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Kapitel III: Die Jagdhütte
Hades
Am nächsten Tag in Silbrigmond
Als sie die Villa der Oleanders erreichten, fuhr gerade die Leichenkutsche vor. Zwei Silberne Ritter bewachten den Eingang. Doch die Witwe des Fürsten musste den Wächtern die Anweisung erteilt haben, die Gefährten einzulassen, denn niemand versuchte die schwer bewaffnete Gruppe aufzuhalten. Von Grimwardt erfuhr Hades, dass er und seine Schwester unter anderen Umständen bereits die Bekanntschaft der Fürstin gemacht hatten.
Im Salon standen Kondolenzbesucher in kleinen Grüppchen beisammen. Nachdem Lady Lucinda die Gruppe zum Leichenschmaus in den Salon gebeten hatte, kam die Witwe auf die Ereignisse des letzten Abends zu sprechen.
„Mir ist bewusst, dass sich Euer Freund keines Verbrechens schuldig gemacht hat“, sagte sie steif. Ihre kühle, distanzierte Wortwahl stand in seltsamen Kontrast zu der schmerzlichen Verletzlichkeit, die ihre kleinen nervösen Gesten– ein fahriges durch-die-Haare-Streichen, ein überspanntes Händekneten - preisgaben. „Ich werde natürlich für die Gerichtskosten aufkommen und wenn ich noch in anderer Hinsicht von Nutzen sein kann, so lasst es mich wissen.“
„Das könnt Ihr“, erklärte Hades geradeaus. „Wir würden diesen Fall gerne untersuchen. Natürlich sind wir dazu auf Eure Beobachtungen angewiesen. Was könnt Ihr uns über den Verstorbenen sagen?“
„Nun ja“, erklärte die Witwe und ihr Blick flackerte, als sie in Gedanken die Ereignisse der letzen Tage rekapitulierte. „Mein Mann arbeitete hin und wieder für die Harfner… Während seiner Missionen haben wir nur selten Kontakt, darum hatte ich schon seit einigen Wochen nichts von ihm gehört. Vor einigen Tagen stand er dann plötzlich vor der Tür: Er hatte zahlreiche Brandwunden und keuchte, als sei er gerade erst einem tödlichen Kampf entronnen. Dann stammelte er etwas davon, dass die Silbermarken in Gefahr seien. Emmet…“ Ihre Stimme brach, als sie seinen Namen aussprach und sie schloss für einen Moment die Augen. „Es war nicht das erste Mal, das Emmet verwundet und voller Sorge von einem Auftrag zurückkehrte; ich habe damit zu leben gelernt. Seine Erschöpfung und die Verletzungen raubten ihm das Bewusstsein, ehe er sich mir erklären konnte, und mir schien seine Genesung wichtiger als seine Warnung. Für einen halben Zehntag pflegte ich ihn gesund. Er hatte Fieberträume und war oft nicht ansprechbar. Doch er war bereits auf dem Weg der Besserung, als… als es geschah.“
Ihr Blick wurde hart und kalt, doch ihre Hände zitterten.
„Da ist noch etwas“, fügte die Fürstin nach einigem Zögern hinzu. „Bitte haltet mich jetzt nicht für verrückt, aber… Als ich heute Morgen zum ersten Mal wieder das Schlafgemach betrat, fand ich auf dem Boden einen Hut. Es war eine einfache schwarze Jägermütze, nicht die Art von Federbarret, die Emmet zu tragen pflegte. Als ich ihn aufhob, erzitterte der Hut in meiner Hand und… und es schien als lache er. Dann zerfiel er zu Staub. Allein ein Filzemblem, das auf der Seite aufgenäht war, blieb in meiner Hand zurück.“
„Die Lachenden Hüte“, murmelte Winter. Sie und ihr Bruder tauschten einen Blick.
„Drake“, sagten sie einstimmig.
Drake. Schon wieder dieser Name.
