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Stadt der gläsernen Gesänge

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Nightmoon:
Ohhh, sehr schön!

...herzlichen Glückwunsch, Winter!

Winter:
Was für ein Abschluss!
Wie immer toll geschrieben, ich freue mich auf mehr! Obwohl ja nicht mehr allzuviel bleibt - wird Zeit, dass wir diese Kampagne weiterführen.

Nightmoon:
Oh ja! Ich glaube die Zukunft hält da noch einiges für uns bereit...

Niobe:
ZWEITES BUCH
SCHATTEN ÜBER DEN SILBERMARKEN

Prolog

Drake
Silbrigmond, abends
Die Ladenglöckchen bimmelten, als Drake die Tür der Schimmernden Schriftrolle öffnete. Das Abendlicht, das nur durch einige Ritzen in den Fensterläden drang, hüllte den Laden in dämmriges Zwielicht. Der Assassine schritt durch einen länglichen Raum, der von Regalen gesäumt wurde, die mit Zauberkomponenten und allerlei Krempel gefüllt waren. Auch einige mindere magische Gegenstände waren darunter. Drake wusste jedoch, dass die Inhaberin exklusivere Waren nicht im Ladenraum ausstellte.
Xara Tantlor saß über eine neue Schriftrolle gebeugt am Ladentisch. Ihr goldbraunes Haar schimmerte rötlich im Licht der Kerzen und sie trug ein violettes Korsagenkleid, das gerade genug Haut verdeckte, um nicht ordinär zu wirken.
„Drake“, sagte sie ohne aufzublicken.
„Hast du die Informationen?“ Er war vor einem Regal stehen geblieben und ließ seine schmalen Finger gedankenverloren über den Schädel eines grinsenden Totenkopfs gleiten.
Sie schenkte ihm ein Lächeln aus halb gesenkten Lidern und verschwand in einem Nebenraum. Kurz darauf kehrte sie mit einigen Schriftrollen und einem dicken Folianten zurück, den sie nun auf den Ladentisch wuchtete und auf einer Seite aufschlug, die sie mit einem Lesezeichen markiert hatte.
„Fürst Emmet Oleander“, referierte sie, während sie die Seite überflog. „48 Jahre, verheiratet, keine Kinder. Ein Philanthrop, wie es scheint. Und verteufelt reich. Die Liste seiner Donationen an wohltätige Organisationen der Stadt ist endlos: Tempel, Waisenhäuser, Bibliotheken. Beziehungen zu den Harfnern sind wahrscheinlich, aber Aufzeichnungen darüber gibt es natürlich nicht.“
„Nennenswerte Freunde oder Bekannte?“
Xara durchsuchte ihre Aufzeichnungen. Drake hörte halbherzig zu, als sie begann einige Namenslisten durchzugehen. Ein Großteil der Namen war für ihn nicht von Bedeutung. Er wollte lediglich sicherstellen, dass das Ziel nicht von Freunden geschützt wurde, die mächtiger waren als er selbst. Den Fehler hatte er einmal begangen. Unbewusst fuhr er sich mit der Hand über die Narbe über seinem rechten Augenlid, die beim Einsetzen des magischen Glasauges zurückgeblieben war. Als er sich der Geste bewusst wurde, runzelte er selbstkritisch die Stirn.
Die Dinge standen nicht gut. Er hatte Unsummen für magische Nachforschungen ausgegeben. Bisher ohne Erfolg. Seine Peinigerin schien unauffindbar. Und selbst, wenn es ihm gelänge sie ausfindig zu machen, war nicht sichergestellt, dass er sie auch besiegen konnte.
Plötzlich ließ einer der Namen auf Xaras Liste ihn aufhorchen.
„Wiederhol’ das noch mal.“
„Dorien Dantés.“ Papiere raschelten, als die Magierin nach weiteren Informationen suchte. „Muss ein Schüler von Oleander gewesen sein. Das ist aber schon gut zwanzig Jahre her.“
Ein hauchdünnes Lächeln streifte flüchtig Drakes Gesicht, als ein Plan in seinem Geist Gestalt anzunehmen begann.
Xara berührte seinen Arm.
Für einen Augenblick hielten Drakes kühle blau-graue Augen ihren Blick gefangen. Dann entzog er sich der Berührung und wandte sich um. Auf dem Weg zum Ausgang des Ladens warf er ihr über die Schulter einen kleinen Münzbeutel zu.
„Für deine Bemühungen“, sagte er trocken.


