Wein hin und wieder hätte ich natürlich auch nichts einzuwenden.“
Winter war erstaunt: Nach der Habgier des Gastwirts und den Wucherpreisen des Zauberhändlers hatte sie nicht mehr erwartet, hier so günstig davonzukommen.
„Ihr seid nicht von hier, oder?“, riet sie.
„Bei den Göttern, nein“, wehrte Devon ab. „Wir sind Herumtreiber, nicht wahr?“ Er tätschelte den Hund hinter den Ohren. „Denke nicht, dass es mich lange in diesem Nest von Halunken und Halsabschneider halten wird.“
Der Handel war schnell geschlossen und Devon, der nicht so übel war wie sein Geruch, zum Abendessen eingeladen. Seitdem Dorien sich eine außerdimensionale Villa im Taschenformat zugelegt hatte, die sich an jedem beliebigen Ort in Originalgröße aufzaubern ließ, und Tempus Grimwardt die Fähigkeit gewehrt hatte, Heldenmahle zu erschaffen, die eine ganze Armee verköstigt hätten, waren abendliche Festgelage bei den Gefährten an der Tagesordnung. Devon hatte nichts dagegen einzuwenden, die Nächte im Gebirge zur Abwechslung in einem weichen Federbett zu verbringen und der tägliche Kulturschock (oder besser: Naturschock), wenn sie aus dem prunkvollen Ambiente des Herrenhauses in die Eiseskälte des Hochgebirges hinaustraten, war ein wahrlich geringer Preis für die Annehmlichkeiten, die Doriens Villa ihnen bot.

Niobe:
Nimoroth
Etwa eine Woche später im Sonnenaufgangsgebirge
Früh am Morgen hatten sie sich von Devon Jadsat und seinem tierischen Begleiter verabschiedet. Inzwischen war es Nachmittag und der Fuß der Schmelzwasserspitze lag schon meilenweit unter ihnen. Die Kälte, die Nimoroth selbst noch durch die magische Schutzschicht spürte, die seinen Körper vor dem Schlimmsten schützte, und die Erschöpfung, die sich unter den Gefährten breitgemacht hatte, waren nicht der einzige Grund für ihre Schweigsamkeit. Etwa zwei Stunden war es her, dass sie das beständige Tosen des Hagelsturms, von dem Devon gesprochen hatte, zum ersten Mal vernommen hatten. Seither war das monotone Dröhnen immer lauter geworden, bis es sich wie ein Knebel über ihre Ohren gelegt und jede Kommunikation unmöglich gemacht hatte. Um sich im dichter werdenden Wolkennebel nicht zu verlieren, hatten die Gefährten sich mit Seilen aneinander gekettet. Alles, was Nimoroth sehen konnte, war Grimwardts breite Rüstung vor ihm; alles andere verschwand hinter einem Schleier der Unkenntlichkeit. Und so kletterten sie, all ihrer Sinne beraubt, Stunde um Stunde in die Höhe.
Und dann prasselten die ersten Hagelkörner auf sie ein.
Zunächst schienen die feinen Körnchen harmlos. Doch der Wind wurde stärker und beschleunigte die eisigen Geschosse, die sich wie Pfeile einen Weg durch die Kleidung der Gefährten bohrten. Mit Sorge gewahrte Nimoroth Doriens Flüche hinter sich. Er und Winter würden diese Tortur nicht lange überstehen. Dann spürte er Winters Hand auf seiner Schulter. Ein Flugzauber. Fliegend übernahm Nimoroth die Führung und führte die Gruppe, sich im Neunzig-Grad-Winkel von der Bergwand fortbewegend, aus dem Hagelsturm hinaus. Die Wolkenschlieren, die ihn umgaben, nahmen ihm jede Orientierung. Endlich, nach einer halben Ewigkeit, durchstießen sie, die Wolkenschicht. Etwa eine Meile entfernt erblickte Nimoroth die Stadt aus seiner Vision: Im Licht der untergehenden Sonne erhob sich Immerschwinge, die sagenumwobene Stadt der Avariel, aus dem glühenden Wolkenmeer.
„Und wo ist sie nun, deine gläserne Stadt?“
Nimoroth wandte sich verständnislosen Blickes zu Grimwardt um.
