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Autor Thema: Stadt der gläsernen Gesänge  (Gelesen 73215 mal)

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Nightmoon

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Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #255 am: 26. Januar 2012, 11:12:50 »
Yeaaaaah! Sehr schön geworden! Vor allem die epischen Helden und ihre Leiden. So mächtig und trotzdem hat jeder sein Päckchen zu tragen. Werds direkt mal auf die Seite stellen!
 :thumbup:

Winter

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Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #256 am: 26. Januar 2012, 18:58:03 »
Das Warten hat sich gelohnt! Wie immer, erstklassig :-)
Schön, dass du Blümchen übernommen hast!!!  :cheesy:

Nightmoon

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    • Schicksalsstreiter
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #257 am: 26. Januar 2012, 20:38:33 »
Hab grade Folge 5 von Spartacus gesehen... jetzt freu ich mich auf Grimwardts bevorstehenden Kampf in der Geschichte und meinen bei der nächsten Sitzung :)

Nightmoon

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    • Schicksalsstreiter
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #258 am: 21. Februar 2012, 02:37:31 »
 :thumbup:So, war wieder ne coole Sitzung! Hab mal die ganz alten Sachen aus der Zeit als Thalas noch der SL mit auf die Seite gepackt...

Niobe

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Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #259 am: 01. März 2012, 15:15:56 »
Kapitel IV: Herr der Neun Höllen

Grimwardt
Mephistar, Hauptstadt des Achten Höllenkreises, sieben Tage später.
Grimwardt konnte verstehen, warum es Baalzebul nach Cania zog. Ihre Reise über den Styx hatte sie durch stählerne Kettenstädte, giftige Sümpfe und feuerspeiende Vulkangebirge geführt. Manche dieser Orte waren abstoßend gewesen, andere ehrfurchtgebietend, aber keine von so tödlicher Schönheit wie die Hofgärten von Schloss Mephistar. Es war so kalt, dass die Tränen, die der eisige Wind ihnen in die Augen trieb, sofort an den Wimpern gefroren. Ohne Schutzzauber konnte kein Sterblicher in dieser Eiswüste überleben. Kunstvolle Eisgebilde in Form von Blumenbeeten, Skulpturengruppen und Heckenlabyrinthen umgaben das Schloss, das ebenfalls gänzlich aus Eis und Schnee gefertigt war. Die gläserne Pracht wurde nur hin und wieder von einem schwach-roten Glühen durchbrochen, das unter der kalten Oberfläche zu lauern schien und die Eisgebilde zum Weinen brachte. Dieses Glühen, das Mephistar langsam zum Schmelzen brachte, wusste Grimwardt, rührte von Mephistopheles‘ Experimenten mit Höllenfeuermagie unter dem Gletscher Nargus, auf dem die Stadt erbaut war. Er war lange genug in der Hölle, um zu wissen, dass die Wetterbedingungen hier jeder natürlichen Erklärung trotzten. In Baator hatte alles seine Ordnung, nichts war zufällig. Wenn Cania wie die anderen Höllenkreise die Seele ihres Herrschers spiegelte, dann fragte er sich, wovor man sich wohl mehr in Acht nehmen sollte: vor der eisigen Berechnung oder dem darunter lodernden Zorn, für die der Herr des Achten Höllenkreises berüchtigt war…
Die Eisteufel-Wächter, die vor dem Eingang Spalier standen, um die sterblichen Bewunderer ihres Herrn zu empfangen, warfen nur einen flüchtigen Blick auf die Einladungen. Die Verachtung der geringeren Teufel für Mephistos sterbliche Gäste und ihr Verdruss über die narzisstischen Kult-Inszenierungen ihres Herrn kamen den Gefährten zugute. Ehe sie sich versahen, wurden sie von einem Pulk lärmender Kultisten in den Palast geschleust. Sie ließen sich vom Hauptstrom treiben und landeten in einem riesigen Eissaal, in dem es von schwarzen Kuttenträgern nur so wimmelte. In der Mitte des Saals hing – in lästerlichem Kontrast zu der märchenhaften Umgebung – ein rostiger Käfig von der Decke. Das Blut des erstochenen Gefangenen tröpfelte auf einen erhöhten Altar, auf dem… Grimwardt wandte sich eilig ab, doch das abscheuliche Treiben der Teufelsbuhle und ihres Baatezu-Freiers hatte sich bereits mit boshafter Hartnäckigkeit in seinem Bewusstsein festgebissen. Als er der nächstbesten Tür zustrebte, stieß er mit einem der Kuttenträger zusammen.
„Ah, gut, ein neues Opfer!“, lallte der Zugedröhnte und starrte Miu aus tellergroßen Pupillen an. Da Verkleidungen Mius Ordensphilosophie zufolge nicht besser als Lügen waren, war es ihr verboten, ihre Gestalt zu verhüllen. Ihre Freunde hatten ihr darum kurzerhand eine Fußfessel verpasst und sie am Stadttor als „Mitbringsel“ ausgegeben. So apathisch wie sie war, musste sie das resignierende Opfer nicht einmal spielen…
„Finger weg, die ist für den Herrn“, knurrte Grimwardt.
Der Kultist grinste ihn dümmlich an, ehe seine Worte den Weg in sein drogenzerfressenes Hirn fanden.
„Für den Herrn?“ Er gluckste. „Siehst mir nicht so aus, als ob du zum inneren Zirkel gehörst…“
Fassungslos starrte Grimwardt ihm nach, als er wieder in der Menge verschwand. Welcher Wahn konnte einen Menschen befallen, sich derart zu benebeln, dass es ihm gleichgültig war, ob er Roulette mit seiner Seele spielte? Gewiss, die Hölle hatte kein Monopol auf das Böse; Götter wie Cyric oder Tyrannos waren für mindestens so viele Gräueltaten verantwortlich wie Mephistopheles. Aber zumindest verhöhnte kein Gott seine Anhänger oder folterte und verspeiste ihre Seelen. So wie der Landesherr dem Bauern Schutz für seine Lehndienste zollte, so schuldeten die Götter den Seelen ihrer Anhänger einen sicheren Übergang aus der Stadt der Seelen. Asmodeus und seine Brut jedoch nährten sich vom Unwissen, vom Schmerz und von den Hoffnungen ihrer Opfer, bloß um den Göttern ins Gesicht spucken zu können: „Seht her, und sie wählen und trotz alledem!“
Im nächsten Raum war es so glühend heiß, dass nur Magie die Eiswände vom Schmelzen abhalten konnte. Vor einem brodelnden Becken mit rot-schwarzer Vulkanflüssigkeit hatte sich eine Warteschlange gebildet. Sobald sich auf der Oberfläche des Kratersees eine Luftblase zu bilden begann, eilte ein Trupp fliegender Imps mit einer Planke herbei, die der Vorderste der Wartenden beschritt, um sich in der Feuerblase einschließen zu lassen. Für wenige Augenblicke schwebte der Unglückliche mit hochrotem Kopf und schmerzverzerrter Grimasse über den Köpfen der Schaulustigen, bevor er einen markerschütternden Schrei ausstieß und flehend mit den Fäusten gegen die Kugel trommelte, woraufhin diese zerplatze und dem brodelnden Feuersee die Entsorgung überließ. Der nächste Kandidat hatte offenbar aus den Fehlern seines Vorgängers gelernt, denn er verzichtete auf das Trommeln, was die Zuschauer in den zweifelhaften Genuss des Schauspiels brachte, wie sein Körper in der Kugel zu einem Klumpen schwarzer Asche zusammenschrumpelte.
Bei Hammer und Helm…
Grimwardt dankte den Göttern für das gesunde Maß an mangelnder Neugier, das ihm mitgegeben war und wollte sich abwenden. Leider war diese Gabe bei seinem Freund leidlich kurz gekommen…
„Gehört das zum Programm oder gibt’s ‘ne Belohnung für den Spaß?“, wandte sich Faust an einen der Zuschauer. Dieser musterte ihn von oben herab, bevor er sich wieder dem Feuersee zuwandte.
„Ist wohl dein erstes Mal hier, Lichtgeburt! Wer es ohne Gezeter in einer Höllenfeuerblase aushält, bis sie platzt, der darf gegen Emrateph kämpfen, das weiß doch jeder! Und wer die Feuerprobe und den Kampf besteht, der wird zum Herrn vorgelassen und in den inneren Zirkel aufgenommen.“
„Hm“, machte Faust. „Harte Nuss, dieser Emrateph?“
„Hart?“ Der Kultist lachte irre. „Vor zwei Jahren wurde sein Vorgänger besiegt und seither ist es niemandem mehr gelungen, zum Herrn vorgelassen zu werden! Ein Dämon, das ist er, eine abscheuliche Missgeburt! Ein Dämon mit einem Wolfs- und einem Schlangenkopf!“
… und er besitzt etwas, das Tempus gehört!
Mit einem Mal war Grimwardt dankbar dafür, dass Faust seine Klappe nicht halten konnte.
Keine zehn Minuten später harrte er am Ende der Warteschlange selbstmörderischer Irrer, die es gar nicht erwarten konnten, sich in einer Blase sengenden Höllenfeuers braten zu lassen. Alle anderen Anwärter trugen Pergamente bei sich, die sie vor Antritt ihres Martyriums dem Hornteufel überreichten, der das Spektakel überwachte. Vermutlich eine Art Genehmigung, die man Jahre im Vorhinein bei irgendeinem Amnizu-Bürokraten beantragen musste. Doch das Problem war schnell gelöst. Während Faust einen der Kandidaten mit Lästereien ablenkte, stahl ihm Winter das kostbare Dokument aus der Kutte. Als der Unglückliche ohne Fahrschein vor dem Wärter erschien, wurde er kurzerhand in das brodelnde Becken gestoßen. Unter den Umständen kein besonders schwerwiegender Verlust, fand Grimwardt.
Er nutzte die Wartezeit, um sich mit ein paar heimlichen Gebeten auf seinen Auftritt vorzubereiten. Als „Ikrem der Hitzige“ wurde er schließlich angekündigt. Nicht wenige seiner Vorgänger waren schon in der Anfangsphase gescheitert. Doch Grimwardt hatte Glück: Er erwischte eine Feuerblase, die nicht sofort zerplatzte, als er sich auf dem anschwellenden Gebilde positionierte. Für einen Augenblick fürchtete er, dass er zu schwer sein könnte für die zarte Membran der Feuerkugel, doch die Wände hielten seinem Gewicht stand und er spürte, wie er in die Höhe getragen wurde. Zunächst schien die Sache ein Kinderspiel. Seine Schutzzauber wehrten die Hitze ab. Doch dann schlich sich eine andere Hitze unter seine Haut. Das war keine natürliche Hitze!
Höllenfeuer.
Schweiß brach ihm aus allen Poren. Die Kutte, das einzige, was er am Leibe trug, hatte sich innerhalb eines Lidschlags verflüchtigt und Bart- und Haupthaare kräuselten sich trotz magischem Schutz zu schwarzen Aschefäden. Wie ein Ertrinkender klammerte er sich an das heilige Symbol, das er in seiner Hand versteckt hielt. Flüchtig nahm er wahr, dass irgendetwas mit seiner Haut passierte: Die kleinen Härchen auf seinem Arm hatten Feuer gefangen – schwarzes Feuer! – und darunter bildeten sich Brandblasen, die in rasender Schnelle aufplatzten und die darunterliegenden Hautschichten freilegten. Vor allem aber verspürte er den unwiderstehlichen Drang loszubrüllen wie ein Schwein am Spieß.
Alles nur das nicht! Eher sollen sie mich als verkohltes Stück Fleisch aus dieser Blase puhlen!
Das war sein letzter Gedanke, bevor die Feuerblase plötzlich ohne Vorwarnung zerplatzte. Ein dünnmaschiges Netz drängte sich zwischen ihn und den rasant heran stürzenden Feuersee und die Imp-Helfer brachten ihn unter dem Getöse der Umstehenden, die ihre Wetteinsätze einlösten, sicher „an Land“. Undeutlich gegen den Nebelvorhang, der noch immer über seinem Blick lag, machte er über sich die Gestalt eines Hornteufels aus. 
„Ich bestätige, dass Ikrem der Hitzige die Feuerprobe erfolgreich bestanden hat. Gegen eine Gebühr von 1000 Gold mögt Ihr nun das Vorrecht erwerben, Euch dem Gladiator Emrateph im Zweikampf zu stellen.“

Faust
Nachts in der „Styxgrube“, Mephistar.
Wutschnaubend zerrte Faust den Kuttenträger von seinem Strohlager und stieß ihn aus der Schlafkammer. Seine beiden Gefährten segelten kurz darauf hinterher. Rippen brachen und Knochen splitterten, als die drei Teufelsanbeter in die gegenüberliegende Wand krachten, doch sie waren so zugedröhnt, dass sie es bei einem Schwall skurriler Beleidigungen beließen, ehe sie wieder in wüste Drogenträume abdrifteten. Scheppernd fiel die Tür hinter ihnen zu.
„Eher penn‘ ich im Schnee, als dass ich mir ein Zimmer mit diesen Trotteln teile“, knurrte Faust und ließ sich frustriert auf eines der Lager sinken. Die Stadt war so überfüllt, dass sie selbst in dieser Absteige am Rande der toxischen Zone nur noch einen Großschlafraum hatten ergattern können. Normalerweise hätte Winter mit ihrem magischen Palais Abhilfe schaffen können. Doch Winter sah nicht so aus, als ob sie in absehbarer Zeit irgendwas zaubern würde…
Da er ohnehin nicht schlafen konnte, übernahm er die erste Wache.
Er musste irgendwas töten.
Ein voller Monat in einem Boot mit Tyrail ohne einen einzigen guten Kampf war mehr, als er ertragen konnte. Mann, wie er Grimwardt um den bevorstehenden Kampf mit diesem Dämon beneidete! So hatte er sich sein Höllenabenteuer jedenfalls nicht vorgestellt. Was den Pakt mit Baalzebul anging, waren sie keinen Schritt vorangekommen. Falls Baalzebuls Informationen stimmten und Mephistopheles tatsächlich einen Zauber entwickelte, der Asmodeus entmachten sollte, dann war es ratsam mit Nachforschungen in der Höllenfeuer-Akademie zu beginnen. Doch Sterbliche hatten keinen Zutritt zu dem magischen Labor. Sie mussten also einen anderen Weg finden. War es naiv auf die Hilfe seines Vaters zu hoffen? Allerdings war auch Lord Ares derzeit unerreichbar, denn vermutlich befand er sich in Mephistos Gesellschaft. Vielleicht sollten sie doch darauf hoffen, dass Grimwardt bei Mephistopheles eine Sondergenehmigung zur Erkundung der Akademie erwirkte, sollte er den zweiten Teil der Prüfung bestehen. Oder sie drehten den Spieß um und verrieten Baalzebul an Mephistopheles – um den Preis von Omegas Seele. Immerhin hatten sie nur zugestimmt, nach Beweisen für Mephistos Verrat zu suchen. Nichts band sie an ihren Pakt, sofern sie keine fanden…
Plötzlich hörte er etwas - ein leises Scharren an der Zimmertür. Faust zog sein Schwert, stellte sich mit dem Rücken zur Wand neben dem Eingang und lugte vorsichtig durch den Türspalt. Einer der Kultisten war aus seinem Rausch erwacht und suchte im Dunkeln nach dem Türknauf.
Du forderst es echt heraus, Mann.
Leise, um die anderen nicht zu wecken, schlüpfte Faust aus dem Zimmer, überwältigte den Unlehrsamen und hielt ihm sein Schwert an die Kehle. Der Kuttenträger grinste ihn aus glänzenden Augen an.
„Ich hab‘ ihn gesehen“, flüsterte er. „Schick mich zu ihm!“
„Mit dem größten Vergnügen.“
„Faust…“  Winter harrte bleich wie ein Gespenst auf der Türschwelle. „Bitte…“
Faust erschauderte bei ihrem Anblick. Doch er nickte. 
„Aber nicht hier“, murmelte er.
Er schlug sein Opfer bewusstlos, schulterte den schlaffen Körper und führte Winter aus der Spelunke am Styx in die toxische Zone. Das Gebiet rund um die Höllenfeuer-Akademie war verseucht von magischen Abgasen. Den Teufeln konnten die Schadstoffe nichts anhaben, doch für Menschen konnte der Aufenthalt hier lebensgefährlich werden, darum war dies wohl der einzige Ort in Mephistar, wo ihnen kein benebelter Kuttenträger über den Weg laufen würde. Faust und Winter waren dank Grims gesegnetem Abendmahl vor Vergiftungen geschützt. In einer unbelebten Gasse ließ er seine Last zu Boden sinken. Es gab keine Sonne, keinen Rhythmus von Tages- und Jahreszeiten in Baator. Von irgendwoher schien ein Licht, doch es war ein schwaches, milchiges Licht, das den Tag kaum erhellte und die Nacht nicht recht verhüllte. Eine eisige Brise wirbelte den Schnee zu ihren Füßen auf. Fröstelnd verschränkte Faust die Arme vor der Brust.
„Ähm… wie…?“
„Töte ihn langsam.“
Faust hätte einen sauberen, schnellen Tod durch das Schwert bevorzugt, doch um Winters Willen nahm er den Dolch. Röchelnd schlug das Opfer die Augen auf, doch schon war Winter über ihm, spinnengleich und lauernd wie ein Vampir. Etwas geschah mit seinem Schatten… ein Pulsieren, ein Anschwellen wie bei einer Geburt. Ein letztes Aufbäumen, dann brach ein Lichtball aus dem Schatten des Sterbenden. Danach war er schattenlos, wie leergesaugt.
Winter richtete sich auf. Ihre Augen waren Obsidiane, schwarz und pupillenlos. Ihr eigener Schatten wuchs hinter ihr zu etwas Monströsem an. Sie war so unbeschreiblich schön und so unbeschreiblich… abscheulich. Sie gehört hierher, dachte Faust, hier in diese unwirkliche Winterlandschaft. Er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten bei diesem Gedanken.
„Es tut mir leid… Du hättest das nicht sehen sollen.“
Er sah die Furcht in ihrem Blick. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er sie schon eine ganze Weile so anstarrte. Trotzdem konnte er den Blick nicht von ihr wenden. Wie jemand, der noch in einem Traum gefangen war. Sie hatte Angst, erkannte er, Angst, dass er sich von ihr abwenden würde. Zu wissen, was sie war, und es zu sehen, waren zwei Paar Schuhe… 
Vielleicht muss ich dich irgendwann töten. Seine Gedanken flossen zäh. Aber verdammt, Winter, ich werde dich NIEMALS verlassen.

