Kapitel II: Blut ist dicker als…
Faust
Er erwachte vom dumpf-düsteren Klang einer Trommel. Es war eiskalt und roch nach verbranntem Fleisch – vermutlich seinem eigenen –, doch er spürte keinen Schmerz. Seine Lider waren schwer wie Blei und als es ihm endlich gelang sie zu heben, war da nichts als Nebel; dann das eitrige Grinsen des Elfenmagiers, der ihm den Kiefer auseinanderbog, um ein dickflüssiges Gebräu seine Kehle hinunter zu zwingen. Faust stieß ein unartikuliertes Knurren aus und würgte das Zeug wieder aus. Sein Blick harrte für einen Moment auf der Hand des Fremden – oder besser gesagt, der schwarzen, mit Narben übersäten Klaue, die aus seinem Armstumpf wuchs. Dann sank er zurück in die Bewusstlosigkeit.
Als er die Augen zum zweiten Mal öffnete, klärte sich sein Blick. Undeutlich nahm er wahr, dass er mit dicken Eisenketten an einen Holzpfahl gefesselt war. Sieben weitere Pfähle mit angeketteten Opfern ragten rechts und links von ihm in kreisförmiger Anordnung aus dem Boden. Hinter jedem der Pfähle harrte ein verhüllter Kuttenträger. Sie hielten Fackeln in den Händen und der Lichtschein erhellte acht schmale Elfengesichter mit pechschwarzen, blicklosen Augen. In Trance summten sie zum Takt, den der Trommler vorgab. Dessen Gestalt lag im Schatten, doch Faust erkannte wage den Umriss einer geflügelten Kreatur. Ein neunter Kuttenträger ging reihum und schnitt den Opfern die Kehlen durch. Niemand schrie oder wehrte sich, während der Kehlenschneider sein blutiges Werk verrichtete – die Gefangenen hingen, betäubt vom Gift des Magiers, in tiefer Bewusstlosigkeit in ihren Ketten. Da die Pfähle leicht schräg in den Boden gerammt waren, ergoss sich das Blut der Getöteten in ein ringförmiges Wasserbecken, das einen Beschwörungskreis mit blasphemischen Symbolen umfloss. In der Mitte des Kreises harrte der Elfenmagier mit der schwarzen Klaue. Konzentriert zuckten seine Augen hinter den geschlossenen Lidern und Schauer durchliefen seinen dahinsiechenden Körper, während seine Lippen beschwörende Worte formten. Fausts Blick jedoch war auf seine entblößte Brust fixiert. Schweißglänzend prangte dort das Symbol einer schwarzen Hand. Mephistopheles‘ Zeichen.
Wer war der Kerl? Ein irrer Kultist, der seinen Herrn wiederauferstehen lassen wollte?
Da ihm niemand besondere Aufmerksamkeit zu schenken schien, spannte Faust probeweise seine Muskeln. Die Ketten hielten stand – vermutlich waren es magische Ketten, sonst hätte Faust sie mit seiner Eisenhand mit Leichtigkeit gesprengt –, doch das Klirren entlockte der Gefangenen neben ihm ein heiseres Stöhnen. Unruhig ruckte sie im Schlaf den Kopf in seine Richtung, sodass er ihr Gesicht sehen konnte. Der Schreck fuhr ihm wie Eiswasser in die Glieder.
„Claire?!“
Mit klopfendem Herzen sah er sich nach dem Henker um. Noch zwei Opfer, ehe er seine Schwester erreichen würde. Seine Gedanken rasten. Warum Claire? Warum seine Schwester? War das alles eine großangelegte Racheaktion an ihrem Vater? Waren sie hier, um für Ares‘ Verrat an Mephisto zu büßen? Wage erinnerte er sich an etwas, das er einmal gelesen hatte – Teufel beschwor man, indem man sie bei ihrem wahren Namen rief. Und es hieß, dass der wahre Name eines Wesens in dessen Blut geschrieben stand. Vielleicht ging es hier um mehr als Rache. Wenn das Ritual nur ihr Blut erforderte, konnte er vielleicht mit dem Magier verhandeln…
In diesem Moment trat der Henker hinter Claire und das veränderte Licht enthüllte kantig-elfische Gesichtszüge und graue, unerbittliche Augen. Faust erstarrte – und fragte sich gleichzeitig, warum er das nicht hatte kommen sehen.
„Tyrail.“ Seine Stimme klang brüchig, denn im Grunde wusste er, dass er von dem Elfen keine Gnade zu erwarten hatte. Er hatte dafür gesorgt, dass man ihn aus der Gemeinschaft der Elfen verstieß – nach Tyrails eigenen Maßstäben war das schlimmer als der Tod. Dennoch flehte er: „Tu es nicht… Bitte.“
Tyrail sah ihn nicht einmal an, als er seiner bewusstlosen Schwester den Zeremoniendolch an die Kehle setzte. Sein Blick war starr auf die Gestalt im Zentrum des Beschwörungskreises gerichtet. Es war nicht der fanatische Blick eines Anhängers oder der triumphierende Blick eines Rächers – eher der leere Blick eines Toten.
Mit kalten, mechanischen Bewegungen stieß er zu.
Für einen Augenblick wurde alles taub und still um Faust, so als hätte er sich in eine fremde Zeitstarre geflüchtet. Erst als er den kühlen Stahl des Zeremoniendolches an seiner eigenen Kehle spürte, erkannte er, dass die Zeit um ihn herum weiterlief. Plötzlich begriff er, wer der dahinsiechende Elfenmagier mit der schwarzen Klauenhand war. Und es weckte in ihm eine unbekannte, stille, eisige Art von Zorn.
Winter
Hullack-Wald, Grenzgebiet zwischen Cormyr und den Talländern, später Abend.
Grübelnd biss sich Winter auf die Lippen und stemmte frustriert die Hände in die Hüften, während sie den Steinkreis ihrem magischen Blick unterzog.
„Nichts!“, sagte sie gereizt. „Dieser ganze Ort schreit nach einem Portal! Aber ich sehe es einfach nicht!“
„War ein ziemlich harter Tag für uns alle.“ Drake lehnte sich gähnend gegen einen der Findelsteine – seltene, mannshohe Gesteinsbrocken, die nach oben spitz zuliefen. „Lass uns für heute Feierabend machen.“
Winter warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Drake machte nicht gerade einen Hehl daraus, dass sich seine Motivation Faust zu finden auf seine Vereinbarung mit Szass Tam beschränkte, und wer wusste, welche Hintergedanken er darüber hinaus noch hegte. Aber der Exorzismus hatte ein schmerzliches Loch in ihren Seelenvorrat gerissen, das ihr schmähliches Mahl in Rashemen schwerlich decken konnte. Da käme ihr ein Besuch auf dem Henkersplatz von Atkatla gerade recht. Bei diesem Gedanken sah sie unwillkürlich zu Grimwardt hinüber, der so grimmig und starr zwischen den Findelsteinen harrte, als sei er Teil des Steinkreises. Und da war schon wieder dieser Priesterblick! Als ob er genau wusste, woran sie gerade dachte! Sie hätte vor Frustration aufheulen mögen.
