Kapitel V: Eine Armee für die Silbermarken
Grimwardt
Spät am Abend im Stadtpalais der Wands, Tiefwasser.
„Ich übernehme die erste Wache“, murmelte Grimwardt aufopferungsvoll.
Wer sie so die Treppe zu ihren Gemächern hinauf kriechen sah, mit müden Augen und schlaffen Gliedern, hätte meinen können, die Schlacht läge bereits hinter ihnen. Und tatsächlich war die Wahrheit nicht allzu weit davon entfernt: Seit der Begegnung mit dem Hausdachen von Haus Wands waren sich die fünf einig, dass die Chancen auf einen geselligen Abend selbst im neunten Höllenkreis besser standen als in der Gesellschaft von Lady Laetitia Wands!
Und dabei hatte alles ganz harmlos begonnen. Nachdem sie sich aus der Adumbral Calyx zurückgezogen hatten, waren die Gefährten nach Tiefwasser gereist, um einige magische Einkäufe zu tätigen. Boltor der Zwerg hatte sich ihnen mit einem Lallen und den Worten „Saufen kann ich überall“ angeschlossen. Da niemand etwas gegen tägliches Freibier einzuwenden hatte, war mehr nicht von Nöten gewesen, um ihn in die Gruppe aufzunehmen.
In Tiefwasser hatten sie einen Abstecher zu Khelbens Zauberschule gemacht, die seit dem Tod des berühmten Magiers von seiner Geliebten, Lady Lareal Silberhand, geführt wurde. Über Lareal, die zweitjüngste der Sieben Schwestern und eine alte Bekannte der Fedaykin-Geschwister, hatten sie gehofft mit Lareals Schwester Alustriel von Silbrigmond in Kontakt zu treten. Schließlich musste die Regentin der Silbermarken über das Portal im Unterheim und die Machenschaften des Schattenherrn der Adumbral Calyx unterrichtet werden. Doch in Tiefwasser war Lareal nicht anzutreffen gewesen. Von einer ihrer Schülerinnen hatten die Gefährten erfahren, dass die Fürstin vor zwei Tagen übereilt die Stadt verlassen hatte und seither nicht wieder aufgetaucht war. Da es schon spät war, waren sie daraufhin übereingekommen, bei einem alten Freund der Geschwister, dem Barden Marcus Wands, zu übernachten.
Doch statt auf den alten Schwerenöter waren sie im Stadtpalais seines Onkels auf Marcus’ Gattin Laetitia gestoßen. Lady Laetitia, deren sichtbare Schwäche für gefüllte Pasteten und kandierte Früchte auch fünf Schichten Gesichtspuder nicht zu übertünchen vermochten, hatte die Gefährten von dem Augenblick, da sie in ihre Falle getappt waren, nicht mehr aus ihren Fängen gelassen. Ihr schrilles Kichern hatte selbst den versoffenen Zwerg aus seiner angesäuselten Beschaulichkeit gerissen und ihr belangloses Geschnatter auf einer Frequenz, die nicht weit davon entfernt war, Glas zum Zerspringen zu bringen, übertraf jedes Folterinstrument.
Winter, der es kurzzeitig gelungen war, der Gastgeberin zu entfliehen, hatte Marcus schließlich in seinem Arbeitszimmer gefunden, wo sich der Hausherr zu nächtlicher Stunde mit übermüdeten Augen durch einen Stapel von Rechnungen und Lieferlisten quälte. Dem Zusammenbruch nahe, hatte sich der Unglückliche an der Schulter seiner alten Gefährtin ausgeheult und ihr sein Leid geklagt: Nachdem ihre Abenteuergruppe daran gescheitert war, das Auge des Drachenkönig, ein altes Familienerbstück der Wands, von den Schattendieben „zurückzustehlen“, die es durch Zufall bei einem Großraub ergaunert hatten, war Marcus’ Onkel gezwungen gewesen, das mächtige und gefährliche Artefakt zu horrenden Summen von der Diebesgilde zurückzuersteigern. Die Wiederbeschaffung hatte Marcus’ Familie in den Ruin und seinen Onkel ins Grab getrieben. Um nicht auch noch das Haus zu verlieren, hatte sich Marcus auf die Zweckehe mit Laetitia eingelassen und war in das Geschäft ihres Vaters eingestiegen. Unter dem Terrorregime des herrischen Kaufmanns und seiner zänkischen Tochter war der einstige Lebemann zu einer armseligen Karikatur seiner selbst verkommen. Um Marcus auch das letzte bisschen Lebensfreude zu nehmen und der „unnatürlichen und schändlichen“ Neigung ihres Gatten Einhalt zu gebieten, hatte Laetitia alle männlichen Bediensteten entlassen. Das Leben des ehemaligen Glücksritters bestand fortan nur noch aus Tabellen, Strichlisten und dem bitteren Sarkasmus, der ihn das alles ertragen ließ.
Grimwardt kam nicht umhin, den armen Tropf ein wenig zu bemitleiden. Immerhin waren sie nicht so ganz unschuldig an seinem Los. Um ihm ein wenig Abwechslung zu verschaffen, hatte er Marcus ein lukratives Geschäft vorgeschlagen, das seine baldige Abreise in die Abtei des Schwertes erforderte. Laetitia, misstrauisch wie eine alte Vettel, hatte sich von dem Vorschlag des Abteivogts wenig angetan gezeigt. Doch am Ende hatte die Habgier der Kaufmannstochter über ihr Misstrauen gesiegt. Als Resultat war Grimwardt der Kussattacke des überglücklichen Hausherrn ausgesetzt gewesen, die der Tempuspriester mit stoischer Miene über sich ergehen ließ.