„Soll das heißen, du kannst sie nicht sehen?“
Seine drei menschlichen Begleiter sahen ihn an als habe er den Verstand verloren. Eine Illusion also. Das erklärte, wie es den Avariel über all die Jahrhunderte gelungen war, die Existenz der Stadt vor den Augen der Welt geheim zu halten. Gerade wollte er seine Entdeckung seinen Gefährten mitteilen, als sechs Avariel-Krieger pfeilschnell aus der Wolkendecke stoben und sie mit gezückten Schwertern einkreisten. Ihre weißen Schwingen glühten rot im Abendlicht und auf ihren Stirnen trugen sie dünne, farbige Tätowierungen. Familieninsignien, wie Nimoroth vermutete. Die Blicke der Anführerin verhießen nichts Gutes.
„Was wollt Ihr in Immerschwinge?“, fragte sie in einem seltsam archaischen Elfisch. „Seit 1000 Jahren hat kein N’Tel-Quessir mehr die Stadt der Gläsernen Gesänge betreten. Allein das Wissen um ihre Existenz könnte euch eure Leben kosten.“
 „Wir haben ein Empfehlungsschreiben von Coronal Ilsevele Miritar von Cormanthyr“, erwiderte Nimoroth und überreichte der Anführerin das Schreiben, das sie von der Herrscherin von Myth Drannor erwirkt hatten. In drei Tagen sollte in der Stadt der Gläsernen Gesänge ein Portal nach Cormanthyr eingeweiht werden. Das Portal sollte dem Aufbau diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen zwischen den beiden Elfenreichen dienen. Das Schreiben, das die Herrscherin des Elfenhofs für die Gefährten verfasst hatte, wies diese als Bürger Myth Drannors aus, die – angeblich auf Geheiß des Elfenrats – dem Ereignis beiwohnen sollten. In Wahrheit galt das Schreiben lediglich dem Zweck, Nimoroths menschlichen Gefährten Einlass in die Stadt der Avariel zu verschaffen.
Die Anführerin überprüfte das Siegel und überreichte das Schreiben dann einem ihrer Krieger, der damit zur Stadt zurück flog.
„Mitkommen“, befahl sie schroff und führte die Gefährten zu einem Aussichtsturm, der auf einem nahe gelegenen Berggipfel gelegen war. Während die anderen sich im Innern des Turms ausruhten, suchte Nimoroth das Gespräch mit der Avariel-Kriegerin.
„Ihr seid nicht sehr gut auf menschlichen Besuch zu sprechen“, stellte er fest. Ihm war nicht entgangen, wie die Avariel seine menschlichen Freunde genannt hatte: N’Tel-Quessir – jene, die nicht dem Volk angehören. „Ihr haltet Euch für privilegiert.“
Die Avariel-Kriegerin starrte in die Ferne. „Wir sind privilegiert“, ließ sie sich schließlich zu einer Antwort herab und breitete demonstrativ ihre eindrucksvollen Schwingen aus. „Wer will das leugnen?“
„Hm“, machte Nimoroth. „Verleiht Euch das nicht eine gewisse Verantwortlichkeit jenen gegenüber, die es nicht sind?“
Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. „Ich hasse die Menschen nicht“, sagte sie schließlich. „Ich bemitleide sie. Ich bemitleide sie wie ich eine Kakerlake dafür bemitleide, dass sie so auf die Welt kommen musste: erdgebunden, parasitisch...“
Nimoroth seufzte. Wie oft hatte er diese Art von Argumentation schon gehört. Von beiden Seiten.
Sie mussten lange warten. Es war bereits dunkel, als Nimoroth drei Greifen gewahrte, die durch die Wolkendecke brachen und auf sie zuhielten. Auf dem Rücken des ersten saß ein Avariel, der in eine weiße Toga gewandet war: ein Diplomat, wenn Nimoroth seine Kleidung richtig deutete. Auf dem zweiten Greifen jedoch…
„Kalith!“, rief Nimoroth verblüfft.
Lachend schwang sich Kalith Lysan von seinem Reittier, kaum dass er festen Boden unter den Füßen spürte, und klopfte seinem Cousin grinsend auf die Schulter. Die anderen, die Nimoroths Ruf aus dem Aussichtsturm gelockt hatte, waren nicht minder erstaunt, den alten Gefährten anzutreffen.
„Ich bin als Botschafter des Elfenhofs hier. Ähnlich wie ihr, wie es scheint.“ Kalith warf Nimoroth einen seiner Ich-habe-wohl-einiges-verpasst-Blicke zu.