„Nein“, meldete sich unerwartet Miu zu Wort. „Wir müssen Faust finden. Er hat nicht mehr viel Zeit.“
Auch ohne ihren Schwur ergriff die Ordensschwester fast niemals das Wort. Ihre schlichten Worte waren darum alarmierender als es Fausts Name, mit Blut auf einen der Steine geschmiert, hätte sein können.
Resolut wandte Winter ihrem Bruder und seinem stummen Urteil den Rücken zu und fokussierte ihren arkanen Blick. Die acht Findelsteine standen wie Wächter im Kreis um eine sprudelnde Quelle. Einst war dies ein Ort der Freundschaft gewesen, wo sich menschliche Druiden mit Elfen eines befreundeten Adelshauses getroffen hatten. Doch als die Eldreth Veluuthra in dem Elfenclan an Macht gewannen, hatten sie die Quelle entweiht. Einige der Steine waren umgestoßen, auf anderen standen in altelfischen Runen Veluuthra-Parolen wie „Das siegreiche Schwert des Volkes wird über euch kommen“ und „Reinigt Myth Drannor“.
Die Schmierverse deuteten darauf hin, dass Szass Tams Vermutung stimmte: Nachdem Grimwardt zähneknirschend einem Kriegspakt gegen Netheril zugestimmt hatte, hatte der Zulkir ihnen bei der Suche nach Faust geholfen: Mithilfe seines berühmt-berüchtigten Spionagenetz hatte er nach einer Verbindung zwischen Mephisto und den Eldreth Veluuthra gesucht und herausgefunden, dass im Hullack-Wald, einer der Hochburgen der Abtrünnigen, vor einigen Tagen ein Menschendorf überfallen worden war, dessen Bewohner davon berichteten, dass Veluuthra-Attentäter unter der Führung „einer Elfenfrau mit Teufelsflügeln“ sechs Männer und Frauen entführt hätten. Eine alte Druidin aus dem Dorf, die sich noch an die alten Zeiten erinnerte, hatte von dem Steinkreis zu erzählen gewusst, der für die Eldreth Veluuthra zum Symbol ihres Widerstands geworden war. Sie vermutete, dass die Abtrünnigen hier ein Versteck unterhielten. Winter tippte auf ein Portal, weil sie glaubte, dass der Seelenkeim Faust auf einer anderen Ebene gefangen hielt, da er sich sonst gewiss schon gemeldet hätte.
Und dann endlich spürte sie es: Die schimmernde Aura des Portalbogens, der sich über zwei der Findelsteine spannte, hatte sich ihrem Blick entzogen, weil mächtige Bannmagie ihn verhüllte. Doch kaum war der Bann gebrochen, malte ihr Zauber ihr ein verschwommenes Bild dessen, was sich auf der anderen Seite befand.
Winter schauderte.
„Folgt mir“, sagte sie angespannt.
Dann flüsterte sie einen Bannzauber, um den Schutzmechanismus zu unterdrücken, der das Portal mit einem Losungswort belegte, deckte sich und die anderen mit genug Schutzzaubern ein, um für alles gewappnet zu sein, was sie auf der anderen Seite erwarten mochte, und trat zwischen den beiden Steinen hindurch.
Die klirrende Kälte, die sie empfing, weckte dunkle Erinnerungen. Besonders Miu wurde aschfahl, als ihr Blick den schneebedeckten Hügel hinaufwanderte, auf dem ein Eispalast thronte, der erschreckende Ähnlichkeit mit Mephistos Herrschersitz in Cania hatte. Doch betrachtete man den Palast genau, so verschwammen Teile des Anwesens vor den Augen und entpuppten sich als Illusion. Dies war nicht Cania – das neue Cania, das Cania des Schwarzen Phönix, hätten sie vermutlich gar nicht wiedererkannt. Dies war Mephistos kläglicher Versuch, sein Cania wiederauferstehen zu lassen.
Ein Pfeil traf Winter an der Schulter und prallte von ihrem magischen Schutzschild ab. Im nächsten Moment surrte eine ganze Pfeilsalve wie ein Schwarm wütender Hornissen auf sie zu, doch kein einziges Geschoss überwand ihren Schutz. Winter schnaubte abfällig. Mephistopheles musste wissen, dass ein Trupp elfischer Bogenschützen sie nicht aufhalten würde, doch offenbar hatte der gestürzte Erzteufel nicht die nötigen Ressourcen, um ihnen einen ebenbürtigen Gegner entgegenzustellen – ein gutes Zeichen. Winter schloss die Augen und tastete sich mit ihrem Geist vor, bis sie glaubte, alle Angreifer lokalisiert zu haben. Dann schlug sie zu – ein Verdorren-Zauber erledigte das lästige Schützenproblem.
Kurz darauf standen sie in der Eingangshalle des Anwesens.
Schwacher Feuerschein drang durch die eisglatte Bodenplatte aus den Tiefen des falschen Palasts, doch die einzige Treppe, die Winter erblickte, führte in die oberen Geschosse. Gedämpft klangen Kampfgeräusche und der dumpfe Klang einer Zeremonientrommel durch die Eisschicht.
„Er ist dort unten“, flüsterte Miu mit bebenden Lippen.
Winter brannte mit einem Auflösungsstrahl ein Loch in den eisigen Boden. Die Platte war kaum in die Tiefe gestürzt, als Grimwardt luftwandelnd an ihr vorbei stürmte. Mitten im Lauf stockte er. Nach einem hastig gemurmelten Flugzauber war Winter an seiner Seite – und erstarrte.
Den verbitterten Kampf zwischen dem Seelenkeim und Ares, dem Schwarzen Phönix, der in der Höhle unter ihr wütete, nahm sie nur am Rande wahr. Was ihren Blick bannte, war die leblose Gestalt, die in schweren Eisenketten an einem Holzpfahl über einem Becken aus Blut hing. Fausts linke Körperhälfte war schwarz verbrannt und aus dem klaffenden Schlitz in seiner Kehle tropfte ein letzter, klebriger Blutstropfen in das Opferbecken, wo er sich mit dem Blut der anderen sieben Opfer vermischte. Hinter ihm harrte Tyrail – sein Arm, der den Zeremoniendolch hielt, war bis zum Ellbogen mit Fausts Blut besudelt. Winter schüttelte verwirrt den Kopf.