Als er nun auf seinem Wachtposten vor den Gemächern seiner Gefährten Stellung bezog, klang Laetitias keifende Stimme noch immer in seinen Gedanken nach. Grimwardt wollte gerade die Augen schließen, um die lästige Erinnerung abzuschütteln, als er plötzlich eine Veränderung spürte. Eine Bewegung? Eine Luftveränderung? Grimwardt kniff die Augen zusammen. Dann begriff er: Nebel! Kaum sichtbar im Halbdunkel des Korridors waren die Schwaden aus den Dielen gestiegen und durch das Schlüsselloch in Winters Gemach gekrochen. Der Priester hatte genug Erfahrung mit Untoten, um die Gefahr auf den ersten Blick zu erkennen.
„Winter!“
Seine Schwester war nicht die einzige, die aufschreckte, als Grimwardt ins Zimmer platzte. Der Eindringling hatte sich vor ihrem Bett materialisiert und kniete, über Winters Ausrüstung gebeugt, auf dem Boden. Als die Tür aufsprang, fuhr er herum und das Mondlicht streifte sein bleiches Gesicht.
„Drake!“
Drake wich zischend zurück und funkelte den Kriegspriester aus rot geränderten Augen an. Etwas glitzerte in seiner Hand. Bevor Grimwardt erkennen konnte, was es war, nahm Drake Anlauf und setzte zum Sprung durchs Fenster an. Glas splitterte auf ihn nieder, als er den Fall mit einer Rolle abfing. Während der Eindringling über den Hof rannte, gingen im Haus die Lichter an und die ersten Wachen setzten ihm nach.
Gleichzeitig platzten Kalith, Hades und Boltor ins Zimmer. Kalith reagierte schnell und wies mit seiner Elfenklinge auf das Tor. Auf seinen Befehl entstand dort eine Wand aus wirbelnden Klingen, die Drake den Weg versperrten. Für einen Augenblick war der Flüchtende abgelenkt. Genug Zeit für Winter, die ganze Gruppe in den Hof zu teleportieren. Drake katzbuckelte und warf gehetzte Blicke um sich, als sie ihn umzingelten. Dann zischte er einen Zauber und setzte zum Sprung an. Ein gewaltiger Satz katapultierte ihn über die Klingenbarriere. Spinnengleich erklomm er das Mauerwerk und war im nächsten Augenblick verschwunden. Kalith und Boltor nahmen die Verfolgung auf, kehrten jedoch kurz darauf unverrichteter Dinge zurück.
„Was war das?“, fragte Winter atemlos. „Ist er…?“
„…ein Vampir?“, knurrte Grimwardt. „Sieht ganz danach aus.“
„Was war es, das er gestohlen hat?“ Hades war wie immer nichts entgangen.
Winter eilte zurück in ihr Zimmer und durchsuchte ihre Ausrüstung.
„Das muss dieser Stein aus Immerschwinge gewesen sein“, sagte sie. In kurzen Worten berichtete sie den anderen von ihrem Ausflug in die Stadt der Avariel. Bei der Plünderung des Elfen, der den Angriff auf die Wolkenstadt eingefädelt hatte, war Winter auf einen magischen Steinsplitter gestoßen. Die magische Aura des Steins war überwältigend gewesen, doch bei näherer Inspektion schien es sich dabei lediglich um eine Art moralischen Kompass zu handeln. Nutzloser Schnickschnack, in Winters Augen.
„Mir ist schleierhaft, was er mit dem Ding will“, beendete sie ihren Bericht.
„Wer weiß, welches Geheimnis der Stein birgt“, gab Hades zu bedenken. „Euer Freund Drake schien jedenfalls darum zu wissen.“
Grimwardt schüttelte schnaubend den Kopf.
„Das ergibt doch alles keinen Sinn“, grummelte er. „Gestern Abend erst hatte Drake uns in seiner Gewalt. Warum hat er sich den Stein nicht da schon genommen? Und wie soll er so plötzlich zum Vampir geworden sein? Kam er euch gestern in irgendeiner Weise untot vor?“
Ratlose Gesichter.
Schließlich war es Kalith, der das Wort ergriff.
„Mir ist es gleich, wer oder was Drake ist“, sagte er leise. Sein Gesicht war so angespannt, dass seine Kieferknochen hart aus dem schmalen Gesicht stachen. „Oder wozu er diesen Stein braucht. Drake ist der Mörder meiner Eltern und dafür werde ich ihn büßen lassen.“
Winter
Am nächsten Tag im Sterngericht, Silbrigmond.
Alle Augen waren auf Winter gerichtet.
Erhobenen Hauptes schritt die Frau des Angeklagten durch den Gerichtssaal und nahm auf dem Stuhl der Lügen Platz. Auf die Fragen des Verteidigers antwortete sie mit ruhiger Stimme, ohne das Getuschel zu beachten, das durch die Bankreihen ging. Stimmte es, dass der Butler zur Zeit seiner Aussage unter magischem Einfluss gestanden hatte? Wie war sie zu dieser Schlussfolgerung gekommen? Was hatte es mit den Tagebuchaufzeichnungen des Opfers auf sich?
