Also dann: Alles Gute zum Geburtstag, Nightmoon
Kapitel II: Seelenmelodie
WinterVier Wochen später im Nordosten der Anauroch. Sie weiß, was geschehen wird, doch sie kann es nicht aufhalten. Sie folgt dem Handlungsfaden ihrer Vision wie eine Marionette. Die Kämpfenden sind gesichtslose Schatten im Sand, der Schlachtenlärm ein verschwommenes Hintergrundrauschen. Ihr Blick findet Scarlets roten Haarschopf und sie ruft ihren Namen. Ihre Tochter wendet sich um - im selben Moment, als aus der entgegengesetzten Richtung der schwarze Reiter heranrast und sein Schwert stoßbereit über die Schulter hebt.
„Winter!“
Keuchend fährt Winter herum. Die plötzliche Bewegung reißt sie aus ihrer Vision. Blinzelnd blickt sie sich um: Sie steht in Desayeus‘ Spiegelsaal. Dorien harrt neben ihr, den Blick starr auf die Bilderfolge im Spiegelglas gerichtet. Die Schatten ihrer Vision huschen über sein Gesicht wie Schlangen aus rotem und gelbem Licht.
„Du musst etwas tun“, sagt er tonlos. „Sie ist unsere Tochter.“
„Ich kann nicht“, erwidert sie hilflos. „Nicht ohne Magie…“
Abrupt wendet er ihr den Blick zu.
„Sieh hin“, fordert er.
Sie schließt kurz die Augen, dann zwingt sie ihren Blick zurück auf die Bilder im Spiegel. Ihr zukünftiges Ich rennt auf Scarlet zu, wie Dutzende Male zuvor. Doch diesmal ist etwas anders als sonst. Sie ist schneller als zuvor und erreicht ihre Tochter einen Lidschlag eher. Als das schwarze Schwert auf Scarlet niederfährt, murmelt sie einen Zauber und Mutter und Tochter verschwinden und tauchen an einem fernen Strand wieder auf. Als Scarlet sich zu ihrer Retterin umdreht, wendet diese den Kopf ab… und Winter blickt in zwei schwarze, pupillenlose Augen.
Schweißgebadet fuhr Winter aus dem Schlaf. Es war nicht der erste Traum dieser Art seit sie die Wüste betreten hatten.... Vorsichtig, um Miu nicht zu wecken, die eingeigelt neben ihr schlummerte, hob sie die Zeltöffnung an und kletterte ins Freie.
„Du bist zu früh“, bemerkte Faust, der vor dem Männerzelt Wache hielt und sein Schwert wetzte.
„Geh ruhig...“, murmelte sie. „Ich kann ohnehin nicht wieder einschlafen.“
Offenbar hatte sie nicht ganz das Zittern aus ihrer Stimme bannen können, denn Faust hielt in seiner Arbeit inne und hob stirnrunzelnd den Kopf. „Alles in Ordnung?“
Sie nickte matt. „Nur schlecht geträumt.“
Er begriff, dass sie allein sein wollte, und verzog sich in sein Zelt.
Winter stützte den Kopf auf die Knie und versuchte sich auf die Stille der Wüstennacht zu konzentrieren, um das Hämmern in ihrer Brust zu beruhigen. Jenseits des Lichtkegels, den das Lagerfeuer warf, war die Nacht rabenschwarz - schwärzer als Winter sie in Erinnerung hatte. Für gewöhnlich verlieh ihr magischer Blick ihr die Fähigkeit im Dunkeln zu sehen. Doch nicht hier in der Wüste, wo das magische Gewebe zu beschädigt war und die Schattenmagie der Umbranten jede andere Form von Magie unterdrückte.
Blind, dachte Winter.
Hier bin ich eine Blinde. Es war nicht gerecht! Ihre Magie war Teil ihres Wesens - dieser magielose Ort nahm ihr die Seele! Faust hatte sein Schwert und sein Glück, Grimwardt seine Axt und seinen Glauben und Miu ihr Vertrauen in ihre Mission, aber sie… sie war nichts an diesem Ort. Und ausgerechnet hier würde sich ihr Schicksal – ihres und das ihrer Tochter – entscheiden. Der Gedanke erfüllte sie mit ohnmächtigem Zorn.
Heimlich, ohne das Wissen ihrer Freunde, hatte sie versucht, das Schattengewebe anzuzapfen. Sie spürte seine Präsenz instinktiv, so wie sie Mystras Gewebe immer gespürt hatte, doch wann immer sie sich auf die Strukturen des Schattengewebes zu konzentrieren versuchte, verwirrten sich ihre Gedanken, zogen sie tiefer und tiefer in einen Strudel der Trugbilder und Illusionen. Und dann waren da die Träume… Shars Art, ihr das unbefugte Eindringen in ihr Schaffenswerk heimzuzahlen. Doch sie konnte sich nicht Shar verschreiben. Lange hatte sie geglaubt, es sei ihre Abscheu vor dem, wofür die Göttin der Finsternis stand, der sie daran hinderte. Doch das stimmte nicht, erkannte sie nun. Schon dadurch, dass die Göttin ihr den Schlüssel zum Schattengewebe verwehrte, beschnitt sie die Macht, die Winter für sich beanspruchte. Es war
ihr Verdienst,
ihre Magie… Shar hatte keinen Anteil daran.
Plötzlich spürte sie, dass sie nicht mehr allein war. Ein menschlicher Schatten hatte sich lautlos in das tanzende Muster gestohlen, das die flackernden Flammen auf den Sandboden malten.
Ein Umbrant! Winter sprang auf, doch ehe sie einen Warnruf ausstoßen konnte, trat der Fremde ins Licht. Behutsam, ohne Hast, hob er die Hände zum Zeichen, dass er unbewaffnet war.
„Nicht, Winter“, sagte er ruhig. „Ich bin hier, weil ich mit Euch sprechen will.“
Ihre erste Einschätzung bestätigte sich nicht: Der Fremde hatte weder die gräuliche Haut noch die glühenden Augen eines Umbranten. Er war breitschultrig und groß, größer als die Bewohner Netherils, und hatte schwarzes, schulterlanges Haar, das sich am Ansatz leicht keilförmig in seine Stirn fraß. An den Seiten zogen sich silberne Strähnen durch sein Haar, die ihm Autorität verliehen, ohne ihn alt wirken zu lassen. Der Lichtschein, der unruhig in seinen Augen tanzte, bildete einen seltsamen Kontrast zu der bedächtigen Gelassenheit, die er ausstrahlte. Etwas Gefährliches, Rastloses lag in diesem Kontrast, fand Winter, ohne dass sie hätte sagen können, ob es einschüchternd oder einnehmend auf sie wirkte.