Grimwardt
Schloss Mephistar, drei Tage später.
Trommelwirbel und düstere Chorgesänge begleiteten ihn, als er sich einen Weg zu dem Kampfkäfig bahnte. Er war nicht so gut vorbereitet wie er es gerne gewesen wäre. Um nicht seine wahre Identität preiszugeben, hatte er auf einige Gebete verzichten müssen, die ihm für gewöhnlich Kraft und Ausdauer verliehen. Auch sein Schild, den Tempus‘ Flammenschwert zierte, würde ihm hier eher hinderlich sein. 
Schließlich fiel das Käfiggitter hinter ihm ins Schloss und er stand dem Dämon aus seiner Vision gegenüber. Schaum hatte sich vor Emratephs Wolfsmaul gebildet und sein flammenumtanzter Körper bebte vor Zorn und Rastlosigkeit. Auf dem Schlachtfeld war er unzweifelhaft eine fürchterliche Erscheinung. Doch in Canias Kerkern war der entmachtete Tanar’ri-General täglich den Demütigungen seiner Baatezu-Peiniger ausgeliefert – kein Zweifel, dass er jede Gelegenheit ergreifen würde, alles in Fetzen zu reißen, was ihm zwischen die Klauen geriet. Oder besser: vor die Äxte. Er trug eine schwere Streitaxt, doch es war die kleinere Handaxt, der Grimwardts Aufmerksamkeit galt. Denn was in den Pranken des Dämons wie eine Parierwaffe wirkte, erkannte der Auserwählte des Tempus als Ambrosia, die Streitaxt des Standhaften! Die Waffe gab durch nichts zu erkennen, welche göttliche Macht ihr innewohnte, doch Grimwardt hegte keinen Zweifel, dass er am Ziel seiner Suche angelangt war.
Der Dämon wartete nicht einmal, bis der Käfig über den Köpfen der Zuschauer baumelte, ehe er sich brüllend und zischend auf Grimwardt stürzte. Bevor der Priester auch nur seine Waffe heben konnte, überzog er ihn mit einer wilden Serie von Bissen und Axthieben. Doch etwas lenkte jeden seiner Hiebe ab. Auch die Flammen, die seinen Körper umtanzten, konnten Grimwardt nichts anhaben, und das Schlangengift stießen seine Schutzzauber ab. Verblüfft taumelte der Dämon gegen das Käfiggitter und für einen Augenblick, sodass nur die beiden Kontrahenten es sehen konnten, flackerten die Runen auf Ambrosias Axtblättern auf. Grimwardts Mundwinkel verzogen sich zu einem grimmigen Lächeln. Tempus war also doch bei ihm! Selbst hier, selbst an diesem gottlosen Ort!
Der Eisengott hat dich geschickt, erkannte nun auch Emrateph. 
Rasend vor Zorn schmetterte er die verräterische Waffe von sich und zischte einen Bannspruch, um Grimwardts Schutzzauber zu bannen, doch gegen Tempus‘ schützende Hand kam er nicht an. Sein Wolfsgeheul war das letzte Aufbegehren eines Todgeweihten. In aller Zuversicht sammelte Grimwardt seine Kraft in einem einzigen Schlag. Ein beseelter Schlag mitten in das hasserfüllte Wolfsherz des Dämons. Ein zweiter Axthieb brachte das Schlangenherz zum Stocken. Ein weiterer Hieb und das Herz des Dämons zerbarst in einer Feuerexplosion, die Emrateph in Fetzen riss und Grimwardt krachend gegen die Gitterstäbe schleuderte. Er hörte Rippen splittern, doch der Triumph war größer als der Schmerz, als er Ambrosia endlich in Händen hielt. Er bezweifelte, dass ihm irgendwer die Trophäe streitig machen würde, denn in den Augen der Teufel war sie nichts als eine ganz hübsch gearbeitete, aber unmagische Waffe.
Doch die Freude währte nicht lange.
Die rituellen Gesänge, die mit Grimwardts Sieg ihren dramatischen Höhepunkt erreicht hatten, erinnerten ihn daran, was jetzt folgen würde. Während der Käfig zu Boden gelassen wurde, bildeten die Umstehenden einen Korridor, der zu dem Teufelsaltar in der Mitte des Saals führte, wo man von „Ikrem dem Hitzigen“ erwartete, dass er seinen Glauben unter Beweis stellte, ehe er zum Höllenfürsten von Cania vorgelassen wurde.
Winter, jetzt! übermittelte Grimwardt seiner Schwester das verabredete Signal. Um mit seinen Gefährten geheime Nachrichten austauschen zu können, hatte er sie vor dem Kampf mit einer telepathischen Kette verbunden. Sofort spürte er ihre Präsenz in seinem Geist, gab dem magischen Drängen nach und fühlte, wie er fortteleportiert wurde, während sein Körper zurückblieb. In Winters Gestalt sah er sich selbst dabei zu, wie er vor dem schwarzen Altar niederkniete. Von der Saaldecke hing auch dieses Mal ein Käfig mit einem Opfer – einem Elenden aus den Tiefen der canianischen Folterkammern. Er gab keinen Laut von sich, als sich ein fliegender Hornteufel dem Käfig näherte und ihm das Herz aus der Brust riss. Während sich das Blut des Toten über den Altar ergoss, wurde Winter das pulsierende Organ zum Verzehr gereicht. Zwischen jedem Bissen sagte sie eine Zeile des canianischen Glaubensgebets auf und der Chor antwortete ihr mit hundert Stimmen. Dem Priester wurde speiübel, als er sich selbst dabei beobachtete, wie er in der gehässigen Sprache Baators diesen schändlichen Spottgesang vom Stapel ließ. Den Wortlaut hatte Winter am Tag zuvor einem Teufelsanbeter entlockt, den sie magisch unter ihre Kontrolle gebracht hatte, um Informationen über den Ablauf des Kampfes zu erpressen. So hatte sie überhaupt erst von diesem Ritual erfahren und ihren Bruder davor bewahrt sein Seelenheil aufs Spiel zu setzen. Etwas, das Grimwardt ihr niemals vergessen würde…
Vergebt uns… Vergebt MIR, dass ich sie tun lasse, was ich nicht kann. 
Er war dagegen gewesen. Lieber hätte er sich gleich nach dem Kampf als Tempus‘ Auserwählter zu erkennen gegeben als DAS. Aber dann hätten sie ihre einzige Chance verpasst, an Mephisto heran zu kommen. Ohne seine Freunde wäre er niemals so weit gekommen. Nun konnte er sie nicht enttäuschen. Tempus würde das verstehen. Im Krieg war manchmal Mut, manchmal Listenreichtum gefragt und das hier war, in gewisser Weise, ein Krieg. Ein Seelenkrieg. Aber würden das auch die anderen Götter so sehen?
Nachdem das Ritual beendet war, kehrte Grimwardt in seine eigene Gestalt zurück. Keine Zeit, seiner Schwester ein Dankeschön zu übermitteln, denn schon wieder teilte sich die Menge – diesmal, um einem in teure Gewänder gehüllten Palastteufel Platz zu machen - allem Anschein nach ein hohes Tier. Grimwardt neigte demütig den Kopf, während der Höfling ihn kritisch in Augenschein nahm.
„Der Höllenfürst von Cania ist nun gewillt, Euch zu empfangen“, sprach er schließlich mit verschnupfter Eitelkeit. „Folgt mir, Ikrem, Diener der Schwarzen Hand.“
Großartig.
Er war ohne Zweifel der erste Auserwählte des Tempus, dem ein blasphemischer Ehrentitel verliehen wurde! Grimwardt bemühte sich nicht allzu laut mit den Zähnen zu knirschen und versprach Tempus sich bei nächster Gelegenheit einem dreitägigen Reinigungsritual zu unterziehen. 
„Verzeiht“, bat er den Höfling. „Ist es mir gestattet mich dem Herrn in Gesellschaft meiner Gefährten zu präsentieren? Zusammen könnten wir ihm von noch größerem Nutzen sein!“
… oder ihm sein verderbtes Herz aus der Brust reißen!
Faust, Winter, Tyrail und Miu traten vor und neigten vor dem Teufel die Köpfe. Um nicht in die Verlegenheit zu geraten, Miu tatsächlich zum Opferpräsent machen zu müssen, hatten sie der Ordensschwester zu diesem Anlass eine schwarze Kutte aufgezwungen. Grimwardt wusste nicht, was ihn mehr beunruhigte: die Tatsache, dass sie sich nicht einmal zur Wehr gesetzt hatte oder dass sie mit ihrem glasigen Blick mehr als jeder von ihnen dem Bild des fanatischen Teufelsanbeters entsprach…
„Das ist nicht im Protokoll vorgesehen“, erklärte der Teufel missfällig. Sein Blick wurde abwesend, als er Grimwardts Gesuch an seinen Herrn weiterleitete. „Hm.“ Die Antwort schien ihn zu überraschen. „Der Fürst erlaubt es.“
Sie folgten Mephistos Diener in die unteren Etagen des Eispalastes, die den sterblichen Besuchern nicht zugänglich waren. Nachdem sie mindestens ein Dutzend magisch gesicherter Türen passiert hatten, gelangten sie zu einem Portal.
„Der Fürst erwartet Euch am Seelensee.“
Grimwardt trat als erster durch den magischen Torbogen.
Die Berghalle war so groß, dass sie als Hort für eine ganze Drachengeneration hätte dienen können. Um den Seelensee, das Zentrum von Canias Macht, tummelten sich Mephistos Hofstaat sowie jene Festgäste, die es in den inneren Zirkel des Höllenfürsten gebracht hatten. Lustorgien und Saufgelage waren unzweifelhaft Teil des Festprogramms, doch zu seiner Verwunderung konnte Grimwardt weder schwarze Altare noch Opferkäfige oder kannibalische Festbüffets ausmachen. Er fragte sich, ob die Inszenierungen des Bösen, deren Zeuge er in den letzten drei Tagen geworden war, womöglich nur Mittel zum Zweck waren. Was war ein besserer Prüfstein für den blinden Gehorsam eines Untergebenen als die Aufgabe jeglichen Schamgefühls?
Mephistopheles saß, umgeben von seinen engsten Vertrauten, in einem Thron auf einer magisch verstärkten Eisscholle. Als er die Gefährten erspähte, gab der Höllenfürst einen Zauberbefehl, der die Scholle ans Ufer trieb. Er saß leicht vorgeneigt in neugieriger Erwartung mit halb geöffneten Hornschwingen, die den größten Teil seines scharlachroten Oberkörpers verdeckten. Die hohe Stirn des Höllenfürsten wurde von einem Paar mehrfach gedrehter Hörner beherrscht und seine goldenen Augen musterten die Neuankömmlinge mit amüsiertem Interesse. Im Großen und Ganzen versprühte Mephisto eher den Charme eines exzentrischen Dandys als die Aura eines dunklen Herrschers. Zu seinen Füßen hockte eine kleine Elfe mit bronzefarbenen Teufelsschwingen und blassrosa Augen – das musste das Halbblut sein, das Lady Baalphegor am liebsten als Wasserleiche sähe…. Grimwardt streifte sie nur mit einem flüchtigen Blick, ehe er den zweiten Halbteufel erspähte, der unbewegt mit verschränkten Armen im Schatten des Eisthrons harrte. Er war groß und muskulös mit pechschwarzen Hornschwingen, einer Phönix-Tätowierung, die sich von der Hüfte aufwärts schlängelte, und einem scharfen, skrupellosen Zug um die Mundwinkel.
Ist das…?
Der Schwarze Phönix, bestätigte Faust. Mein Vater.
Ein wüster Schwall konkurrierender Emotionen rumpelte durch Grimwardts Geist, der ihn die Idee mit dem telepathischen Band umgehend bereuen ließ. Er hätte es verstanden, wenn die emotionale Schockwelle von Faust gekommen wäre, doch irritierender Weise stammte sie von Winter!
Niemand fasst Antilia an!, meldete sich plötzlich auch noch Tyrail zu Wort. Gleich, was diese Teufelshure uns aufgetragen hat!
Antilia? Woher kennst du ihren…? Grimwardt fasste sich zähneknirschend an den pochenden Schädel. Bei Tempus‘ haarigen Eiern, bin ich hier der einzige, der NIEMANDEN KENNT?! Und jetzt raus aus meinem Kopf, alle miteinander und zwar plötzlich!
Er trat vor und sank vor Mephistopheles auf die Knie.
„Ikrem.“ Als der Höllenfürst die Stimme erhob, wurde es still in der Berghalle. Alle Augen waren auf Grimwardt gerichtet. „Der ganze Palast spricht von Eurem Kampf gegen den Dämon.“
„Ich bin nur ein Diener“, murmelte Grimwardt und hoffte, dass der Fürst sein Hüsteln als Zeichen der Demut deutete.
„Und was sind die Ziele meines treuen Dieners?“
„Mein Fürst….“ Er räusperte sich. „Es wäre mein größter Wunsch das Wesen Eurer Höllenfeuer-Magie zu studieren. Leider ist mir der Zugang zu Eurer Akademie verwehrt…“
„Interessant…“ Der Höllenfürst verzog die Mundwinkel zu einem mokanten Schmunzeln und strich mit seinen geschwärzten Fingernägeln bedächtig durch seinen Ziegenbart. „Wisst Ihr, Ikrem, die meisten meiner Diener hätten die Frage wohl mit einer Auflistung all jener Dinge beantwortet, die sie für mich tun können… Aber Ihr seid nicht wie die anderen, hm?“
„Alles, was ich tue, dient meinem Herrn.“
Mephisto lachte leise und es klang wie das Klirren eines Eisdolchs, der über dem Kopf eines Arglosen zitterte.
„Das ist wohl wahr, Grimwardt Fedaykin, Auserwählter des Tempus.“ Plötzlich war es so still, dass man das Schneeknistern der Wände hören konnte. Mit eisig sanfter Stimme fuhr der Höllenfürst fort: „Bleibt lieber bei Eurer Axt, Grimwardt. Die Maske des fanatischen Eiferers steht Euch nicht.“
„Tempus sei Dank“, brummte der Priester mit grimmiger Erleichterung. Noch mehr Schleim und er hätte sich vor Ekel übergeben!
„Das war Blümchen, diese kleine Ratte!“, zischte Faust gedämpft. 
„Glaubt Ihr wirklich, ich sei auf die Spione meiner Feinde angewiesen, um ein paar Seelenräuber zu entlarven, die sich in mein Nest schleichen wollen?“ Genüsslich lehnte sich Mephisto in seinem Thron zurück und schnippte mit dem Finger: „Ares! Erledigt das. Ihr habt doch keine Einwände?“ Wieder dieses Eisdolch-Grinsen.
Grimwardt starrte ihn verblüfft an. Wenn er Fausts Spitznamen für Baalzebuls Informanten kannte, dann wusste er alles! Er wusste von Omegas Seele, von dem Pakt mit dem Herrn der Lügen, von Fausts Suche nach seinem Vater… Und er hatte es die ganze Zeit gewusst und sich ins Fäustchen gelacht, während er, der Auserwählte des Tempus, sich als „Ikrem der Hitzige“ zum Narren gemacht hatte! Und nun besaß dieses Kerlchen die Dreistigkeit sich zurückzulehnen und Ares zu befehlen seinen Sohn zu töten! Als Höhepunkt der Schau. Als Teil eines höfischen Intrigenspiels. Dieser geschniegelte Lackaffe hatte nicht mal den Anstand sich ihnen persönlich im Kampf zu stellen!
Grimwardts Zornader pochte ganz gewaltig.
Ein Zauber ließ ihn zu heldenhafter Größe anschwellen und im nächsten Augenblick stürmte er auf Mephistopheles zu. Eine mentale Barriere ließ ihn zurückprallen.
Plötzlich erkannte der Priester, dass hier etwas nicht stimmte.