Faust kann nicht sterben.
Sie wusste nicht, weshalb sie sich dessen so sicher gewesen war. Vielleicht weil Faust nicht alterte, seit er angefangen hatte, mit dem Zeitstrom zu experimentieren. Oder weil sie niemanden kannte, der sein Leben so kompromisslos lebte wie er – als ob ihm nichts etwas anhaben konnte. Aber nicht einmal Faust konnte eine bis zum Halswirbel aufgeschlitzte – nein, eher aufgefetzte - Kehle überleben. Sie schluckte den Schrei hinunter, der ihre Kehle hinaufkroch, und zog sich tief in den Seelenschatten zurück. Dann zwang sie sich, den Schmerz, der in ihr aufwallte, in ihre Magie zu lenken.
Mephisto war geschwächt. Seine Höllenfeuermagie hatte den Körper seines Wirts fast aufgezehrt und nur die magischen Gesänge der Veluuthra, die im Kreis um den Beschwörungszirkel harrten, schienen den Leib des Elfen davor zu bewahren, an der Hitze der Teufelsseele, die in ihm tobte, zu verglühen. Als Winters Schattenwelle auf ihn zu brandete, hüllte er sich und Ares in einen Dimensionsmantel und die beiden Teufel verschwanden. Alle anderen, die Winters Zauber erreichte, brachen unter blutigen Schweißausbrüchen zusammen. Nur zwei der Kultisten überlebten ihren Zorn: Der eine war Tyrail, den irgendetwas gegen ihre Magie zu schützen schien; die zweite war die Trommlerin, die Winter als Mephistos Kurtisane Antilia erkannte. Schwerverletzt rappelte sich die Halbteufel-Elfe auf und ehe Winters eilig gezielte Energiekugel sie erreichte, entkam sie durch ein verborgenes Portal.
Elendes Miststück.
Winters ganzer Zorn richtete sich nun gegen Fausts Mörder, den Grimwardt und Drake in die Zange genommen und mit einer antimagischen Zone belegt hatten. Blut quoll zwischen Tyrails Fingern hervor, wo Drake ihn an der Kehle erwischt hatte, und einer von Grimwardts göttlich beseelten Axthieben zwang ihn taumelnd in die Knie. Tyrail war ein toter Mann, doch er schien entschlossen, wenigstens einen seiner menschlichen Angreifer mit ins Grab zu reißen. Aber plötzlich weiteten sich seine Augen wie im Schock und er erstarrte mitten im Kampf. Scheppernd glitt ihm das Schwert aus dem starren Fingern und seine Lippen formten ein stummes „Nein“. Grimwardt und Drake hätten ihm mit einem einzigen Hieb den Rest geben können, doch etwas ließ auch sie zögern.
Winter folgte ihren Blicken und wäre fast aus dem Gleichgewicht geraten und abgestürzt.
„Faust!“
Unter Mius heilenden Händen regte sich Leben hinter seinen geschlossenen Augen. Langsam hob er den Kopf und ein heiseres Stöhnen drang aus seiner zerfetzten Kehle. Sofort war Winter bei ihm, um einen Eisenwacht-Zauber zu flüstern, der die Eisenketten von ihm abgleiten ließ, und ihn in den Armen zu halten, während er langsam zu regenerieren begann.
Faust schien von weit herzukommen, als er endlich die Augen öffnete. Seine Augen hellten sich auf, als er Winter erblickte, doch das Licht erlosch gleich wieder, als sein Blick auf die Tote neben ihm fiel.
„Ist das…?!“
Sie verstummte, als Faust sich wankend aufrichtete und auf Tyrail zutrat. So düster und blutverschmiert bot er einen fürchterlichen Anblick.
Der Elf sah aus, als sei er plötzlich um hundert Jahre gealtert.
„Das kann nicht sein“, bröckelte es über seine Lippen. „Wieso… brennst du nicht in den Tiefen der Hölle?“
Faust
Gute Frage.
Er war tot gewesen, oder etwa nicht? Er hatte am Styx gestanden, dem Fluss der Seelen, der die Toten ihrem Schicksal zuführte. Die Erinnerung drohte ihm bereits zu entgleiten, aber er hielt sie fest, denn dort hatte er seine Schwester zum letzten Mal gesehen. Kurz bevor sie in die Barke gestiegen war, die sie ans andere Ufer, in die Stadt der Seelen, bringen sollte, hatte sie sich lächelnd zu ihm umgewandt – ein wenig ängstlich, aber abenteuerlustig, wie früher, wenn sie ihren Halbbrüdern gemeinsam Pferdeäpfel unters Kopfkissen gelegt hatten. Es war dieses Grinsen, mit dem er sie in Erinnerung behalten wollte – nicht das blutige Grinsen, das Tyrail in ihre Kehle geschlitzt hatte.
Natürlich war keine Barke für ihn gekommen. Stattdessen hatte er den Sog des Styx gespürt, der ihn immer stärker in seinen Bann geschlagen hatte – wie diese Gnomensteine, die Metalle wie magisch anzogen. Zunächst hatte er ihm nachgegeben, wie ein willenloses Stück Metall. Doch ein Teil von ihm vergaß auch im Tod nicht, dass der Styx keine Gnade mit einem gottlosen Höllengeweihten kennen würde. Mit der Erkenntnis war die Angst zurückgekehrt – und der Widerstand. Er war auf die Knie gefallen und hatte die Finger in den Boden gekrallt, um dem Drang zu widerstehen, sich in die Fluten zu stürzen; hatte sich an den Körper geklammert, der mit aufgeschlitzter Kehle irgendwo in einer eisigen Höhle lag…
„Reine Willenskraft“, murmelte er auf Tyrails Frage.