„Wer seid Ihr?“, hörte sie sich selbst fragen.
Sie wusste, es wäre klüger gewesen, seine Beteuerung zu ignorieren und die anderen zu wecken. Wer sagte, dass er nicht ein Schattenmagier in Verkleidung war? Wie, wenn nicht durch Magie, sollte er sie gefunden haben und hierher gelangt sein, mitten in die Sandwüste, ohne Reittier und Ausrüstung? Doch das, was sie misstrauisch stimmte – sein mysteriöses Auftauchen, die Aura des Machtvollen – war zugleich das, was ihre Neugier weckte.
„Mein Name würde Euch nichts sagen“, sprach der Fremde. „Aber seid versichert, dass ich weder Netheril noch der Schattengöttin diene. Ich beobachtete Euch und Eure Gefährten schon seit langem, denn ich… nun, sagen wir, ich habe ein besonderes Interesse am Wohlergehen dieser Gemeinschaft.“ Sein Blick glitt zu den beiden Zelten und ein eigenartig hartes Lächeln ließ seinen rechten Mundwinkel zucken.
„Was meint Ihr damit? Welche Art von Interesse?“
Statt zu antworten, musterte er sie lange und eindringlich, ehe er sagte: „Eure Träume sind düster in letzter Zeit. Die Unbeständigkeit der Magie bereitet Euch Angst. Ich bin hier, um Euch ein Geheimnis zu verraten, dass Eure Sorgen mindern kann… wenn Ihr es hören wollt.“
Argwöhnisch zog sie die Schultern hoch. „Zu welchem Preis?“
Wieder dieses unheimliche Zucken in seinem rechten Mundwinkel. „Den Preis bestimme nicht ich, Winter…“ Er trat näher ans Feuer. „Das Schattengewebe ist nur
ein Medium, das es den Göttern ermöglicht, sterbliche Magie unter Kontrolle zu halten. Wir können uns dieser Kontrolle nicht entziehen, aber wir sind frei, was die Wahl des Mediums betrifft. Gewebe und Schattengewebe sind nicht die einzigen magischen Netzwerke. Es gibt andere Wege, Magie zu kanalisieren.“
„Wovon sprecht ihr?“
„Seelen“, sagte er an die Flammen gewandt. „Seelenmagie ist eine Art von Magie, die mit der Schattenmagie verwandt ist. Richtig angewandt ist sie mächtiger als Gewebemagie, weil die Götter wenig Einfluss darauf haben, aber sie erfordert auch größere Opfer. Es ist nicht ungefährlich, Seelen von den Göttern zu stehlen, denn wer einmal von dieser Macht gekostet hat, findet es für gewöhnlich schwer, ihr zu wiederstehen. Und maßloser Seelenverzehr kann dazu führen, dass sich die eigene Seele… verändert.“
„Seelenverzehr…“ Winter schluckte. Plötzlich war ihr Mund staubtrocken. „Wie…?“
„Wollt Ihr es wissen?“ Er hob den Kopf und sah sie unverwandt an. „Dann kommt mit.“
Zaudernd blickte sie auf die ausgestreckte Hand, die der Fremde ihr darbot.
Seelenverzehr, die Götter bestehlen…. Sie wusste, dieses ungeheuerliche Angebot, vorgetragen mit solch unverhüllter Kaltblütigkeit, hätte sie erschüttern oder abstoßen sollen. Doch ein Teil ihres Wesens – jener Teil, der heimlich frohlockte, wenn ihre Zauber das Leben aus den Körpern ihrer Gegner saugten – erzitterte bei dem Gedanken an die Macht, die das Angebot des Fremden verhieß.
Meine Seele HAT sich bereits verändert - unwiederbringlich. „Wartet“, sagte sie mit belegter Stimme.
Während der Fremde zurück in den Schatten glitt, weckte sie Miu und wies sie an, ihre Nachtwache zu übernehmen. Ohne auf den verdatterten Blick der Ordensschwester einzugehen, entschwand sie ebenfalls in die Nacht.
Der Fremde teleportierte mit Winter auf ein windgepeitschtes Hochplateau. Die Steine unter ihren Füßen waren scharfgeschliffen vom Wind und der Neumond enthüllte wage die Umrisse von drei kegelförmigen Felsen, die vor ihr aus dem Boden stachen. Zwischen den Felsen fand der Fremde den Eingang zu einer windgeschützten Schlucht. Etwa in der Mitte des Engpasses lagerte eine Gruppe von Strauchdieben. Nach dem Untergang der Zhentarim hatten sich viele ehemalige Zhent-Söldner zu Räuberbanden zusammengeschlossen, die von Karawanenüberfällen lebten und sich bei Anbruch der Dunkelheit in das Höhlenlabyrinth auf der Ebene der Stehenden Steine zurückzogen. Geschützt durch einen Unsichtbarkeitszauber harrten Winter und ihr Begleiter am Eingang der Schlucht und lauschten dem rauen Gelächter der angetrunkenen Banditen. Als sich einer der Männer von der Gruppe entfernte, weil er austreten musste, schnellte der Seelenmagier plötzlich vor. Ein einziger präzise ausgeführter Schlag in den Nacken ließ den Mann besinnungslos in seine Arme sinken.
„Die Seele eines Sterblichen ist unantastbar, selbst für die Götter“, erklärte der Fremde, nachdem er sein Opfer in eine Felsnische geschleift hatte. „Sie verbirgt sich im Schatten ihres Körpers – darum ist der Schatten die Schnittstelle zwischen Schatten- und Seelenmagie. Wenn ihr Träger an der Schwelle zum Tod steht, ist die Seele für die Dauer seines letzten Herzschlags orientierungslos und wird sichtbar… oder vielmehr hörbar. Und in diesem winzigen Augenblick ist es möglich sie zu binden.“ Er murmelte einen magischen Befehl und eine kleine Flamme erschien in seiner Hand und warf flackernd drei Schatten an die Felswand. Dann zückte er einen Dolch und hielt ihn Winter mit dem Griff zuvorderst hin. „Töte ihn.“
Ohne zu zögern griff sie nach der Waffe und drückte sie dem Bewusstlosen an die Kehle.