„Und das“, Er wies auf den Avariel, der mit ihm gekommen war. „Das ist Fürst Elijas Avalior, der Elf, der mich vor acht Jahren auf der Schattenebene gerettet hat.“
„Verzeiht die Verzögerungen“, erklärte der Avariel in akzentfreier Handelssprache. „Leider ist der Zeitpunkt Eurer Ankunft politisch etwas ungünstig gewählt.“ Er musterte die Gefährten aus kühlen grün-goldenen Augen, ehe sich der Ansatz eines Lächelns auf seinem Gesicht abzeichne. „Dennoch heiße ich Euch willkommen in der Stadt der Gläsernen Gesänge. Die Greife werden Euch nach Immerschwinge bringen.“

Grimwardt
Grimwardt umklammerte mit verkrampftem Griff den Sattelknauf, während sein Greif vorpreschte. Von Zaumzeug schienen diese geflügelten Spitzohren nicht viel zu halten. Grimwardt hasste es, keine Kontrolle über sein Reittier zu haben. Und wo sollte hier eine Stadt sein, wo es meilenweit nichts gab als Wolken und Sterne?
Und dann tauchte sie viel zu plötzlich vor ihm auf, überrumpelte ihn mit ihrer gläsernen Riesenhaftigkeit. Undeutlich vernahm er die Worte des Avarielfürsten, der ihnen erklärte, dass der äußere Ring des Mythals der Stadt verhinderte, dass sie aus der Ferne wahrgenommen werden konnte. Nur Elfen konnten sie sehen. Wie zuvorkommend.
Die Stadt unter Grimwardt war auf vier Plateaus auf dem Gipfel der Schmelzwasserspitze errichtet. Von Fürst Elijas erfuhren die Gefährten, dass die vier Plateaus die Gesellschaftspyramide der Avariel widerspiegelten: Das oberste und kleinste Plateau – das Kronplateau – bestand aus einem riesigen, tropischen Wald, in dessen Mitte sich der Orchideenpalast des Coronal erhob. Wie fast alle Gebäude in Immerschwinge war der Palast aus Glasstahl erbaut und durch Magie verstärkt. Das machte die gläsernen Gebäude, so filigran und zerbrechlich sie auch wirken mochten, geradezu unzerstörbar. Die Mischung aus Magie und Glasstahl erzeugte zudem einen singend-vibrierenden Ton, welcher der Stadt der Gläsernen Gesänge ihren Namen verlieh (und Grimwardt schon jetzt tierisch auf die Nerven ging). Das Ästhetenplateau unter dem Kronplateau beherbergte die wichtigsten Adelspaläste der Kleriker- und Magierfamilien. Das Kriegerplateau darunter war der Kaste der Valendár-Klingensänger vorbehalten, während das Bürgerplateau die Glasbläsereien, Silberweinkeltereien, Gasthäuser und Bürgerhäuser beherbergte. Verbunden waren die vier Plateaus durch einen durchgehenden Ringwall und ein wirres Geflecht kleiner Bäche und Kaskaden, die von Plateau zu Plateau sprangen, sich teilten, wieder vereinten und sich schließlich unterhalb der Wolkendecke in einem Wasserfall in den Thaylambar-Fluss ergossen.
Grimwardt war heilfroh, als er wieder festen Boden unter den Füßen spürte.
Der Palast der Avaliors, in dem sie für die Dauer ihres Aufenthalts untergebracht waren, befand sich auf dem Ästhetenplateau. Das Haus war in den Hang gebaut und Treppen gab es nicht. Da traf es sich gut, dass sie von Fürst Elijas Flugringe überreicht bekamen.
„Ein Begrüßungsgeschenk des Kronrats“, erklärte der Avarielfürst. „Sie funktionieren nur innerhalb des Mythals.“
Der Avarielfürst verabschiedete sich gleich nachdem er den Gefährten eine Einladung für den abendlichen Tränenball im Palais der Familie Shantilea überbracht hatte und überließ sie der Obhut seiner Haushälterin, einer ungeflügelten Elfe namens Lana. Als Nimoroth sie nach ihrer Heimat fragte, erlebten die Gefährten eine Überraschung.