Bei aller äußerlichen Gelassenheit merkte Winter, dass sie nicht ganz bei der Sache war. Immer wieder glitten ihre Gedanken ab. Drake, der gestohlene Stein, die Adumbral Calyx, das Schattengewebe... So viel war seit Doriens Festnahme geschehen und noch immer tappten sie im Dunkeln, was den Zusammenhang all dieser Ereignisse anging. Der Verbleib ihrer Tochter in der magietoten Zone war weiter ungewiss und ihr kurzer Ausflug auf die Schattenebene war inzwischen sicher entdeckt worden…
Um ihre Gedanken zu fokussieren und sich von ihren Sorgen abzulenken, blickte Winter zu Dorien, der in Handschellen auf der Anklagebank saß. Erschöpfung und Demütigung hatten dunkle Ringe unter seine Augen gezeichnet und mit einem Mal überkam sie tiefes Mitgefühl. Dabei standen seine Chancen gar nicht schlecht: Die fünf Hohen Richter würden sich der Beweiskraft des Tagebuchs nicht entziehen können. Sie mussten erkennen, dass Dorien den Mord an Fürst Emmet Oleander nicht begangen haben konnte. Doch selbst wenn sein Kopf heute verschont blieb, so hing doch sein Ruf bereits am Galgen. Der Staatsanwalt hatte einen ganzen Pulk früherer Liebschaften des Dandys ausfindig gemacht, die Doriens Verhältnis zu Lady Lucinda vor achtzehn Jahren bezeugen konnten und noch einige andere brisante Details aus seinem Leben zu erwähnen wussten: Damals war Dorien mit gerade einmal siebzehn Jahren als „Gesellschafter“ in Silbrigmonds Salons ein oft gesehener Gast gewesen, was in Adelskreisen eine süffisante Umschreibung für eine männliche Kurtisane zu sein schien. Winter wusste, was das zu bedeuten hatte: Selbst wenn Dorien freigesprochen würde, war der Name Dantés doch für alle Zeit beschmutzt. Winter konnte sich die Betroffenheit der Dantés’ lebhaft vorstellen, wenn sie bei ihrer Rückkehr feststellen mussten, dass sich die Nachbarn das Maul über sie zerrissen…
Nachdem Winter ihre Aussage gemacht hatte, überließ der Verteidiger sie dem Anwalt der Klägerschaft, einem Dreikäsehoch von einem Gnom, der die Nase so hoch trug, das er sein Brillengestell auf dem Nasenbein balancieren konnte.
„Nennt dem Gericht Euren vollen Namen.“
„Mein Name ist Winter Ballostero, geborene Fedaykin.“
Der Gnom kniff die Augen zusammen.
„Wieso gabt Ihr Hauptmann Sernius Alatahar gegenüber an, die Gattin des Angeklagten zu sein?“, fragte er forsch.
„Es fand keine formelle Trauung statt. Doch Dorien Dantés ist der Vater meines Kindes.“
Sie würde diesem halben Meter nicht gestatten, ihre Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen. Der Gnom ließ es dabei bewenden und ging dazu über, ihr Fragen über Drake, den Butler und das Tagebuch zu stellen. Winter ließ sich von seinen kleinen Sticheleien nicht aus der Fassung bringen und meisterte das Verhör, ohne dass der Stuhl der Lügen sich verfärbte.
Nachdem der Angeklagte als letzter in den Zeugenstand gerufen worden war, zogen sich die Richter zur Beratung zurück. Winter versuchte einen Blick auf Dorien zu erhaschen, doch der Angeklagte hielt den Kopf gesenkt, sodass sein Gesicht von einer Strähne seines hellen Haars verdeckt wurde. Dann endlich öffnete sich die Tür zum Richterzimmer. Winter hätte die fünf alten Männer am liebsten mit einem Hastzauber belegt, so langsam krochen sie in ihren raschelnden Talaren zurück zum Podium. Jorus Azurmantel von der Zaubergarde verkündete den Urteilsspruch.
Winter hielt den Atem an.
„Wir, die Hohen Richter von Silbrigmond“, erklärte der Alte, „befinden den Angeklagten mit vier zu einer Stimme für… nicht schuldig.“
Beredte Betriebsamkeit folgte auf die Urteilsverkündung: Bänke wurden gerückt und eine Horde aufgeregt lamentierender Gerichtsgänger strömte dem Ausgang zu. In all dem Trubel fielen sich Dorien und Winter um den Hals.
„Danke“, flüsterte er. „Danke, dass du mir den Hals gerettet hast.“
Faust
Etwa zur gleichen Zeit im Gasthaus Zu Hammer und Helm.
Stöhnend wälzte sich Faust aus dem Bett und fluchte, als er über ein paar Damenschuhe stolperte, die vor seinem Bett verstreut lagen. Von der dazugehörigen Dame war nur der dunkle Haarschopf zu erkennen, der unter der Bettdecke hervorlugte. Faust machte gar nicht erst den Versuch, sich daran zu erinnern, wer sie war oder wo er sie aufgegabelt hatte. In seinem Schädel pochte es, als würde er von einem Trupp zwergischer Mienenarbeiter bearbeitet. Sein Gedächtnis musste ihn etwa zu dem Zeitpunkt verlassen haben, als er diesem Hurensohn von Söldner das Tischbein zwischen die Rippen gerammt hatte, woraufhin der Wirt des Strahlenden Schwerts ihn vor die Tür gesetzt hatte. Der Krieger seufzte. Miu würde ihm wieder einen ihrer moralischen Blicke zuwerfen, wenn sie davon erfuhr. Wo war die kleine Heilerin überhaupt? Nachdem er sich etwas Wasser ins Gesicht gespritzt und sein Schwert umgebunden hatte, verließ der Kämpfer das Gasthaus, um nach seiner Gefährtin zu suchen.