„Nicht so schnell“, hielt der Fremde sie zurück. „Sonst verpasst du den Moment. Konzentrier dich auf seinen Schatten. Wenn du seine Seelenmelodie hörst, ist es soweit. Dann trink seinen Schatten!“
Sie hob irritiert den Kopf. „Wie…?“
Wieder zuckte sein rechter Mundwinkel, doch diesmal war das Ergebnis ein beinahe sanftes Schmunzeln. „Du wirst schon sehen…“
Als sie ihrem Opfer den Dolch in die Brust stieß, gab sie Acht nicht das Herz zu treffen, damit der Tod nicht zu schnell kam. Er riss die Augen auf und stieß ein ersticktes Röcheln aus – halb zornig, halb panisch - doch sie achtete nicht darauf. Eine betäubende Ruhe hatte Besitz von ihr ergriffen, die sie alle Empfindungen ausblenden ließ, bis sie nur noch das Pochen seines sterbenden Herzens vernahm. Als die Abstände zwischen den Herzschlägen kürzer wurden, wurde das Pochen von einem anderen Geräusch überlagert. Es erinnerte sie an das Geläut der Seelenfrüchte in der Bastion der ungeborenen Seelen, nur viel zaghafter, fast scheu. Es war wunderschön und es schien aus der Richtung des Schattens zu kommen, der schemenhaft und dreifach vergrößert über die Felswand kroch. Plötzlich ergriff sie ein düsteres, zügelloses Verlangen – sie musste dieses Klangs, dieser Seelenmelodie, habhaft werden! Etwas, das wie ein inhalierendes Zischen klang, brodelte in ihrer Kehle. Der Schatten floss aus der Wand in ihre Augen und hinter ihrer Stirn explodierte die Wüste in einem Feuerwerk aus Farben, die sie nur aus Träumen kannte. Sie hatte nicht gewusst, dass die Nacht so bunt sein konnte! Es waren die Farben der Magie, die Zellstrukturen des Schattengewebes. Die Magie durchströmte ihren Körper wie ein wohltuender Sirup und als es in ihren Fingerspitzen knisterte, hatte sie das irre Gefühl, die Welt zerstören zu müssen, um diesem Hochgefühl standhalten zu können.
Einen Herzschlag später sank sie besinnungslos zu Boden.
Faust Ruinen von Phelajarama, nordöstliche Anauroch, zwei Tage später. Die Sandhügel folgten ihnen. Schon als sie die alte Stadtruine betreten hatten, war Faust die erstaunliche Mobilität der sechs Dünen aufgefallen, darum war er nicht sonderlich überrascht als ein halbes Dutzend Bedinenkämpfer aus den Wanderdünen sprang, kaum dass sie den Treffpunkt – das einzig intakte Gemäuer in Phelajarama – erreicht hatten. Drei der Männer hielten Armbrüste auf die Neuankömmlinge gerichtet; der Rest zückte Schwerter und Krummsäbel.
„
Nessaja“, nannte Faust ihnen das Losungswort.
Augenblicklich ließen die Bedinen ihre Waffen sinken und ein junger Halbelf trat hinter den windschiefen Mauertrümmern hervor. Er hatte rindenbraune Haut, lebhafte schwarze Augen und trug ein Federbarett, das an diesem Ort ebenso fehl am Platze wirkte wie sein höfischer Aufzug.
„Es ist also wahr!“ Die Augen des Jungen leuchteten vor Aufregung, als er in schwungvoller Kavaliersmanier seinen Hut lüftete und sich mit der Hand auf der Brust vor den Gefährten verneigte. „Die Bezwinger des Hadhrune Tanthul sind von den Toten zurückgekehrt!“
„Laguna Lyrail, nehme ich an?“
„Derselbe“, sagte der junge Halbelf großspurig. „Welch eine Ehre, meinen Namen aus dem Munde des großen Faust zu vernehmen!“
Faust schmunzelte geschmeichelt. „Der Mund des ‚großen Faust‘ hat seit heute Morgen kein Wasser mehr zu schmecken bekommen – diesmal mussten wir leider auf die Gesellschaft eines zwergischen Kampftrinkers mit nimmerleerem Humpen verzichten…“
„Es ist nicht weit“, erklärte Laguna eilfertig. „Zarif erwartet Euch bereits mit Ungeduld… und Scarlet auch, denke ich“, fügte er ohne besonderen Nachdruck hinzu.
Die Erwähnung ihrer Tochter riss Winter aus ihrer traumtänzerischen Verklärung. Seit zwei Tagen wandelte sie durch die Gegend wie eine erleuchtete Heilige – mit unnatürlich geweiteten Pupillen und einem gruseligen Glückseligkeitslächeln auf den Lippen. Faust fand diese neuste Masche seiner Mitstreiterin noch unheimlicher als ihr düsteres vor sich hin Brüten. Es wunderte ihn ein wenig, dass Grimwardt, der doch sonst der Kritischste von ihnen war, noch keinen seiner schroffen Kommentare dazu abgegeben hatte. Doch der gestrenge Priester hatte eine erstaunliche Verdrängungsgabe, wenn es darum ging die Launen seiner Schwester zu ignorieren…
Das Versteck des Sandfürsten lag etwa fünfzehn Minuten von der Ruinenstadt entfernt inmitten der Sandwüste. Nichts wies hier auf eine menschliche Siedlung hin. Doch auf ein Pfeifsignal des Halbelfen kam plötzlich Bewegung in die Dünen, eine Zeltplane wurde zurückgeschlagen und enthüllte ein halblingsgroßes Loch im Sand – den Eingang zu einem Lager von der Größe eines Dorfes. Keine Magie stützte die Stadt im Sand, sondern nur eine ausgefeilte Pavillonkonstruktion aus Zeltplanen und Stützbalken. Faust vermutete, dass sich die D‘Tairig die häufigen Sandstürme dieser Gegend zunutze gemacht hatten: Wer kurz vor einem solchen Sturm ein Lager in der Wüste aufschlug, der musste nur abwarten, bis die Wüste ihre verhüllende Sanddecke darüber ausbreitete. So hatten der Sandfürst und seine Leute im Bestreben, den gefürchteten Luftpatrouillen der Netherim ein Schnippchen zu schlagen, das Land zu ihrer Komplizin gemacht.
Gebückt betraten die Gefährten die geheimnisvolle Welt der D‘Tairig: Dicht an dicht standen hier bunte Zelte, zwischen denen Wäscheleinen gespannt waren, an denen neben Kleidungsstücken auch klimpernde Glastalismane baumelten. Männer saßen vor den Zelten, tauschten Waren, gingen ihrem Handwerk nach oder betrachteten mit argwöhnischer Neugier die Neuankömmlinge.
