Nach langer Pause gibt's eine neue High-Level-Kampagne mit den Helden aus
Rundreise durch die Reiche/ Bastion der Gebrochenen Seelen (
http://forum.dnd-gate.de/index.php/topic,14854.0.html). Spielsystem ist eine Mischung aus 3.5, Pathfinder und einigen Hausregeln. Zu Beginn sind alle Charaktere auf Stufe 17.
Die neue Kampagne spielt etwa 8 Jahre nach den Ereignissen der alten. Nach einer beinahe tödlichen Begegnung mit zwei Nachtkriechern in einer Pocketdimension der Schattenebene mussten sich die Gefährten geschlagen geben und das Abenteuer abbrechen. Inzwischen haben sie alle wieder zu ihrem vor-abenteuerlichen Leben zurückgefunden, haben geheiratet, sind Eltern geworden... Oder so ähnlich.
ERSTES BUCH
STADT DER GLÄSERNEN GESÄNGE
Kapitel I: Die Entführung Grimwardt Abtei des Schwertes, Schlachtental, am NachmittagGrimwardt Fedaykin schnaubte missmutig, als er den Turnierplatz betrat und ehrfurchtsvolles Raunen die Menge der Zuschauer erfasste. Wie er diesen Humbug
hasste!
Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie in der letzten Reihe der Tribüne die Rekruten des dritten Jahrgangs unter der Hand Wetten darauf abschlossen, wie lange sein Gegner wohl gegen ihn durchhalten würde. Eine Reihe unter ihnen reckte Grimwardts junge Nichte Scarlet ihren hübschen roten Lockenkopf, um ja nichts von dem zu verpassen, was dort unten vor sich ging, während Dorat der Bibliothekar, wenig begeistert von seiner Rolle als Kindermädchen, sie immer wieder auf ihren Platz zurück zerren musste, damit sie bei all dem Gerecke und Gehopse nicht vorn über fiel. Der Gedanke an Scarlets Mutter trug nicht eben dazu bei, Grimwardts düstere Stimmung zu heben. Erst gestern hatte seine Schwester ihre Tochter wieder in der Abtei abgeladen ohne es für nötig zu befinden, irgendeine Erklärung abzugeben. Sie schien in Eile, doch das war Winter eigentlich immer. Und die Götter mochten wissen, wer der Vater der Kleinen war.
Sicher war nur, dass Grimwardt Scarlets Anwesenheit hier wenig zugetan war: Schließlich war die Abtei des Schwertes seit dem verheerenden Überfall vor fünf Jahren kein sicherer Ort mehr. Eine Allianz abtrünniger Drow-Familienclans aus dem Unterreich, die nach Lolths Wiedergeburt von den Priesterinnen der Spinnenkönigin vertrieben worden waren, war mit vereinten Kräften in die Talländer eingefallen. Bei der Verteidigung des Schlachtentals hatte die Abtei des Schwertes eine zentrale Rolle gespielt. Nur unter schweren Verlusten hatten sie die Invasion abwehren können.
Welche Verschwendung von Kampfeswillen, dachte Grimwardt darum grimmig, während von der anderen Seite sein Turniergegner, Jareth Burlisk, der Anführer der Schwertgeschworenen, den Turnierplatz betrat und mit allerlei Klamauk die Menge bei Laune hielt. Hätte es die Abtei, der es seit dem Überfall an Männern fehlte, nicht bitter nötig, für sich zu werben, so hätte Grimwardt diesem Mummenschanz niemals zugestimmt.