Hades ließ sich aufklären: Drake war ein alter Widersacher der Geschwister, der sich hier in den Silbermarken und an der nördlichen Schwertküste einen zweifelhaften Ruf als Meuchelmörder gemacht hatte. Über die Lachenden Hüte waren die Geschwister bereits bei ihrer letzten Begegnung mit dem Schurken gestolpert. Winter glaubte, dass es sich dabei um eine lokale Diebesorganisation handelte, mit der Drake hin und wieder zusammenarbeitete. Die Mitglieder pflegten an jedem Tatort magische Hüte zu hinterlassen, um Nachrichten zu übermitteln. Waren diese überbracht, so zerfielen sie zu Staub, um nicht zu viel über die Täter zu verraten.
Hades ließ sich von Lucinda das Filzabzeichen zeigen, das der Täter ihr hatte zukommen lassen: ein grauer Turm im Ring einer schlafenden Schlange vor schwarzem Grund.
„Was hat das zu bedeuten?“, wollte er wissen.
„Ich kenne dieses Emblem“, erklärte die Witwe. „Es ist das alte Familienwappen der Familie. Emmet ließ vor etwa zehn Jahren seinen Familiennamen und das Wappen ändern. Er entstammt einem sehr alten Silbrigmonder Adelsgeschlecht.“
„Warum ließ er den Namen ändern?“
„Das weiß ich nicht. Emmet sprach nicht gern über seine Familie und zu der Zeit, da ich ihn heiratete, war er bereits der letzte seines Geschlechts.“
„Wie war der alte Name der Familie?“
Lucinda schüttelte traurig den Kopf und verzog schmerzlich die Mundwinkel, als ihr bewusst wurde, wie wenig sie über ihren verstorbenen Ehemann wusste. „Vielleicht solltet ihr die Bibliothek aufsuchen, wenn Euch das weiterhilft.“ Sie überlegte einen Augenblick „Oder besser noch: Fragt nach Xara Tantlors Magierladen. Die Gelehrten können mit fast jeder Art von Wissen dienen, aber sie lassen sich ihre Dienste teuer bezahlen. Wenn es um Stadtgeschichte geht, so ist die Schimmernde Schriftrolle die erste Anlaufstelle. Xaras Onkel verwaltet die Stadtarchive und seine Nichte bewahrt im Keller ihrer Magierstube einige Abschriften der wichtigsten Dokumente auf. Für ein nettes Schwätzchen und eine Weiterempfehlung kann sie euch sicher etwas zu Emmets Familie erzählen.“
„Da wäre noch etwas“, sagte Winter. „Euer Butler…“
„Marlow?“
„Seiner Aussage zufolge will er beobachtet haben, wie Dorien Euren Mann tötete. Wir glauben, dass der wahre Mörder sein Gedächtnis manipuliert haben könnte, um ihn das glauben zu machen. Könnten wir uns Marlow wohl für eine Weile ausborgen, um der Sache auf den Grund zu gehen?“
Lucinda nickte und rief nach dem Butler, der augenblicklich auf der Türschwelle erschien.
Marlow gehörte offenbar zu der Art von Dienern, die sich blaublütiger geben als ihre Herren.
„Ich lüge nicht“, erklärte er Nase rümpfend, nachdem Winter ihm ihre Vermutungen offenbart hatte und blickte dünkelhaft von oben auf sie herab. „Und ich denke auch nicht, dass ich manipuliert wurde. Ich bin nicht käuflich und meine Aussage wurde bereits magisch überprüft. Ich habe diesen Mann dabei beobachtet, wie er meinem Herrn die Kehle aufschnitt und ich bin nicht gewillt, diese Aussage zu widerrufen.“
„Wenn Ihr Euch Eurer Sache so sicher seid, würde es Euch sicher nichts ausmachen, wenn wir Eure Behauptung noch einmal überprüfen würden, nicht wahr?“, manövrierte Winter ihn eilfertig dorthin, wo sie ihn haben wollte.
„Was immer meine Herrin befiehlt“, erwiderte der Butler steif.