Laguna führte die Gefährten zu einem geräumigen Kommandantenzelt, vor dem eine Wache postiert war. Innen saßen auf einem Teppich drei D’Tairig mit Säbeln und leichten Rüstungen. Als die Gefährten eintraten, steckten die Rebellen gerade die Köpfe über einer Landkarte zusammen, die entfaltet vor ihnen auf dem Boden lag, während sie ein wohlriechendes schwarzes Gebräu aus niedrigen Bechern schlürften. In einem mit Tüchern abgetrennten Bereich im hinteren Teil des Zelts waren drei mit Seidenschleiern verhüllte Frauen mit Mörser und Stößeln zugange: Sie zerstießen kleine dunkle Bohnen zu Pulver, das sie dann mit Wasser über einer kleinen Flamme erhitzten. Es gab nur ein schmales Abzugsrohr über der Feuerstelle – eine größere Öffnung wäre von außen zu auffällig gewesen – sodass eine beständige Dunstwolke unter dem Zeltdach hing, die alles mit ihrem nebligen Film überzog. Darum erspähte Faust erst auf den zweiten Blick eine weitere Person: Sie saß mit dem Rücken zu den Neuankömmlingen vor einer der Landkarten. Als die vier Freunde näherkamen, erhob sie sich zögernd und trat ihnen in den Weg.
Winter erstarrte für einen Augenblick, ehe sie wortlos vortrat und ihre Tochter in die Arme schloss.
Trotz aller Bemühungen, ihre weiblichen Reize unter der sandfarbenen Tarnkleidung der Rebellen zu verbergen sah Scarlet hinreißend aus. Sie war nicht gar so hochgewachsen wie ihre Mutter und von üppigerer Statur mit einem herzförmigen Gesicht, strahlend blauen Augen, sinnlichen Lippen und einer unbändigen roten Lockenmähne, die sich trotzig gegen das Quastentuch auflehnte, das sie wie Zarifs Männer zum Schutz gegen die Sonne trug.
„Mutter…“ Steif befreite sich die junge Tempus-Priesterin aus der mütterlichen Umarmung. Ihre Miene drückte kühle Reserviertheit aus. Winter war für sie eine Fremde geworden und sie schien nicht so ohne Weiteres bereit, ihrer Mutter den Schmerz zu vergeben, den ihr Verschwinden ihr einst bereitet haben musste. „Wir sollten draußen weiterreden.“
Nachdem Mutter und Tochter das Zelt verlassen hatten, hieß Zarif seine Gäste mit einem ehrerbietigen Handgruß willkommen und ließ ihnen von dem schwarzen Gebräu einschenken, das er Kaffee nannte. Befremdet beobachtete Faust die Art, wie die D’Tairig-Frauen sich lautlos und unbeachtet wie Geister zwischen den Männern bewegten, um den Wünschen des Sandfürsten nachzukommen.
„Wir bringen neue Lieferungen aus Myth Drannor.“ Grimwardt breitete die Edelsteine, die Nimoroth ihnen mitgegeben hatte, vor den drei Männern aus. „Die Abtei des Schwertes im Schlachtental, deren Vorsteher ich bin, könnte Euch ebenfalls Unterstützung anbieten. Ich dachte dabei vor allem an Eisenwaren, wenn Ihr mir sagen könntet, welche Art von Rüstungen und Waffen Ihr benötigt.“
Es folgte eine kurze Besprechung zwischen den Rebellen, die darin bestand, dass Zarif einen kurzen, prägnanten Kommentar in seiner Muttersprache abgab, woraufhin seine beiden Berater einvernehmlich nickten.
„Wir danken Euch für Euer großzügiges Angebot.“ Der Bedine wählte seine Worte mit Bedacht und sprach mit respektvoller Ernsthaftigkeit. „Jede Hilfe ist und willkommen. Kurzschwerter und Säbel eignen sich am besten für den Kampf in der Wüste – schwere Rüstungen dagegen sind in der Hitze nur eine Last. Aber was wir noch dringender benötigen sind erfahrene Kämpfer. Nur die wenigsten meiner Männer sind im Kampf geschult – die meisten sind Handwerker oder Viehtreiber. Die größte Ehre würdet Ihr uns erweisen, wenn Ihr Euch uns anschließen würdet. Hier in der Wüste sind Eure Namen Legenden. Nichts, was wir tun, kann sich mit dem messen, was Ihr bereits erreicht habt.“
„Ihr meint die Vernichtung der Netherrollen?“ Grimwardt schnalzte mit der Zunge. „Hm… das waren andere Voraussetzungen. Solange der Hochprinz von Umbra und seine Söhne sich in ihrer fliegenden Stadt verschanzen, gibt es an sie kein Herankommen. Telamonts Luftfestung ist praktisch uneinnehmbar. Eine Belagerung kommt nicht in Frage – nicht allein wegen ihrer Lage, sondern auch weil genug Vorfälle bekannt sind, bei denen Telamont die Stadt einfach an einen anderen Ort versetzte.“
„Man müsste ihm einen Schlag versetzten, den er nicht ignorieren kann…“, sagte Faust versonnen.
So wie der Tod seines Sohnes. Der Sandschlund, den der Herr von Umbra ihnen damals als Antwort geschickt hatte, war ein Zeugnis purer arkaner Wut gewesen. Wenn es ihnen noch einmal gelänge, ihn derart herauszufordern, wäre das womöglich ein Anfang…
„Wenn es jemanden gibt, der Telamont aus der Reserve locken kann, dann seid Ihr das“, nahm Zarif den Gedankenfaden auf. Er sprach ein paar kurze Sätze in seiner Muttersprache, worauf er auch dieses Mal das notorische Nicken seiner beiden Marionetten erntete, und wandte sich wieder an die Gefährten. „Es gibt womöglich etwas, das Ihr tun könnt, um sein Augenmerk auf Euch zu ziehen. Vor zwei Tagen misslang ein Anschlag meiner Männer auf einen hochrangigen Kriegsherrn und Diplomaten der Netherim. Wir hatten die Kampfstärke des Ziels unterschätzt. Einer meiner Männer, mein Bruder Sayid, wurde gefangengenommen und in eine Garnison nahe der Oase Siab verschleppt. Vermutlich wird man ihn dort foltern, um unser Versteck ausfindig zu machen. Eigentlich war beschlossen, dass wir Scarlet und den Halbelfen mit dieser Sache betrauen. Doch wenn Ihr – Telamonts alte Widersacher - meinen Bruder befreien und den Diplomaten ausschalten könntet, würde Telamonts Ansehen in Umbra in größerem Maße darunter leiden.“
Ehe einer der beiden Freunde darauf eingehen konnte, hörten sie von draußen Scarlets wütenden Protestruf:
„Was hast du dir gedacht?! Dachtest du, du kannst nach zwölf Jahren hier aufkreuzen und mir vorschreiben, wie ich mein Leben zu leben habe?“ Faust und Grimwardt wechselten einen nüchternen Blick: Das Mutter-Tochter-Gespräch verlief offenbar ganz wie erwartet.