„Meine Heimat ist hier“, erklärte die junge Elfe, während sie eilfertig damit beschäftigt war, den Gästen passende Kleidung für den abendlichen Ball zurechtzulegen. „Ich bin eine Avariel wie Fürst Elijas.“
Im Gespräch mit Lana erfuhren die Gefährten, dass nur etwas mehr als die Hälfte aller Avariel geflügelt waren. Vor zweitausend Jahren, nachdem das Volk der Avariel nach Überfällen weißer Drachen auf ihre Heimatstadt nur knapp dem Untergang entgangen war, hatte sich eine Heiratspolitik durchgesetzt, die vorschrieb, dass keine Hochzeiten zwischen ungeflügelten und geflügelten Avariel geschlossen werden durften, um die Wahrscheinlichkeit für die Geburten geflügelter Kinder zu erhöhen und das Volk der Avariel vor dem Aussterben zu bewahren. Das Resultat war eine gespaltene Gesellschaft. Ungeflügelten Avariel blieb für gewöhnlich der Werdegang als Magier, Priester oder Valendár-Krieger verwehrt; die meisten arbeiteten für den Adel der Stadt. Doch in jüngster Zeit hatte sich eine Gruppe von ungeflügelten Rebellen und geflügelten Sympathisanten in den umliegenden Bergen versteckt, um durch gelegentliche Überfälle auf Valendár-Patrouillen auf ihre Forderungen nach Gleichberechtigung aufmerksam zu machen.
Auch an der Isolationspolitik aus alten Zeiten hielt der Kronrat, der Immerschwinge regierte, noch heute eisern fest: Jahrtausendelang hatten die Avariel die Beziehungen zu allen nichtelfischen Völkern strikt gemieden und den Handel auf Immerdar und die Elfenzivilisationen des Hochwaldes beschränkt. Die Öffnung des Portals nach Myth Drannor, einer Stadt mit gemischter Bevölkerung, war darum ein Meilenstein in der Geschichte Immerschwinges. Ein erster Schritt der Eingliederung. Und ein äußerst umstrittenes Ereignis.
„Ihr seht also“, erklärte Lana. „Eure Anwesenheit hier ist so etwas wie ein Jahrtausendereignis. Wundert euch nicht, wenn man euch anstarren wird wie Jahrmarksattraktionen. Die meisten Elfen hier haben noch nie einen Menschen gesehen.“
„Was ist mit Euch?“, fragte Nimoroth. „Ihr erscheint mir recht… weltoffen. Weshalb geht Ihr nicht fort von hier, wenn man Euch hier wie eine Sklavin behandelt?“
Lana schüttelte den Kopf. „Elijas behandelt mich nicht wie eine Sklavin“, verteidigte sie ihren Herrn. „Er brachte mir Eure Sprache bei und lehrte mich die Geschichte der anderen Völker. Und ist es wirklich so schwer zu begreifen, weshalb die Ungeflügelten hier bleiben wollen? Sie wissen nichts von der Welt da draußen und fürchten sich vor dem, was sie nicht verstehen. Außerdem wurden wir wie die Geflügelten mit der Sehnsucht zu fliegen geboren. Näher als hier werden wir dem Himmel wohl niemals kommen.“

Nightmoon:
Ist ne ganz schöne Arbeit, oder?  :wink:
Aber ich find´s gut, dass du dir die Mühe machst.

Niobe:
Noch macht's Spaß. Mal sehen wie lange das anhält ;)

Niobe:
Kapitel IV: Engelstränen

Winter
Eine Stunde später auf dem Ästetenplateau
Der Palast der Familie Shantilea war ein pompöses, achteckiges Glashaus mit zahlreichen Erkern und Türmen. Wie alle Gebäude der Stadt wirkte es kalt trotz des vielen Lichts - wie ein Spiegel der Seele seiner Bewohner. Von Lana hatten die Gefährten erfahren, dass die Shantileas eines der ältesten und einflussreichsten Häuser der Stadt waren. Die Familie brüstete sich damit, ihre Wurzeln bis zu dem Archon zurückverfolgen zu können, der der Legende nach das Volk der Avariel begründet hatte. Fürstin Mathalaya, die seit Jahrhunderten verbissen nach dem Thron des Coronals strebte, war die mächtigste Verfechterin des Kastensystems und eine erklärte Feindin der ungeflügelten Rebellen. Der Tränenball in ihrem Hause leitete traditionell ein dreitägiges Fest zum Gedenken an den Gründer Immerschwinges ein.