Faust
Er spürte den Zeithubbel – eine kaum merkliche Unebenheit im Zeitfluss – und nutzte die Gelegenheit, um sich in Ares‘ Zeitstarre hinein zu mogeln.
„Gibt es irgendetwas, das du mir sagen willst?“
Ares fuhr zusammen, während die Welt um sie herum zum Stillstand kam. Doch sofort hatte er sich wieder im Griff. Hinter seiner düsteren Konzentration spürte Faust Anspannung und Zorn.
„Wärst du früher gekommen, hätte ich gesagt: Mach, dass du hier verschwindest!“, sagte er gepresst. „Aber dafür ist es zu spät. Also lass es einfach geschehen.“
Faust stieß ein bitteres Lachen aus.
„Also was?“, knurrte er. „Bist du ein guter Hund und führst den Befehl deines Herrn aus?“
Zur Antwort begann Ares einen Zauber zu weben. Faust hatte schon viele Verstärkungszauber gesehen, die Menschen in übernatürliche Kampfmaschinen verwandelten; die meisten beherrschte er selbst. Doch keinen, der den Wirker zu Titanengröße anwachsen ließ! Ares breitete die Flügel aus, die in dieser Gestalt den gesamten Seelensee überspannten, und schwang sich in die Lüfte, da die Eisscholle unter seinem Gewicht zerbrechen würde, sobald die Zeitstarre endete. Dann zog er ein Schwert von der Länge eines Eisenwalls, dessen Klinge von schwarzen Flammen umtanzt wurde.
Faust schluckte heftig und nutzte den Rest der Zeitstarre, um sich eiligst selbst mit Flug- und Kampfzaubern zu versorgen. Mit einem einzigen gut gezielten Schwertstreich konnte Ares ihn und all seine Gefährten zweiteilen! Und durch die Zeitstarre hatte er alle Gunst auf seiner Seite, denn seine Riesengestalt würde die anderen völlig unvorbereitet treffen. Faust schloss die Augen. Sein einziger Vorteil war seine Schnelligkeit: Die enorme Größe machte den Halbteufel schwerfällig und die Berghalle begrenzte seine Manövrierfähigkeit.
Mit dem Schwert voran preschte Faust in die Höhe, kaum dass die Welt wieder begonnen hatte, sich um ihn zu drehen. Brüllend hielt er auf das Herz seines Vaters zu, doch die stählerne Brust des Halbteufels widerstand dem Großteil seiner schmetternden Hiebe. Aus dem Augenwinkel sah Faust, wie die Flammenklinge wie ein Henkersbeil auf ihn zuraste.
Er ließ sich fallen.
Dieser Wucht hatte er nichts entgegenzusetzen; allein der Fall konnte ihn retten. Doch er fiel nicht schnell genug. Die Riesenklinge schnitt durch sein Schulterblatt wie durch Papier und versengte seine rechte Körperhälfte mit Höllenfeuer.
Er stürzte in bodenlose Dunkelheit.
Heilender Schmerz holte ihn in die Wirklichkeit zurück.
„Miu…“
Sie war zu tief in ihr Heilgebet versunken, um sein Krächzen zu hören. Sein zerschmetterter Körper protestierte mit Schüttelkrämpfen gegen ihre Resolution, ihn wieder zusammenzuflicken, doch irgendwo hinter dem Nebel aus Schmerz wollte Faust sie vor Erleichterung durch die Luft wirbeln. Er hatte seine Miu wieder! Gut, er hatte sich zu Brei schlagen lassen müssen, um sie aus ihrer Lethargie zu reißen, aber sie war wieder die alte! 
Doch da war immer noch… Ares! Abrupt wurde er von einer Welle kalter Wut überschwemmt. Er hätte ihn getötet! Zu Mephistos Erheiterung hätte sein Vater ihn zu Fleischpastete verarbeitet! Und warum? Um seine eigene Haut zu retten? Um…?
Keine Warums mehr.
Stolpernd kam Faust auf die Füße und umklammerte Zwiespalts Schwertheft so fest, dass es schmerzte. Über ihm hatte der Kampf seinen Lauf genommen: Grimwardt und Tyrail hatten den Halbteufel fliegend in die Zange genommen, während Winter verbissen Bannzauber um Bannzauber nach ihm warf. Sie hatte Ares bereits um einen Großteil seines magischen Schutzes gebracht, doch den Titanenzauber hatte sie nicht knacken können. Die Kampfszene wurde von einem düsteren Schlachtenlied untermalt, das Mephistos Geliebte zu dessen Unterhaltung angestimmt hatte. Antilias Stimme beschrieb einen dramatischen Gesangsbogen, als Tyrail in einem Augenblick der Unachtsamkeit von Ares‘ Klinge durchbohrt wurde. Leblos glitt der Elf von der Flammenklinge und stürzte dem Seelensee entgegen.
Zeitgleich schoss Faust in die Höhe.
Dicht an den Körper des schwebenden Halbteufels gepresst, sodass er ihn nicht treffen konnte ohne sich selbst zu verletzten, glitt er sein Rückgrat hinauf; wurde schneller und schneller, bis er die Schultergegend erreicht hatte. Ohne seinen rasanten Flug zu bremsen, stieß er zu und schlitzte ihn schneller auf, als Ares seine Wunden regenerieren konnte. Abrupt wirbelte der Halbteufel herum und ein schmetternder Flügelstreich verfehlte Faust um Haaresbreite. Doch nun hatte er seinen Gegner genau dort, wo er ihn haben wollte. Seine ungeschützte Kehle war keine zwei Meter von Zwiespalts Schwertspitze entfernt. Farbensprühend stob die Chaosklinge durch zähes Gewebe.
Ein Ausdruck düsterer Konzentration trat in Ares‘ Augen, während Blutfäden ein Muster rings um seine aufgeschlitzte Kehle zeichneten. Dann wurden sie plötzlich kalt und hart und schwarze Flammen fraßen sich durch die Phönix-Tätowierung auf seiner Brust. Im nächsten Augenblick implodierte der riesige Körper des Halbteufels zu einer schwarzen Kugel, die alles um sie herum in ihren Sog zog. Dann zerbarst die Kugel in einem Hagelsturm aus Höllenfeuer-Federn, die sich wie brennende Dolche unter Fausts Haut gruben und ihn in die Tiefe rissen. 
Der Schwarze Phönix…
Prustend tauchte er aus dem Seelensee auf und stählte seinen Geist gegen die erinnerungsraubende Macht des Styxwassers. Als er sich keuchend an Land zog, stieß er auf Winter, die den bewusstlosen Tyrail aus dem See gerettet hatte. Er folgte ihrem Blick und traf auf Mephistopheles, der seine Fingernägel mit wachsender Verärgerung in die Eislehnen seines Thronsessels grub. Die kleine Bardin harrte zitternd hinter ihm.
„Enttäuschend“, murmelte er. „Wirklich enttäuschend, Ares.“
Der Thron hatte begonnen unter dem Zorn des Höllenfürsten zu schmelzen.
„Amüsiert Ihr Euch?“, knurrte Faust und trat wankend auf ihn zu.
Mephisto sprang auf. Seine Goldaugen hatten Feuer gefangen und der Thron war bloß noch eine dampfende Pfütze. Und während Mephistos Höllenfeuer die Eisscholle schrumpfen ließ, legte sich eine eisige Klaue um Fausts Herz. 
Er keuchte auf.
Etwas war falsch. Mephisto war nicht mehr er selbst… Es lag keine Illusion auf ihm. Es war auch nicht so, dass er sich plötzlich verwandelte. Trotzdem spürten es alle, die in dieser Halle versammelt waren. Er sollte jemand anderes sein. Er sollte…
Asmodeus.“
Grimwardt hatte es ausgesprochen und der gesamte Hofstaat hielt den Atem an.
„Asmodeus ist nicht mehr“, erwiderte der Höllenfürst, während er seinen Ranseur auf sie richtete. In Fausts Geist schwoll er zu etwas Monströsem an. „Ich bin der Herr der Neun Höllen.“
Die Eisklaue um Fausts Herz drückte zu und er ging keuchend in die Knie. In hilflosem Entsetzen sah er zu, wie Winter und Miu leblos zusammenbrachen. Erst als Grimwardt ihn an der Schulter berührte, erwachte er aus seiner Starre und ließ sich von dem Priester auf die Füße helfen. Er wagte es nicht, Grimwardt in die Augen zu sehen aus Furcht, seine eigene Verzweiflung in dessen Augen zu sehen. Gemeinsam stürmten sie los.
In den sicheren Tod.

Nightmoon

  • Mitglied
    • Schicksalsstreiter
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #260 am: 01. März 2012, 15:54:33 »
Oh man, ich hasse die Hölle! ;)
Wie immer sehr schön! Zeigt sehr gut, wie klein wir uns irgendwann aufeinmal gefühlt haben und wie sehr die Gruppe inzwischen zusammengeschweißt ist, trotz aller Differenzen.

Winter

  • Mitglied
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #261 am: 02. März 2012, 17:53:34 »
Tolles Kapitel!
Finde Grims inneren Zwispalt besonders ausdrucksstark dargestellt. Ganz großes Kino!
Ich hasse die Hölle auch. Und rote Kleider... *brrrr*

Niobe

  • Mitglied
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #262 am: 08. März 2012, 07:32:34 »
Kapitel V: Fünfzehn Jahre

Grimwardt
Am nächsten Morgen in der Abtei des Schwertes.
Der erste Sonnenstrahl des anbrechenden Tages kitzelte ihn, als er sich in der Rüstung brach, die frisch poliert auf dem Schreibpult in seinem Arbeitszimmer ruhte. Schmatzend wälzte er sich auf die andere Seite und kuschelte sich in die weichen Kissen…
Die weichen Kissen?!
Mit einem Ruck fuhr Grimwardt auf.
„Borgo!“
Der Zwerg, der die Nacht auf dem Wolfsfell vor dem Kamin verbracht hatte, erwachte mit einem Grunzen.
„Wieder unter den Lebenden?“, brummte er.
„Seit wann besitze ich weiche Kissen?“
„Tja…“ Borgo fuhr sich verlegen über den kahlen Schopf. „Wisst Ihr, unter Sir Silas‘ Herrschaft… Ach, bei den Neun Höllen, Grimwardt! Ich schlafe hin und wieder in Eurer Kammer, wenn Ihr fort seid, und ich bin alt und mir sitzt die Gischt in den Knochen. Da habe ich mir ein klein bisschen Bequemlichkeit verdient, sapperlot!“  
„Bei den Neun Höllen“, wiederholte Grimwardt abwesend und mit einem Mal fiel ihm alles wieder ein… alles, bis zu dem Punkt, an dem Mephistopheles ausgeholt hatte, um ihn ins Jenseits zu befördern. „Borgo, wie bin ich hierhergekommen?“
„Das wüsste ich auch gerne“, brummte der Zwerg. „Einer der Nachtwächter fand Euch gestern Abend mehr tot als lebendig vor den Toren der Abtei. Meinte, ihr wärt plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht.“
„Und die anderen?“
„Welche anderen?“
„Winter, Faust… meine Gefährten!“
„Es war niemand bei Euch.“
Fieberhaft irrte Grimwardts Blick durch den Raum auf der Suche nach einer Erklärung… Seine Ausrüstung! Eilig inspizierte er die Gegenstände, die Borgo fein säuberlich auf dem Tisch aufgereiht hatte. Ambrosia, seine Rüstung, sein Schild… alles da! Warum hätte Mephistopheles ihn mitsamt seiner Schätze zurückschicken sollen? Irgendwer musste ihn und seine Gefährten gerettet und nach Hause gebracht haben. Nach Hause… Nun, Winters Zuhause war während der Zauberpest im Meer versunken und falls Faust ein Zuhause hatte, dann vermutlich… die Neun Schwerter!
„Borgo, ich brauche ein Pferd!“
„Zum Reiten?“
„Nein, zum Melken! Natürlich zum Reiten!“
„Ich meine ja nur, wenn Ihr es eilig habt, könntet Ihr auch den Magier bitten Euch zu teleportieren.“
Grimwardt hob eine Augenbraue. „Wir haben einen Magier?“
„Na, den Kerl, den Ihr in Rabenklippe bestellt habt. Meister Toibin.“
„Hmpf.“ Er hatte schon nicht mehr daran geglaubt, dass sich die Schlafmützen vom Orden der Mystischen Flamme bei ihm melden würden. „Na, worauf wartest du, bring ihn her! Oder scheuch dafür einen unserer Rekruten aus dem Bett!“
Borgo deutete ein Nicken an.
„Aber, Grimwardt… Beurteilt ihn nicht nach dem ersten Eindruck. Er mag nicht viel hermachen, aber er versteht was von seinem Handwerk.“
Als kurz darauf ein dürrer, sommersprossiger Morgenmuffel barfuß mit Schlafmütze ins Zimmer schlurfte, lernte Grimwardt diesen Hinweis zu schätzen. Der Zauber gelang jedoch tadellos und so klopfte er keine fünf Minuten später an die Tür des Hades’chen Anwesens.
„Grimwardt Fedaykin.“ In voller Rüstung erschien der Hausherr zu dieser frühen Stunde auf der Türschwelle. „Euer Begleiter trägt noch sein Nachtgewand. Das zeugt von mangelnder Disziplin.“
Sofort stand Meister Toibin stramm wie eine Eins.
„Ist Faust hier?“
„Bedauerlicher Weise nicht. Seine Freilassung geschah widerrechtlich und wurde bereits geahndet.“
„Hades, Ihr müsst mir einen Gefallen tun.“
„Ich bezweifle, dass ich dazu verpflichtet bin, aber wenn Ihr mir den genauen gesetzlichen Rahmen…“
„Ihr müsst Faust und meine Schwester für mich aufspüren. Wir hatten keine Chance. Mephistopheles hat Asmodeus getötet. Ich schätze, das macht ihn zu einem höheren Gott. Wir müssten tot sein. Aber ich bin hier, also müssen auch die anderen noch am Leben sein.“
Hades musterte ihn eindringlich.
„Ihr seid verrückt“, urteilte er schließlich.
„Bitte?!“
„Wahnsinn ist für gewöhnlich die einzige Erklärung dafür, dass ein Mann ohne Sinn spricht, ohne zu lügen.“
„Ihr haltet mich für verrückt?!“
„Das ist korrekt.“
Notiz an mich selbst: Stelle Hades nie wieder eine rhetorische Frage!
Zähneknirschend ließ er den Richter stehen und machte sich auf die Suche nach Elijas. Er fand den Schwertmagier in seiner verwinkelten Dachstube, wo er allem Anschein nach an der Entwicklung eines Zaubers arbeitete. Als er Grimwardt erblickte, erbleichte er.
„Was ist schiefgegangen?“, fragte er leise.
„Erst muss ich wissen, wo Faust und Winter stecken.“
Elijas verlor keine Zeit und machte sich sofort auf die Suche nach Komponenten für einen Aufklärungszauber, doch er kam nicht mehr dazu, den Zauber zu wirken. Plötzlich begann die Luft zu flirren und eine Kreatur mit pechschwarzen Flügeln materialisierte sich in der Mitte des Zimmers.
Ares!
Während Grimwardt noch seine Axt zückte, spürte er einen schneidenden Luftzug, gefolgt von singendem Metall. Der Schwarze und der Grüne Phönix. Der Halbteufel beantwortete Elijas‘ Blitzattacke mit einem prismatischen Schutzschild, der den Gegner geblendet zurücktaumeln ließ und Boden und Zimmerdecke ansengte. Dann wandte er sich unbeeindruckt an Grimwardt: „Ihr solltet mit mir kommen. Ich habe Eure Schwester.“