Kurz darauf wurde die Zeltluke geöffnet und Winter stapfte mit hochrotem Kopf herein und warf Zarif einen kleinen Beutel vor die Füße, der prall mit Edelsteinen gefüllt war. Stirnrunzelnd sah er auf.
„50,000 Gold“, sagte Winter. Sie war so aufgebracht, dass sie alle Regeln der Ehrbarkeit fahrenließ. „Dafür, dass Ihr meine Tochter gehenlasst. Sagt Ihr, sie wird hier nicht länger gebraucht.“
Die Züge des Bedinen verhärteten sich und er erhob sich mit steifer Würde.
„Dass wir die Hilfe von Freunden annehmen, bedeutet nicht, dass wir käuflich sind.“ Er maß Winter mit abschätzigen Blicken. „Ich verfüge nicht über Eure Tochter.“
„Oh, aber über Eure eigenen Frauen verfügt Ihr schon, wie?“, konnte Faust sich nicht verkneifen zu murmeln und erntete dafür einen missbilligenden Blick von Grimwardt.
„Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun!“
„Ihr spracht gerade von Eurem Bruder“, beeilte sich der Priester das Gespräch wiedereinzurenken, ehe ein handfester Streit aus Winters Erpressungsversuch erwachsen konnte. „Was könnt Ihr uns zu dem Umbranten sagen, der das Ziel des Anschlags war?“
Nur widerwillig folgte der Sandfürst dem Themenwechsel und sein Tonfall machte deutlich, dass es mit seiner Hochachtung für die Helden nicht mehr weit her war. „Sein Name ist Fürst Xantes Faredad, ein Streiter der Schattengöttin. Als meine Männer ihn überfielen, war er gerade auf dem Rückweg von einer diplomatischen Mission in den Talländern.“
Grimwardt erhob sich.
„Wir werden Euren Bruder aus den Händen dieses Mannes befreien und sicherstellen, dass Euer Versteck unentdeckt bleibt“, versprach er.
Grimwardt Kurz darauf. „Lass das Hüpfen sein, Kleiner“, kommentierte Faust Lagunas hoffnungslos überambitionierte Imitation eines Faust’chen Schwertmanövers. Der junge Halbelf ließ sich von der Kritik nicht aus dem Konzept bringen. Konzentriert preschte er vor, den Säbel stoßbereit über die Schulter erhoben. Und er war gut! Nicht nur führte er seinen Stoß blitzschnell und kraftvoll aus, es gelang ihm sogar, aus Fausts Reichweite zu tänzeln, ehe der erprobte Kämpfer zurückschlagen konnte.
„Nicht schlecht“, lobte Faust. „Austeilen kannst du – jetzt wollen wir mal sehen, wie viel du einstecken kannst.“
Laguna strahlte vor Stolz – doch das Strahlen verging ihm, als Faust mit seiner gepolsterten Keule auf ihn zu schnellte und ihn mit einer schonungslosen Prügelserie überzog, die ihm vor Übelkeit einen blassen Ring um die Nase zeichnete, ehe er besinnungslos in den Sand sank.
„Wollt Ihr sein Können testen oder ihn vor dem ganzen Lager demütigen?“, rief Scarlet erbost, die beim Übungskampf mit ihrem Onkel weitaus glimpflicher davongekommen war. Besorgt beugte sie sich über ihren ohnmächtigen Freund und begutachtete – fürsorglicher als sie es sich gestattet hätte, wäre er bei Bewusstsein gewesen – Lagunas malträtierte Gliedmaßen.
„Sprich nicht so mit einem Vorgesetzten“, wies Grimwardt seine Nichte zurecht. Doch insgeheim gab er ihr Recht.
Komm bloß nie auf die Idee, diesen Irren auf deine Rekruten loszulassen, mahnte er sich selbst. Mit einem nüchternen Räuspern klopfte er Faust auf die Schulter.
„Ich schätze, du wirst den Jungen tragen müssen, wenn wir die Sache heute noch erledigen wollen. Den weckt so schnell nichts wieder auf.“
Der Sandfürst hatte vorgeschlagen, dass die beiden jungen Leute sie auf ihrer Mission begleiten sollten, da sie sich besser in der Umgebung auskannten. Sogar Winter hatte dem zugestimmt – offenbar beruhigte es sie, Scarlet in ihrer Nähe zu wissen. Bis zur Oase Siab, wo Zarifs Bruder gefangen gehalten wurde, war es etwa ein Tagesmarsch. Sie brachen sofort auf, denn sie wollten noch in der kommenden Nacht angreifen. Grimwardt ergriff die Gelegenheit, die der lange Marsch ihnen bot, um seine Nichte von den neusten Ereignissen in der Abtei zu unterrichten. Nur die Episode, da Tempus ihm erschienen war und ihn zu seinem irdischen Vollstrecker gemacht hatte, ließ er aus. Das ehrfürchtige Schweigen, das für gewöhnlich auf diese Offenbarung folgte, war nicht gerade gesprächsfördernd.
„Manchmal bereue ich es, dass ich fortgegangen bin, ohne meine Priesterweihe empfangen zu haben“, gestand ihm Scarlet ein wenig wehmütig. „Aber… ich hatte das Gefühl, dass es nicht Tempus‘ Wille ist, dass ich dortbleibe und zusehe, wie Silas und diese Hexe die Talländer ans Messer liefern. Er würde feige Kapitulation niemals dem offenen Kampf vorziehen.“
„Du hast richtig gehandelt“, sagte Grimwardt nicht ohne Stolz auf die priesterliche Klarsicht seiner Nichte. Dann räusperte er sich. „Scarlet…ähm… was hat deine Mutter dir erzählt?“
„Das Übliche“, sagte sie säuerlich. „Dass ich in Gefahr sei und sie mich am liebsten in Watte packen und in das Kloster dieser schweigenden Ordensschwester irgendwo ans Ende der Welt verfrachten würde... Nicht mit diesen Worten, aber darauf läuft es wohl hinaus.“
„Hat sie dir auch gesagt,
weshalb sie glaubt, dass du in Gefahr bist?“
„Seit wann braucht sie einen Grund, um hinter jedem Sandhügel einen Attentäter zu wittern?“
„Deine Mutter glaubt, ich werde dich töten.“
Jäh blieb Scarlet stehen und wich unwillkürlich einen Schritt zurück.
„J-jetzt gleich…?“, stotterte sie vor lauter Verwirrung.