„Halt! Geht zurück, wo ihr hergekommen seid, Fremde!“ Verwirrt hob Winter den Kopf. Die Worte waren in gebrochener Gemeinsprache mit starkem elfischem Akzent gesprochen worden. Der junge Avariel, der ihnen mit dieser wenig schmeichelhaften Begrüßung aufwartete, versperrte den Gefährten schwebend und mit gezücktem Schwert den Weg zum Eingangsportal des Palasts. Sein blanker Schädel glänzte elfenbeinern im Mondschein und in seinen Augenwinkeln glitzerten künstliche Tränen. Die prächtigen, schneeweißen Schwingen hatte er zu ihrer vollen Breite entfaltet und aus seinen goldenen Augen musterte er die Gefährten mit unverhohlener Abscheu. Wäre sein Gesicht nicht verzerrt gewesen von jener Maske aus Hass und Arroganz, so hätte Winter über seine Schönheit nur staunen können. Als sie sich umsah, erkannte sie, dass sie und ihre Gefährten von fünf weiteren Avariel umzingelt waren. Sie alle hatten kahl rasierte Schädel und Tränen in den Augenwinkeln, wenn ihre Flügel auch nicht mit dem strahlenden Glanz des Anführers konkurrieren konnten. Dieser begann die Gefährten auf Elfisch zu beschimpfen, während die Ballgäste, die von allen Seiten herbei geströmt kamen, stehen blieben und mit verhaltener Neugier die Konfrontation verfolgten.
Nachdem er sich den Wortschwall des Goldäugigen eine zeitlang mit versteinerter Miene angehört hatte, rief Nimoroth ihm etwas in seiner Muttersprache zu. Es folgte ein hitziger Wortwechsel, der damit endete, dass Goldauge vor Nimoroth ausspuckte, sein Schwert in die Scheide steckte und davon flog. Seine Gefolgsleute taten es ihm gleich. 
„Was war denn das?“, fragte Winter.
„Er hat uns zum Kampf herausgefordert“, erwiderte Nimoroth mit düsterer Miene.
„Und?“
„Ich habe zugesagt“, erklärte der Elf. „Morgen gegen Mittag in der Arena auf der Bürgerebene.“
„Das war ein Fehler“, bemerkte Fürst Elijas, der die Konfrontation mit ausdrucksloser Miene verfolgt hatte.
„Warum?“
„Das war Silead Shantilea, der Sohn der Fürstin“, erwiderte Elijas. „Der kahlrasierte Schädel soll daran erinnern, von wem er abstammt, doch ihm haftet wenig Engelsgleiches an. Er ist ein skrupelloser Bandenführer; selbst seine Mutter hat sich öffentlich von ihm distanziert. Er ist bekannt dafür, dass er politische Machtkämpfe in der Arena austrägt. Bei vier Mann gegen einen kann er nur gewinnen. Unter Avariel gilt nur ein Kampf Mann zu Mann als fairer Kampf.“
„Auch gut“, knurrte Grimwardt. „Treten wir eben einzeln gegen ihn an.“
Elijas zuckte gleichgültig mit den Schultern und überreichte den Palastwachen die Einladungen. Die Gefährten folgten ihm in ein Atrium, das fünf Galerien und eine riesige Tanzfläche umfasste. In der Mitte erhob sich ein gläserner Baum, der bis unter die kristallene Kuppel des Palasts reichte.  Kaum hatten sie Platz genommen, erschien auf der obersten Galerie der Coronal an der Seite seiner jungen Gemahlin. Doch obgleich er aus Rücksicht auf die Besucher davon absah seine Eingangsrede auf Elfisch zu verlesen, schenkte Winter seinen Worten wenig Beachtung. Ihr Augenmerk war auf die Galerie unter ihm gerichtet, wo die Herrin des Hauses, Fürstin Mathalaya Shantilea, Platz genommen hatte: Ihre Flügel waren ebenso schneeweiß wie die ihres hitzköpfigen Sohnes, ihre Augen golden, ihr Haar silbrig-weiß und ihre Gesichtszüge so ebenmäßig wie aus Stein gemeißelt. Winter fiel zudem auf, dass die junge Gemahlin des Coronals dieselben celestischen Merkmale aufwies.