„MIU!“
Du bist ein erbärmlicher, versoffener Hurenbock, schalt er sich selbst, während er ziellos durch die Gassen lief. Er hatte den ganzen verdammten Kontinent von Osten nach Westen durchwandert auf der Suche nach seiner Bestimmung. Und wofür? Seit der Rebellion des Nagamura hatte er keinen Kampf mehr ausgefochten, der ihm gerecht wurde. Er hätte dort bleiben sollen, in den Bergen von Wa, wo der Rest seines geschlagenen Heers vermutlich noch immer auf ihn wartete. Warum hatte er sie im Stich gelassen? Um dem Traum einer irren alten Karaturianerin zu folgen, die ihn für den Auserwählten hielt und ihm aufgetragen hatte in seine Heimat zurückzukehren? Auserwählt von wem und wozu? Von den Nebeln? Faust schauderte, wenn er an die Nebel dachte. Sie hatten ihn schon einmal entführt… Hatten sie das? Seine Erinnerung an die Zeit vor seinem Erwachen in Kara-Tur war so schemenhaft, dass er sich manchmal fragte, ob die Erinnerungsfetzen, die ihn von Zeit zu Zeit heimsuchten, nichts weiter waren als Albträume.
Ohne es zu merken, war Faust im Zentrum der Stadt angelangt. Im Schatten des Hochpalasts lag ein unscheinbares Gebäude aus schwarzem Basaltstein, das entfernt die Form einer Krone aufwies. Das Emblem Tyrs über dem Eingang wies den Bau als Gerichtsgebäude aus. Bürger entströmten ihm in Scharen und Fausts Augenmerk fiel auf eine Gruppe nicht unweit des Haupteingangs. Eine hübsche Rothaarige fiel gerade einen Typ um den Hals, der aussah wie einer Schäferidylle entsprungen, während ein rotbärtiger Axtträger einen besoffenen Zwerg davor bewahrte ein kleines Kind über den Haufen zu rennen.
Abenteurer!, erkannte Faust schmunzelnd.
Dann stutzte er. Ein wenig abseits der illustren Gruppe harrte ein dunkelhäutiger Priester, dessen durchdringende, farblose Augen Faust zu durchbohren schienen. Faust kniff die Augen zusammen. Irgendetwas an dem Kerl kam ihm bekannt vor.
Der Fremde trat auf ihn zu.
„Faust?“
Auf unerklärlich Weise erschien Faust das Emblem Tyrs, das im Wind hinter dem Priester wehte, plötzlich wie ein drohendes Omen.
„Äh… kennen wir uns?“
„Flüchtig“, erwiderte der Fremde. „Mein Ordensname ist Hades. Auch bekannt als das dritte der Neun Schwerter von Rabenklippe. “
Die Neun Schwerter. Flüchtige Erinnerungen. Ein Fremder, der an die Tür seiner Mutter klopft. Ein Tavernenschild, das quietschend im Wind schaukelt. Der Geruch von Schweiß und Blut.
„Ihr erinnert Euch“, erkannte Hades und plötzlich lag etwas Drohendes in seiner Stimme. „Dann wisst Ihr auch, weshalb ich hier bin?“
„Nicht… wirklich.“
„Ich suche schon seit einer halben Ewigkeit nach Euch.“
„Oh.“ Faust überkam das dumpfe Gefühl, dass er den Kerl so schnell nicht wieder loswerden würde. „Sonst nicht viel zu tun, hm?“, versuchte er die Situation aufzulockern.
Keine Regung. Der Kerl hatte soviel Sinn für Humor wie ein Bauchgeschwür.
„Ich bin hier, um Euch für den Mord an Meister Thallastam zur Verantwortung zu ziehen.“
„Den Mord an…? WOU!“ Faust hob abwehrend die Hände. “Langsam, Mann!“
Der Kämpfer hatte geahnt, dass so etwas kommen würde. Aber ein Mord? Das ging gegen seine Ehre und die war ihm heilig.
„Ich weiß wirklich nicht wovon Ihr sprecht“, erklärte er fahrig, während er versuchte gegen das Pochen in seinem Kopf anzureden. „Mag sein, dass mein Gedächtnis mich in letzter Zeit etwas im Stich gelassen hat. Aber ich bezweifle, dass ich der bin, den Ihr sucht.“
„Das bezweifle ich nicht“, sagte Hades unbeeindruckt. „Ich muss Euch bitten, mir Euer Schwert auszuhändigen und mir nach Rabenklippe zu folgen. Im Namen der Neun Schwerter nehme ich Euch in Gewahrsam.“
„Zwiespalt ist das Schwert meines Vaters“, erklärte Faust. „Und ich gebe es nur ungern aus…“
Hades zog seine Waffe.
„Euer Schwert!“, forderte er schneidend und drängte den Krieger mit seinem massigen Körper in eine Seitengasse. „Oder ich sehe mich gezwungen, es Euch gewaltsam zu entreißen!“
Faust stöhnte.