„Orkdreck“, brummte ihr Onkel, legte ihr den Arm um die Schulter und zog sie mit Nachdruck weiter. „Es ist diese vermaledeite Prophezeiung.“ Und er erzählte ihr von den Spiegeln des Desayeus und Winters Furcht vor dem, was sie ihr offenbart hatten.
Scarlet zog grübelnd die Stirn in Falten, ehe sie entschieden den Kopf schüttelte. „Das ist absurd. Wir führen einen Krieg gegen das mächtigste Imperium Faerûns. Ich bin hier
jeden Tag in Lebensgefahr, aber dass ausgerechnet du mein Schicksal besiegeln solltest, ist einfach… lächerlich.“
„Das habe ich ihr auch gesagt.“
„Na dann verstehen wir uns ja“, brummte Scarlet und der störrisch-verschlossene Ausdruck, mit dem sie die Nase krauszog, erinnerte ihn so sehr an sich selbst, dass Grimwardt schmunzeln musste.
„Sag mal“, wechselte er ungelenk das Thema. „Wie … ähm… sieht es eigentlich aus mit dir und den Männern?“
Sie verzog verdrießlich das Gesicht.
„Oh, bitte, nicht du auch noch… Weißt du, wie viel Mühe es mich gekostet hat, von den D‘Tairig nicht als Frau, sondern als Sandkämpfer wahrgenommen zu werden. Eine Liebesaffäre ist wirklich das letzte, was ich gebrauchen kann, wenn ich nicht entweder unter dem Schleier oder unter der Peitsche enden will… Ich hatte eigentlich vor, ein Keuschheitsgelübde abzulegen, so wie du, aber ich habe mich dagegen entschieden. Ich meine, vielleicht ist es mal von Vorteil zu heiraten… politisch, meine ich.“
Grimwardt sah sie überrascht an. „Sicher, dass du die Tochter deiner Eltern bist?“
Zwei Stunden nach Einbruch der Dunkelheit erreichten sie ihr Ziel.
Die Ebenheit der Steinwüste an diesem Ort machte es notwendig, dass sie Deckung hinter einem Hügel suchten, sodass sie die Oase in der Ferne nur erahnen konnten. Die Garnison am Ufer des Wasserlochs, die wohl als Zollstation für vorbeiziehende Karawanen genutzt wurde, war kaum mehr als ein fensterloser Steinklotz. Die Zinnen erhoben sich keine drei Mannslängen über dem Boden. Mehr war nicht nötig, um das kahle Umland zu überblicken, auf dem allenthalben ein paar niedrige Wüstensträucher Sichtschutz boten.
„Wie gut ist der Stützpunkt bewacht?“, fragte Grimwardt.
„Zwei bis vier Schützen auf dem Dach und vielleicht ein oder zwei Shar-Priester“, erwiderte Scarlet. „Für mehr bietet die Garnison keinen Platz. Ich war ein paar Mal bei der Eroberung eines Oasen-Stützpunktes dabei. Die Einnahme ist der einfachste Teil. Schwierig wird es erst, wenn die Umbranten mit ihren Veserab-Luftpatrouillen anrücken, um den Stützpunkt zurückzufordern.“
„Und das Ziel?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich sehe keine Zelte, darum wird Fürst Xantes wohl im Gebäude sein. Die Gefängniszellen sind im Keller.“
Faust blickte abschätzend zu den Zinnen hinüber, dann stieß er Laguna an.
„Hey, Kleiner. Wie schnell kannst du rennen?“
Der Halbelf blinzelte ihn unsicher an. Er war immer noch ein wenig grün um die Nase.
„Was hast du vor?“, brummte Grimwardt.
„Die Brustwehr ist so niedrig, dass ich springend dort hochkommen sollte. Ich schlage vor, ich lenke mit Laguna die Schützen ab, während du die Tür einrennst und dir diesen Botschafter vorknüpfst.“
So wurde es beschlossen.
Pfeile hagelten surrend durch die Nacht, kaum dass Faust und Laguna die Deckung verlassen hatten. Die anderen warteten, bis die beiden im Schatten der Garnison verschwunden waren, dann gab Grimwradt das Zeichen und sie rannten los. Mit einem Axthieb zerschmetterte der Kriegspriester das Eisenschloss des Eingangstors und fiel sprichwörtlich mit der Tür ins Haus. Ein Kerl in Mönchskutten, der ihm in den Weg trat, wurde gnadenlos niedergemäht. Irgendwer stieß einen Fluch aus und als Grimwardt seinen Kopf in Richtung der Stimme ruckte, erblickte er einen kahlköpfigen Umbranten, der über eine am Boden liegende Bettrolle hinweg nach seinem Schwert griff. Die Bewegung fegte die Kerze von dem niedrigen Tisch, an dem er gearbeitet hatte, und es wurde stockfinster. Plötzlich spürte Grimwardt einen surrenden Luftzug an seiner Kehle und dann… Ihm blieb nicht einmal Zeit für einen letzten Atemzug oder die Erkenntnis, dass etwas im Begriff war, seinen Kopf vom Rumpf zu trennen.
Faust Nachlässig zog Faust einen Pfeil aus seiner Schulter. Das Geschoss war nicht einmal bis zum Muskel vorgedrungen. Dann verschränkte er die Arme zu einer Räuberleiter und half Laguna mit einem Ruck über die Brustwehr. Faust nahm Anlauf, sprang ihm nach und hievte sich mit einem kraftvollen Klimmzug über das Gemäuer. Als er sich auf die andere Seite gleiten ließ, hatte Laguna bereits seinen ersten Gegner überwältigen können. Zwei weitere versuchten den jungen Schwertkämpfer in die Zange zu nehmen, doch es gelang ihm immer wieder, die geöffnete Luke im Boden zwischen sich und seine Gegner zu bringen. Faust beschränkte sich aufs Zuschauen und darauf einen der Soldaten im Nacken zu packen und gegen das Mauerwerk zu stoßen, als er zufällig in seine Reichweite stolperte. Nach wenigen Augenblicken war der Kampf vorüber.
„Du hast echt was drauf, Junge“, bescheinigte Faust dem jungen Kämpfer. „Aber du musst unbedingt dieses Rumhüpfen sein lassen.“
Scarlets entsetzter Schrei, der von unten zu ihnen herauf drang, ließ ihn jäh innehalten: „
Onkel Grim!“ Es folgte undeutliches Gemurmel und dann war es für einen Moment totenstill. Die Stille wurde vom Geräusch schwerer Schritte durchbrochen und wenige Augenblicke darauf tauchte der kahle Kopf eines Umbranten in der Bodenluke auf. Ohne erkennbare Hast trat Xantes Faredad aufs Dach und zog eine schwarze Schwertklinge aus der Scheide, die von einem magischen Knistern umspielt wurde. Eine handgroße Narbe, die sich quer über sein Nasenbein zog, und ein kostbarer Umhang, auf dem Shars schwarze Sonne prangte, zeichneten den Umbranten als gestanden Gotteskrieger aus.