Winter

Mephistar, Achter Höllenkreis, am Abend zuvor.
Sie erwachte in einem Himmelbett aus Eis. Irgendein Zauber verhinderte, dass sie vor Kälte erfror. Trotzdem packte sie das kalte Grauen, als sie erkannte, wo sie war. Eine Weile blieb sie mit geschlossenen Augen liegen und wartete, bis ihr Herzschlag sich beruhigt hatte. Als sie es nicht länger hinauszögern konnte, zwang sie sich schließlich zum Aufstehen. Dabei verhedderte sich ihr Kleid am Fuß des Bettes.
Ihr Kleid?!
Sofort kehrte das Herzrasen zurück. Es war aus hauchzarter roter Elfenseide und schien nicht dazu zu dienen, irgendetwas zu verhüllen. Und wenn sie sich vorstellte, auf welche Art es an ihren Körper gelangt sein musste… Panisch blickte sie sich um: das Bett, ein Nachttisch, ein Eisspiegel, ein vergittertes Fenster. Keine Spur von ihren eigenen Sachen. Mit bebenden Lippen sprach sie einen Teleportationszauber, doch sie kam nicht einmal bis zur zweiten Silbe. Ein mentaler Befehl hieß sie innehalten.
Ihr wollt uns doch nicht schon wieder verlassen, Winter? Das kann ich als Gastgeber wirklich nicht verantworten. Ihr würdet erfrieren, wenn Ihr in dieser Gewandung die schützenden Mauern des Palastes verließet.
Flüchtig streifte sie eine fremde Erinnerung. Schwarze Fingernägel, die über ihren Körper glitten, während Mephisto ihr das rote Kleid überstreifte.
Winter biss die Zähne zusammen.
„Was wollt Ihr?“, fragte sie mit dünner Stimme.
Diese Art der Unterhaltung ist doch sehr unpersönlich… Warum kommt Ihr nicht herunter in den Speisesaal? Ihr müsst am Verhungern sein.
Nicht dass sie eine Wahl gehabt hätte. Ihre Beine schienen ihr über Nacht untreu geworden zu sein. Zielstrebig trugen sie Winter durch vereiste Korridore und kalte Hallen. Sie versuchte sich den Weg einzuprägen, gab jedoch schon nach kurzer Zeit auf. Der Palast war einfach zu groß. Nach einer Viertelstunde hielt sie vor einer Doppeltür an. Ihr graute davor, den nächsten Schritt zu tun, doch wieder blieb ihr keine Wahl.
Die Speisetafel war ganz offenbar für mehr Leute gedacht als die vier einsamen Gestalten, die an ihrem Kopfende saßen.
„Winter, Ihr seht bezaubernd aus!“
Mephistopheles erhob sich mit sardonischer Ehrerbietigkeit und setzte sein charmantestes Eisdolch-Lächeln auf, während er sie zu dem Platz zu seiner Rechten dirigierte. Lady Antilia zu seiner Linken musterte sie mit einer Mischung aus Beunruhigung und Abwertung. Neben ihr harrte Tyrail, der noch schlechtere Laune zu haben schien als sonst. Hatte er etwa die Seiten gewechselt? Soweit Winter das beurteilen konnte, bedachte er die Teufel mit derselben Verachtung, die er jedem Nichtelfen entgegenbrachte. Nur wenn Antilias Arm den seinen streifte, durchfuhr ihn ein Schaudern und eine Erinnerung ließ seine Mundwinkel zucken.  
Der Vierte war Lord Ares. Winter klopfte das Herz bis zum Hals, als ihre Blicke sich trafen. Er sah jünger aus als der Seelenmagier, den er ihr in der Wüste vorgespielt hatte. Offenbar war er nicht gealtert, seitdem Mephistopheles ihn in einen Halbteufel verwandelt hatte.
„Nun, da wir alle versammelt sind, lasst uns anstoßen“, leitete der Herr des Hauses die Mahlzeit ein. „Auf Eure Seele, Winter!“
Winter hatte schon lange nichts mehr gegessen, trotzdem rührte sie die üppigen Speisen, die Mephisto auftischen ließ, nicht an. Sie glaubte nicht, dass er ihr Gift unterjubeln wollte. Doch wer wusste schon, woraus diese Pasteten gemacht waren…  Und wo waren Grim, Faust und Miu? Ihr Blick glitt zurück zu den Pasteten und nun wurde ihr wirklich übel. Bildete sie sich das nur ein oder geisterte da plötzlich ein finsteres Lachen durch ihre Gedanken?
„Schluss damit“, flüsterte sie gepresst. „Was wollt Ihr von mir?“
„Nichts, was nicht ohnehin schon mir gehört“, erwiderte der Höllenfürst. „Alles, was ich möchte, ist, dass wir es offiziell machen.“
Winter sah erstaunt auf. Ihr Blick wanderte zu Lord Ares.
„Er hat sich mir nicht offenbart. Darum ist der Pakt nicht endgültig, nicht wahr? Noch habe ich eine Chance. Zwingen könnt Ihr mich nicht, denn Euer dreckiges, kleines Geschäft funktioniert nur, wenn ich Euch meine Seele aus freien Stücken überschreibe.“ Sie lachte leise. „Ich werde sicher nichts unterzeichnen!“
Sein Lächeln gefror. Mit einer Handbewegung schickte er die anderen aus dem Raum. Dann erhob er sich und schlenderte betont langsam die Tafel entlang. Seine Fingernägel kratzten nervenaufreibend über die eisglatte Oberfläche.
„Ihr irrt Euch, Winter“, sprach er. „Euer Schicksal ist besiegelt. Die Frage ist nur, ob Ihr es an meiner Seite oder in den Wassern des Styx erfüllen wollt. Die Rituale, die Opferungen, der Seelenkrieg….“ Er schüttelte den Kopf. „Das ist Asmodeus‘ Werk, nicht das meine. Für ihn wart ihr nur Mittel zum Zweck, um den Göttern eins auszuwischen. Ich kann Euch so viel mehr bieten, Winter. Schaut Euch Ares und Antilia an. Keine Sklaven, sondern meine engsten Vertrauten!“
Winter verschränkte fröstelnd die Arme, als sie seinen schwefligen Atem in ihrem Nacken spürte.
„Ares‘ Sohn und die Karaturianerin sind tot.“
Das kam so unvermittelt, dass es sie wie ein Dolchstoß aus dem Hinterhalt traf. Winters Herz verkrampfte sich.
„Doch Euer Bruder lebt. Ich ließ ihn gehen, weil seine Seele bereits an einen anderen Herrn gebunden ist. Euer kleines Geheimnis habt Ihr immer gut vor ihm verborgen, nicht wahr? Es wäre doch eine Schande, wenn er nun trotz aller Bemühungen dazu gezwungen würde, die schwerste Entscheidung seines Lebens zu treffen… Und was würde eure tugendhafte Tochter sagen, wenn sie wüsste, welcher Quelle Ihr Eure dunkle Magie verdankt?“
„Ich glaube nicht, dass es ihren Hass noch steigern könnte“, erwiderte Winter düster. „Und nun lasst mich gehen! Eure Bemühungen sind vergeblich!“
Ein mentaler Befehl fesselte sie an ihren Stuhl. Sie keuchte auf. Doch nichts geschah. Statt des erwarteten Angriffs spürte sie, wie er sich von ihr entfernte.
„Also schön, Winter. Geht zurück auf Euer Zimmer. Sehen wir, wie Ihr in ein paar Wochen über diese Sache denkt…“
… wenn der Seelenhunger Euren Geist vernebelt.
Als ob sie diese Drohung gebraucht hätte, um daran erinnert zu werden, wie sehr sie ihm ausgeliefert war! Wieder fanden ihre Füße den Weg von selbst, doch diesmal sträubte sie sich nicht. Sie wusste, sie konnte ihn nicht aussperren. Trotzdem schlug sie die Tür hinter sich zu, ehe sie sich schluchzend auf das Bett in ihrem vereisten Gefängnis warf. Sie wollte nicht an Faust und Miu denken, nicht solange er in ihren Gedanken war. Vielleicht hatte er ja gelogen… Vielleicht gab es noch Hoffnung.
Plötzlich senkte sich magische Dunkelheit über den Raum. Ein Flügelschlag, dann spürte Winter eine Hand auf ihrer Schulter und die Luft begann zu vibrieren.
„Ich bringe Euch hier fort“, sagte Ares. „Wenn Ihr es zulasst.“
Ihr blieben nur Sekunden, um eine Entscheidung zu fällen. Der Halbteufel hatte ihr Leben zerstört, doch im Moment hätte sie alles getan, um dem Kerl zu entkommen, der ihr diesen grässlichen Fummel übergezogen hatte wie einer leblosen Puppe! Dann spürte sie einen stechenden Schmerz hinter der Stirn: Mephisto, der einen Wirbelsturm in ihren Gedanken entfesselte, als er erkannte, was los war. Das gab den Ausschlag. Hastig gab sie dem magischen Drängen des Dimensionszaubers nach, ehe der Höllenfürst ihr befehlen konnte, zu bleiben.
Sie sprangen ins Ungewisse.
„Schließt die Augen! Er sieht alles, was Ihr seht!“
Winter gehorchte und wehrte sich auch nicht, als Ares ihr in Windeseile eine Augenbinde anlegte und sie mit Händen und Füßen an einen Stuhl fesselte. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Es war wärmer als in Mephistos Palast und sie umgab eine angenehme Stille.
„Wir sind nicht mehr in Baator“, erklärte Ares. „Mephistos göttlicher Blick kann Euch außerhalb seines Reiches nicht orten. Außerdem liegt ein Dimensionsbann über diesem Ort, falls er Euch befehlen sollte, fortzuteleportieren… Ihr seid im Moment ein lebendes Ortungsgerät und ich bin ein erhebliches Risiko eingegangen, indem ich Euch hergebracht habe, denn er weiß jetzt, dass ich ihn verraten habe. Das Spiel hat begonnen.“
 „Könnt Ihr seinen Zauber nicht bannen?“, knirschte Winter, die unter Mephistos mentalem Wutausbruch Schmerzen litt.
„Ich kann seine Magie nicht kontern“, erwiderte Ares. „Ich habe die arkanen Künste bei den Wu Jen von Shou Lung erlernt. Zauber, die ihre Macht nicht aus den fünf Elementen schöpfen, sind mir verwehrt… Ich hole Hilfe. Versucht an nichts Bestimmtes zu denken, während ich weg bin. Lange werden meine Schutzvorkehrungen ihn nicht von hier fernhalten.“
Winter nickte.
„Wartet…“, bat sie, ehe er ging. „Faust und Miu… Ist es wahr? Sind sie tot?“
Der Halbteufel zögerte.
„Nein“, sagte er und wandte sich zum Gehen. „Schlimmer.“

Faust
Hallen des Schmerzes, Achter Höllenkreis.
Er hatte sich an einen Ort tief in sich selbst zurückgezogen, wo er den blutigen, krampfenden Klumpen, der einmal sein Körper gewesen war, nur noch aus dumpfer Entfernung wahrnahm. Zu Anfang hatte er die Zähne zusammengebissen, um nicht vor Schmerz aufzubrüllen. Inzwischen wusste er nicht einmal mehr, ob die Schreie, die gelegentlich zu ihm durchdrangen, von ihm oder einem der anderen Gefangenen stammten.
Plötzlich wurde er von der stechenden Giftwolke eines ekelerregenden Parfums eingehüllt. Der Schock katapultierte ihn zurück in seinen Körper und der Schmerz raubte ihm für kurze Zeit das Bewusstsein.
„Na, du bist mir aber ein strammer Bursche“, flötete die fette Tunte, die sich ihm als Kerkermeister Ahriman vorgestellt hatte, und tätschelte ihm die Wange. „Das ist genug für heute, wir wollen ja nicht, dass du uns gleich am ersten Tag abnippelst.“
Ein bleichgesichtiger Schmerzteufel bediente einen Hebel, der die mechanische Folterkonstruktion zum Stillstand brachte. Widerhaken rissen Hautfetzen mit, als sie sich aus seinem Körper zurückzogen, rotierende Schrauben hinterließen klaffende Löcher und Metallklauen, die ihn an den dehnbaren Rahmen der Konstruktion gefesselt hatten, entließen ihn abrupt aus ihrem Griff. Zwei weitere Folterknechte fingen ihn auf und zerrten ihn auf einen Stuhl, der dem Foltergerät zugewandt war. Wieder schlossen sich Metallringe um seine Arme.
Faust wollte etwas sagen, doch stattdessen ergoss sich ein blutiger Schwall aus seinem Mund.
„Lasst mich raten…“, krächzte er. „Jeden Tag ein bisschen länger und irgendwann bricht jeder?“
„Kluges Herzchen“, lobte der Kerkermeister. „Doch ich glaube, du gehörst zu der Sorte, die einen ganz besonderen Anreiz braucht.“ Er schenkte ihm ein anzügliches Grinsen und klatschte zweimal kurz in die Hände. „Auf, auf, bringt sie rein!“
Faust schloss mutlos die Augen, als Miu in die Folterkammer geführt wurde; ihr Körper unerträglich blass und rein gegen den blutverschmierten Hintergrund. Als die Teufel sie packten und in den Metallrahmen spannten, verkrampfte sich seine Eisenhand – der einzig intakte Teil seines Körpers - so schmerzhaft um die Stuhllehnen, dass ihm schwindelte. Er wollte sich abwenden, doch Ahriman packte sein Kinn mit seinen fettigen Wurstfingern und zwang ihn hinzusehen.
„Ah-ah-ah, du willst dir dieses Spektakel doch nicht entgehen lassen“, maulte er gekränkt. „Sie ist der Hauptakt, Herzchen!“
Er blickte Miu in die Augen. Die würden sie ihr nicht ausstechen. Geblendet war das Grauen der Kerker schließlich nur halb so entsetzlich... Nie in seinem gottlosen Leben war Faust näher davor gewesen, die Götter anzuflehen; sie zu bitten, Miu das Bewusstsein zu rauben, ehe sie ihr Schweigegelübte brechen konnte.
Halte durch, Miu.
Der Folterknecht legte den Hebel um.
Sie klammerte sich an seinen Blick wie eine Ertrinkende an einen Holzscheid. Hacken, Schwerter und Schrauben fraßen sich wie hungriges Getier durch ihren Körper. Doch sie schwieg. Totenbleich und reglos wie in Stein gemeißelt schleuderte sie ihren Peinigern ihren stummen Protest entgegen. Faust ließ ihren Blick nicht los, wagte es kaum zu blinzeln. Fast eine Stunde harrten sie so aus, bis der unbeugsame Funke in ihren Augen erlosch und Ohnmacht sie erlöste.
Stille.
„Amüsant“, befand Ahriman schließlich, zog dabei jedoch eine pikierte Schmolllippe, als ob Mius Triumph etwas Anstößiges sei.
Faust schloss erschöpft die Augen. Dann lachte er leise. Es tat höllisch weh, aber diesen kleinen Ausdruck des Stolzes konnte er sich nicht verkneifen. Der Kerkermeister warf ihm einen verärgerten Blick zu. Dann schlug er ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Als Faust noch immer weiterlachte, schlug er noch einmal zu. Und noch einmal. Wie ein trotziges kleines Kind. Faust hörte nicht auf zu lachen, bis ihn die Dunkelheit umfing.
Aufwachen ist keine gute Idee, war sein erster Gedanke, als er die Augen wieder aufschlug.
Es war dunkel und kalt in der kleinen Zelle. Ein vergittertes Türfenster, das auf den fackelerleuchteten Flur hinausging, war die einzige Lichtquelle. Nur schemenhaft erkannte er Miu, die neben ihm kniete und seine Wunden mit Wasser benetzte – wie er sie kannte, hätte sie dafür auch ihre letzte Ration Trinkwasser gegeben. Heilen konnte sie ihn nicht, denn die eisernen Sklavenringe, die sie beide um den Hals trugen, unterdrückten alle Art von Magie. Faust wollte sich aufsetzen, doch sein pochender Schädel schien nicht viel von dieser Idee zu halten.  
„Bleib liegen“, sagte Miu so leise, dass er erst glaubte, er hätte sich verhört.
„Du sprichst!“ Verwundert sah er zu ihr auf und erst jetzt erkannte er, dass sie unversehrt war. Schmutzkrusten bedeckten ihren nackten Körper, doch sie schien nicht einen einzigen Kratzer zurückbehalten zu haben. Eilig wandte er den Blick ab, bevor sie falsche Schlüsse ziehen konnte. Nicht, dass er sich nach der Folter sicher gewesen wäre, dass er bestimmte Körperteile überhaupt noch besaß… Lieber nicht dran denken.
„Warum, Miu?“, fragte er. „Du hast keinen Ton von dir gegeben. Du hast mir einen Mordsschrecken eingejagt, aber, verdammt, du hast nicht mal gezuckt! Meister Schwabbelbacke hat sich fast ins Knie gepisst vor Wut. Also warum hast du dein Gelübde gebrochen?“
„Es spielt keine Rolle“, murmelte sie. „Mein Schweigegelübde ist nicht das einzige, das sie mich zwingen werden zu brechen. So ist wenigstens das meine eigene Entscheidung.“
„Naja, ich bin auch nicht gerade scharf drauf, zu erfahren, wie’s in den Gedanken der fetten Tunte so aussieht.“ Ächzend setzte er sich auf und lehnte den Kopf gegen die kalte Wand. „Hör mal, Miu, ich weiß, im Moment sitzen wir ziemlich in der Scheiße. Aber du kennst mich doch… Ich bring‘ uns wieder hier raus.“
Du kommst sicher wieder hier raus.“ Ihr Blick glitt mutlos über die Wände. „Du bist der Auserwählte.“
„Ach, inzwischen denke ich, das ist Schwachsinn. Niemand hat mich auserwählt. Ich habe immer selbst meinen Weg gewählt.“
„Das ist nicht ganz wahr… Kennst du die Geschichte deines Schwertes?“
„Die Legende der Schwerter Hass und Liebe? Ja, Omega erzählte sie mir vor langer Zeit.“
Sein Schwert Zwiespalt, so wollte es die Legende, war entstanden, als die beiden Schwerter Hass und Liebe, zwei mächtige Artefakte, im Kampf aufeinander trafen. Der Gegensatz war so groß, dass ihre Träger zu Staub zerfielen und das Universum etwas völlig Neues erschaffen musste, um das Gleichgewicht aufrecht zu erhalten. So entstand Zwiespalt. Der erste, der das volle Potential des Schwertes erkannte, war ein entehrter Samurai namens Faust, dessen Namen zum Ordensnamen des Trägers der Chaosklinge wurde. Im Laufe der Jahrhunderte erwählte das Schwert viele Kämpfer. In manchen siegte die Liebe, in anderen der Hass.
„Der Träger des Schwertes Liebe ist mein Vorfahr“, erklärte Miu. „Es war sein Ahnengeist, der mich darum bat, über deine Seele zu wachen. Damit nicht der Teil von Zwiespalt in dir siegte, der aus Hass geboren wurde, wie in deinem Vorgänger.“
„Das Schwert beherrscht mich nicht“, verteidigte sich Faust.
„Damals bei dem Engel…“
„Das tat ich, weil ich es wollte.“
„Es war falsch, Faust! Du hättest niemals einen Diener des Pantheons angreifen dürfen!“
„Diener des Pantheons!“, knurrte er verärgert. „Was kümmert es dich überhaupt? Es sind nicht einmal deine Götter.“
„Ob Götter oder der Rat der Ahnen“, erwiderte Miu ernst. „Es muss etwas geben, das über uns steht. Ich weiß, du hältst nicht viel von kosmischen Hierarchien. Aber was wäre die Alternative?“
„Freiheit“, sagte Faust überzeugt. „Ohne die Götter wären wir frei.“
„Anarchie“, widersprach Miu leise. „Die Herrschaft des Stärkeren. Nur eine andere Art von Hierarchie.“
Faust schwieg. Er wusste, sie hatte nicht Unrecht. Und dennoch: Zu viele Gräueltaten wurden im Namen von Göttern und Teufeln verübt. Die Welt wäre vielleicht nicht eine bessere, wenn jeder gezwungen wäre, in seinem eigenen Namen zu handeln. Aber wenigstens eine ehrlichere.
„Am Anfang hatte ich solche Angst vor dir“, sagte Miu plötzlich unvermittelt. Sie senkte verlegen den Blick. „Ich hielt dich für brutal, vulgär und unmoralisch.“
„Ich bin brutal, vulgär und unmoralisch!“  
Sie lächelte, doch es war ein trauriges Lächeln.
„Faust, du musst mir etwas versprechen. Wenn mir hier… Wenn mir etwas Schlimmes widerfahren sollte, dann darfst du nicht… ausrasten.“
Faust runzelte die Stirn.
„Du weißt, ich hab’s nicht so mit Versprechungen.“
„Du hältst dich an die, die dir wichtig sind.“
„Ich versuch’s.“
Miu schien zufrieden. Doch Faust hatte plötzlich einen schrecklichen Verdacht.
„Miu“, sagte er alarmiert. „Ich will, dass du mir auch ein Versprechen gibst.“ Er kniete sich ihr gegenüber und hielt ihr die Hand hin. „Lass uns darauf einschlagen, dass wir keinem dieser Folterknechte das geben, was sie von uns wollen!“
Sie wurde blass und wandte betroffen den Blick ab.
„Tu nichts Dummes, hörst du“, murmelte Faust mit belegter Stimme.
… sonst tue ich etwas sehr viel Dümmeres.