„Dann ist es also wahr“, sagte dieser, plötzlich untypisch ruhig und gefasst. „Du bist unzerstörbar.“
„Eher nicht besonders scharf darauf, meinen Seelenpakt zehn Jahre zu früh zu erfüllen“, brummte Faust. Dann wurde er schlagartig ernst. „Warum hast du es getan?“
„Warum?!“ Ein schauderhaftes Zucken durchlief die Züge des Elfen. „Das fragst du?“
„Warum Mephisto? Unsere Fehde war immer eine Sache zwischen dir und mir. Und daran hast du dich gehalten. Warum hast du die Spielegeln geändert?“
„Die hast du geändert, als du mich den Ark-Velahr in Myth Drannor ausgeliefert hast. Für meine Veluuthra-Brüder bin ich ebenso ein dhaerow wie für alle anderen Elfen. Sie verachten mich. Glaubst du, ich wollte das hier? Zusehen, wie diese Abscheulichkeit und seine Hexe sie durch dunkle Magie und falsche Versprechungen zu seelenlosen Hüllen und Teufelsmätzen machen?! Aber Hass ist wie ein Geschwür. Ich konnte es nicht länger ertragen, dass du…“ Er brach ab und schüttelte jäh den Kopf. „Was ist meine Seele noch wert, nun, da du mich aus Arvandor verbannt hast? Mein Preis war Mephistos Hilfe. Die Explosion in der Kapelle sollte alle vernichten, die dir etwas bedeuten. Deine rothaarige Freundin, ihren Bruder, die Neun Schwerter… Deine Schwester war nicht meine Idee – ihr standet euch nie besonders nahe. Mephisto brauchte euer Blut, um den Schwarzen Phönix zu beschwören.“
Faust musterte ihn voller Abscheu. Stahl klirrte, als Grimwardt auf ihn zutrat, um ihm sein Schwert Zwiespalt zu überreichen. Als sich ihre Blicke trafen, schenkte der Freund ihm ein kurzes Nicken: Meinen Segen hast du. Die Klinge blitzte blutdurstig, doch Faust schüttelte den Kopf.
Zu gut für seinen Kopf.
Tyrail hielt noch einen Augenblick seinem Blick stand. Dann sank er schweigend, mit gesenktem Kopf, vor ihm auf die Knie und lieferte sich seinem Urteil aus. Die Demut der Geste erstaunte Faust ein wenig, doch sein Maß an Mitleid für Tyrail war restlos aufgebraucht.
„Fahr zur Hölle“, sagte er leise.
Nicht einmal Miu protestierte, als sich seine Eisenfaust um Tyrails Kehle legte. Tyrails panischer Gesichtsausdruck, als sein Gesicht sich zu verfärben begann, verschaffte ihm keine Genugtuung. Den kalten Zorn, der wie Wundbrand an ihm nagte, heilte es nicht. Hass ist wie ein Geschwür, hatte Tyrail gesagt und vielleicht verstand er ihn jetzt zum ersten Mal. Aber sein Hass galt nicht dem Elfen. Er galt dem Monstrum, das Tyrail endgültig verdorben hatte. Das seine Schwester seinen düsteren Racheplänen geopfert hatte. Das den Ehrgeiz seines Vaters ausgenutzt hatte, um ihn zu vergiften. Das Miu die Unschuld geraubt hatte. Das die Schuld an Winters Seelenleiden trug. Und das er heute fast um zwei Seelen reicher gemacht hätte.
„Faust, ich glaube, du kannst ihn jetzt loslassen“, bemerkte Winter zaghaft.
Mit einem Ruck entließ er Tyrails schlaffen Körper aus seinem Griff und wandte sich ab, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Schweigend befreite er seine Schwester von ihren Fesseln und barg ihren Körper in einem Umhang, den Winter ihm reichte.
„Lasst uns nachsehen, wo dieser Dreckskerl meine Klamotten versteckt hat, und dann nichts wie weg hier.“
Grimwardt
Kurz darauf.
„Nicht… bitte“, flehte die Elfe, als Miu auf sie zutrat, und kauerte sich tiefer in ihre Zelle. Die Bewegung trieb die Pfeilspitze, die nur knapp ihr Herz verfehlt hatte, noch tiefer in ihre Brust. Mius sanfte Worte halfen nichts – die junge Frau schien mehr Angst vor ihren Befreiern zu haben als vor dem Pfeil in ihrer Brust. Die Gefährten hatten sie auf der Suche nach Fausts Habseligkeiten in einem Gefängnistrakt im oberen Stockwerk aufgelesen. Sie schien die einzige Überlebende zu sein – zwei weitere Elfenmädchen lagen tot in den Zellen. Offenbar hatte Mephistos Kurtisane es beim Aufräumen ein wenig eilig gehabt.
Hilfesuchend wandte sich Miu zu ihren Gefährten um.
„Wir wollen dir nur helfen“, versuchte Winter es in gebrochenem Elfisch, das in den Ohren der Kleinen furchtbar hart klingen musste. „Sag uns, was mit dir passiert ist.“
„Vergiss es“, meinte Grimwardt, der mit verschränkten Armen ein wenig abseits stand. Er hielt sich bewusst von der verängstigten Elfe fern, denn sie hatte diesen gehetzten Ausdruck in den Augen, den er hin und wieder bei Frauen auf dem Schlachtfeld gesehen hatte, die nach dem Kampf der Gier der Eroberer ausgeliefert gewesen waren. „Wenn sie bei den Eldreth Veluuthra aufgewachsen ist, hält sie dich wahrscheinlich für den Teufel in Person.“
„Dann eben anders“, murmelte Winter und setzte zu einer magischen Formel an.
Grob fing er ihren Arm ab.
„Das wirst du mir schön bleiben lassen.“
„Was schlägst du vor? Sollen wir diesem dummen Ding gut zureden, bis Mephisto mit der Verstärkung anrückt?!“
„Ich werde jedenfalls nicht zulassen, dass du mit deiner Schwarzen Magie ihren Geist vergiftest!“
„Meiner Schwarzen Mag…!“
Frustriert rollte sie die Augen und verfiel in gekränktes Schweigen. Grimwardt beobachtete seine Schwester mit misstrauisch zusammengekniffenen Augen. Er kannte diesen verbissenen Gesichtsausdruck. Er wusste, sie konnte Magie wirken, ohne sich etwas anmerken zu lassen, aber sie würde doch nicht…?
„Als Antilia in unser Dorf kam, versprach sie uns, dass wir der Großen Sache dienen würden“, setzte plötzlich die Elfe in ihrer Muttersprache und mit furchtbebender Stimme an. „Sie brachte uns hierher und sperrte uns hier ein – nur die Frauen. Sie sagte, ihr Herr brauche einen Wirt, der stark genug für seinen Seelenkeim sei. Dann beschwor sie Teufel und ließ sie auf uns los. Als sie vorhin zurückkam, war sie sehr in Eile. Sie nahm nur die von uns mit, die bereits… einen Teufelssamen in sich trugen, alle anderen...“
Als Grimwardt ihre geweiteten Pupillen bemerkte, wurde irgendwo in ihm ein Hebel umgelegt. Seine Hand fuhr wie von selbst an den Griff seiner Axt, während er zu Winter herumwirbelte. Mit der Wucht eines Henkersbeils sauste Ambrosia auf den dickköpfigen Schädel seiner Schwester zu… und hätte ihn wohl gespalten, wäre das Axtblatt nicht wie körperlos durch sie hindurch geglitten.