Kapitel I: Ratten

Winter
Am nächsten Morgen im Hafenviertel von Hlondeth
Scarlet schnitt eine Grimasse, als ihre Eltern sich zum Abschied küssten. Winter konnte es ihrer Tochter kaum verdenken. Dorien schien sich vorgenommen zu haben, die Wir-sind-eine-glückliche-Familie-Nummer gnadenlos durchzuziehen. Kein Wunder, dass Scarlet ihnen das Familienglück nicht abnahm, wo sie ihren Vater gerade einmal seit drei Monaten kannte.
Winter küsste ihre Tochter auf die Wange.
„Ihr werdet sicher viel Spaß zusammen haben.“ Sogar Winter selbst kam ihr mütterlicher Enthusiasmus überzogen vor. „Du zeigst Dorien den Extaminos-Vogelgarten, während ich mich um meine Geschäfte kümmere, und danach besuchen wir alle zusammen deine Großeltern in Silbrigmond.“
Scarlet starrte ihre Mutter befremdet an, wehrte sich jedoch nicht, als Dorien sie bei der Hand nahm. Winter sah den beiden nach, als sie die Straße entlang schritten. Dann wandte sie sich um und lief hastig zurück zum Hafen. Schon von weitem hatte sie sehen können, dass etwas nicht stimmte: Ihr Hausboot, das zugleich Hauptquartier der Schwarzen Dahlie war, lag schräg im Wasser.
Bregan, der Experte für Gerüchte und Tratsch, und Brutus, der Mann fürs Grobe, kamen ihr entgegen geeilt.
„Was ist denn hier passiert?“, ereiferte sich die Bootsherrin. „Da lässt man euch für ein paar Wochen allein und ihr versenkt das verdammte Schiff?“
„Öhm“, machte Bregan. „Wir hatten da einen kleinen Disput mit dem Hafenmeister über ein…“
Doch Winter war bereits an Bord geeilt, um sich selbst ein Bild zu machen. Als sie, mehr schlitternd als laufend, den Salon betrat, traf sie beinahe der Schlag: In der Mitte des Raumes erhob sich, unbedarft vor sich hinplätschernd, ein dreistöckiger Steinbrunnen, der mit allerlei unsittlichen Schäfermotiven verziert war. Das Boot, das mit der Traglast des steinernen Monuments spritziger Geschmacklosigkeit ganz offensichtlich überfordert war, knarrte bedrohlich.
Steif wandte Winter sich um.
„Was ist das?“
„Ein Brunnen, Herrin“, erklärte Brutus hilfsbereit.
„Das sehe ich auch! Wie kommt er hierher?“
„Ein Geschenk Eures Verlobten, CaptainJoe Blackbirds von der Sturmhexe“, sagte Bregan. „Der Hafenmeister hat Stunk gemacht, weil das Ding den Steg fast zum Einbrechen gebracht hätte, darum haben wir es in den Salon verfrachtet.“
Noch immer halb versteinert machte Winter einen Schritt nach vorne.
„Sind das etwa meine Initialen dort auf dem Brunnenrand?“
„Eine Widmung, ganz recht.“ Bregan schnitt eine Grimasse, um sich ein Grinsen zu verkneifen.
Betäubt sank Winter auf ein Sitzkissen. Was sollte sie mit dem Ding bloß anstellen? Versenken war ihr erster Gedanke. Aber nein, das ging nicht. Verkaufen? Es schien immerhin magisch zu sein. Aber Joe würde es nicht gefallen, wenn sie seinen monströsen Liebesbeweis verhökerte. Eine Donation an Nimoroths Tempelschule? Nein, dummer Gedanke. Vielleicht sollte sie es Madame Moaba vom Haus der Tausend Freuden als Leihgabe anbieten? Doch das würde bedeuten, dass sie das Monstrum durch die halbe Stadt befördern musste. Nein, sie würde sich etwas anderes ausdenken müssen…
„Wann war Joe hier?“, fragte sie.
„Vor etwa zwei Wochen“, erklärte Bregan. „Der Captain hätte Euch gerne seine Aufwartung gemacht, Herrin, doch die Hafenpolizei war ihm auf den Fersen, darum musste er gleich wieder ablegen. In zwei Monaten will er zurückkommen, um Euch vor den Altar zu führen.“
„Tatsächlich. Hat er noch etwas dagelassen?“ Bei ihrem letzten Treffen hatte die gewiefte Heiratsschwindlerin beiläufig erwähnt, dass die Gildenkasse der Schwarzen Dahlie an chronischer Schwindsucht litt. Sie hatte gehofft den Pirat auf diese Weise in Spendierlaune zu versetzen. An einen überdimensionalen Lustbrunnen hatte sie dabei nicht gedacht.
„Er… hat auch noch etwas Gold für die Gildenkasse dagelassen.“ Bregans Zögern war der Gildenanführerin nicht entgangen. Argwöhnisch kniff sie die Augen zusammen.
„Wie viel?“
„Etwa zweitausend, Herrin.“
Unangenehme Stille.
„Bregan, mitkommen.“