Winter
Ein paar Stunden später in der Schimmernden Schriftrolle
Die Silbernen Ritter hatten sich bei dem Versuch die Aussage des Butlers zu entkräften als äußerst unkooperativ erwiesen. Zwar war die Adjutantin des Hauptmanns gewillt gewesen, Winter unter Aufsicht einen Aufklärungszauber wirken zu lassen, der eindeutig bewies, dass der Butler zum Zeitpunkt seiner Aussage unter dem Einfluss eines Zaubers gestanden hatte, der seine Erinnerungen manipulierte, doch Doriens Unschuld bewies das in den Augen der Wache noch nicht. Hades vermutete, dass die Ritter sich aus sicherheitspolitischen Gründen scheuten, ihren einzigen Tatverdächtigen zu entlasten. Lord Oleanders Tod hatte bis über die Stadtgrenzen hinaus für Aufsehen gesorgt. Ein Mörder, der bereits in ihrer Gewalt war, erlaubte es der Stadtwache, das Gefühl der Sicherheit bei den Bürgern aufrechtzuerhalten. Ein Mörder, der noch frei herumlief, war dagegen ein gefundenes Fressen für böse Zungen. Ein unaufgeklärter Mord an einem lokalen Helden war eine Pleite, die sich die Wächter der Silbermarken nicht leisten konnten, denn Silbrigmond und die Marken waren umgeben von Feinden, die danach trachteten von innen zu zerstören, was bisher jedem Eroberungsversuch standgehalten hatte, und nur darauf warteten, dass sich Risse bildeten im Panzer des Vertrauens, den Fürstin Alustriel und die Zwergenfürsten trotz aller kultureller Unterschiede und politischer Uneinigkeiten über all die Jahre um die vielschichtige Bevölkerung der Region aufgebaut hatten. Wenn es den Gefährten also gelingen wollte, Dorien bei der Gerichtsanhörung in zwei Tagen vor dem Strick zu bewahren, dann würden sie dem Gericht den wahren Mörder wohl auf einem Silbertablett präsentieren müssen.
Ihre einzige Spur war derzeit das Wappenemblem, das Drake am Tatort zurück gelassen hatte. Was hatte das zu bedeuten? Eine Falle? Wollte er gefunden werden? Oder legte er es lediglich darauf an, sie in die Irre zu führen wie bereits in Myth Drannor?
Da die Gefährten keine andere Wahl hatten als sich auf das Spiel des Schurken einzulassen, hatten sie sich auf den Weg zu dem Magierladen gemacht, den Lady Lucinda ihnen genannt hatte. Die Schimmernde Schriftrolle war ein kleiner Eckladen nicht unweit der Mondscheinbrücke. Xara Tantlor, eine hübsche junge Magierin mit lebhaften grünen Augen und goldbraunem Haar, hieß sie freundlich willkommen. Während sie die magischen Gegenstände in Augenschein nahm, die die Gefährten ihr zum Ankauf darboten, kam Winter auf ihr eigentliches Anliegen zu sprechen.
„Oleander“, überlegte Xara. „Ja, es stimmt, der Fürst ließ vor ein paar Jahren seinen Namen ändern…Ich war noch sehr jung, doch ich erinnere mich daran, dass mein Vater davon sprach.“
„Wisst Ihr, was es mit diesem Wappen auf sich hat?“ Winter schob der Ladenbesitzerin das Filzabzeichen über den Ladentisch. Xara warf einen kurzen Blick darauf und schüttelte den Kopf.
„Nein. Aber wenn Ihr einen Augenblick Zeit habt, könnte ich im Keller nachsehen, ob ich etwas darüber finde. Wartet hier.“ Bevor sie in einer Nebentür verschwand, drehte sie sich noch einmal um und erhob mit einem schalkhaften Zwinkern den Zeigefinger. „Und dass Ihr mir nichts mitgehen lasst! Villynk hat schon so manchem Langfinger die Augen ausgestochen!“
Erst jetzt bemerkte Winter den Raben, der unbeweglich wie ein böses Omen auf dem Schriftrollenständer hinter dem Ladentisch harrte und sie aus schwarzen, penetranten Augen anstierte. Winter lief ein Schauer über den Rücken. Sie würde niemals verstehen, was „echte“ Magier dazu bewog, sich Ratten, Wiesel und anderes Getier als Vertraute zu halten. In ihren Augen hatte dieser grässliche Vogel nichts magisches, allenfalls etwas voyeuristisches.