„Die Familienoberhäupter der  Shantileas pflegen untereinander zu heiraten, um die celestische Blutlinie nicht zu verunreinigen“, erklärte Elijas, der ihrem Blick gefolgt war, mit einem Anflug von Bitterkeit in der Stimme. „Silead und seine Schwester Vanya, die Frau des Coronals, sind das Resultat dieser Tradition.“
Winter blinzelte.
„Seht… ihr das auch“, fragte sie irritiert. Die anderen folgten verständnislos ihrem Blick.
„Ich meine den Kerl, der gerade mit blankem Schwert auf den König zufliegt.“
Der Abend wurde immer skurriler.
Elijas runzelte die Stirn, dann sprang er alarmiert auf und stieß einen Warnruf aus.
Er ist unsichtbar, durchzuckte Winter in diesem Moment die Erkenntnis. Durch eine magische Manipulation ihrer Augen war sie in der Lage Unsichtbares zu sehen.
Doch es war zu spät. Der Unsichtbare hatte die oberste Galerie bereits erreicht und nun schienen ihn auch die anderen sehen zu können. Ehe irgendwer reagieren konnte, hatte der Eindringling die Gemahlin des Coronals gepackt und hielt sie wie ein Schild vor sich, während er ihr drohend sein Schwert unter die Kehle hielt. Dolche wurden gezückt und Fürstin Mathalya rief nach den Wachen, doch niemand wagte etwas zu unternehmen. Winter reagierte schnell. Flüsternd sprach sie die magischen Worte eines Versetzungstricks und tauschte Platz und Aussehen mit der Geisel des Eindringlings. Dieser schien nichts zu bemerken. Seine blitzenden dunklen Augen flackerten spöttisch und seine eindrucksvollen Schwingen vibrierten leicht, als er seine Blicke über die Ballgesellschaft gleiten ließ. Der Coronal stand mit hilflos geballten Fäusten an Winters Seite und zischte einige Worte auf Elfisch. Winter horchte auf, als sie den Namen Thanduin aus seinem Mund vernahm.
Thanduin, der Rebellenführer.
Was folgte war ein weiteres Beispiel elfischer Selbstinszenierung.
 „Ein Vögelchen hat mir gezwitschert“, rief Thanduin an die Ballgesellschaft gewandt, „welch ungewöhnliche Gäste heute Abend hier sind.“ Er nickte in die Richtung von Winters Freunden. „Freunde aus Myth Drannor, es tut mir aufrichtig leid, dass dies der erste Eindruck ist, den Ihr von der Stadt der Gläsernen Gesänge bekommen sollt. Ich hoffe nur, dass Ihr Euch von all dem Lug und Trug nicht die Augen verschließen lasst. Die Einweihung des Portals nach Cormanthyr ist alles andere als eine Annäherung der Avariel an die guten Völker von Faerûn. Wusstet ihr, dass das geplante Portal nur in eine Richtung passierbar ist? Nun ratet mal in welche!“
Mit diesen Worten ließ der Rebellenführer von Winter ab und verschwand, wieder unsichtbar, in einem der Gänge, die von der Galerie abzweigten. Winter hörte, wie Fürstin Mathalaya mit klarer Stimme einen Befehl gab und sogleich wurde der Raum von Wachen gestürmt, die sich an die Fersen des Flüchtigen hefteten. 
Nachdem Winter ihr Verwechslungsspiel aufgeklärt hatte und die Gäste sich von dem Schock erholt hatten, wurde das Essen serviert. Fürst Elijas, dem plötzlich sehr daran gelegen schien, sich den Fragen seiner Gäste zu entziehen, entschuldigte sich noch vor der Vorspeise und verließ den Tisch, um sich anderen Gesprächen zuzuwenden. Den Gefährten war das nur Recht. Es gab viel zu besprechen. In wenigen Worten setzten sie Kalith über ihren eigentlichen Auftrag und die Todesklaue in Kenntnis. Die einseitige Öffnung des Portals warf neue Fragen auf. Grimwardt befürchtete, dass von hier aus ein Angriff auf Myth Drannor seinen Ursprung nehmen könnte. Irgendwer erschaffte eine Armee aus Untoten und Myth Drannor schien ein plausibles Angriffsziel. Doch wer profitierte davon? Die Rebellen, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen und die Regierung zu erpressen? Die Isolationisten, die von Anfang an gegen die Portalöffnung gewesen waren? Oder gab es eine dritte Partei, die noch nicht in Erscheinung getreten war? In jedem Fall musste die Herrscherin von Myth Drannor von der möglichen Gefahr unterrichtet werden.