Winter beorderte den ehemaligen Landstreicher in die Kapitänskajüte, wo Captain Folocer sie mit hochrotem Kopf und schweißnasser Stirn empfing. Der alte Seebär, der dieser Tage öfter dem Wein als den Wellen zu trotzen hatte, war für Winter nicht aufgrund seiner seemännischen Erfahrung unentbehrlich. Ein Blick auf den Kapitän, der nervös seine Mütze in die Mangel nahm, sagte ihr, dass ihr Verdacht gegen Bregan nicht unbegründet war.
„Wie viel Gold hat Käpt’n Blackbird wirklich dagelassen?“, fragte sie mit vor der Brust verschränkten Armen.  
„Zweitausend“, erwiderte Bregan aalglatt.
„Viertausend“, platzte es dagegen aus dem Kapitän heraus.
„Viert…!“ Winter blieb die Spucke weg. „Und wie viel davon ist noch übrig?“
„Zweitausend“, gestand Captain Folocer kleinlaut.
Winters Blick hätte dem eines Basilisken Konkurrenz machen können.
„Es waren Tigil und Brutus.“ Bregan schien einzusehen, dass Leugnen zwecklos war. „Die haben das Geld genommen.“
Der Halbling und sein halb-orkischer Freund. Wer sonst.
„Und du hattest natürlich nichts damit zu tun?“
„Nein, Herrin.“
„Wem hatte ich die Aufsicht über die Gildenkasse anvertraut?“
“Mir, Herrin.“
„Aha!“
„Tigil hat den Schlüssel geklaut.“
„Welchen Schlüssel?“
„Zum Lagerraum, Herrin. Und Brutus hat die Truhe aufgebrochen. Ich glaube allerdings nicht, dass er wusste, was der Halbling vorhatte. Er hat nur getan, was Tigil ihm befahl.“
„Brutus tut immer nur, was Tigil ihm befiehlt!“, schnaubte Winter. „Wo ist Tigil jetzt?“
„Keine Ahnung“, sagte Bregan. „Eben war er noch hier. Muss Lunte gerochen haben, als er Euch kommen hörte.“
„Bregan.“ Winter holte tief Luft: „Muss ich dich daran erinnern, dass ich es bin, der du deine jetzige Arbeit verdankst?“
„Verzeiht, Herrin.“ Der ehemalige Bettler senkte den Blick, was es Winter unmöglich machte zu erkennen, ob seine Zerknirschung nur gespielt war. „Bei meinem Leben, ich habe Euch nie hintergangen. Ich hätte auch gar keinen Grund dazu. Schließlich habe ich das Geld, das ihr mir zahlt, immer gut angelegt.“
Winter biss sich grübelnd auf die Lippe.
„Dieses eine Mal will ich dir das durchgehen lassen“, entschied sie schließlich.
„Und Captain!“ Folocer fuhr zusammen, als sich Winters Aufmerksamkeit auf ihn richtete. „Das nächste Mal will ich sofort über alles unterrichtet werden!“
Winter warf einen letzten, drohenden Blick in die Runde, bevor sie die Kajüte verließ.  
Und jetzt zu dir, Tigil.
Ein Erkenntniszauber enthüllte den Aufenthaltsort des Halblings: Auf seiner übereilten Flucht musste er vom Boot gesprungen sein, um den Hafen schwimmend zu umrunden. Gerade befand er sich auf einer der Yachten, die der Yuan-Ti-Adel im östlichen Teil des Hafens unterhielt. Ein Teleportationszauber beförderte Winter auf das fremde Schiff.
„Tigil!“
Hastige Schritte im Bug des Schiffes. Dann ein Platschen. Winter rannte an die Reling.
„Komm da raus, Tigil“, befahl sie, nachdem der Halbling prustend ein Stück von der Yacht entfernt aus dem Wasser aufgetaucht war.
„Werdet Ihr mich töten?“, rief er zurück.
„Wenn du da nicht sofort herauskommst, werde ich dich als Galionsfigur an den Bug der Serenity fesseln und verrotten lassen, bis du dir wünschst, du wärst tot.“
Kurz darauf sah ein patschnasser Halbling mit reumütiger Miene zu ihr auf.
„Tut mir leid“, murmelte er.
„’Tut mir leid’?“, schnaubte Winter. „Ist das alles, was dir dazu einfällt? Du hast mich bestohlen, Tigil!  Du hast die Gilde bestohlen! Weißt du, welche Strafe dir droht?“
„Der… Tod?“, riet Tigil.
„Aber so was von!“
„Tja, das ist schade“, jammerte der Halbling mit einem zerknirschten Augenaufschlag. „Auf diese Weise ist das Geld nämlich futsch und ich werde keine Chance erhalten, die Sache wieder ins Reine zu bringen.“
Winter kniff die Augen zusammen.
„Und wie würdest du das anstellen, rein hypothetisch?“
„Naja, ich weiß, rein hypothetisch, dass in zwei Monaten ein Handelsschiff aus Aglarond mit magischen Waren am Vilhongriff vorbeisegeln soll und dass zur gleichen Zeit Euer Piratenfreund mit seiner Crew in der Gegend sein wird. Einen Tipp würde er sich bei einer solch lukrativen Gelegenheit sicher einiges kosten lassen. Vielleicht Halbe-Halbe… als Hochzeitsgeschenk?“
Winter starrte den Halbling mit einer Mischung aus loderndem Zorn und aufkeimender Geschäftstüchtigkeit an.
„Höh!“, machte sie. „Du kleiner, gerissener Dreckskerl!“
Tigil grinste entwaffnend.