Xara kam mit einem dicken Folianten zurück – offenbar ein Verzeichnis von Stadtgenealogien.
„Hier“, sagte sie und schob Winter den Wälzer entgegen. Unter einem Stammbaum erkannte die Diebesmeisterin das alte Wappen der Oleanders. „Emmet Oleander war der letzte Nachkomme einer alten itruskischen Familie mit nesserischen Wurzeln; den Hadruinen. Der Name erinnert stark an Prinz Hadhrune, den jüngsten Sohn des Hochprinzen von Umbra. Möglich, dass die Umbranten und Oleander derselben Blutlinie entstammen. Mit dem Fall Nesserils ist die Herkunft des Familiennamens vermutlich in Vergessenheit geraten, denn in den Genealogien findet sich nichts darüber. Doch als die fliegende Stadt Umbra vor zehn Jahren über dem See der Schatten in der Wüste Anauroch auftauchte, muss die verlorene Verbindung wiederaufgetaucht sein.“
„Und Lord Oleander ließ seinen Namen ändern, um nicht mit diesen… Umbranten in Verbindung gebracht zu werden?“, riet Winter. Sie wusste nur wenig über die mysteriösen Nachfahren des legendären Nesseril, die sich in der Anauroch niedergelassen hatten. Woher kamen sie und wie hatte ihre Stadt den Niedergang des Imperiums überstehen können? Aber soweit ihr bekannt, waren die Schattenwesen noch niemals öffentlich in Erscheinung getreten, doch es wurde allgemein vermutet, dass sie imperialistische Ziele verfolgten. Immerhin entstammten sie einem Volk mächtiger Magier, das von seinen fliegenden Städten einst über ganz Faerûn geherrscht hatte.
Xara zuckte mit den Schultern.
„Möglich“, sagte sie. „Vielleicht war die Namensänderung eine offizielle Distanzierung von seinen zwielichtigen Verwandten. Oder auch eine Botschaft an die Umbranten. Es wird gemunkelt, dass Hadhrune seine Informanten in allen großen Städten um die Anauroch hat. Oleander könnte auf diese Weise einem Rekrutierungsversuch vorgebeugt haben.“
„Oder ein solches Gesuch abgelehnt haben“, ergänzte Hades. „Vielleicht hat ihn das das Leben gekostet.“
„Da ist noch etwas.“ Xara wies auf die Zeichnung in dem Buch. „Die Fußnoten besagen, dass das Wappen von einem Bodenmoasaik in einer Jagdhütte im Hochwald abgezeichnet wurde.“
„Eine Jagdhütte?“
„Oleanders Familie ist im Besitz zahlreicher Anwesen in Silbrigmond und Umgebung.“
Grimwardt und Winter tauschten einen viel sagenden Blick.
Sie beeilten sich, den Handel mit der Magierin zu besiegeln und ihre Ausrüstung ein wenig aufzubessern. Dann verließen sie den Laden.
„Das ist eine Falle“, erklärte Grimwardt, kaum dass sie vor der Tür standen. „Er will, dass wir zu dieser Jagdhütte kommen.“
Winter zuckte mit den Schultern. „Wenn das die einzige Möglichkeit ist, an Drake heranzukommen, sollten wir uns darauf einlassen.“ Der Versuch den Assassinen auf magische Weise zu orten hatte sie schon einmal in die Irre geführt.
Grimwardt grummelte etwas Unverständliches, das wohl so viel heißen sollte wie: „Die Sache gefällt mir nicht, aber ich habe auch keinen besseren Vorschlag.“
Grimwardt
Irgendwo im Hochwald.