Erschüttert starrte Winter ihn an.
„Eisenwacht“, murmelte sie fast entschuldigend.
„Bist du von Sinnen?!“, kam es dagegen von Faust, der, die Hände voll der Sachen, die ihm bei seiner Gefangennahme abgenommen worden waren, aus der Waffenkammer trat. Scheppernd fielen die Sachen zu Boden, als er sich vor Winter drängte und Grimwardt von ihr fortstieß.
„Tempus hat mich zu Seinem Sprachrohr ernannt, zu Seinem Streiter auf Erden, und sie verstößt gegen alle kosmischen Prinzipien!“, donnerte Grimwardt. „Was hast du erwartet, bei den Kratern von Kriegersruh!“
„Du bist ihr Bruder! Sei froh, dass du noch eine Schwester hast! Blut ist dicker als…“
„Als WAS? Als mein Glaube? Niemals! Und ihr Blut ist nicht länger das meine! Es stinkt nach Schwefel und Finsternis! Das ist nicht meine Schwester! Das ist irgendein Monster, das dein Vater geschaffen hat!“ Szass Tam hatte einige brisante Details zu diesem Thema zu erzählen gewusst.
Finster traktierten sie sich mit Blicken, die Hände am Knauf ihrer Waffen.
„Äh, ich will eure hitzige Aussprache ja nicht stören“, bemerkte Drake in die spannungsgeladene Stille hinein. „Aber könntet ihr sie wohl an einem Ort austragen, wo Pestbeule nicht jeden Moment mit seiner Höllenhorde auftauchen kann?“
Niemand schien Notiz von ihm zu nehmen.
„Manchmal ist es nötig, das Böse zuzulassen, um noch Schlimmeres zu verhindern, Grim“, sagte Faust.
„Und was verhindert sie, das schlimmer ist?“, schnaubte der Kriegspriester. „Was habt ihr in den letzten Jahren getan, das einem anderen Zweck diente als eurem eigenen! Plünderkreuzzüge, Wein und Hurereien – nichts davon rechtfertigt irgendwas!“
„Ach jetzt hör schon auf!“, begehrte Faust auf, doch dann besann er sich. „Naja, gut, vielleicht hast du nicht ganz unrecht. Vielleicht sollten wir das Schicksal öfter herausfordern, statt zu warten, bis es an der Tür klopft.“
Grimwardt schüttelte energisch den Kopf.
„Ist dir nie in den Sinn gekommen, dass Winter eine größere Gefahr ist als irgendein Schattenfürst mit imperialistischen Kriegsplänen? Inwiefern ist sie besser als ein paktierender Teufel? Sie zerstört nicht nur Leben, sie zerstört Seelen, herrgott nochmal!“
„Hades hat heute bewiesen, dass sich diese Seelen befreien lassen. Irgendwann, unter besseren Umständen, werden wir das Ritual wiederholen und…“
„Nur die, von denen noch etwas übrig ist! Die sie noch nicht mit ihrer Magie verzehrt hat! Und sie wird immer stärker. Selbst wenn du recht hast! Selbst wenn sie irgendein großes Unheil verhindert, wer verhindert danach sie? Würdest du sie töten, wenn kein anderer mehr dazu in der Lage ist?!“
„Wenn es keine andere Wahl gibt, ja, verdammt nochmal!“, schleuderte ihm Faust wütend entgegen.
Stille.
„Das wird nicht nötig sein.“ Winter hatte so still und starr im Hintergrund geharrt, dass Grimwardt und Faust sie fast vergessen hätten. Als sie nun vortrat, war sie leichenblass und ihre Entschlossenheit verlieh ihr eine düstere Würde. „Vorher bringe ich mich selbst um.“
„Und reißt all deine Opfer mit dir in die Hölle?“, erwiderte Grimwardt düster. „Niemals.“
Winter
Narbental-Stadt, zwei Tage später.
„… und dann stand sie plötzlich splitternackt auf dem Tisch und legte einen tethyrischen Stepptanz auf die Platte“, beendete Faust die Anekdote und erntete grobschlächtiges Gelächter.
Kapitän Guinges klopfte ihm lachend auf die Schulter.
„Auf verlorene Wetten und entblößte Titten“, grölte der Kapitän der Eggenstolz, dem Handelsschiff, auf dem Fausts Schwester eine Zeitlang angeheuert hatte, und drei Duzend Weinbecher schepperten gegeneinander.
Das ging jetzt schon seit einer Stunde so: Jemand erzählte einen Schwank aus Claires Leben, den der Kapitän mit einem schlüpfrigen Zuruf kommentierte, was die übrigen Gäste als Aufforderung zum Trinken auffassten. Der Wirt der Hafenspelunke hatte Winter bereits mit schweißgebadeter Stirn angedeutet, dass sein Weinvorrat zur Neige ging. Und das, obwohl Winter ein kleines Vermögen investiert hatte, um innerhalb von zwei Tagen Handelsschiffe, Spielleute und Handwerker in die Stadt zu locken, um die Vorräte der Gasthäuser und Tavernen aufzustocken und Narbental-Stadt feiertauglich zu machen. Vielleicht hätten sie die Festlichkeiten doch in die Stadthalle verlegen sollen, aber Faust war der Meinung gewesen, dass das nicht zu Claire gepasst hätte. Sir Myrian Buchenwald, der Fürst von Narbental, hatte zunächst nicht besonders viel davon gehalten, aus einer Beisetzung ein Stadtfest zu machen. „Pietätslos“, hatte er es genannt. Doch seine Stadt war nicht nur bettelarm und von den übrigen Tälern geächtet, sondern zu allem Überfluss saß ihm auch noch der Stadtrat im Nacken, der danach trachtete, ihn gegen eine pro-umbrantische Marionette zu ersetzen. Darum hatte er wohl entschieden, dass es seiner Beliebtheit beim Volk nicht schaden könne, wenn zwei so berühmte Helden die Stadt ein wenig aufmischten. Auch die Bürger waren zunächst ein wenig befremdet gewesen. „Claire wer?“, war zwei Tage lang die meistgestellte Frage gewesen. Fausts Schwester hatte gerade mal ein paar Monate in der städtischen Miliz gedient und war überdies unehrenhaft entlassen worden. Das machte sie nicht gerade zur Stadttrophäe. Ihr chronischer Geldmangel war vermutlich das einzige, was sie mit Narbental-Stadt verband. Aber für Faust gehörte sie hierher, weil er sie hier zum letzten Mal gesehen hatte, und Winter war sofort Feuer und Flamme gewesen, als er sie gebeten hatte, die Festplanung zu übernehmen.