Grimwardt
Etwa zur gleichen Zeit in der Abtei des Schwertes
Da Grimwardt den Obersten Schwertführer Jareth Burlisk nicht finden konnte, machte er sich auf die Suche nach Waffenmeister Borgo. Er fand den Schildzwerg auf einem der Übungsplätze, wo er im strömenden Regen die Schwertübungen einer Gruppe von Rekruten überwachte.
„Wieder da?“, raunzte Borgo ohne aufzusehen. Aus Respekt für die zwergische Mentalität ließ Grimwardt ihm die saloppe Begrüßung durchgehen.
„…und nicht mit leeren Händen.“ Der Abteileiter schnürte seinen Proviantsack auf und beförderte einen funkelnden blauen Edelstein zu Tage. Jeder der Gefährten war für die Rettung Immerschwinges von der neuen Königin mit einem solchen Stein geehrt worden. „Was haltet Ihr davon?“
Mit gewichtiger Miene examinierte der Zwerg den achteckigen Stein.
„Elfische Schleifarbeit“, erkannte er schon nach wenigen Augenblicken. „Blauer Sternsaphir, wenn ich mich nicht täusche.“
„Was meint Ihr, wie viel ist der wert?“
„Fünfundzwanzigtausend? Vielleicht dreißig.“
Grimwardt pfiff durch die Zähne. Noch nicht genug, um die ganze Abtei mit einem Dimensionsschloss zu überziehen, um feindliche Teleportationen zu verhindern, aber immerhin ein Anfang. Mit dem Rücken gegen die Umzäumung des Übungsplatzes gelehnt, ließ er sich von Borgo über die neusten Entwicklungen in der Abtei aufklären und erfuhr, dass Jareth mit den Rekruten des Dritten Jahrgangs ins Grenzgebiet zum Misteltal aufgebrochen war, da sich Berichte über marodierende Orkbanden in dieser Region gehäuft hatten.  
„Und dann ist da noch die Sache mit dem Spitzel.“
„Ein Spitzel?“ Grimwardt horchte auf.
„Einer der Rekruten hat Kopien von Wachtplänen und Inventarlisten der Waffenkammern angefertigt und weiterverkauft.“ Der Zwerg schnalzte mit der Zunge. „Seine Zimmergenossen fanden vor zwei Tagen Dokumente, die er in sein Kissen eingenäht hatte, und verpfiffen den Wicht. Hab’ ihn bereits befragt, aber vielleicht bekommt Ihr mit Euren Zaubern ja mehr aus ihm heraus. Der Kerl heißt Engart und sitzt im Kerker ein.“
Grimwardt runzelte die Stirn und warf dem Zwerg einen vorwurfsvollen Blick zu: Warum erfahre ich erst jetzt davon? Doch um keine Zeit zu verlieren, beließ er es bei der stummen Rüge und machte sich gleich auf den Weg zum Gefängnistrakt in den Katakomben der Abtei. Borgo entließ seine Rekruten, um ihn zu begleiten.
„Rekrut!“
Der Junge – er mochte gerade einmal sechzehn sein – sprang auf und nahm Haltung an, als die barsche Stimme des Abteileiters durch den Zellentrakt dröhnte. Unter Grimwardts herrischem Blick fing Engart, der mehr Pickel als Mumm zu haben schien, an zu schwitzen wie ein Schwein auf der Schlachtbank. Ehe er sich vor Angst in die Hose pinkeln konnte, wirkte der Tempuspriester eine Zone der Wahrheit.
„Wie lange schon?“, fragte er ruhig.
„S…seit Beginn des Lehrjahres, Herr.“
„Haltung!“
Der Junge fuhr zusammen und versteifte sich.
„Was für Dokumente waren das, die du aus der Abtei geschmuggelt hast?“