Die Jagdhütte hatte vermutlich schon bessere Tage erlebt. Die Westwand des Steingebäudes hatte sich der Eroberungswut zweier mächtiger Schattenkronen gebeugt, die mit der Zeit mit dem Gebäude verwachsen waren. Das Dach war an einigen Stellen eingebrochen und die übrigen Wände wiesen teils große Löcher auf. Eine moosbedeckte Holztür schien der einzige Eingang zu sein. Die Fensterläden waren von innen verriegelt, was ihnen jeden Blick ins Innere der Hütte verwehrte. All das ließ darauf schließen, dass Lord Oleander diesen Ort schon seit Jahren nicht mehr aufgesucht hatte. Grimwardt sah, wie Winters Augen blau aufleuchteten, ein Zeichen dafür, dass sie ihren magischen Blick einsetzte, um die Umgebung auf magische Aktivität zu untersuchen.
„Wir sind innerhalb eines Alarmzaubers aufgetaucht“, erkannte sie Stirn runzelnd. „Wer oder was auch immer da drin auf uns wartet, wird nun wissen, dass wir hier sind.“
Vorsichtig näherte sich Winter der Tür, um sie nach Fallen zu untersuchen. Grimwardt wirkte derweil einen mächtigen Erkenntniszauber, um nicht wie in Myth Drannor auf Drakes Illusionen hereinzufallen. Dieses heimliche Getue passte ihm ganz und gar nicht in den Kram. Wenn es nach dem Kriegspriester ging, würden sie die Bruchbude mit Pauken und Trompeten stürmen und diesen elenden Spitzbuben vor die Tür prügeln, dass ihm Hören und Sehen verging. Ein Blick auf Hades verriet ihm, dass auch der Todesrichter eine direktere Methode vorziehen würde.
Die Tür öffnete sich mit einem Knarren und gab den Blick in einen kleinen Gemeinschaftsraum frei, der nur spärlich vom Licht der wenigen Sonnenstrahlen erhellt wurde, die sich einen Weg durch die Löcher in der Wand bahnten. Das Bodenmoasik mit dem Wappen der Hadruinen war bis auf einige jüngere Fußabdrücke vollständig mit Staub bedeckt, ebenso wie vier der sechs ausgestopften Wolfstrophäen an den Wänden. Die anderen beiden jedoch…
„Winter!“
Doch es war zu spät. Kaum war Winter in den Raum gehuscht, wurden zwei der Wolfsköpfe lebendig. Knurrend sprangen die beiden Werwölfe, die sich in der eingestürzten Wand versteckt und ihre Köpfe durch die Löcher im Gestein gesteckt hatten, aus den Wänden und erhoben ihre Äxte gegen Grimwardt und Hades. Der Kriegspriester sah noch, wie etwas Dunkles in den Raum huschte und hörte Winters überraschten Schrei. Dann versperrten ihm die haarigen Oberkörper der beiden Wolfsmenschen die Sicht. Grimwardt erwiderte den Angriff mit einem donnernden Axthieb seinerseits, der den Werwolf in die Knie zwang, während Hades hinter ihm vergeblich versuchte, eine bessere Position zu erlangen, um den zweiten Werwolf anzugreifen.
„Genug“, befahl eine bekannte Stimme noch ehe der Kampf richtig begonnen hatte. Der verletzte Werwolf bleckte widerwillig die Zähne, trat jedoch mit gesträubtem Rückenhaar den Rückzug an.
Drake stand reglos in der Mitte des Raumes, die Spitze seines Dolches unmissverständlich auf Winters entblößte Kehle gerichtet, die bewusstlos in seinen Armen lag.
„So sieht man sich wieder“, sprach der Albino mit jenem spöttischen Unterton, der nie ganz aus seiner Stimme wich. „Steckt die Waffen weg. Ich hoffe, du nimmst das nicht persönlich, Grimwardt. Ich wollte lediglich meine Verhandlungsposition ein wenig verbessern.“
Mit einem düsteren Grummeln ließ der Kriegspriester seine Waffe sinken. Nachdem Drake die beiden Werwolfsöldner entlohnt hatte, wies er Grimwardt und Hades an, am Tisch ihm gegenüber Platz zu nehmen. Während er die bewusstlose Geisel mit dem Kopf auf den Tisch bettete, wich sein Dolch nicht von ihrer Kehle.
„Was willst du diesmal?“, knurrte Grimwardt.