„Wer seid Ihr und was wollt Ihr?“, fragte der Fürst mit tiefer, emotionsloser Stimme.
„Euch“, knurrte Faust und packte sein Schwert fester. Keine Zeit, sich auf ein Verhör einzulassen. Er musste herausfinden, was dort unten geschehen war. Wo waren die anderen?
„Mach, dass du verschwindest“, raunte er Laguna zu und griff an.
Schon nach dem ersten Schlagabtausch spürte er, dass er seinem Gegner unterlegen war. An jedem anderen Ort wäre es umgekehrt gewesen: Die Schwerthiebe des Umbranten waren kraftvoll und von finsterer, göttlicher Energie beseelt und seinem Schwert schien mächtige Schattenmagie innezuwohnen, doch in der Verteidigung verließ er sich völlig auf seine magisch verstärkte Ritterrüstung. Hätte er seine Zauber zur Hand gemacht, so wäre es Faust ein Leichtes gewesen, diesen Schwachpunkt seines Gegners gegen ihn zu verwenden. Doch unter den gegebenen Umständen konnte er nicht verhindern, dass die Angriffe des Umbranten ihn immer weiter zurückdrängten, bis er schließlich mit dem Rücken gegen die Brustwehr stieß. Ein gut gezielter Hieb in die Nierengegend besiegelte schließlich seine Niederlage. Als er mit der freien Hand nach der Wunde tastete, spürte er, wie ein warmer Blutschwall zwischen seinen Fingern hervorquoll. Faust bekam weiche Knie und musste sich am Gemäuer abstützen, um gegen den Schwindel anzukämpfen. Im selben Moment erspähte er aus den Augenwinkeln den jungen Halbelfen, der von der Seite heran schnellte, um den Umbrantenfürsten aus dem Hinterhalt zu attackieren.
„Laguna,
nicht!“, brüllte Faust. Vor Schreck vergaß er die Hand auf die Wunde zu pressen. Ein weiterer Blutschwall trat aus und das Schwindelgefühl obsiegte.
Verdammter kleiner Trottel, dachte er, während er der Dunkelheit entgegen schlitterte.
Winter Nordwestlicher Hochwald. „Miu, tu irgendwas!“, rief Winter in Panik.
Während ihr eilig gewirkter Teleportationszauber ausklang, zog Winter den Kopf ihres Bruders in ihren Schoß und versuchte verzweifelt die Blutung zu stillen, doch der Blutstrom, der sich aus seiner aufgeschlitzten Kehle ergoss, wollte einfach nicht abklingen. Miu blinzelte ein paar Mal orientierungslos, ehe sie die Situation erfasste und sich eilig zu Grimwardt ins Moos kniete. Stumm erbetete sie den mächtigsten Heilzauber, den sie kannte… und rettete ihm das Leben.
Grimwardt schwankte ein wenig, als er sich aufsetzte.
„Wo sind wir?“, fragte er matt. Sein Gesicht wirkte gespenstig weiß im Mondlicht.
„Die Frage ist wohl eher, ‚wie sind wir hierhergekommen?“ Scarlet vermied es, ihrer Mutter in die Augen zu sehen.
Der Kriegspriester runzelte misstrauisch die Stirn. „Was hat das zu bedeuten, Winter?“
„Wollt Ihr mich gleich vor Gericht zerren?“, murmelte sie. „Oder wollt Ihr wenigstens warten, bis Faust und Laguna in Sicherheit sind?“
Augenblicklich verschwand der überlegene Ausdruck aus Scarlets Zügen.
„Wir müssen zurück!“, flüsterte sie mit angstvoll geweiteten Augen.
„Du bleibst hier“, entschied Winter gebieterisch.
Ehe ihre Tochter Protest einlegen konnte, packte sie Grimwardt beim Arm und teleportierte mit ihm zurück in die Wüste. Sie tauchten im Nachtschatten der Garnison auf. Die Szene, die sich im Mondlicht zwischen den Zinnen abspielte, versetzte sie erneut in Schrecken: Faust lehnte leblos am Gemäuer, während Laguna mit leidenschaftlicher Wucht auf den Umbranten einschlug. Er schaffte es sogar, die Ritterrüstung des Gotteskriegers zu durchdringen, doch das entfachte nur dessen kalten Zorn. Erbarmungslos fuhr das Schwert des Umbranten auf den Jungen nieder.
Ein schwarzes Schwert… Etwas regte sich in ihr, als die Vision die Wirklichkeit überlagerte. Ihre Panik war verschwunden und an ihre Stelle trat jenes Hochgefühl, das sie in der Nacht des Seelenraubs verspürt hatte. Sie wandelte wieder auf der anderen Seite – im Reich der Schatten – wo keine diesseitigen Regungen ihr etwas anhaben konnten. Ihre Umgebung wirkte verschwommen, doch ihre Gedanken waren niemals klarer gewesen. Entschlossen sprach sie die Worte eines Schutzzaubers, gefolgt von einer Illusion, die sie Platz und Aussehen mit Laguna tauschen ließ. Die schwarze Klinge prallte wirkungslos an ihrem Schutzzauber ab. Flüchtig streifte ein erstauntes Blinzeln die Augen des Streiters, der nicht damit gerechnet hatte, dass der schmächtige Junge seinem Angriff standhalten würde. Doch er reagierte schnell, indem er dem bewusstlosen Faust das Schwert an die Kehle presste, um ihn zu seiner Geisel zu machen. Faust sah hundeelend aus: Seine Lippen waren grau und seine Lider flackerten im Fieber. Er hatte so viel Blut verloren, dass es ein Wunder war, dass er überhaupt noch lebte.
„Waffe fallen lassen und zurücktreten“, befahl der Umbrant mit Nachdruck. Winter ließ ihren Zauberstab, der in den Augen des getäuschten Gegners die Gestalt von Lagunas Krummsäbel angenommen hatte, zu Boden gleiten und machte einen Schritt zur Seite. Schritte polterten auf der Treppe und einen Augenblick später erschien Grimwardt mit erhobener Axt auf dem Dach. Fürst Xantes verstärkte den Druck auf Fausts Kehle. „Du auch! Waffe runter! Wo sind die drei Frauen? Was wollt ihr und für wen arbeitet ihr?“
Keine Antwort.