„Karten, Herr“, bellte Engart als reagiere er auf einen Befehl. „Skizzen der Abtei. Informationen zu magischen Abwehrsystemen und Wachtpläne.“
„Und an wen hast du sie verkauft?“
„Weiß nicht genau.“ Engart wechselte unruhig die Position. „Während der Winterferien wurde ich von jemandem in meinem Heimatort im Schattental angesprochen. Er war mittelgroß. Mehr konnte ich nicht erkennen, er trug einen Kapuzenmantel. Er bot mir hundert Gold pro Information.“
„Wofür brauchtest du so viel Geld?“
Der Junge sah beschämt auf seine Füße. „Ich… ich will heiraten, Herr. Aber die Eltern des Mädchens wollten sie nur einem Mann zur Frau geben, der sie auch ernähren kann…“
Grimwardt schnaubte verächtlich und grummelte etwas Unverständliches. Ein weiterer Fall, der seine These stützte: Frauen machten nur Ärger. Er selbst hatte sich schon vor Jahrzehnten fürs Zölibat entschieden.
„Wie trittst du mit diesem Auftraggeber in Verbindung?“
„Er hat einen Raben, Herr“, erklärte Engart. „Einmal im Monat gebe ich während meiner Nachtwache die Informationen an den Vogel weiter.“
„Und wann wäre deine nächste Nachtwache?“
„Heute Nacht, Herr.“
Grimwardt wandte sich ab und nahm den Zwergen Borgo beiseite. Sie kamen schnell überein, dass sie den ominösen Vogel – die einzige Verbindung zum Auftraggeber des Jungen – noch in dieser Nacht verfolgen mussten. Dazu wollten sie Engart als Lockvogel benutzen. Grimwardt versprach sich von der ganzen Aktion jedoch nur wenig: Er war Kriegspriester, kein Magier. Ohne Flug- und Unsichtbarkeitszauber würde sich die Verfolgung des Vogels als schwierig gestalten. Doch den Versuch war es immerhin wert. Dringlicher jedoch war die Vorbereitung auf einen möglichen Angriff. Grimwardt wusste nicht, um wen es sich bei den Angreifern handeln mochte, doch eine Racheaktion der Drow, die die Abtei vor fünf Jahren in die Flucht geschlagen hatten, war nicht auszuschließen. Zudem fungierte die Abtei als Bollwerk gegen die Horden des Nordens. Wer immer die Talländer angreifen wollte, musste zuerst an Grimwardt Fedaykin und seinen Mannen vorbei.
„Ruf Jareth und seine Rekruten zurück, verdoppele die Wachen, lass Pech aufkochen und stell’ die Versorgung auf Kriegszeit um“, befahl Grimwardt dem Waffenmeister. Er selbst würde Boten nach Myth Drannor und Essembra entsenden und einige Erkenntniszauber wirken, um nähere Informationen über den zu befürchtenden Angriff zu erhalten.
„Herr, werdet Ihr mich hinrichten lassen?“
Grimwardt und Borgo hatten schon die Treppe erreicht, als Engarts klägliche Frage den Tempelvorsteher daran erinnerte, dass er noch kein Urteil über den Verräter gefällt hatte. Er warf einen düsteren Blick zurück ins Halbdunkel der Zellen.
„Wir werden sehen“, knurrte er, wohl wissend, dass die Ungewissheit den Jungen in seiner Einsamkeit martern würde. Er hatte es verdient.

Nightmoon:
immer wieder eine Freude zu lesen... :)

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