„Ich?“ Drake hob mit gekünsteltem Erstaunen eine Augenbraue. „Ich dachte, Ihr hättet nach mir gesucht.“
„Habt Ihr Lord Emmet Oleander ermordet?“, meldete sich Hades zu Wort. Drake maß den Kelemvorpriester mit argwöhnischen Blicken. Hades war ein Unsicherheitsfaktor, den der Assassine in seinem Plan nicht bedacht hatte und Grimwardt wusste, wie Drake Überraschungen hasste.
„Natürlich habe ich den Mann ermordet“, sagte er kalt. „Aber das wusstet ihr, bevor ihr herkamt.“
„Und ihr habt auch den Butler bezaubert, um den Mord dem Abenteurer Dorien Dantés in die Schuhe zu schieben?“ Hocherhobenen Hauptes nahm der Inquisitor den Schurken ins Verhör, so als säße Drake auf der Anklagebank und nicht mit einer Geisel unter seiner Fuchtel am anderen Ende eines Verhandlungstisches.
Drake lachte verächtlich.
„Goldlöckchen war der ideale Sündenbock.“
Hades erhob sich mit förmlicher Würde.
„In diesem Fall muss ich darauf bestehen, dass Ihr uns nach Silbrigmond begleitet, um Eure gerechte Strafe zu erhalten“, erklärte der Richter mit Nachdruck.
Drake verstärkte den Griff um seinen Dolch.
„Grimwardt“, zischte er angespannt. „Wärst du wohl so freundlich, deinem nekrophilen Freund die Lage zu erklären.“
Der Tempuspriester ergriff beschwichtigend Hades’ Arm und bedeutete ihm, sich wieder zu setzen.
„Ich bezweifle, dass du mit uns kommen und dich dem Sterngericht stellen wirst“, sagte Grimwardt ruhig. „Also was hast du uns anzubieten, das uns dabei helfen könnte, Doriens Unschuld zu beweisen?“
Drake griff mit seiner freien Hand unter den Tisch und beförderte ein kleines in Leder gebundenes Buch zu Tage.
„Oleander hat über seine Aufträge Tagebuch geführt“, sagte Drake. „Ich bin darin zwar nicht namentlich erwähnt, aber seine Schilderungen dürften zumindest das Motiv der Anklage widerlegen, die auf Mord aus Eifersucht plädiert. Außerdem habt ihr bereits mein Geständnis.“
„Und was verlangst du als Gegenleistung?“
Drake lächelte bitter und zog die Kerze, die auf dem Tisch stand, näher zu sich heran. Das veränderte Licht malte tiefe Schatten unter die Wangenknochen des Albinos. Nur im Licht war zu erkennen, dass sein rechtes Auge aus Glas war, denn die Helligkeit ließ sein echtes Auge tränen und verlieh ihm einen rötlichen Schimmer. Grimwardt entsann sich, dass Drake sich das magische Auge als Gegenleistung für die Beschaffung eines Artefakts hatte anfertigen lassen.
„Vor einiger Zeit“, erklärte Drake, während die Flamme über sein Gesicht tanzte, „machte ich mir eine junge Magierin zum Feind, die zusammen mit Kalith und seiner Abenteuergruppe umherreiste. Bedauerlicherweise ist aus der kleinen unschuldigen Feyleen vom Eggental inzwischen eine rachsüchtige Dämonenfürstin geworden, die mich verfolgt wie eine besessene alte Vettel. Sie muss irgendeinen Weg gefunden haben, meinen magischen Ortungsschutz zu umgehen. Bei ihrem ersten… Besuch verlor ich meinen linken Daumen. Vor etwa einem Monat erschien sie zum zweiten Mal, um mich meines rechten Auges zu entledigen und mir das Versprechen zu geben, dass beim nächsten Mal mein Kopf dran glauben wird. Ich muss gestehen, dass ich wenig erpicht darauf bin, darauf zu warten, bis diese sadistische Irre zum dritten Mal auftaucht, um ihr Versprechen in die Tat umzusetzen.“
Grimwardt runzelte die Stirn.