„Muss das jetzt sein?“, fragte er, während er zögernd nach seinem Knüppel griff. Schließlich wollte er dem Priester nicht gleich den Kopf von den Schultern säbeln. „Ich bin nicht gerade in der besten Verfassung, um…“
Hades griff an.
Faust ächzte, als sich die Sonnenklinge in seine Seite bohrte, und wich mit einem flinken Seitenschritt dem Folgestoß aus. Scheiß auf den Knüppel! Faust zog seine Henkerswaffe. Wenn der Mistkerl ihm gleich auf die harte Tour kam, dann hatte er es nicht besser verdient! Ein eilig gewirkter Zauber verwandelte die Klinge des Krummschwerts in eine Ätherwaffe, die Hades’ Rüstung mit Leichtigkeit durchdrang. Anders als die meisten Kämpfer hielt Faust magische Studien nicht für Zeitverschwendung. Im Gegenteil: Der ehrgeizige Abenteurer hatte gelernt, östliche Kampkunst mit ein paar arkanen Tricks zu würzen, die seinen Stil der Technik anderer Kämpfer überlegen machte. Das Resultat war eine eigenwillige Mischung aus brachialer Gewalt und taktischen Kampfmanövern. Die verwirrende Unberechenbarkeit dieser Mischung bekam auch Hades nun zu spüren. Faust überzog den Priester innerhalb eines Augenschlags mit einem wahren Klingenhagel - ein Kunstgriff, den er von seinem alten Freund Nagamura gelernt hatte. Sein Gegner strauchelte, doch ein eilig gesprochenes Heilgebet brachte ihn schnell wieder auf die Beine. Auch sein nächster Angriff traf Faust mit voller Wucht: Kunststück – bis auf einen stählernen Arm war der Kämpfer ungerüstet. Doch ehe Hades zu seinem nächsten Angriff ausholen konnte, war Faust bereits aus seiner Reichweite getänzelt und holte zum Gegenschlag aus. Faust erkannte die Kampftechnik seines Gegners als eine, die seiner eigenen nicht unähnlich war, wenn Hades sich auch eher auf die Kanalisierung göttlicher Energie als auf die Perfektionierung des Zusammenspiels von Körper und Geist spezialisiert hatte. Ja, nun erinnerte er sich wieder: Es waren die Neun Schwerter, die ihn die Kunst der Schwertmagie gelehrt hatten. Er war einer von ihnen! Er hatte… Die Erkenntnis hätte Faust beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht. Hades nutzte die Gelegenheit, um ihn in eine Sackgasse zu drängen und ihm jede Ausweichmöglichkeit zu nehmen. Faust setzte alles auf eine Karte: Er erhob sein Schwert über den Kopf und setzte zum Sprung an. Die Wucht des Angriffs zertrümmerte Hades’ Schulterblatt und der Priester sank bewusstlos zu Boden.
Keuchend ließ sich Faust gegen die kühlende Steinwand sinken. Scheiße. Was sollte er jetzt tun? Wenn er ihn hier liegen ließ, würde der Priester innerhalb weniger Minuten verbluten. Wo war Miu, wenn man sie brauchte? Faust gab sich einen Ruck, nahm das Schwert des Priesters an sich und machte sich auf die Suche nach Hilfe.
„MIU!“, brüllte er lauthals, während er durch die Gassen lief.
„Halt!“ Zwei Stadtwachen in silbernen Rüstungen hielten den blutverschmierten Krieger an.
„Ist Euch eine kleine Karaturianerin aufgefallen?“, fragte Faust außer Atem. „Schwarze Haare, in Lumpen gekleidet, ziemlich schweigsam?“
Die beiden Wachen sahen ihn an, als wären sie ernsthaft um seinen Geisteszustand besorgt. Zögernd legten sie ihre Hände an die Waffen.
„Was ist geschehen? Wessen Blut ist das an Euren Händen?“
„Keine Zeit“, murmelte Faust und versuchte sich an den beiden vorbei zu drängen. „Ich muss Miu finden. Jemand liegt im Sterben. MIU!“
Einer der beiden zog sein Schwert.
„Sofort die Waffen fallenlassen!“, befahl der Ritter. „Und dann erzählt, was passiert ist!“
Faust seufzte. Er hätte es allein mit dem ganzen Orden aufnehmen können, aber das hätte noch mehr Tote bedeutet… und noch mehr von Mius moralischen Blicken. Ergeben ließ er sein Schwert zu Boden sinken und erhob die Hände.
Als er mit den Rittern kurz darauf am Ort des Geschehens eintraf, staunte er nicht schlecht, Hades mit geheilten Knochen in der Gasse stehen zu sehen. Dann gewahrte er fünf weitere Gestalten: Es war die Abenteuergruppe, die ihm vor dem Gerichtsgebäude aufgefallen war.
„Er ist es, der mein Schwert gestohlen hat!“, erklärte Hades mit so viel Würde in der Stimme, dass niemand auf die Idee gekommen wäre, dass er noch vor wenigen Augenblicken mit zertrümmerter Schulter im Straßengraben gelegen hatte. „Er ist nicht nur ein Mörder, sondern auch ein Dieb.“
Fünf anklagende Blicke richteten sich auf Faust.
Hades
Einige Stunden später in der Küche des Ehepaars Dantés.
Mit einem halben Laib Brot und einer Käseecke in der Hand trat Faust aus der Vorratskammer.
„Wollt Ihr auch was?“, fragte er mit vollem Mund.