Geschäftig tänzelte sie nun zwischen den Feiernden umher, sorgte dafür, dass kein Becher lange leer blieb, bezauberte um des Friedens willen hin und wieder ein paar Trunkenbolde und teleportierte dazwischen immer wieder hinunter zum Hafen, um die Vorbereitungen für die Seebestattung zu überwachen. Gerade war sie dabei, eine sich anbahnende Rauferei zu verhindern, indem sie ein paar tiefe Blicke in ihr Mieder gewehrte, die die Raufbolde ihre Streitigkeiten glatt vergessen ließen, als sie zwischen den Gästen, die sich am Eingang drängten, die Gestalt einer alten Dame erblickte.
Erst auf den zweiten Blick erkannte sie Fürstin Helena MacLancastor: Sie war inzwischen vollständig ergraut, ging gebückter als früher und der zynische Zug um ihren Mund hatte sich als harsche Altersfalte in ihre Mundwinkel gegraben. Nur der herrische Stolz, den ihre kühlen blauen Augen ausstrahlten, als sie sich zielstrebig durch einen Pulk lärmender Seeleute kämpfte, war ungebrochen. Begleitet wurde sie von einem hochgewachsenen Edelmann mit denselben Augen – doch bei ihm wirkten sie eher verdrießlich als herrisch. Das musste Fausts Halbbruder sein – Fürstin Helena wusste, dass Faust die Söhne seines Stiefvaters nicht leiden konnte, also hatte sie ihn vermutlich mitgebracht, um Faust zu verstehen zu geben, dass er seit Claires Tod in ihrer Gunst nicht gerade gestiegen war. Alte Schnepfe. Als Faust fünf Jahre nach seinem Streit mit Helena nach Rabenklippe zurückgekehrt war, um ihr von seiner Schwester zu berichten, hatte er erfahren, dass seine Mutter ihren Stadtsitz aufgegeben hatte und zu ihrem jüngeren Sohn aufs Land gezogen war. Dort hatte man ihn am Tor abgewiesen.
Faust, sieh mal zur Tür. Sie ist doch gekommen.
Faust war so weinselig, dass er es sich nicht nehmen ließ, seinen ungeliebten Habbruder mit einem herben Schulterklopfen die Luft aus den Lungen zu pressen. Dann führte er seine Mutter zum Gespräch unter vier Augen nach draußen auf die Hafenpromenade, während der Misshandelte ihnen nachtrottete wie ein schmollender Schoßhund.
Neugierig beobachtete Winter sie durch eines der Gasthausfenster. Die meisten Leute, selbst Magier, wussten nicht, dass Schatten eine Form von Energie waren. Man musste nur wissen, wie man sie nutzbar machte, um ein paar äußerst praktische Vorteile aus ihnen zu schöpfen - wie etwa die Verbindung zwischen den Schatten im Wirtshaus und draußen auf der Hafenpromenade zu nutzen, um zu hören, was dort draußen gesprochen wurde…
„Lass wenigstens zu, dass Winter ein telepathisches Band zwischen uns knüpft, damit du mich im Notfall um Hilfe rufen kannst“, redete Faust gerade auf seine Mutter ein.
„Glaubst du wirklich, dein magischer Schnickschnack hätte Claire gerettet, wenn es ein Erzteufel auf sie abgesehen hatte?“ Die Fürstin lachte bitter auf. „Mit Verlaub – ich verzichte. Dir nicht zu nahe zu kommen, ist der einzige Schutz, der mich möglicherweise vor deiner zerstörerischen Aura bewahren kann.“
„Jetzt wirst du aber theatralisch.“
Sie blieb abrupt stehen.
„Kennt dein Eigensinn denn gar keine Grenzen, Desmond?“, fragte sie scharf. „Dachtest du wirklich, dass es nur Auswirkungen auf dich selbst haben würde, wenn du deine Seele verkaufst?“
Faust wollte etwas erwidern, doch sie schnitt ihm mit einer harschen Geste das Wort ab. Dann rief sie ihren Schoßhund zu sich, verabschiedete sich mit einem steifen „Adieu“ und rauschte auf und davon.
Winter erwog kurz, die Fürstin in irgendetwas Krötiges zu verwandeln, doch dann fasste sie den schlichten Entschluss nicht zuzulassen, dass dieses Biest Faust diesen Abend vermieste! Kurzentschlossen stieg sie auf den nächstbesten Tisch (da sie ein Kleid trug, das an den Seiten bis zur Hüfte aufgeschlitzt war, sicherte ihr das immer die Aufmerksamkeit) und rief: „Zeit für den großen Moment! Wer das Spektakel nicht verpassen will – folgt mir zum Hafen!“
Und ehe Faust Zeit hatte, in Trübsal zu verfallen, wurde er von einer Horde feierwütiger Trunkenbolde mitgerissen, die zum Hafen strömte, allen voran Kapitän Guinges, der ihm einen gefüllten Weinbecher in die Hand drückte und lauthals unflätige Seemannslieder zu grölen begann, die er auf die Verstorbene umgedichtet hatte.
Am Fischerkai lag das Bestattungsboot vertäut. Faust legte der Toten nach damarischem Brauch zwei Münzen auf die Augen und scherzte: „Da der Fährmann sein Werk schon getan hat, nehme ich mal an, dass sie mal wieder auf Pump durchgekommen ist.“
Nur die wenigsten Taliser verstanden die Anspielung, doch einige der Seemänner, die sich mit den Bräuchen von der anderen Seite der See auskannten, grinsten einander zu.
Nachdem das Boot zu Wasser gelassen und in Brand gesetzt worden war, blies Winter es mithilfe von Windmagie in die Hafenbucht hinaus. Auf ihr Zeichen wurde auf den Segelschiffen, die flankierend zu beiden Seiten der Bucht wippten, Bengalfeuer entzündet und die Schiffskapellen spielten Die Reise des Albatros. Und so schipperte das kleine Fischerboot wie ein Kind, dem ein Spalier von Königen die Ehre erwies, aufs offene Meer hinaus. Als es den Ausgang der Hafenbucht erreicht hatte, beschwor Winter die Illusion eines Feuerwerks. Sie hatte festgestellt, dass die Schatten jeden Feuerzauber schluckten, den sie zu wirken versuchte. Doch das Trugbild, das funkensprühende Bilder in den Nachthimmel malte, die die Reise des Albatros im Einklang mit der Musik untermalten, war so vollendet, dass am Ende kein Auge trocken blieb.