Der Abend verlief schleppend. Ein Gespräch mit dem Coronal brachte den Gefährten keine neuen Erkenntnisse bis auf die, dass der Herrscher von Immerschwinge ein Schwächling und Zauderer war, der viel reden konnte ohne ein Wort zu sagen. Dorien war auch keine große Hilfe, da er es vorzog, sich auf der Tanzfläche mit diversen Avariel-Damen zu vergnügen, anstatt seinen Freunden bei ihren Ermittlungen zur Hand zu gehen. Sogar Grimwardt hatte eine Eroberung an Land gezogen. Amüsiert beobachtete Winter die steifen Tanzversuche ihres Bruders und die skeptisch-unbehagliche Miene, die er im Gespräch mit seiner geflügelten Tanzpartnerin an den Tag legte.
Dann wurde sie von Kalith abgelenkt, der ihr eine interessante Beobachtung mitteilte: Während des Auftritts des Rebellenführers hatte einer der Diener Elijas Avalior eine Nachricht zugesteckt. Ein Beweis dafür, dass der verschlossene Fürst mit den Rebellen im Bunde war? Winter wollte es genau wissen und stibitzte kurzerhand besagte Nachricht. Dank eines magischen Tricks, der es ihr erlaubte ihre Diebeskünste auch auf die Distanz anzuwenden, gelang es ihr sogar, den Zettel wieder unbemerkt in den Falten von Elijas’ Toga verschwinden zu lassen. Natürlich nicht, ohne dass sie sich von Nimoroth den Inhalt hätte übersetzen lassen.
„Morgen Abend zur zehnten Stunde an der Alten Miene“, las Nimoroth vor. „Wenn das eine Falle ist, wirst du es bitter bereuen.“
„Ich schätze, Elijas ist nicht der einzige, der morgen um zehn eine Verabredung hat“, sagte Winter nicht ohne eine Spur von Selbstgefälligkeit.
Der Abend hielt noch eine unangenehme Überraschung für Winter und ihre Freunde bereit, als sie bei der Rückkehr in Doriens Villa dieselbe von einer durchweg betrunkenen und größtenteils erotisierten Feiergesellschaft bevölkert vorfanden. Diverse Möbelstücke hatten unter den Auswirkungen der fatalen Mischung von Silberwein mit Aphrodisiakum zu leiden gehabt, sodass Doriens zehnköpfige Dienerschaft einem hätte leid tun können, hätte es sich bei dem Pulk eifriger Butler und Zofen nicht durchweg um magische Konstrukte gehandelt. Der Herr des Hauses, der Elijas’ Warnungen bezüglich der psychotischen Wirkung von Silberwein offenbar in den Wind geschlagen hatte, hatte sich mit zwei Avarieldamen in den Badethermen der Villa verschanzt.
Da der Hexenmeister an diesem Abend zu nichts mehr zu gebrauchen war, war es an Winter Nimoroth nach Myth Drannor zu begleiten, um Ilsevele Miritar von der möglichen Bedrohung des Elfenhofs und der geplanten einseitigen Öffnung des Portals zu unterrichten. Um den Mythal zu umgehen, wechselten sie zunächst von Doriens Villa aus die Ebene (was ihnen einen ungeplanten Aufenthalt im Mondsee bescherte) und teleportierten dann zur Stadt. Die Wachen am Tor verweigerten ihnen jedoch zu so später Stunde den Eintritt und zeigten sich recht unbeeindruckt von der Warnung - was nicht zuletzt an der wenig würdevollen Erscheinung ihrer pudelnassen Überbringer liegen mochte…

Nimoroth
Am nächsten Tag in der Arena
Ein traditioneller Klingensänger-Wettstreit bestand aus drei Runden. In der ersten Runde wurde allein mit Waffengewalt, in der zweiten nur mit Magie gekämpft. In der dritten Runde schließlich galt es, Kriegskunst und arkane Magie zu einem einheitlichen Kampfstil zu vereinen. Die Gefährten hatten sich mit dem Arenenmeister darauf geeinigt, dass sie einzeln gegen Silead antreten würden.