Winter
„Ja, wir sind Piraten und fahren zu Meere; wir fürchten nicht Tod und den Teufel dazu!“, grölte Winter aus vollem Hals und beschwor Bilder von feiernden Matrosen und stürmischen Hafennächten. Ob es nun an ihrer haarsträubenden Gesangsstimme lag oder ob Mephisto bereits an einem neuen Plan arbeitete, sich an ihr und Ares zu rächen – jedenfalls hatte er sich seit Stunden nicht mehr in ihrem Kopf blicken lassen.
Endlich hörte sie, wie die Tür geöffnet wurde.
„Lord Ares?“, fragte sie bang.  
In nächsten Moment wurde sie von einer antimagische Welle erfasst, die jeden Zauber schluckte, der auf ihr lag. Doch auch Mephistos Beherrschungszauber fiel dem Bannsturm zum Opfer. Jemand befreite sie von Fesseln und Augenbinde.
„Grim!“ Sie schluchzte vor Erleichterung auf und fiel ihrem Bruder um den Hals. „Oh, Grim, es war so schrecklich!“
Der Priester trat einen Schritt zurück, um sie kritisch in Augenschein zu nehmen.
„Mit dem Fummel kommst du mir aber nicht in die Abtei“, brummte er und legte ihr seinen Umhang um die Schultern. Oh, tat das gut wieder Opfer seines grimmigen Humors zu sein! Erst als sie ihren Bruder ausgiebig gedrückt hatte, wandte sie sich seinen beiden Begleitern zu: Ares und Elijas.  
„Ihr schuldet uns eine Erklärung!“, brummte Grimwardt.
„Ich schulde euch gar nichts“, erwiderte Lord Ares mit der mutwilligen Arroganz eines Mannes, der es gewohnt war, andere vor den Kopf zu stoßen.
Etwas versöhnlicher forderte er sie auf sich zu setzen.  Die Farben des Wohnraums, in dem sie sich aufhielten, waren seltsam gedämpft und das Kaminfeuer spendete nur spärliches Licht.
Die Schattenebene, erkannte Winter erstaunt.
Als sie zum ersten Mal hier gewesen war, hatte sie die Ebene als kalt und abweisend empfunden. Inzwischen hatte sie ihre düstere Schönheit zu schätzen gelernt und die Schatten umschmeichelten sie wie stumme Verehrer.
Sie versammelten sich um den Tisch und Ares ließ seine Abishai-Diener Speisen und Getränke auftischen. Winter wagte es endlich, ihrem knurrenden Magen nachzugeben und langte kräftig zu. Der Halbteufel lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Fenstersims, an dem hin und wieder Schatten-Wächter vorbeihuschten. Er schien dieses Versteck schon seit langem zu pflegen und Winter begann sich zu fragen, wie lange er den Verrat an seinem Herrn wohl schon plante.
„Erwartet keine Entschuldigung dafür, dass ich euch am Seelensee nicht gerade mit Samthänden angefasst habe“, begann er. „Mephisto ahnte, dass ich etwas gegen ihm im Schilde führte. Hätte er zu diesem Zeitpunkt an meiner Loyalität gezweifelt, wären wir alle verdammt gewesen.“
„Was ist mit Faust und Miu?“, fragte Winter ungeduldig. „Wo sind sie?“
„Er hat sie in die Folterkammern geschickt. Dort sind sie für uns unerreichbar.“
Betroffen wartete sie auf mehr, doch es kam nichts.
„Und damit hat sich die Sache für Euch erledigt?!“, fragte sie empört. „Aber… Er ist Euer Sohn!“
„Es wäre Wahnsinn dort aufzukreuzen“, erwiderte Ares scharf. „Wir würden geradewegs in Mephistos Falle laufen. Sein göttlicher Sinn würde uns aufspüren, sobald wir Baator betreten.“
„Nun, das werden wir riskieren müssen! Wir können sie doch nicht…!“
Grimwardt legte ihr mäßigend die Hand auf den Arm.
„Dann ist es also wahr?“, murmelte er düster. „Er hat Asmodeus getötet und seinen Platz eingenommen…“
„Nein, Asmodeus lebt“, sagte der Halbteufel. „Aber hört euch die Geschichte vom Anfang an: Vor einigen Monaten fiel mir auf, dass Mephistopheles oft für längere Zeit verschwand und bei öffentlichen Auftritten ein Double für sich auftreten ließ. Ich ging der Sache nach und fand heraus, dass er viel Zeit in einem außerdimensionalen Laboratorium in der Höllenfeuer-Akademie verbrachte. Das ließ mich aufhorchen: Mephistopheles ist seit jeher der Ansicht, dass er Herr der Neun Höllen sein sollte, nicht Asmodeus. Er ist sich seiner Sache so sicher, dass er das Asmodeus sogar ins Gesicht gesagt hat. Ich schloss darum, dass dieses Labor ihm als Rückzugsort diente, wo er an seinen Plänen arbeiten konnte, ohne Asmodeus‘ göttlichem Blick ausgeliefert zu sein. Es dauerte lange, bis ich einen Weg in das Labor fand und als es mir schließlich gelang, fand ich den Raum verlassen und leer vor. Also befragte ich die Wände mit Hilfe eines Historienzaubers. So erfuhr ich von dem Zauber: ein Ritual, das es ihm erlaubt, die Ränge eines Gottes zu stehlen – die kosmische Energie, die göttliche Macht definiert. Er hätte dieses Ritual niemals allein entwickeln können! Ich weiß nicht, welcher Gott sein Verbündeter ist, denn hier versagte mein Aufklärungszauber, doch ich bin mir sicher, dass er höheren Beistand hatte. Ich ahnte auch nicht, dass er seine Pläne bereits in die Tat umgesetzt hatte, bis ihr auftauchtet. Doch ich vermute, dass Asmodeus noch lebt. Sonst hätte Mephisto seinen Coup niemals so lange geheim halten können. Der Tod eines Gottes wäre dem Pantheon gewiss nicht entgangen. Ich glaube, er hält Asmodeus irgendwo in Nessus gefangen. Vermutlich kann Mephisto ihn nur anzapfen, wenn er am Leben ist.“
„Hm, also dann wart Ihr Baalzebuls Informant in Cania?“, schloss Grimwardt.
Ares runzelte argwöhnisch die Brauen. Als der Kriegspriester ihm von ihrem Pakt mit dem Herrn der Lügen erzählte, nickte er widerwillig. „Ja, es stimmt, ich habe seit langem auf eine solche Gelegenheit gewartet und ich brauchte Verbündete in den Neun Höllen.“
„Auf eine solche Gelegenheit?“, schnaubte Winter. „Nun, die Gelegenheit dürfte Euch gründlich durch die Lappen gegangen sein. Mephisto ist Herr der Neun Höllen!“
Er lächelte hart. „Ich hatte nie vor, ihn daran zu hindern. Er hat seinen Triumph nur deshalb bis jetzt geheim gehalten, weil er genau wusste, dass es zum Krieg kommen würde, wenn die anderen Höllenfürsten von Asmodeus‘ Sturz erfahren würden. Einige von ihnen – allen voran Baalzebul – werden Mephistos Herrschaftsanspruch nie und nimmer anerkennen. Er spielte auf Zeit, denn er ist noch nicht so stark wie Asmodeus: Er kann nicht all seine Ränge auf einmal absorbieren; das würde ihn umbringen. Insofern habt ihr ihm vermutlich einen größeren Stich versetzt, als er zugeben will: Euer Angriff am Seelensee war heftig genug, um ihn zu zwingen, Asmodeus‘ göttliche Kraft in aller Öffentlichkeit gegen euch einzusetzen. Der Krieg der Legionen ist nun nicht mehr aufzuhalten. Und ich werde ihn anführen.“
Ares‘ Augen glühten vor Tatendurst. In diesem Moment erinnerte er Winter so sehr an Faust, dass es ihr einen eisigen Stich versetzte.
„Natürlich würde keiner der sieben Höllenfürsten mir folgen“, fuhr er fort. „Ich bin schließlich nur ein Halbblut; Mephistos sterblicher Lakai. Aber ich werde etwas haben, das keiner von ihnen hat: ein Mittel, Mephisto seiner gestohlenen Göttlichkeit zu berauben: Omegas Schwert.“
Elijas, er bis jetzt schweigend im Schatten geharrt hatte, runzelte argwöhnisch die Stirn.
„Was hat Omegas Schwert damit zu tun?“
„Himmelssplitter ist vermutlich die mächtigste Waffe, die je geschmiedet wurde. In Kara-Tur ranken sich unzählige Legenden um diese Klinge. Ihre volle Macht kann sie nur mit der Hilfe von neun Kugeln entfalten. Ich weiß, dass Omega eine dieser Kugeln besitzt, Terra, die Kugel der Erde. Die meisten jedoch gingen über die Jahrtausende verloren. Eine der Kugeln, Chaos, hat der Legende nach die Fähigkeit, einem Gott für eine Zeitlang seine Ränge zu rauben. Um Mephisto zu besiegen brauche ich also beides – das Schwert und die Kugel.“
Der Avariel schüttelte entschieden den Kopf. „Die Ordensschwerter offenbaren ihre Macht nur ihren erwählten Trägern. Himmelssplitter wird Euch niemals als Träger akzeptieren.“
„Doch, das wird es“, erwiderte Ares unbeeindruckt. „Himmelssplitter wird alles dafür tun, um zu Omega zurückzukehren. Wenn ich Mephisto besiege, macht mich das zum Herrn über Cania. Omegas Schicksal liegt dann in meiner Hand…“
„Ihr wollt einen Pakt mit einem Schwert schließen?“, fragte Winter ungläubig.
„Ja“, erwiderte Ares ruhig. „Und wenn ihr Omegas Seele erlösen und Desmond und das Mädchen befreien wollt, werdet Ihr mich dabei unterstützen. Ihr müsst für mich die Chaos-Kugel finden, während ich mich um Verbündete unter den Höllenfürsten bemühe.“
Eine Zeitlang herrschte Schweigen.
„Wo ist dieses Schwert nun?“, fragte Grimwardt schließlich.
„Am Grund des Teichs der Neun Schwerter“, antwortete Elijas. „Nur durch den Stein des Ordensführers können die Klingen beschworen werden.“
Der Priester maß Ares mit einem verdrießlichen Blick.
„Nun, wenn niemand einen besseren Plan hat, schlage ich vor, dass Ihr dieses Schwert vom Grund des Teiches holt.“
„Da gibt es nur ein Problem“, murmelte Elijas verlegen. „Ich bin nicht mehr Omegas Stellvertreter. Hades ist der neue Ordensführer der Neun Schwerter.“
Ein dreistimmiges Stöhnen hallte durch das Gebäude.