„Darf ich Euch daran erinnern, dass wir zu Gast sind in diesem Haus“, schalt ihn der Richter und ließ sich mit versteiftem Rücken auf einem Küchenstuhl nieder.
„Schätze, das heißt nein.“ Der Krieger zuckte mit den Schultern und machte es sich mit hochgelegten Beinen am Speisetisch bequem. Hades runzelte die Stirn, sagte aber nichts.
Nachdem Faust in der Gasse aufgetaucht war, hatten die Ritter die beiden Kontrahenten mit auf die Wache genommen. Ein Mitglied der Zaubergarde hatte ihre Aussagen aufgenommen. Da sie beide keine Stadtbürger waren, hatte man sie daraufhin wieder gehen gelassen. Das Verhör hatte gezeigt, dass Faust die Wahrheit gesprochen hatte. Er konnte sich tatsächlich nicht daran erinnern, seinen alten Mentor, den Waldelf Thallastam, getötet zu haben. Er schien sich nicht einmal daran zu erinnern, ihn gekannt zu haben. Hades würde nach Rabenklippe reisen und die Anführerin der Neun Schwerter um Rat fragen müssen, was in diesem Fall zu tun war. Doch zuvor musste er seine Pflicht gegenüber den Fedaykin-Geschwistern erfüllen und mit ihnen gegen den Herrn der Adumbral Calyx und seinen Hofstaat in den Kampf ziehen. Der Kelemvor-Streiter war sich darüber im Klaren, dass die Begegnung mit dem Schattendrachen nur ein Vorgeschmack darauf gewesen war, was sie auf der Schattenebene erwartete. In Anbetracht der Umstände war ein Waffenstillstand mit Faust darum ratsam. Doch war dem wankelmütigen Raufbold zu trauen? Hades entschied sich zu einem riskanten Schritt und beschloss, Faust in ihre Mission einzuweihen. Wie nicht anders zu erwarten, brauchte es nicht viel Überzeugungskraft, um den ruhmsüchtigen Kämpen dafür zu begeistern, für Ehre und Ansehen in den Kampf gegen einen Halbgott zu ziehen.
Die anderen waren nicht schlecht erstaunt, als sie bei ihrer Heimkehr die beiden Kontrahenten, die sich noch vor wenigen Stunden bis aufs Blut bekämpft hatten, dabei überraschten, wie sie waffenbrüderlich die Invasion der Adumbral Calyx planten.
Winter warf Hades einen fragenden Blick zu.
„Dann hassen wir ihn also nicht mehr, hm?“, fragte sie scherzend.
Faust, der überaus charmant sein konnte, wenn er wollte, beeilte sich, Winter den Platz zu seiner Rechten anzubieten. Mit seinen ungewöhnlichen, verschiedenfarbigen Augen, seinem stählernen Körper und dem verwegenen Lächeln stand der Krieger bei der Damenwelt vermutlich hoch im Kurs. Das schien auch Dorien nicht zu entgehen.
„Ihr wisst, dass das die Vorräte meiner Eltern sind, die Ihr da so großzügig verteilt?“, fragte der Dandy mit einem eisigen Lächeln.
„Dann wohnst du noch bei deinen Eltern?“, entgegnete Faust mit rüpelhaftem Spott.
Doriens Lächeln wurde noch um einige Grade kälter und erstarrte dann.
„Habt Ihr Eure Miu wieder gefunden“, wechselte Winter eilig das Thema, bevor noch jemand erfror. „Was ist sie? Euer Tiergefährte?“
Faust lachte. „So was in der Art. Aber keine Sorge, sie beißt nicht.“ Dann wurde er ernst. „Eigentlich habe ich keine Ahnung, wer Miu ist. Sie spricht nicht viel. Gar nichts, um genau zu sein. Hat ein Schweigegelübde abgelegt.“
„Ein Schweigegelübde?“
„Sie kommt aus einem Bergkloster zwischen Shou-Long und dem Kaiserreich Wa. Der Orden der Schweigenden Schwestern. Sie folgt mir schon, seitdem ich Kara-Tur verlassen habe. Wahrscheinlich hatte sie eine Vision und glaubt nun, mich auf den rechten Pfad zurück bringen zu müssen.“ Er zwinkerte mit seinem grünen Auge, während das blaue ernst blieb.
„Der Orden der Schweigenden Schwestern?“ Winter machte große Augen und zwickte Grimwardt in den Arm. „Davon habe ich gehört! Ich selbst hatte überlegt, meine Tochter zur Ausbildung dorthin zu schicken. Habt Ihr in dem Kloster Kinder gesehen?“
„Nein“, sagte Faust. „Wieso auch? Ist doch stinklangweilig für Kinder. In einem Bergkloster mit einem Haufen schweigender Nonnen.“
„Aber dafür sicher.“
Faust zuckte mit den Schultern.
„Die Nonnen tun sicher niemandem was“, sagte er und lehnte sich gesättigt zurück. „Die haben alle einen Friedensschwur abgelegt. Aber wenn Ihr mich fragt, ist ein Ort auf der Welt so sicher wie der andere… Wie alt ist Eure Tochter?“
„Acht.“
Faust hob eine Augenbraue.
„Acht? Ich hielt Euch für nicht älter als Mitte zwanzig!“
Winter bedachte das Kompliment mit einem strahlenden Lächeln aus ihren smaragdgrünen Augen. Hades räusperte sich.