Grimwardt war als erster an der Reihe. Das Amphitheater, welches als Austragungsort diente, war bis auf die letzte Bank besetzt. Da der Kronrat Ausschreitungen zwischen Engelstränen und Sympathisanten der Rebellen befürchtete, waren auf den Tribünen Valendár-Wachen postiert. Weder Fürst Elijas noch die Mitglieder des Kronrats waren irgendwo zu sehen; offenbar wollte sich niemand der offiziell Neutralen am heutigen Tag auf diesem heißen politischen Pflaster sehen lassen. Wer hier war, der war entweder für oder gegen die Öffnung des Portals und die Forderungen der Rebellen. Dass die Gefährten als vermeintliche Gesandte Myth Drannors offiziell nichts mit den Rebellen verband, schien niemanden zu kümmern: Die Fremden traten gegen Silead Shantilea, den Anführer der Engelstränen, an und wandten sich damit gegen alles, was die Rebellen verabscheuten.
Trommelwirbel kündigte den Kampf an und die Gefährten wurden aus einer Versenkung im Boden in die Arena gezogen, während Silead mit ausgebreiteten Schwingen von der Decke herab schwebte. Nimoroth kam nicht umhin die verächtliche Symbolik in dieser Raumanordnung zu bemerken, beließ es aber bei einem stummen Kopfschütteln.
Der Kampf begann.
Wie ein Fels in der Brandung harrte Grimwardt, sein Turmschild erhoben und die Axt fest im Griff, der Angriffe seines Gegners, der im Sturzflug auf ihn hinab stürzte. Ein höhnisches Grinsen machte sich auf dem Gesicht des Avariel breit, als sein erster magisch verstärkter Schwerthieb Grimwardt bereits ins Wanken brachte. Der Tempuspriester schien weniger Glück zu haben – Sileads magische Spiegelbilder bereiteten ihm ernsthafte Schwierigkeiten. Dennoch bewegte er sich keinen Zentimeter vom Fleck. Der Hohn des Klingensängers, der Zauber um Zauber verprasste, um seine Angriffe zu verstärken, verwandelte sich schon bald in frustrierte Ungläubigkeit. Sein Gegner, den er nach dem ersten Angriff bereits abgeschrieben hatte, leistete erbitterten Widerstand. Dann ein letzter zorniger Angriff… und Grimwardt fiel.
„Schweinehund“, entfuhr es Winter. Sie half ihrem Bruder auf die Beine und stellte sich dem Klingensänger. Nimoroth hielt den Atem an. Es stand 1:0 für den Herausforderer. Winter durfte jetzt kein Fehler unterlaufen. Nimoroth fürchtete das launige Gemüt seiner Mitstreiterin. Umso größer war seine Verblüffung, als bereits Winters erster Zauber, ein Blitzgewitter sengender Strahlen, die sie in rasender Abfolge auf Silead abfeuerte, seine Niederlage besiegelte: Die Wucht des Aufpralls schleuderte den Avariel gegen die Bande und raubte ihm das Bewusstsein. Offenbar hatte Grimwardt ganze Arbeit geleistet: Der Avariel musste all seine Schutzzauber im Kampf gegen den zähen Priester verprasst haben. Winter brauchte einen Augenblick, um ihren schnellen Sieg zu begreifen, bevor sie sich vom Applaus der Menge berauschen ließ.
Nun war Nimoroth an der Reihe. Da das magische Feld, welches die Arena umgab, verhinderte, dass Arenenkämpfe tatsächlich blutig endeten, dauerte es nicht lange, bis Silead wieder auf den Beinen war. Die Erkenntnis von einer Menschenfrau besiegt worden zu sein, trieb den selbstgefälligen jungen Avariel zur Weißglut. Aller Hohn war von ihm abgefallen und nichts als blanker Hass starrte Nimoroth aus goldenen Augen entgegen. Silead preschte vor, doch Nimoroth war schneller. Mit irrsinniger Wucht stürmte er gegen seinen Gegner an und rang ihn zu Boden. Der Kampf war zu Ende noch ehe er so recht begonnen hatte. Nimoroth verkniff sich ein Grinsen, als er dem am Boden liegenden Silead die Hand reichte. Der Avariel warf ihm einen wutentbrannten Blick zu und spuckte vor ihm aus.
Doch gegen den aufbrausenden Applaus vermochte er nichts auszurichten.

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