„Du hast dich echt selbst übertroffen“, meinte Faust, der plötzlich neben ihr auftauchte. „Sie hätte es so gewollt, meinst du nicht?“
Winter wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie hatte Claire kaum gekannt und wenn man ehrlich war – Faust auch nicht. Claire war Faust aus dem Weg gegangen, um nicht ewig in seinem viel zu großen Schatten zu stehen. Sie hatte nicht einmal zugelassen, dass er ihr die Miete abnahm, was hätte sie erst zu einem Staatsbegräbnis gesagt? Vermutlich hatte Faust – vermutlich hatten sie beide – dieses Spektakel dringender gebraucht als sie. Aber ging es bei solchen Dingen im Grunde nicht immer um die, die noch am Leben waren?
„Natürlich hätte sie das so gewollt“, sagte sie und schmiegte sich an seine Schulter.
Grimwardt
Er schließt die Augen und stößt ein zufriedenes Grunzen aus. Der ferne Schlachtenlärm klingt gedämpft und er vermisst den eisenhaltigen Geruch von geronnenem Blut – darum weiß er, dass es nur eine Vision ist. Aber selbst im Traum fühlt sich Kriegersruh nach Heimat an… zumindest bis zu dem Augenblick, als ein vorbeirauschendes Wasauchimmer aus dem Nichts auftaucht und Grimwardt aus den Stiefeln reißt.
„Potzblitz“, schimpft er, während er sich aufrappelt und sich den Staub von der Rüstung klopft. „Hier ist weit und breit freies Feld! Welcher Wüterich muss denn da ausgerechnet…“
Er hält abrupt inne, als er den Wüterich erkennt.
Tempus bricht in dröhnendes Gelächter aus, das irgendwo in der Nähe einen Steinschlag auslöst. Ehe Grimwardt ihm seine Ehrerbietung erweisen kann, zieht er ihn neben sich auf den Streitwagen und gibt Veiros und Deiros die Peitsche. Der Wind scheint Grimwardt die Haut von den Knochen zu reißen, als das Gefährt losstürmt.
„REITEN WIR IN DIE SCHLACHT?“, brüllt er gegen den Fahrtwind an.
„DA KOMME ICH GERADE HER! DIE SCHLACHT IST GEWONNEN! KEINE AHNUNG, AUF WELCHER SEITE ICH STAND, ABER SIE HAT GESIEGT!“
Grimwardt weiß, die Götter tragen auf den Schlachtfeldern von Kriegersruh regelmäßig ihre Streitigkeiten aus und Tempus schenkt seine Gunst willkürlich mal der einen, mal der anderen Partei. Zumindest scheint seine Wahl willkürlich. Doch Grimwardt ist davon überzeugt, dass hinter jeder seiner Handlungen, und wenn sie noch so planlos scheint, eine geheime Taktik steht.
Nach nicht einmal einer Minute kommt der Streitwagen vor einem riesigen Pavillon zum Stehen. Als die Welt um ihn herum zum Stillstand kommt, erkennt Grimwardt, dass sie meilenweit gereist sein müssen, denn die Umgebung hat sich völlig verändert. Der Pavillon ist umgeben von einem riesigen Heereslager, das sich weiter erstreckt, als er blicken kann.
„Ist das…?“
„Willkommen in der Halle der Helden.“
Tempus klopft ihm kurz auf die Schulter, schiebt die Zeltplane zurück und verschwindet im Innern, ehe sein Auserwählter seine Bedenken äußern kann. Die Halle der Helden – auch das Ewige Festzelt genannt – ist der Ort, an dem sich Tempus und sein Gefolge nach der siegreichen Schlacht zum Trinken und Feiern sammeln. Nur den Würdigsten unter Tempus‘ Anhängern ist im Jenseits ein Platz an der Tafel der Helden beschieden.
Grimwardt holt tief Luft, ehe er durch die Zeltöffnung tritt und erinnert sich daran, dass dies nur eine Vision ist. Tempus‘ Motive sind unklar. Vielleicht will er ihn ehren, indem er ihn hierher einlädt, vielleicht will er ihn aber auch ermahnen, nicht vom Weg abzukommen, um sich seinen Platz an dieser Tafel nicht zu verspielen.
Der Gestank nach Schweiß, Met und Erbrochenem empfängt ihn mit solcher Heftigkeit, dass er fast rückwärts aus dem Festzelt heraus getaumelt wäre. Dichter Pfeifenrauch liegt über der Halle, sodass er Tempus erst nach einigem Suchen inmitten einer Traube grölender Krieger entdeckt. Mit einer Handbewegung winkt der Gott ihn zu sich, einen halblingsgroßen Humpen im einen und eine leichtbekleidete Walküre im anderen Arm. Eine zweite Schildmaid lässt sich lasziv auf Grimwardts Schoß nieder und beginnt irgendetwas Feuchtes mit seinem Hals zu tun. Da seine Abwehrversuche nicht fruchten, befördert er sie schließlich nicht ganz unsanft auf einen Nachbarschoß. Kopfschüttelnd wischt er sich schließlich den Schweiß von der Stirn. Niemals hätte er geglaubt, dass es auf Kriegersruh einen Ort gibt, an dem er sich so fehl am Platze fühlt.
„Du hältst nicht viel von Frauen und Met, hm?“ Ihm wird bewusst, dass Tempus ihn die ganze Zeit aufmerksam beobachtet hat. Die klugen hellen Augen in dem kampfgezeichneten Kratergesicht blitzen vergnügt.
Also ein Test, denkt Grimwardt.
„Gegen ein gutes Schlückchen ist nichts einzuwenden“, brummt er und prostet seinem Herrn grimmig zu.
Tempus lacht rau.
„Nichts für ungut, Mann, aber manchmal frage ich mich schon, warum du ausgerechnet mich zum Gott erwählt hast. All die Prinzipien, die Disziplin, die Enthaltsamkeit… Torm, Tyr, die Rote Ritterin – sie alle hätten sich die Finger nach dir geleckt. Ich dagegen habe nie so ganz verstanden, warum es ein Ausdruck von Loyalität sein soll, sich keinen Spaß mehr zu gönnen.“ Um seinen Worten jede Zweideutigkeit zu nehmen, kneift er seiner Schildmaid zwinkernd in den Hintern.