„Habt Ihr noch etwas über den Herrn der Adumbral Calyx herausfinden können“, versuchte er die Anwesenden daran zu erinnern, was vor ihnen lag.
Winter und Dorien hatten während Hades’ kurzem Ausflug ins Städtische Gefängnis die Bibliothek aufgesucht, um einige Nachforschungen anzustellen. Dort hatten sie die Dienste von zwei Gelehrten in Anspruch genommen. Von der ersten, einer Ebenenexpertin, hatten sie erfahren, dass die Schattenebene eine düsterer Reflektion der materiellen Ebene war. Jeder geographische Ort auf dieser Welt existierte auch dort, wenn auch der Übergang zwischen Realität und Illusion auf der der Schattenebene fließender war. Das bedeutete, das es auch das Immerfeuer von Sundabar dort gab und erklärte, wie es möglich war, dass Winter bei ihrem ersten Besuch auf der Adumbral Calyx das selbe Bild gesehen haben konnte, das sich auch aus dem Laternenraum in Wuschkins Turm bot: Der Palast des Halbgottes befand sich auf der Schattenebene an dem selben Ort wie der Turm des irren Zwergenmagiers.
Der zweite Gelehrte hatte Winter und Dorien mehr über ihren Gegner, Lord Volumvax Sciagraph, berichten können. Volumvax war einst, vor tausenden von Jahren, ein Mensch gewesen. Ein junger Streiter der Mondgöttin Selune, der gegen die Finsteren Heere der Göttin der Nacht in den Krieg gezogen war. Sein Heer war erfolgreich gewesen und sein Heldenmut hatte die Aufmerksamkeit und den Zorn Shars geweckt. Aus Rache hatte die Göttin seiner geliebten Gemahlin die Nachricht von seinem vermeintlichen Tod zukommen lassen. Vor Trauer hatte sich die Unglückliche von den Klippen in den Tod gestürzt. Volumvax, dessen Seele der Verlust zerfraß, war schließlich den Einflüsterungen und Lügen der Königin der Nacht erlegen und zu ihrem ergebenen Diener geworden. Zur Belohnung für seine treuen Dienste hatte sie ihm die Kräfte eines Umbranten gewehrt. Dann hatte sie ihn zum Halbdämon gemacht. Am Ende hatte Shar ihren treuen Verbündeten sogar mit dem niedrigsten Rang eines Gottes belohnt. Doch der Machtzuwachs hatte Volumvax in den Wahnsinn getrieben. Um ihn kontrollieren zu können, hatte Shar ihn in die Adumbral Calyx, einen Turmkomplex auf einer fliegenden Erdscholle in einem See aus flüssiger Schattenmaterie gebannt. Die Erdscholle konnte sich, vom Herrn der Adumbral Calyx befehligt, frei auf der Schattenebene bewegen, doch Volumvax selbst war in seinem Palast gefangen.
Während Winter und Dorien diese Informationen eingeholt hatten, waren Grimwradt, Boltor und Kalith nach Tiefwasser gereist, um einige letzte Besorgungen zu machen. Damit waren alle Vorbereitungen getroffen.
Am nächsten Tag würde der große Kampf beginnen.
Boltor
Am nächsten Morgen.
Boltor fluchte, als er, wie gewöhnlich sturzbesoffen, aus dem Haus torkelte und über ein Lumpenbündel stolperte, das irgendwer vor der Haustür deponiert hatte. Den Umstand, dass das Lumpenbündel plötzlich aufsprang und sich als eine junge Karaturianerin entpuppte, schrieb er einer Laune seines vernebelten Geistes zu. Als dann jedoch der Neue (Boltor machte sich nicht die Mühe, sich all diese unaussprechlichen Menschennamen zu merken) aus der Tür gestürmt kam und das Lumpenbündel in die Arme schloss, wurde er doch stutzig.
„Miu!“, rief der Neue und zerzauste ihr kumpelhaft das lange schwarze Haar. „Wo warst du bloß? Hätte deine Hilfe echt gebrauchen können.“ Er schien keine Antwort auf seine Frage zu erwarten. „Leute, das ist meine Miu!“
Die junge Karaturianerin strich sich verlegen die Haare glatt und verneigte sich ehrerbietig.
„Damit wären wir zu acht“, freute sich Winter. „Eine Armee für die Silbermarken!“
Derart beflügelt teleportierten die Gefährten nach Sundabar ins Gasthaus Zur Trompete. Von dort ging es weiter ins Unterheim. Doch die Ankunft am Immerfeuer versetzte ihrer Aufbruchsstimmung einen jähen Dämpfer: Der Turm des irren Zwergenmagiers und das Portal zur Schattenebene existierten nicht mehr! An der Stelle des skurrilen Leuchtturms gab es nur noch einen Trümmerhaufen. In einiger Entfernung waren Zelte aufgeschlagen und zwergische Arbeiter liefen mit Schubkarren zwischen Trümmerhaufen und Zelten hin und her, um Schicht für Schicht abzutragen. Das ganze mutete wie eine skurrile Goldgräberszenerie an. Der Bereich um die Turmruinen war mit Schutzrunen gesichert und wurde von einem Trupp Steinschilde bewacht. Als die Gefährten sich den Runen näherten, kam ihnen Schildherrin Erdmute aus einem der Zelte entgegen.
„Hau rein!“, begrüßte Boltor seine Cousine auf Zwergisch.