Faust
Drei Tage später.
Zwei Folterknechte schubsten ihn durch die Tür des Verhörraums und drückten ihn unsanft auf einen der beiden Stühle. Kurz darauf öffnete sich die gegenüberliegende Tür und Ahriman hievte seine schwere Wampe in den Raum. Wie üblich war der Kerkermeister von einer süßlich-fäkalen Nebelwolke umhüllt, die selbst einem Stinktier Kopfschmerzen bereitet hätte. Genüsslich puhlte er sich fremdes Blut unter den Fingernägeln hervor, ehe er einmal kurz schnipste, worauf sich ein Pergamentbogen in der Luft entrollte.
„Der Fürst hat dein Angebot einer genauen Prüfung unterzogen und besteht auf ein paar kleine Änderungen.“
Argwöhnisch studierte Faust das Dokument.
„Fünfzehn Jahre?“, knurrte er. „Ich hatte dreißig gefordert!“
„Herzchen…“ Meister Schwabbelbacke hatte begonnen seine Krallen mit einer Nagelfeile zu bearbeiten. „Dreißig Jahre wurden Omega gewährt. Deine Seele ist nicht einmal halb so viel wert. Der Fürst ist äußerst großzügig.“
„Und Miu…“
Eine Seele, ein Fahrschein. Wir verteilen hier keine Freifahrscheine. Das kleine Zuckerpüppchen bleibt hier.“
Hätte er sein Schwert zur Hand gehabt, hätte Faust das gepuderte Schleusen-Grinsen des Kerkermeisters liebend gern um ein paar blutige Fingerbreit vergrößert. Doch er riss sich zusammen und las sich den Pakt bis zum Ende durch. Dem Rest seiner Forderungen hatte Mephisto entsprochen: Er würde aus den Kerkern entlassen werden und all seine Gegenstände zurückerhalten. Bevor die Frist von fünfzehn Jahren abgelaufen war, durfte ihn kein Teufel Canias aufsuchen mit der Absicht ihn zu töten.
Fünfzehn Jahre.
Faust schloss die Augen und fuhr unschlüssig über die Tätowierung auf seinem Arm.
Was er vorhatte, war riskant. Es gab keine Garantie dafür, dass er jemals in der Lage sein würde, die Zeit zu manipulieren und den Bedingungen des Paktes zu entgehen. Aber er musste es versuchen. Er musste in Erfahrung bringen, was mit Winter, Grim und Tyrail geschehen war. Er musste verhindern, dass Miu ihre Seele für ihn hingab. Es brach ihm das Herz, sie allein hier zurückzulassen. Und er wusste, es würde sie zerstören, wenn sie hiervon erfuhr. Doch dieses Opfer musste er um jeden Preis verhindern.    
Vergib mir, Miu…
Er holte noch einmal tief Luft und zog den Zeremoniendolch über seine Handfläche. Hastig setzte er seinen blutigen Namen neben Mephistos Unterschrift, bevor er es sich anders überlegen konnte. Eilfertig rollte sich das Pergament zusammen und fiel ihm in den Schoß.  
Meister Schwabbelbacke ließ ihm seine Sachen bringen und schloss ihn mit einem tiefen, rührseligen Seufzer in seine stinkenden Arme.
„Und so geht er dahin“, jammerte er. „Sei ein böser Bub, Herzchen, bis wir uns in fünfzehn Jahren wiedersehen!“
„Oh, wir werden uns schon früher wiedersehen“, sagte Faust mit tödlichem Ernst. „Verlasst Euch drauf: Ich komme zurück!“
„Ach, Herzchen, das sagen sie alle“, seufzte der Kerkermeister und kniff ihm schäkernd in die Wange. „Also, wo darf’s denn hingehen?“
Gute Frage.
Er würde magische Hilfe brauchen, um Winter und Grimwardt aufzuspüren. Elijas, war sein erster Gedanke, aber bei den Neun Schwertern würde er sich auch Hades stellen müssen. Und in seiner gegenwärtigen Verfassung konnte er nicht garantieren, dass er den Richter nicht zu Pastete verarbeiten würde, wenn er noch einmal versuchen sollte, ihn in einen Käfig zu sperren. Ihm fiel nur ein Mann ein, der ihm ohne zu zögern helfen würde, wenn es darum ging, den Fedaykin-Geschwistern zu helfen: Nimoroth Lyrael.
„Bringt mich nach Myth Drannor.“  
Schwabbelbacke konnte es sich nicht verkneifen, ihm einen eiternden Kuss auf den Mund zu drücken, ehe er den Dimensionszauber sprach.
Die Mittagssonne strahlte so hell, dass sie Faust die Tränen in die Augen trieb. Verdammt, er hatte völlig vergessen, wie grün die Welt sein konnte. Für einen Augenblick schloss er die Augen und gab sich der schlichten Freude hin, die Sonne wieder auf seiner Haut zu spüren. Er stand auf einem bewaldeten Hügel, von dem er in einiger Entfernung die Türme der Elfenstadt erblickte. Faust folgte dem Plätschern eines Baches, um sich zu waschen und den scheußlichen Abschiedskuss wegzugurgeln. Dann legte er seine Rüstungsgegenstände an. Als er hinter sich das Knacken eines Zweiges hörte, fuhr er herum.
Tyrail zog sein Schwert.
Er sah schrecklich aus. Was auch immer er in den letzten Tagen durchgemacht hatte, es hatte alle Überheblichkeit aus seinen Zügen gewaschen und die bittere Verzweiflung darunter bloßgelegt. Alarmiert hielt Faust Ausschau nach Zeichen einer Verwandlung: rote Augen, der Ansatz einer Schuppenhaut…
Nein, natürlich nicht.
Er stieß ein grimmiges Schnauben aus.
„Er kann mir keinen seiner Teufel auf den Hals hetzen, um meine Seele zu verdammen, also schickt er dich? Was bekommst du dafür, wenn du mich jetzt tötest?“
„Niemand schickt mich.“ Tyrails Stimme klang düster und rau. „Ich werde heute meinen Blutschwur erfüllen.“ Sein Blick glitt den Hügel hinunter und verweilte eine Zeitlang auf den Dächern der Elfenstadt. „Bezeichnend, dass du ausgerechnet diesen Ort für unseren letzen Kampf ausgewählt hast. Einst ein Juwel meines Volkes, das nun von eurem Gift durchdrungen ist.“
Faust verdrehte die Augen.
„Hör auf mit dieser Eldreth-Veluuthra-Kacke. Ich habe überhaupt nichts ausgewählt und ich werde mich auch nicht schon wieder mit dir schlagen!“
Der Elf lachte leise in sich hinein. „Weißt du, Faust, ich bin froh, dass ich dir in die Hölle gefolgt bin. Ich habe nie klarer gesehen. Sie ist wie euer Herz: das Zentrum all des Bösen, das ihr in die Welt gebracht habt.“
„Wenn du das glaubst, bist du wirklich verloren!“
„Es waren eure Götter, die Asmodeus verbannten!“, zischte Tyrail mit Nachdruck. „Die Götter, die euch nach ihrem Abbild schufen! Die Götter, die die Zauberpest über Faerûn brachten und damit die letzten von uns ins Exil nach Arvandor trieben! Die einzigen, die noch übrig sind, sind Verräter wie die Teufelsbuhle Antilia, die ihr Volk vergessen hat, und diese Hexe von Myth Drannor, die euch die Tore öffnet und euch einlädt, euer Blut mit dem unseren zu vermischen, bis nichts mehr von uns übrig ist!“ Tränen der Überzeugung liefen ihm übers Gesicht. „Der Kampf der Tel-Quessir ist längst verloren und ich habe kein Interesse, länger in eurer vergifteten Welt zu leben! Diesmal wirst du mich nicht am Leben lassen, sollte ich versagen. Dafür habe ich gesorgt.“ Er trat so nah an Faust heran, dass er Tyrails Atem auf seiner Wange spürte. „Ich weiß ja, du bist ein Tier! Du brauchst den Rausch und die Wut! Also hör mir gut zu: Ich habe die beiden brutalsten Kultisten, die ich auftreiben konnte, zu deiner Ordensschwester geschickt! Die haben immer Bedarf an Jungfrauen! Ich wette, die werden viel Spaß mit deiner kleinen Freundin haben!“
Fausts Gesichtszüge erstarrten.
„Du hast eine Minute, um dich vorzubereiten“, sagte der Elf kalt und wandte sich ab, um sich kampfbereit zu machen.
Oh, Tyrail.
Das war Mephistos Werk. Er hatte auch das letze bisschen Ehre in Tyrail mit Hass und Verzweiflung verseucht. Um Mius Willen versuchte Faust in ihm den zurückgezogenen, jungen Elfen zu sehen, der mit ihm zusammen die Ausbildung bei den Neun Schwertern begonnen hatte. Doch er sah nur den selbstzerstörerischen Fanatiker, der mit blutunterlaufenen Augen und wirrem Haar auf seinen Angriff lauerte. Was auch immer Thallastam und die Klinge Blauzorn an Gutem in ihm gesehen hatten – es war ausgelöscht.
Du hast es so gewollt, du mieses Schwein!
Faust zog sein Schwert.
Zur Vorbereitung sprach er nur einen einzigen Zauber – wie schon bei ihrem letzten Kampf umgab er sich mit einer antimagischen Zone, um den Klingengeist von seinem Gegner abzuschneiden.
Ein Fehler.
Tyrail machte keinen Fehler zweimal. Die Klinge stoßbereit über der Schulter, schnellte er auf ihn zu, stieß sich ab und katapultierte sich mit solcher Wucht vorwärts, dass der Sprung Faust von den Füßen riss. Er schnappte nach Luft, als Blauzorn seine Magendecke durchstieß. Die antimagische Zone unterdrückte den Schutz, der für gewöhnlich seine inneren Organe vor Schaden bewahrte und er war gezwungen, den Zauber aufzugeben, um Schlimmeres zu verhindern. Tyrail hatte seine Lektion aus ihrem letzten Kampf gelernt! Faust wälzte sich zur Seite, um den rasanten Folgestößen auszuweichen. Tyrail ließ ihm keine Gelegenheit für einen Gegenangriff - seine Bewegungen flossen schneller als die Zeit. Ein Schulterhieb, der ihm beinahe das Bewusstsein raubte, nagelte Faust zu Boden, sodass er nicht einmal mehr ausweichen konnte. Ein wahnwitziges Funkeln flackerte in Tyrails Augen, als er sich aufrichtete und zum Todeshieb ausholte.
Das war’s.
Fieberhaft suchte Faust nach einem Ausweg. Er zog sich an den Ort in seinem Innern zurück, den er in den Folterkammern von Cania entdeckt hatte. Der Ort, wohin kein Schmerz ihm folgen konnte. Miu! Er klammerte sich an ihr Bild, klammerte sich an den Gedanken, dass er zurückkehren musste, um sie zu retten! Brüllend stieß er sich ab und warf sich auf seinen Gegner. Hieb um Hieb drängte er Tyrail zurück ohne sich um Gegenangriffe zu kümmern. Tyrails Überlegenheitssinn schwand mit jedem erfolgreichen Schlag. Er spürte, dass der Elf am Rande seiner Kräfte war. Mit einem letzten zornigen Schlag nagelte er ihn gegen einen Baumstamm. Als Faust die Klinge aus seinem Körper riss, sackte der Elf zu Boden.
Gefangen in dem Wahn, in den er sich selbst versetzt hatte, schleuderte Faust seine Waffe von sich, packte Tyrails Schädel und rammte ihn gegen den Baumstamm. Er wusste, wenn er ihn jetzt tötete, hatte Tyrail erreicht, was er beweisen wollte. Trotzdem konnte er nicht aufhören. Rinde splitterte, bis sein Gesicht nur noch eine blutige Fratze war.
Faust, du musst mir etwas versprechen…
Er heulte auf. Er hatte es ihr versprochen! Er hatte ihr versprochen, dass er nicht ausrasten würde! Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung riss er sich los. Stolpernd rannte er durchs Dickicht, während Zweige ihm ins Gesicht peitschten. Am Fuße des Hügels brach er schließlich zusammen. Lange lag er blutend und zitternd im Gras, ehe er die blasse Gestalt im Schatten der Bäume wahrnahm. Mühsam richtete er sich auf.
„Lasst mich in Frieden!“, schleuderte er Thallastam entgegen, während ihm Tränen der Wut über die Wangen strömten. „Schönen Dank für Eure Hilfe!“
„Ich schätze, diesmal habe ich deinen Zorn verdient“, murmelte der Geist. „Aber es war meine freie Entscheidung sein Klingengeist zu werden. Ich habe nicht das Recht ihn zu verlassen, wenn mir seine Taten nicht gefallen. Ich kann nur darauf hoffen, sie zu beeinflussen…“
„Na, das klappt ja großartig!“
„Du hast Recht.“ Nicht einmal die tiefe Traurigkeit in Thallastams Augen konnte Fausts Bitterkeit lindern. „Tyrail ist verloren. Es tut mir leid, dass ich das nicht früher erkannt habe. Ich hätte ihn niemals bitten sollen, dir in die Hölle zu folgen.“ Der Geist schwebte näher. „Ich schätze, ich war stets nachsichtiger mit ihm als mit dir, da ich mich für sein Schicksal verantwortlich fühlte. Als er noch sehr jung war, wurde er Zeuge eines Massakers, bei dem die meisten Elfen seines Dorfes ums Leben kamen. Ich hatte die Angreifer ins Dorf geführt in der Hoffnung, dass es eine Aussprache zwischen ihnen und den Elfen geben würde. Ich ahnte nicht, welches Grauen sie anrichten würden. Das Dorf wurde von einem Eldreth-Veluuthra-Rat regiert. Antilia war eine der Anführerinnen. Ich dachte, sie sei bei dem Angriff ums Leben gekommen. Sie als Mephistos Mätresse wiederzusehen, hat Tyrail in eine tiefe Düsternis gestürzt, aus der er sich nicht mehr befreien konnte. Sie stand einst für alles, woran er glaubte.“
„Nichts kann rechtfertigen, was er Miu angetan hat“, murmelte Faust. Während Thallastams Enthüllung war ihm klargeworden, wie er Tyrail zur Rechenschaft ziehen konnte. Nichts, was er tat oder sagte, würde je durch seinen gleißenden Schleier der Verblendung dringen. Nur das Wort eines Elfen konnte diesen Schleier lüften.  „Er verdient es nicht zu sterben. Ich werde dafür sorgen, dass er in Myth Drannor verurteilt wird. Ich kenne einen Elfenfürsten des Hohen Rates, der mir mit Sicherheit dabei behilflich sein wird, wenn er von seinen Verbrechen erfährt. Soll sein erwähltes Volk ihn in die Verbannung schicken! Vielleicht erkennt er dann den Wahnwitz seiner Irrlehren!“
Sein Lehrmeister wirkte betroffen, aber er widersprach ihm nicht.
„Einem N’Tel‘Quessir erscheint die Verbannung eines dhaerow oft als geringe Strafe, verglichen mit der Todesstrafe“, sagte er schließlich leise. „Doch das stimmt nicht. Der Tod ist für uns nicht das Ende, sondern nur eine Reise an einen anderen Ort. Wir verlieren nicht unsere Erinnerung an unser sterbliches Leben so wie ihr, wenn wir nach Arvandor gehen. Für einen Ausgestoßenen jedoch ist die Verbindung nach Arvandor für immer durchbrochen. Für jene, denen es nicht gelingt, sich in die menschliche Ordnung einzufügen, ist der Tod endgültig – ihre Seele löst sich einfach in Nichts auf. Ich erzähle dir das nicht, um dich aufzuhalten“, fügte er hinzu. „Ich will nur sichergehen, dass du weißt, was du tust.“
„Das weiß ich sehr genau“, erwiderte Faust düster.
„Aber ich bitte dich noch um eines: Bring uns nach Rabenklippe, bevor du Tyrail den Ark’Vellahr überantwortest.“
„Wieso?“
„Wenn Tyrails Verbindung nach Arvandor durchtrennt wird, werde ich ihn verlassen müssen. Doch es gibt noch etwas, das ich im Diesseits erledigen will: Ich werde Hades darum bitten, das Ordensurteil gegen dich aufzuheben.“
Kennt Ihr Hades?“, fragte Faust sarkastisch.
„Besser als du denkst“, murmelte der Geist rätselhaft.
Faust zuckte gleichgültig mit den Schultern.  
„Tut, was Ihr nicht lassen könnt.“  
Er war zu erbittert, um zu hoffen.

« Letzte Änderung: 08. März 2012, 07:35:54 von Niobe »

Nightmoon

  • Mitglied
    • Schicksalsstreiter
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #263 am: 08. März 2012, 12:30:51 »
Wow! Das geht ja flott! Sehr spannend geschrieben! Und Hades ist natürlich auch immer wieder ein Genuss ;)

Winter

  • Mitglied
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #264 am: 10. März 2012, 14:19:16 »
Das war sooo schlimm in der Hölle!
Ich bin sehr beeindruckt vom neuen Kapitel.

Nightmoon

  • Mitglied
    • Schicksalsstreiter
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #265 am: 31. März 2012, 12:12:10 »
Bin immer noch aufs Ende gespannt! Und dann schon auf die nächste Geschichte... ich glaub wir müssen Hades zurückholen, sonst geht der Spaß-Charakter Nr. 1 verloren ;)

Nightmoon

  • Mitglied
    • Schicksalsstreiter
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #266 am: 27. April 2012, 12:46:38 »
Wie schauts denn aus? Nähert sich die Geschichte langsam dem Finale? Hast du eigentlich schon nen Plan wie´s mit dem Abenteuer weitergeht, also beim nächsten mal spielen?

Niobe

  • Mitglied
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #267 am: 29. April 2012, 16:13:00 »
Danke fürs Spielleitern gestern/heute, war wieder sehr cool :-)

Komme im Moment leider nicht viel zum Schreiben oder Ausarbeiten, aber mal sehen... Wie es weitergeht, kommt drauf an, was ihr als nächstes geplant habt... Wolltet ihr euch der Schlacht in Rasilith anschließen oder eigene Nachforschungen betreiben? Bräuchte da noch ein bisschen Input...