Grimwardt muss zugeben, dass es ihn ein wenig verletzt, dass sein Gott seinen Verzicht so wenig zu würdigen weiß. Erstaunt stellt er fest, dass es eine Seite an Tempus gibt, die er zwar immer gekannt, der er aber nie eine Bedeutung beigemessen hat. Er hat immer nur den Feindhammer, den ehernen Kriegsherrn, in ihm gesehen. Was Tempus‘ unzählige Frauengeschichten, seine mutwillige Willkür, seine unsteten Launen angeht, so hat seine Glaubensauslegung wohl nie dem Dogma entsprochen. Und irgendwo, tief begraben unter seinem unerschütterlichen Glauben, legt Tempus‘ Bemerkung einen leisen Zweifel in ihm frei: Wäre er jemals zum Kriegspriester, zum Auserwählten, geworden, wenn sein Leben anders verlaufen wäre? Beruht sein Schicksal womöglich nur auf der willkürlichen Wendung, dass seine Eltern ihn mit zehn Jahren in eine Klosterschule gesteckt haben, die zufällig von einem Tempus-Priester geführt wurde? Grimwardt sinkt der Mut. Hat Tempus ihn etwa hergebracht, um ihn zu der Erkenntnis zu leiten, dass ihre Wege sich letztendlich trennen müssen?
Er räuspert sich.
„Ihr wisst weshalb ich um Euren Rat gebeten habe?“
Er wähnt ein verwegenes Lächeln unter dem dichten Bart des Feindhammers.
„Einen Rat oder einen Befehl?“, fragt er, schickt seine Schildmaid mit einem Klaps auf den Hintern fort und lehnt sich breitbeinig zurück. „Lass mich dir eine Frage stellen, Grimwardt. Du weißt, ich schätze eine gute Kriegstaktik ebenso sehr wie ein planloses Gemetzel. Und ich pisse auf moralische Bedenken – das einzige, was im Krieg zählt, ist Sieg oder Niederlage. Schändungen, Brandschatzungen, zivile Tötungen – all das sind wertvolle Strategien, um den Feind das Fürchten zu lehren und ihn vom Nachschub abzuschneiden. Wenn ich dir nun befehlen würde, einen Krieg auf der Grundlage einer solchen Taktik zu führen, würdest du diesen Befehl an deine Truppen weitergeben?“
Grimwardt zögert nur einen Augenblick. Tempus kennt ihn besser als er sich selbst, er weiß die Antwort ohnehin schon.
„Nein“, sagt er schlicht.
Tempus nickt ernst.
„Und das ist der Grund, warum ich dich zu meinem Auserwählten gemacht habe. Manchmal erinnerst du mich an sie.“ Er ruckt den Kopf in Richtung einer Ritterin in roter Rüstung, die selbstvergessen in all dem Trubel vor einem Schachspiel sitzt, das sie gegen sich selbst zu spielen schien. Grimwardt weiß, dass auch die Rote Ritterin, als sie noch unter den Lebenden weilte, eine Auserwählte des Tempus war. Nach ihrem Tod erhob ihr Mentor sie zur niederen Göttin. „Um ehrlich zu sein: Manchmal macht sie mich wahnsinnig mit ihren endlosen Plänen, ihrer Kontrollsucht und ihrer eisernen Disziplin. Aber sie bietet ihren Anhänger etwas, das ich ihnen nicht bieten kann. Und weil sie meine Verbündete ist, macht sie mich stärker. Ich brauche Leute wie sie und wie dich in meiner Gefolgschaft. Keine Speichellecker, deren Bestreben es ist, mich möglichst gut zu imitieren, sondern Taktiker, die die richtigen Mittel gegen die richtigen Feinde einzusetzen wissen.“
„Ihr meint, ich… soll meine Schwester als Kriegsinstrument betrachten“, fragt Grimwardt verwundert.
„Nein“, erwidert Tempus. „Ich meine, dass ein Krieg auf euch zukommt, auf Faerûn, der bis ins Reich der Götter reicht. Der meine und deine Welt verändern wird. Es hat mit der Zauberpest angefangen und es ist noch lange nicht vorbei. Du bist mein General in diesem Kampf. Die Entscheidungsgewalt liegt bei dir. Müsstest du ein Urteil im Sinne der Menschheit fällen, wäre die Antwort einfach: Töte deine Schwester, denn sie stiehlt den Menschen ihre Freiheit! Müsstest du ein Urteil im Sinne der Götter fällen, wäre die Antwort ebenfalls einfach: Töte sie, denn sie stiehlt uns unsere Seelen! Aber du musst eine Entscheidung im Sinne des Krieges fällen.“
„Hm“, brummt Grimwardt und als er den Blick in seinem Humpen versenkt, beginnt sich die Welt um ihn zu drehen und die Vision zerbricht.
Essembra, zur Mittagssonne.
„Tretet ein, Fürst Olek“, sagte Grimwardt, während er sich auf den Feuerschild des Kriegskanzlers stützte, um vor dem Altar auf die Füße zu kommen. Nervös betrat der älteste Sohn des verstorbenen Fürst Ilmeth die Kapelle und verneigte sich fahrig. Wie lange er dort wohl schon ausgeharrt haben mochte, während Grimwardt im Gebet versunken gewesen war?
„Verzeiht, Kriegskanzler, ich wollte Euch nicht in Eurer Andacht stören. Aber Ihr habt mich gebeten, Euch Mittelung zu erstatten, sobald die Fürsten der Talländer hier eintreffen.“
„Und das habt Ihr hiermit getan. Aber das ist nicht der Grund, warum Ihr ausseht wie sieben Tage Regenwetter, will mir scheinen.“
„Herr.“ Der junge Fürst rieb sich die schwitzenden Hände. „Es… Es sind nicht alle Fürsten zur Beisetzung meines Vaters erschienen. Die Schwertfürsten vom Bogental lassen ausrichten, dass sie Eure Kanzlerschaft ohne Bürgerratswahl nicht anerkennen und Fürst Baleira von Federtal hat gar nicht erst auf die Einladung geantwortet.“
„Hmpf“, brummte Grimwardt. „Entweder die Herrn Kaufmannsfürsten vom Bogental sind plötzlich feurige Republikaner geworden oder sie fürchten, ihre großmütigen Gönner aus der Anauroch zu vergrämen. Baleira hat immerhin den Anstand, mir scheinheilige Vorwände zu ersparen.“
„Sie wissen, dass in Hochmond bald ein anderer Wind wehen wird“, sagte Fürst Olek mit einem scheuen Lächeln. „Der Rat der Talländer wird einen fürchterlichen Aufstand machen, aber im Grunde ist ihnen klar, dass den Krieg gegen Netheril nun, da der Auserwählte des Tempus Kriegskanzler ist, nichts mehr aufhalten wird.“
Grimwardt bedachte ihn mit einem anerkennenden Blick.
„Ja, vermutlich“, brummte er.
Und was für ein Heeresführer wäre er, wenn er seine mächtigste Waffe gegen die Schattenprinzen von Netheril nicht einsetzten würde?