„Geh fott“, erwiderte die Schildherrin.
„Was ist denn hier passiert?“
„Woher soll ich das wissen?“, knurrte die Zwergin. „Der Leiter der Expedition, Gabor, faselt dauernd etwas von magischen Löchern und gibt irgendeinen hochgelehrten Schwachsinn von sich, den kein ehrbarer Zwerg versteht.“
„Magische Löcher?“ Grimwardt, der als einziger ihre Sprache verstand, horchte auf. „Meint Ihr antimagische Zonen?“
„Was auch immer.“
„Wäre es wohl möglich, mit diesem Gabor zu sprechen?“
„Kann ihn ja mal fragen.“ Erdmute wandte sich um lief zu dem größten der Zelte. Nach einigen Minuten trat ein Goldzwerg mit beachtlichem Bartwuchs, wettergegerbter Haut und einem Monokel auf der Nase aus der Zeltöffnung und eilte auf die Gefährten zu.
„Ihr wart vor wenigen Tagen in diesem Turm?“, fragte der Zwerg auf Gemeinsprache.
„Ja, wieso?“
„Ist euch irgendetwas Ungewöhnliches dort aufgefallen?“
„Wenn Ihr das Portal zur Schattenebene meint, dann schon“, grummelte Grimwardt.
„Ein Portal!“ Vor Schrecken wäre dem Expeditionsleiter fast das Monokel von der Nase gerutscht.
„Wieso beunruhigt euch das? Und was tut ihr hier überhaupt?“
Der Zwerg leckte sich über die trockenen Lippen und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Dabei ging er unruhig auf und ab.
„Ich komme aus Zitadelle Adbar im Norden und bin ein Fachmann für Knotenmagie“, begann er. „Ich untersuche die magietoten Zonen in der Anauroch und den Talländern. Aufgrund der Aussagen einiger Beduinen-Flüchtlinge kam ich zu einem beunruhigenden Schluss: Die Größe der Löcher im magischen Gefüge und die hohe Geschwindigkeit ihrer Ausbreitung lassen befürchten, dass die Ursache dafür in einem Angriff auf Knotenpunkte des magischen Gefüges liegt. Knotenpunkte sind die Stellen im Gewebe, an denen verschiedene magische Meridiane aufeinander treffen. Die Magie ist dort besonders stark. Wird ein Knotenpunkt zerstört, so entsteht eine magietote Zone, die sich über die Verbindungsstränge sehr schnell ausbreitet. Ein solcher Knotenpunkt befindet sich auch unter dem Immerfeuer. Er ist der Grund für die hohe magische Qualität des Vulkansees. Ich fürchte, dass jemand versucht, diesen Knotenpunkt aufzulösen, um eine weitere magietote Zone zu erschaffen. Die wilde Magie ist ein erstes Indiz dafür, dass der Knotenpunkt bereits angegriffen wurde.“
Noch so ein Irrer, dachte Boltor. Der Umstand, dass der Expeditionsleiter die Angewohnheit hatte, beim Reden immer schneller zu werden, machte es nicht gerade einfacher, seinen Ausführungen zu folgen.
„Alles klar“, knurrte der Zwerg der am Ende nur noch Magie und Knoten verstanden hatte. „Und was hat das alles nun mit dem irren Magier und dem Aschehaufen dahinten zu tun?“
„Aus den Trümmern konnte ich einige Gegenstände bergen, die darauf hindeuten, dass der Bewohner des Turms sich mit Schattengewebe-Magie beschäftiget hat.“
„Schön, der Kerl hatte ’ne Schraube locker“, grunzte Boltor. „So weit waren wir auch schon.“
„Nun, das geschieht nicht selten bei Nutzern des Schattengewebes, die sich ohne Shars Protektion mit solch gefährlicher Materie befassen“, erklärte Gabor. „Ich konnte mir bisher nicht erklären, weshalb Wuschkin den Turm zerstört hat, doch wenn ihr an diesem Ort ein Portal zur Schattenebene entdeckt habt…“
„… hat er es zerstört, um seinen Herrn zu schützen“, vollendete Winter den Gedanken.
„Oder sein Herr hat ihn zerstört und den Turm gleich dazu“, gab ihr Bruder zu bedenken.
„Welcher Herr?“, fragte Gabor.
„Wir haben keinen Zeit für diesen Kram“, drängte der Neue. „Wenn Lord Volumvax den magischen Knotenpunkt unter dem Vulkansee zerstört, sollten wir ihn schleunigst davon abhalten.“
Die anderen stimmten ihm zu.
„Hat einer von euch Priestern daran gedacht, den Zauber Ebenenwechsel zu erbeten?“, fragte Winter.
Grimwardt sah Hades an. Hades sah Grimwardt an. Winter verdrehte die Augen.
„Wollt Ihr mir erzählen, dass wir mit zwei Klerikern unterwegs zur Schattenebene sind, die nicht einmal an so etwas Banales wie einen Ebenenzauber gedacht haben?“, fragte die Diebesmeisterin und stemmte vorwurfsvoll die Hände in die Hüften.
Während unter den anderen ein Streit darum entbrannte, wer für die Planung der Mission zuständig gewesen war und keinen einzigen Dimensionssprung eingeplant hatte, beobachtete Boltor, wie die kleine Karaturianerin stumm und unbemerkt die Gesten eines Zaubers auszuführen begann.
Dann spürte er, wie sich die Dimensionen überlagerten.