Niobe

  • Mitglied
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #268 am: 03. Juni 2012, 23:21:30 »
Kapitel VI: Himmelssplitter

Grimwardt
Schwerterteich, nachts. 
Stundenlang quälte sich Grimwardt durch Gesetzestexte, die in drei verschiedenen Sprachen verfasst und teilweise so alt waren, dass die Seiten unter seinen Händen zu Staub zu zerfallen drohten. Als er endlich fand, wonach er suchte, hörte er vor dem Fenster der Ordensbibliothek bereits die ersten Vögel zwitschern.
Jetzt habe ich dich, Hades.
Mit grimmiger Befriedigung klemmte er sich den Folianten unter den Arm und lief über den Hof zur Halle der Schwerter. Die meisten Ordensmitglieder hatten sich längst zurückgezogen. Nur Hades und Elijas stritten noch immer um die Aushändigung von Omegas Schwert – sofern man Hades‘ staubtrockene Litaneien, gelegentlich unterbrochen von Elijas‘ frustrierten Einwänden, als Streit bezeichnen konnte. Winter hatte sich in einer Ecke des Raumes zusammengekauert und war eingeschlafen, während sich Faust gelangweilt im Münzenschnipsen übte.
Auf Drängen des Klingengeists hatte Hades Faust eine zweite Chance eingeräumt und die Ordensmitglieder über die Aufhebung des Todesurteils abstimmen lassen. Das Ergebnis war einstimmig gewesen: Faust war frei und als Ordensmitglied rehabilitiert. Das bedeutete allerdings auch, dass Hades als Teil seiner Pflicht betrachtete gemäß Omegas letztem Wunsch alles zu tun, ihn daran zu hindern in die Hölle zurückzukehren. Nicht, dass Faust einen feuchten Dreck auf Hades‘ Meinung gegeben hätte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie Hades längst niedergehauen und ihm den magischen Stein abgenommen, der Omegas Schwert aus dem Teich zu rufen vermochte.
Hades schluckte Staub, als Grimwardt den alten Folianten vor ihm auf den Tisch wuchtete, und Winter fuhr aufgeschreckt aus dem Schlaf.
„Lest!“, befahl Grimwardt schroff.
Nachdem der Richter den Absatz einer genauen Prüfung unterzogen hatte, hob er stirnrunzelnd den Kopf.
„Was hat das zu bedeuten?“
„Der Paragraph besagt, dass der Anführer der Neun Schwerter gemäß den alten Kriegsgesetzen bestimmt wird“, klärte Grimwardt ihn auf. „Ihr hattet also überhaupt kein Recht, den Titel des Anführers für Euch zu beanspruchen, ohne Elijas vorher im Duell zu besiegen!“
„Das ist nicht korrekt“, erwiderte Hades. „Elijas ‚Thallastam‘ Avalior beanspruchte für sich nicht den Titel des Anführers, sondern handelte als Omegas Stellvertreter, weil er fälschlicher Weise glaubte, sie retten zu können. Er handelte dem Orden zuwider, als er sich über ein Gemeinschaftsurteil hinwegsetzte und Faust aus der Haft entließ, darum wurde er abgesetzt. Das Kriegsgesetz greift in diesem Fall nicht.“
„Aber Ihr erhebt den Führungsanspruch.“
„Gewiss. Omega ist tot und der Orden kann nicht länger ohne Führung bleiben.“ 
„Dann steht es also jedem Ordensmitglied frei Euch zum Duell zu fordern und die Führung des Ordens für sich zu beanspruchen?“
Hades‘ Mundwinkel zuckten. Die Wahrheit schmeckte ihm nicht, aber er hätte sich eher das Herz aus der Brust gerissen, als eine Lüge auszusprechen.
„Das ist korrekt.“
Alle Blicke richteten sich auf Elijas. Der Avariel schien dem Braten nicht zu trauen und bewegte unschlüssig die Flügel. Jedem in diesem Raum war bewusst, dass die Chancen des Kelemvor-Priesters gegen den elfischen Klingensänger schlecht standen. Schließlich erhob sich Elijas schweren Herzens und sprach eine formelle Duellforderung  aus, die Hades mit einem sauren Nicken erwiderte.
 „Zur Mittagsstunde auf dem Übungsplatz“, sagte er knapp. „Ich weise darauf hin, dass der Kampf auch gemäß den alten Kriegsgesetzen endet.“
Mit diesen Worten rauschte er davon.
„Was hat er gemeint?“, wandte sich Elijas alarmiert an Grimwardt.
Der Kriegspriester seufzte.
„Die alten Kriegsgesetze besagen, dass der Kampf erst beendet ist, wenn der Unterlege sich entweder ergibt oder fällt. Gnade wird dem Sieger als Schwäche ausgelegt.“
In seiner Abtei wurde die Regelung schon lange nicht mehr angewandt, weil Grimwardt fand, dass sie zu einer sinnlosen Verschwendung von Kriegspotential führte. Hades war ganz offenbar eingeschnappt, weil er ihn mit seinen eigenen Mitteln geschlagen hatte, und wild entschlossen sich eher umbringen zu lassen, als eine Niederlage hinzunehmen.
Elijas schien zu derselben Erkenntnis zu kommen.
„Dann fangt schon mal an auf ein Wunder zu hoffen“, murmelte er düster.

Faust
Rabenklippe, zwei Tage später.
Die Flügel eng an den Körper gepresst wie ein verschüchtertes Kind vor Vaters Porzellanschrank bahnte sich Elijas einen Weg durch das Labyrinth der Büsten und Kandelaber, die sich im Laufe der Jahre in der Empfangshalle des MacLancastor-Anwesens angesammelt hatten.
Wie ein Albatros, dachte Faust belustigt. Ungeschlagen in seinem Element, aber noch immer ziemlich ungelenk in der Welt der Menschen.
Und dabei hätte Elijas längst ein großer Mann sein können. Seit seinem Sieg gegen Hades vor zwei Tagen gab es in Rabenklippe kein Augenpaar, das sich nicht bewundernd nach dem Avariel umschaute. Elijas‘ Misstrauen gegenüber derlei Lorbeeren war verständlich, schließlich hatte er schon einmal erfahren, wie flüchtig sie waren. Und schließlich hätte die Geschichte auch ganz anders enden können, wenn Hades wie angekündigt auf den Ehrentod bestanden hätte. Denn sosehr das Volk von Rabenklippe auch vor dem Todespriester zitterte – er war einer der größten Helden, derer sich die selbstverliebte Stadt je hatte rühmen können, und den Tod eines Helden nahm hier niemand auf die leichte Schulter. Doch Hades schien erkannt zu haben, dass der Orden unter seiner eisernen Herrschaft über kurz oder lang zerbrechen musste: Nur Omega konnte das Gleichgewicht der Neun aufrecht erhalten – doch sie konnte er nicht retten ohne ihrem Letzten Befehl zuwider zu handeln. Als er Elijas den Stein der Neun übergeben hatte, der die Ordensschwerter an den Teich band, meinte Faust für einen kurzen Moment sogar Erleichterung in seinen gespenstigen Augen gelesen zu haben: Erleichterung diesem Dilemma entflohen zu sein.
Nachdem sie Himmelssplitter aus dem Teich geborgen hatten, war das Auffinden der Kugel Chaos ein Kinderspiel gewesen: Mithilfe magischer Untersuchungen an der Waffe hatten die Gefährten das Artefakt auf der Ebene Pandemonium aufgespürt. Dort hatten sie die Kugel aus dem Innern einer uralten Chaosbestie herausgeschnitten. So unspektakulär war dieser Teil der Geschichte verlaufen, dass Faust sich fragte, weshalb Omega nicht schon früher nach ihr gesucht hatte. Hätte er ein Artefakt besessen, das einen Gott entmachten konnte, er hätte den göttlichen Reichen schon längst einen Besuch abgestattet… Andererseits war das vermutlich einer der Gründe, weshalb Himmelssplitter Omega als Trägerin erwählt hatte und nicht ihn…
 „Hm… Sag mir noch mal, weshalb wir hier sind…“
Unbehaglich folgte Elijas dem Hausmädchen in die persönlichen Gemächer der Hausherrin.
„Ich will dich meiner Mutter vorstellen“, gab Faust bereitwillig Auskunft und beobachtete grinsend, wie sich zaghafter Argwohn in den Zügen seines Begleiters abzeichnete. Doch der Avarielfürst war zu höflich danach zu fragen, wie er wohl zu dieser sonderbaren Ehre kam – und zu Fausts Glück kannte er ihn nicht gut genug, um bei diesem Grinsen nicht so schnell wie möglich das Weite zu suchen.
Sie fanden Lady Helena in Gesellschaft einer jungen Bekannten, die das Hausmädchen ihnen als Lady Dora vorstellte. Ein kleiner Fisch in Helenas Intrigennetz, wie Faust vermutete.
Besser hätte ich es nicht planen können…
„Mutter, Lady Dora.“ Faust konnte es sich nicht verkneifen, vertraulich den Arm um die Taille des überrumpelten Avariel zu legen: „Das ist mein Freund Elijas.“
Bedeutungsvolle Stille. Dann entfuhr Lady Dora ein quiekender Laut zwischen Kichern und Schluckauf, den sie eilig mit vorgehaltener Hand zu unterdrücken versuchte. Fausts Mutter dagegen hob nur vielsagend eine Augenbraue und nahm unbeeindruckt einen Schluck Tee. 
„Lady Dora“, bat sie mit einem säuerlichen Lächeln, während ihr Blick auf Faust ruhte. „Mein Sohn scheint seit unserer letzten Begegnung durch die Hölle gegangen zu sein. Wenn Ihr uns wohl für heute entschuldigen würdet?“
Lady Dora konnte es gar nicht erwarten, den Salonklatsch des Monats zu überbringen und raffte eilig die Röcke. Fausts Mutter ersuchte auch Elijas sie allein zu lassen, der seine verbliebene Würde darauf richtete, keinen allzu überstürzten Abgang hinzulegen. Dann schloss sie geräuschvoll die Tür.
Faust prustete los.
 „Ich weiß, es erheitert dich, mich vor aller Welt in Verlegenheit zu bringen“, kommentierte seine Mutter eisig sein kleines Theaterstück. „Ich hoffe nur, dass dein ‚Freund‘ ebenso eine diebische Freude an übler Nachrede hat wie du.“
Sie nahm ihm gegenüber in der Sitzecke des Lesesalons Platz und musterte ihn lange und kritisch wie das dubiose Kunstwerk eines exzentrischen Malers.
„Du bist aus der Hölle zurückgekehrt“, stellte sie schließlich nüchtern fest.   
Er hatte sein Versprechen gehalten und seine Mutter über sein Vorhaben auf dem Laufenden gehalten. Sie hatte ihn nicht davon abgehalten, weil sie wusste, dass es vergebliche Mühen gewesen wären. Doch es wurmte ihn, dass sie es nicht einmal versucht hatte. Darum ließ er sie zappeln, während die unausgesprochene Frage wie ein zitterndes Schwert über ihnen hing. Nachdem sie eine Weile ihr Teeservice seziert hatte, hielt Helena es schließlich nicht länger aus.
„Hast du ihn getroffen?“
Faust nickte.
„Er ist ein Halbteufel“, eröffnete er ihr in unbedarftem Plauderton. „Ziemlich hohes Tier an Mephistos Hof. Hat seine Freunde verraten und seine Seele verkauft.“
Sie nahm einen tiefen Schluck ihres Tees. „Du hast also mit deinem Vater gesprochen…“
„So würde ich es nicht nennen.“ Er spürte, wie sein Sarkasmus in Bitterkeit umschlug. „Nicht dass ich nicht gerne ein wenig mit ihm geplaudert hätte, aber ich war zu sehr damit beschäftigt, mich nicht von ihm umbringen zu lassen, während er mit einem brennenden Schwert auf mich losging.“
Er wusste nicht genau, wofür er sie bestrafen wollte. Für all die Heldengeschichten? Für ihre unerschütterliche Liebe? Dafür, dass sie in ihm die Hoffnung geweckt hatte, dass irgendeine noble Intention hinter den Gräueltaten seines Vaters stand? Er konnte sehen, dass sie um Fassung rang und dieses Mal – dieses eine Mal – würde er den verdammten Eispanzer von Helena MacLancastor durchbrechen!
„Oh, ich habe übrigens meine Seele verkauft.“
Ein Schaudern streckte ihren Rücken wie bei einem Hexenschuss.
„Ist das wieder einer deiner geschmacklosen Scherze?“
„Nein, das ist mein voller Ernst. Naja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, nicht wahr?“ 
 Seine Mutter war kreidebleich geworden. Wankend hielt sie die Lehne ihres Sessels umklammert. Faust wusste, es war Zeit, aufzuhören. Doch er war wie im Rausch gefangen. Irgendein Funke, irgendein sadistisches Vergnügen, trieb ihn vorwärts. „Ich habe noch fünfzehn Jahre - dann gehe ich über den Styx und Mephistopheles trinkt meine Seele.“ 
„Hör auf…“
„Er hat mich foltern lassen. Eine meiner Gefährtinnen ist noch immer da unten…“
„HÖR AUF!“ Sie war aufgesprungen und bebte am ganzen Körper. Niemals zuvor war sie ihm so verletzlich vorkommen. „Was willst du von mir, Desmond! Du tauchst hier auf mit deinen geschmacklosen Scherzen und deiner Unverfrorenheit und erzählst mir, dass dein Vater ein Monster ist und du deine Seele an den Teufel verschachert hast?! Was erwartest du von mir? RAUS! Raus aus meinem Haus! Geh mir aus den Augen!“
Ihr Zorn und ihr Schmerz rissen Faust aus seinem Wahn. Betroffen richtete er sich auf.
„Wann…?“ Er schluckte.
 „Geh… Geh einfach.“ 
Sie würde nicht weinen. Nicht vor ihm. Diese letzte Blöße konnte sie sich nicht geben. Betäubt, wie ein Verurteilter, der schlafwandelnd ein Verbrechen begangen hatte, folgte er ihrem anklagenden Zeigefinger aus dem Raum…
Ziellos lief er durch die Straßen. Er glühte. Er hatte das Gefühl, explodieren zu müssen, wenn er auch nur eines der Gefühle zuließ, die unter der Oberfläche brodelten.
Fünfzehn Jahre.
Erst der Flügelschlag erinnerte ihn daran, dass er nicht alleine hergekommen war. Elijas schien die empfindliche Spannung zu spüren und hielt Abstand.
Faust stieß ein raues Lachen aus.
„Wunder dich nicht, wenn morgen die ganze Stadt über dich tratscht. Aber ich schätze, das bist du nicht anders gewöhnt…“
Elijas überging den rüden Sarkasmus.
„Das lief nicht so ganz wie geplant, hm?“, bemerkte er vorsichtig, während er sich bemühte mit Fausts chaotischem Laufschritt mitzuhalten.
„Ich war nur ehrlich“, knurrte Faust grimmig. „Zu ehrlich, wie meistens….“
Der Avariel hielt erschrocken inne. 
„Du hast ihr erzählt, dass du…?“
„… meine Seele verkauft habe, verdammt, ja!“
Elijas verbiss sich einen vorwurfsvollen Kommentar und schwieg.
„Glaubst du, sie ist es wert?“, fragte er schließlich unvermittelt. „Omega…“
Faust sah ihn scharf an.
„Sie ist die beste von uns, oder nicht?“
„Ja“, erwiderte der Avariel leise. „Und darum hatte sie vermutlich Recht. Niemand von uns hätte ihr folgen sollen… Es zerreißt den Orden.“
Tyrails Verbrechen. Hades‘ Machtspiele. Vermutlich hatte Elijas Recht. Wahrscheinlich wären die Neun Schwerter aber so oder so zum Scheitern verurteilt. Und ihm war das ehrlich gesagt herzlich egal. Er war nicht für den Orden durch die Hölle gegangen. Hatte nicht für den Orden seine Seele verkauft. Im Grunde, gestand er sich ein, ging es ihm nicht einmal um Omega. Er wollte Mephisto besiegen. Mehr als jeden seiner Feinde wollte er ihn tot sehen. Für das, was er aus seinem Vater gemacht hatte. Aus Tyrail. Was mit Miu geschah… Die Frage war nur, ob der Preis nicht schon zu hoch war.
Faust schob den Gedanken beiseite.
Nicht heute…
„Schon mal etwas von damarischen Trinkmarathons gehört?“, wandte er sich unvermittelt an Elijas.
„Damarische… was?“
Faust klopfte ihm nüchtern auf die Schulter. 
„Du weißt dein Talent echt nicht einzusetzen, Mann.“
Kurz darauf schob er den sich sträubenden Elfen durch die Tür des „Hinkenden Raben“. Er mochte nicht wissen, wie die Zukunft aussah, aber er hatte eine ziemlich lebhafte Vorstellung davon, wie diese Nacht aussehen konnte. Und so wie er seinen Gemütszustand einschätzte, waren gespaltene Schädel dabei nicht auszuschließen. Da konnte es nicht schaden, jemanden an seiner Seite zu wissen, der noch nie etwas von damarischen Trinkmarathons gehört hatte…