Der Umbrant nickte grimmig. „Ich werde euch schon zum Reden bringen. Los, die Treppe runter. Schön langsam.“
Halb schleppte, halb zerrte er seine Geisel vor sich her, während er Winter und Grimwardt in den Keller des Gebäudes dirigierte. Dabei wich seine Klinge nicht von Fausts Kehle. Vor einer verriegelten, eisenbeschlagenen Tür hielt er inne. Umständlich durchtastete er seine Kleidung, fand den Schlüsselbund und warf ihn Grimwardt zu, der am vordersten stand.
„Aufschließen.“
In einer Ecke der Gefängniszelle harrte ein Gefangener, ein junger D‘Tairig mit schwarzem Bart und hohlwangigem Gesicht. Seine Augen waren geschwollen und sein rechtes Ohr war nur noch ein blutiger Beweis für Xantes‘ Folterkünste. Erst nachdem er Grimwardt und Winter in die Zelle manövriert hatte, stieß Fürst Xantes auch Faust zu ihnen in den Raum. Dann verriegelte er die Tür.
Ein düsteres Lächeln stahl sich auf Winters Lippen, als sie wieder ihre eigene Gestalt annahm. Mit einem Dimensionssprung setzte sie dem Umbranten nach, der jäh herumwirbelte. Doch er war nicht schnell genug. Winters Verdorren-Spruch traf ihn unvorbereitet. Mit nie gekannter Heftigkeit schleuderte der Zauber den stählernen Kriegsherrn gegen die Wand und verwandelte ihn innerhalb eines Lidschlags in einen blutleeren Leichnam.
„Was… bist du?“, krächzte er, während sich seine Hände unkontrolliert zuckend im Mauerwerk verkeilten.
Mit blutunterlaufenem Blick beugte sich Winter zu ihm herab, um seinen Schatten zu trinken… Als sie wieder zu sich kam, stand ein Ausdruck des puren Grauens in den aufgerissenen Augen der Leiche.
„Winter? Ist die Luft rein?“
Lagunas banges Wispern holte sie in die Wirklichkeit zurück. Plötzlich war der Rausch verflogen und was blieb, war ein flaues Gefühl im Magen. Winter blinzelte, um die Schatten aus ihren Augen zu vertreiben.
Wie konntest du so unvorsichtig sein, schalt sie sich selbst.
Wenn Grim dich dabei gesehen hätte!Ihr Gesichtsausdruck verriet nichts von ihren Gedanken, als sie sich zu Laguna umwandte, der mit einer Schriftrolle auf dem Treppenabsatz erschienen war: „Alles in Ordnung?“
„Ich… ja“, antwortete der Junge zerstreut. „Grimwardt wies mich an, mich zwischen den Schlafrollen zu verbergen. Dabei fand ich etwas - ein Schreiben… Es ist auf Alt-Illuskisch verfasst, ich verstehe nicht alles, aber es klingt wichtig.“
Winter und Laguna befreiten die anderen aus ihrer Zelle und teleportierten mit ihnen zurück in den Hochwald, wo sie Scarlet und Miu zurückgelassen hatten. Nachdem sich Miu Fausts Wunden angenommen hatte, ließen sie sich von Sayid den Inhalt des Briefes übersetzen. Darin informierte Xantes seinen Vorgesetzten über das misslungene Attentat und Sayids Gefangennahme, um seinen ungeplanten Aufenthalt in der Oase Siab zu erklären. Doch es war der Teil, der darauf folgte, der Winter aufhorchen ließ.
„
Die Audienz bei Fürst Myriam Buchenwald verlief wenig zufriedenstellend. Der störrische alte Mann verweigert sich nach wie vor einem Handelsbündnis mit dem Imperium. Euren Anweisungen folgend arrangierte ich darum ein Treffen mit dem Kapitän der Sturmhexe, um ihm einen Kaperbrief für einen Überfall auszustellen, der noch heute Nacht erfolgen soll. Das Narbental ist von den Pestjahren und der Zeit der Zhentarim-Besetzung gebeutelt und dem völligen Ruin nahe: Die Furcht vor den Freibeutern wird uns den Seehafen über kurz oder lang in die Hände spielen. Und wenn wir erst Narbental-Stadt gebeugt…“ An dieser Stelle brach das Schreiben ab.
„Der Kapitän der
Sturmhexe?“, fragte Grimwardt stirnrunzelnd.
„Joe“, bestätigte Winter. „Mein Ehemann.“
„Seit wann lässt er seine Überfälle durch Netheril legitimieren?“
Sie zuckte die Schultern. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass Joe noch am Leben war, doch seine Machenschaften erstaunten sie nicht sonderlich. Der Piratenkapitän kannte weder Anstand noch Ehre, wenn es ums Geschäft ging. Der Grund, weshalb die Heiratsschwindlerin ihn zum Mann genommen hatte, waren die Schatzkartentätowierungen, die seinen Oberkörper schmückten. Vielleicht bot sich ja nun die Gelegenheit, Joes Geheimnis auf die Schliche zu kommen…
„Auf jeden Fall sollten wir uns beeilen“, murmelte Faust, der noch immer ein wenig schwankte. Ohne Winters Magie wäre diese Begegnung für sie alle tödlich ausgegangen, doch Winter ahnte, dass weder Grimwardt noch Scarlet diese Erklärung gelten lassen würden. „In dem Brief ist von einem Überfall die Rede – heute Nacht im Narbental. Was immer da vor sich geht, es passiert
jetzt!“
„Wir kommen mit!“
Energisch packte Winter ihre Tochter beim Arm, um ihren Enthusiasmus zu zügeln.
„Oh nein!“, erklärte sie. „Siehst du die Lichter dort zwischen den Bäumen? Das ist Silbrigmond, dort wohnt deine Großmutter. Sie ist krank, alt und allein und sie hat ihre Enkelin seit zwölf Jahren nicht gesehen. Du wirst dir jetzt Laguna und den Bedinen schnappen und dann werdet ihr deine Großmutter besuchen!“
„Öhm…“, wagte Laguna zaghaft einzuwenden, doch Winters furioser Blick ließ ihn den Einwand hinunterschlucken.
„Nichts da, die drei kommen mit uns“, erhielten die jungen Leute unerwartete Unterstützung. Grimwardt trat an Scarlets Seite. „Unser Auftrag lautet, Zarifs Bruder zu befreien und ihn sicher ins Lager zurückzubringen. Ich werde den Jungen nicht aus den Augen lassen, ehe mein Wort dem Sandfürsten gegenüber eingelöst ist.“ Und mit einem grantigen Raunen, das nur für Winters Ohren bestimmt war, fügte er hinzu: „Und was deine neuen, magischen Fähigkeiten angeht: Darüber sprechen wir noch!“