„Erwartest du jetzt, dass ich dich bedaure?“, grunzte er rau. „Was hat das ganze mit uns zu tun?“
„Ich beabsichtige, eine Fürstin des Abgrunds herauszufordern.“ Drake kniff die Augen zusammen und spannte seinen Unterkiefer an. „Glaubst du, ich bin so lebensmüde, das alleine durchzuziehen?“
„Du brauchst unsere Hilfe.“
War das zu fassen? Nachdem Drake erst Winters Tochter entführt hatte, um die Geschwister zu erpressen, das Artefakt zu beschaffen, das ihm sein magisches Auge eingebracht hatte, besaß dieser Wicht nun die Frechheit, sie zu einem Ausflug in den Abgrund zu zwingen, damit sie seine Haut vor einer rachsüchtigen Dämonin retteten? Und das alles, wo sie ihrem ehemaligen Mitstreiter sogar freiwillig zur Seite gestanden hätten, wenn er wie jeder vernünftige Mensch um ihre Hilfe gebeten hätte statt sie zu erzwingen? In diesem Moment begriff Grimwardt, dass Drake, bei all seinen ausgeklügelten Plänen und durchdachten Schachzügen, unfähig war, ein so einfaches Konzept wie Freundschaft zu durchschauen. Nun, wenn er ein Zwecksbündnis haben wollte, sollte er es bekommen! Früher oder später würde er unachtsam werden, und dann würden sie mit ihm abrechnen.
„Schön“, stimmte Grimwardt dem Handel zu. „Oleanders Tagebuch gegen unsere Hilfe.“
Drake lachte leise.
„Nicht so schnell“, wehrte er ab. „Du wirst verstehen, dass ich eine Absicherung brauche.“ Er schnippte mit dem Finger und auf sein Zeichen trat eine Magierin, die sich bisher im Schatten verborgen hatte, an seine Seite.
Es war die Besitzerin der Schimmernden Schriftrolle.
Sie hatte magisch ihr Aussehen verändert, sodass sie den Werwölfen in ihrer menschlichen Gestalt glich. Doch der Erkenntniszauber, den Grimwardt vor dem Eintritt in die Hütte gewirkt hatte, enthüllte ihre wahre Identität.
„Xara Tantlor.“
Die Magierin erstarrte, als er sie bei ihrem Namen nannte, und wandte sich Hilfe suchend nach Drake um. Offenbar hatte der Schurke seine junge Komplizin über die magischen Fähigkeiten seiner Gegner im Unklaren gelassen. Erst jetzt schien Xara klar zu werden, dass sie womöglich einen folgenreichen Fehler begangen hatte, als sie sich auf den Assassinen eingelassen hatte.
Verunsichert trat sie auf Grimwardt zu.
„Grimwardt Fedaykin“, sagte Drake, der sich keinen Deut um Xaras Unbehagen zu scheren schien. „Schwörst du, dass du mir als Gegenleistung für die Aushändigung des Tagebuchs zusammen mit deiner Schwester Winter dabei helfen wirst, die Dämonenfürstin Feyleen zu besiegen, wenn ich dich darum ersuche, und dass unser Bündnis erst mit ihrem Tod endet.“
„Ich schwöre.“
Drake gab Xara ein Zeichen, woraufhin sie einen Zauber wirkte. Ein rotes Mal erschien auf Grimwardts Stirn.
„Was hat das zu bedeuten, Drake?“
„Brichst du dein Wort, wird deine Nichte Scarlet darunter leiden“, erklärte Drake kalt.
Grimwardt kniff die Augen zusammen.
Dieser elende Mistkerl! Und wieder machte er ein hilfloses Kind zum Werkzeug seiner düsteren Pläne. In diesem Moment schwor sich Grimwardt, dass sie einen Weg finden würden, Drake seine Taten heimzuzahlen. Und wenn sie sich dafür mit dieser Dämonenfürstin verbünden mussten!
„Auf gute Zusammenarbeit“, sagte Drake sarkastisch und schob Grimwardt das Tagebuch über den Tisch. „Ich melde mich wieder, sobald ich einen Plan entwickelt habe.“
Mit diesen Worten gab er Xara ein Zeichen und die Magierin begann, eine Teleportationsformel zu sprechen.