Winter
Silbrigmond.
Xara Tantlor schien an diesem Abend guter Dinge zu sein. Summend trippelte die Magierin mit dem Fuß einen Takt, während sie die Tagesabrechnung machte.
Winter war schon an der Tür, als ihr einfiel, dass sie nirgendwo erwartet wurde. Grimwardt war gleich nach dem Kampf um Himmelssplitter in die Abtei zurückgekehrt. Die letzte Nachricht, die sie aus dem Schlachtental erreicht hatte, war, dass Lady Lucia ihren Bruder für die Pferdezucht zu begeistern versuchte. Faust war indessen von einem Besuch bei seiner Mutter noch nicht zurückgekehrt. Winter sehnte sich selten nach ihrem alten Leben in Hlondeth zurück. Eigentlich hatte sie sich noch nirgendwo wirklich heimisch gefühlt. Doch in Momenten wie diesen dachte sie, dass es schön sein musste an einen Ort zurückzukommen, an dem man gebraucht wurde. 
 Ein wenig ratlos sah sie sich in Xaras kleiner Magierstube um. Nachdem mit der Magie auch ihre besten Kunden zurückgekehrt waren, hatte die Zaubermeisterin ihr altes Handwerk wieder aufgenommen. Da allerdings ihre Teestube bei Silbrigmondern während der Zauberpest zu einiger Beliebtheit gelangt war, hatte sie den Laden nicht aufgeben wollen. So war ihr kleines Reich zu einem Gelehrtentreff geworden, wo es ständig nach frischer Tinte und fremden Gewürzen duftete. Winter mochte diesen Ort. Lange hatte sie Xara Tantlor als potentielle Gefahr betrachtet. Dabei hatte sich das durchtriebene Miststück, das sie einst an Drake verraten hatte, längst zur braven Bürgerin gemausert – wenn man einmal von ihren  dubiosen Verbindungen zur Unterwelt der Silbermarken absah, denen sie die Schmuckstücke ihrer Sammlung verdankte.
Eigentlich sind wir nicht so verschieden…
Nur, dass Xara so klug gewesen war, auf den rechten Pfad zurückzukehren, ehe ihr Sohn zu Schaden kam…
Winter gab sich einen Ruck.
„Hat Eure Teestube schon geschlossen? Es ist sehr hübsch hier…“
Xara sah auf.
„Ach, Schätzchen, heute ist eigentlich mein freier Tag“, sagte sie bedauernd. „Aber wenn dein bester Kunde hereinspaziert und deinen halben Laden leerkauft, sagst du nicht nein.“ Sie lachte geschäftstüchtig, worauf Winter höflich lächelte. Höflich und armselig, wie es schien, denn Xaras Euphorie klang ein wenig gestellt, als sie anbot: „Ich wollte heute Abend noch kurz in der Tanzenden Ziege vorbeischauen, warum kommt Ihr nicht mit! Ich denke, nach diesem Geschäft kann ich es mir leisten, euch einen auszugeben!“
Na großartig, selbst die Mutter eines Tieflingbastards findet mich bemitleidenswert!
Trotzdem nahm Winter die Einladung an. Eine Stunde und drei Kelche Feuerdrachen später musste sie zugeben, dass sie sich schon lange nicht mehr so gut amüsiert hatte. Xara plapperte munter und ungeniert drauflos, sodass Winter gar keine Zeit blieb in Schwermut zu verfallen. Bei so manch blumiger Schilderung ihrer Liebesabenteuer trieb es selbst der gestandenen Heiratsschwindlerin die Schamesröte ins Gesicht. Plötzlich fiel ihr auf, dass Xara ihren Redefluss unterbrochen hatte.
Die Magierin musterte sie neugierig. 
„Darf ich Euch eine Frage stellen?“
„Fragen dürft Ihr.“
„Läuft da etwas zwischen Faust und Euch?“
„Nein…“, erwiderte Winter überrumpelt. „Ihr… äh… könnt gerne Euer Glück versuchen.“
Eilig vergrub sie ihren Blick im Wein.   
Xara lachte freimütig. „Oh, deshalb frage ich nicht.“ Winter hoffte, dass ihr die Erleichterung nicht allzu offensichtlich ins Gesicht geschrieben stand. „Versteht mich nicht falsch. Er ist schon ein Schnittchen, Euer Faust. Aber ich muss schließlich an meinen Sohn denken. Nein, ich suche im Moment eher etwas… Solideres.“
„Wie geht es Eurem Sohn?“, ergriff Winter die Gelegenheit, um das Thema zu wechseln.
Xara seufzte tief und zuckte mit den Schultern. 
„Er ist in diesem Alter, wo er sich seiner Mutter kaum noch anvertraut. Um ehrlich zu sein, ich mache mir Sorgen um ihn. Drake taucht immer wieder auf und der Junge scheint ganz vernarrt in ihn zu sein. Keine Ahnung, was die beiden so treiben, aber… naja, wir sprechen von Drake! Wenn ich das Thema anschneide, endet es immer im Streit. Am liebsten würde ich ihm den Kontakt ganz verbieten, doch ich fürchte, dass er sich mir dann völlig verschließen würde. Aber was erzähle ich! Ihr habt ja selbst eine Tochter.“
 „Ja.“ Winter fuhr matt lächelnd mit dem Finger über den Rand ihres Kelchs. „Nur dass wir die Sturheitsphase übersprungen haben und gleich zu der Phase übergegangen sind, wo sie mich abgrundtief hasst!“
Xara stutzte und sah Winter erschrocken an. Dann nahm sie ihr energisch den Weinkelch aus der Hand.
„Schätzchen, entweder Ihr hattet schon viel zu viel von dem Zeug oder noch lange nicht genug. Noch einen davon!“ Sie drückte den Kelch samt Silbermünze einer herumwuselnden Schankmaid in die Hand. „Und was Eure Tochter angeht: Ich bin sicher, sie hasst Euch nicht. Aber die Fußstapfen, in die sie da tritt, sind verdammt groß!“
„Naja, im Moment eifert sie wohl eher den Fußstapfen ihres Onkels nach.“
Den Göttern sei Dank.
„Hm, Euer Bruder…“, sinnierte Xara. „Ein disziplinierter Mann, will mir scheinen.“
„Äußerst diszipliniert!“, bekräftigte Winter. „All die Jahre im Zölibat! Keine Ahnung, wie er das aushält!“
„Er lebt in Keuschheit?!“ Die Magierin sah aus, als könne sie auf diesen Schock selbst noch einen Feuerdrachen gebrauchen. „Für Tempus, diesen alten Sack?!“
„Vielleicht ist er auch einfach noch nicht in Versuchung geraten“, erwiderte Winter übermütig. Dann musste sie kichern. Es war schwer genug, sich Grim mit einer Frau vorzustellen. Aber eine Frau, die Tempus einen alten Sack schimpfte?! „Wenn er das nächste Mal einen neuen Waffenkristall will, schleppe ihn mit und lasse euch beide ein wenig allein, was meint Ihr?“
„Warum kommt Ihr nicht zum Grüngras-Fest in einem Monat?“, lud Xara sie ein.
„Auf jeden Fall“, versprach Winter. Dann fiel ihr ein, dass sie vorher noch einen Krieg gegen den Herrn der Neun Höllen gewinnen mussten. „Das heißt, wenn wir dann noch leben.“
Xara verschluckte sich fast an ihrem Wein.
„Also jetzt reicht es!“, hustete sie resolut. „Da hilft kein Feuerdrache mehr! Schließt die Augen!“ Winter war so überrumpelt, dass sie gehorchte. „Der nächste Kerl, der durch diese Gasthaustür tritt, ist Euer für die heutige Nacht! Glaubt mir, Ihr könnt es gebrauchen!“
Winter öffnete die Augen – im selben Moment, als ein junger Halbelf die Tanzende Ziege betrat.
„Tss“, schmollte die Magierin. „Wenn ich dieses Spiel spiele, kommt selten was Ansehnliches dabei rum!“
Amüsiert beobachtete Winter, wie der junge Mann sich mit einigen Freunden an einem Tisch in ihrer Nähe niederließ.
Hm, wieso eigentlich nicht?
Xara hatte Recht: Sie konnte wirklich ein wenig Ablenkung gebrauchen. Flüsternd beschwor sie einen Funken Magie, der sich in ihrer Hand zu einer Rose formte, die farblich ihrem Feuerhaar glich und blies sie in die Menge. Erstaunt sah der Auserkorene sich um, als das zarte Magiegebilde auf seinem Tisch landete, und ihre Blicke trafen sich. Winter lächelte siegessicher. 
„Ich glaube“, murmelte Xara, die den Austausch mit der Neugier einer lauernden Füchsin verfolgt hatte. „wenn Ihr nicht meine beste Kundin wärt, könnte ich Euch auf den Tod nicht ausstehen!“
Winter fing an, sie richtig gern zu haben.

Faust
Schattenebene, zwei Tage später.
Wo Ares die Faust gegen das dunkle Gemäuer gestoßen hatte, war ein Rußfleck zurückgeblieben. Seit diesem spontanen Zornausbruch hatte er keine Regung mehr gezeigt. Stumm und düster harrte der Halbteufel mit halb geöffneten Schwingen am Fenster und starrte hinaus in die neblig-graue Finsterlandschaft. Er hatte auf den ersten Blick erkannt, wie es um Fausts Seele stand. Der war ihm nachgegangen, als er wutentbrannt aus der Burghalle gestürmt war und lehnte nun mit verschränkten Armen im Türrahmen.
„Wundert mich, dass es dich so aufregt, dass Mephisto meine Seele zum Abendessen futtert“, bemerkte er.
„Es regt mich auf, dass Mephisto mich auf diese Art austrickst“, erwiderte sein Vater zischend.
„Ach so. Es geht hier um dich. Wie dumm von mir, was anderes anzunehmen!“, sagte Faust zynisch. „Na, dann schlag Mephisto doch ein Schnippchen und mach den Pakt ungültig, sobald du Herr von Cania bist. Würde ihn echt aus den Socken hauen, meinst du nicht?“
Abrupt wandte Ares sich um und sah ihn scharf an.
„Du bist ein Narr, wenn du glaubst, dass ich dir die Haut rette“, sagte er kalt. „Selbst wenn ich siegreich sein sollte, ein Seelenpakt ist ein Seelenpakt. Deine Seele wird unwiderruflich im Styx auftauchen, sobald du stirbst.“
„Aber du kannst mich danach wieder freilassen, so wie Omega.“
Ares lachte hart auf.
„Ein Höllenfürst entlässt keine Seele aus sentimentalen Regungen. Ganz abgesehen davon, dass dann nichts mehr von dir übrig sein wird. Hast du die Seelen im Fluss nicht gesehen? Du kannst dir die Schmerzen nicht einmal vorstellen, die sie erleiden. Omega wird nicht mehr dieselbe sein, selbst wenn ich ihre Seele gehen lasse. Und du hast nicht einmal einen Bruchteil ihrer Selbstbeherrschung. Ganz abgesehen von deiner geringen Lebensspanne. Wenn der Fluss all deine Erinnerungen auslöscht, ehe deine Seele den Seelensee erreicht, dann bist du nichts als ein schlotternder, sabbernder Irrer, sollte irgendwer so hirnrissig sein, dich zurückzubringen!“
Faust bemühte sich eine unbeteiligte Miene aufzusetzen, um Ares nicht merken zu lassen, wie hart seine Worte ihn trafen. Ja, es stimmte, ein Teil von ihm hatte gehofft, dass sein Vater ihm aus dieser Patsche helfen würde.
Grübelnd betrachtete er die düstere Gestalt am Fenster. War er für Ares tatsächlich nichts weiter als eine Figur im Spiel um Cania? Wie gleichgültig konnte sein Sohn ihm sein, wenn er ihn angreifbar machte? Oder war das nur Teil der Maske, die er trug, um seine höllische Karriere voranzutreiben? So wie seine Rolle bei den Neun Schwertern nur eine Maske gewesen war…
„Komm“, riss Ares ihn aus seinen Grübeleien. „Wir haben einen Krieg zu gewinnen.“
Sie kehrten in die Halle zurück, wo Grimwardt und Winter über den Pakt gebeugt saßen, der ihre Bedingungen für die Aushändigung von Omegas Schwert spezifizierte. Ares unterzeichnete das Schriftstück kommentarlos. Trotzdem kostete es Faust Überwindung, die Waffe in seine Obhut zu geben. Zögernd zog er das Schwert aus der Scheide und fuhr mit den Fingerkuppen über die blutscharfe Glasstahlklinge, in deren Mitte die kostbare Kugel glänzte wie eine satte rote Perle. Nichts. Nicht einmal ein magisches Glimmen.
Möge Himmelssplitter mehr Vertrauen in dich haben als ich, dachte er bitter, während er die Klinge übergab.
Zuerst geschah nicht. Dann wurde die Klinge von einem kurzen, magischen Schaudern erfasst und die Chaoskugel erstrahlte wie ein Leuchtfeuer. Ihr Schein und das Versprechen ihrer Macht strahlten noch in Ares‘ Augen nach, als die Magie längst erloschen war. Doch das Schwert hatte seine Entscheidung getroffen: Es würde Ares dienen, wenn er es im Gegenzug wieder mit Omega vereinte.
Nach der Übergabe klärte Ares sie kurz über die Lage in Baator auf. Vier der verbliebenen sieben Erzteufel hatte der Halbteufel für seinen Kriegszug gegen Mephistopheles gewinnen können. Baalzebul und Glasya, Asmodeus Tochter, die den Sechsten Höllenkreis regierte, waren die entschlossensten Gegner des neuen „Gottes“, denn beide rechneten sich unter Mephistos Herrschaft keine großen Überlebenschancen aus. Bel, Herr des Ersten Höllenkreises, führte zwar keine persönliche Fehde gegen Mephisto, war jedoch der Überzeugung, dass Baator unter einem Emporkömmling mit zweifelhafter göttlicher Legitimierung im Chaos versinken würde. Fierna schließlich, auch bekannt als das „Flittchen von Phlegtos“, hoffte sich durch die Allianz von der Bevormundung durch ihren Vater loszusagen, der Mephistos Lager unterstützte. Mephisto hatte sich öffentlich vor seinen Befürwortern zum Herrn der Neun Höllen ausrufen lassen und Asmodeus‘ Palast in Nessus bezogen. Seine Streitmacht war ein wenig kleiner als Ares‘, doch dafür befehligte er die Elitetruppe von Nessus. Die Legionen der vier Verbündeten sowie Ares‘ eigene kleine Privatarmee versammelten sich derzeit zur Heeresschau auf dem Siebten Höllenkreis. Da Mephisto Cania und Nessus abgeriegelt hatte, blieb ihnen nur der Weg über den Styx. Mephisto selbst würde sich vermutlich zunächst aus der Schlacht heraushalten, um so viel wie möglich von Asmodeus‘ göttlicher Macht aufzunehmen. 
Schließlich war es Zeit aufzubrechen.
Begleitet von zwei Höllenschlund-Leibwächtern und einer Handvoll Abishai-Dienern führte Ares die Gefährten zu einem Portal im Keller der Schattenburg. Das magische Tor führte auf einen Hügel in der Nähe von Baalzebuls Palast. Unter ihnen bahnte sich schwerfällig der Styx seinen Weg durch das Sumpfland von Maladomini. Hunderte von Segeln leuchteten ihnen aus der tristen Blutmasse des Seelenstroms entgegen. Faust erkannte Baalzebuls Fliegen-Wappen und Glasyas Bronzepeitsche: die Flotte der „Asmodeiden“, wie die Allianz hier in Baator genannt wurde.
Im Namen des Erzbösen ziehen wir in den Krieg, dachte Faust betroffen. Ein Krieg um die Frage, wer das Vorrecht besitzt, die Seelen der Sterblichen zu malträtieren. Vielleicht war es die größte Stärke der Hölle, dass sie das Gute so fern erscheinen lassen konnte, dass die größten Gräueltaten zum „geringere Übel“ verblassten.
Plötzlich stieß Winter einen erstickten Schrei aus und hielt sich entsetzt die Hand vor den Mund. Sie war kreidebleich und ihr Finger zitterte, als sie auf etwas im Wasser deutete. Alarmiert folgte Faust der Geste – und entdeckte eine kleine Kriegsgaleone, deren Segel das Emblem einer schwarzen Feder, gekreuzt mit einem dunklen Schwert auf dunkelrotem Grund zierte. Faust runzelte die Stirn und sah Winter fragend an. Dann begriff er. Das Wappen aus Grimwardts Vision! Das Symbol, für das sie seit Jahren vergeblich die Bibliotheken der Reiche durchforstet hatten! Dort schaukelte es unbedarft auf den Wellen inmitten einer teuflischen Kriegsflotte.
„Wessen Wappen ist das?“, fragte Winter mit bebender Stimme.
„Eine schwarze Phönixfeder, gekreuzt mit einem Höllenfeuerschwert.“ Ares lächelte schief. „Was glaubt Ihr wohl?“

Nappo

  • Mitglied
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #269 am: 04. Juni 2012, 13:23:56 »
*Hamjam*  :thumbup:

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