Nachdem der zwergische Waffenmeister Borgo vom Clan der Feisten Faust die Regeln verlesen hatte, begann der Kampf. Bereits Grimwardts erster Axthieb brachte Jareth völlig aus dem Gleichgewicht, während dessen Verteidigung allenfalls einen Kratzer in Grimwardts Rüstung hinterließ. Ein enttäuschtes Raunen ging durch die Reihen der Zuschauer und Grimwardt fing Jareths tadelnden Blick auf, der so etwas wie „Du sollst ihnen eine Schau liefern“ zu besagen schien. Grimwardt zuckte mit den Schultern. Dann eben anders. Da sein Versuch, Jareth zu entwaffnen nicht fruchtete, versuchte er ihn zu Boden zu ringen, was dank seiner massigen Gestalt und der dicken Rüstung auch ohne weiteres gelang. Der Krieger ächzte vernehmlich, als Grimwardt es sich mit dem gelangweilten Blick des überlegenen Siegers auf seinem Rücken bequem machte und gelassen seinen feuerroten Bart streichelte. Die Menge grölte vor Lachen.
In all dem Tumult wäre Scarlets überraschter Schrei beinahe untergegangen. Als Grimwardt zu seiner Nichte blickte, sah er nur noch, wie das Mädchen bewusstlos in die Arme des Bibliothekars sank. Ehe der Abteileiter auch nur aufspringen und ihren Namen rufen konnte, waren beide verschwunden. Sofort brach die Hölle los: Die Novizen aus der obersten Reihe, die alles mit angesehen hatten, sprangen Zeter und Mordio schreiend von ihren Sitzen auf. Die Menschen auf den Tribünen, von denen kaum jemand das eigenartige Schauspiel verfolgt hatte, schienen zu glauben, ihnen selbst drohe Gefahr und sprangen gehetzt von den Bänken auf, um wie eine aufgebrachte Herde dem Ausgang zuzuströmen.
„Kümmere dich darum“, knurrte Grimwardt an Jareth gewandt, den er unsanft auf die Beine zog, ehe er sich, immer zwei Bänke auf einmal nehmend, durch die Menge an den Ort des Geschehens kämpfte. Nachdem er die aufgebrachten Rekruten zur Ruhe gerufen hatte, ließ er sie einzeln vortreten. Ihren Ausführungen zufolge hatte der Entführer Scarlet zunächst mit einem Giftpfeil betäubt und sich dann mit ihr fort teleportiert.
Einer der Schüler überreichte Grimwardt einen schwarzen Hut, der auf Scarlets Sitzplatz gelegen hatte. Ein anderer Rekrut wollte gesehen haben, wie der Bibliothekar ihn kurz vor der Entführung hatte fallen lassen. Als der Oberste Gläubige das Kleidungsstück in die Hand nahm, vibrierte es leicht und ein magischer Mund, der sich über der Hutkrempe bildete, sprach: „Grimwardt Fedaykin, wenn Ihr Eure Nichte wieder sehen wollt, seid heute Abend zur Achten Stunde in
Whisper’s Braustube in Myth Drannor.“ Kaum war die Nachricht übermittelt, verschwand der magische Mund und der Hut zerfiel zu Staub.
„Als ob wir nicht genug Probleme hätten“, grummelte Grimwardt. Doch es wollte ihm nicht ganz gelingen, seine Sorge mit Missmut zu überspielen.
Myth Drannor. Ein eigenartiger Treffpunkt. Grimwardts Wissen nach glich die wiedererrichtete Elfenstadt noch immer einem Trümmerfeld. Doch Grimwardt war ein Kämpfer, der keinen unnötigen Gedanken verschwendete, wenn die Situation Taten erforderte.
„Sattelt mein Pferd“, befahl er darum einem der Absolventen. Wenn er zur achten Stunde in Myth Drannor sein sollte, würde er die Schnelligkeit seines Kampfrosses durch magische Mittel verstärken müssen. Vor seiner Abreise suchte er Jareth auf, um ihm für die Zeit seiner Abwesenheit die Leitung der Abtei zu übertragen und ihm den Auftrag zu geben, die Bibliothek zu durchforsten. Grimwardt glaubte nicht daran, dass diese Aktion auf dem Mist eines siebzigjährigen Bücherwurms gewachsen war, dessen einziges Laster bisher seine Liebe zum Rum gewesen war. Gerade als er aufbrechen wollte, erschien Borgo, der Waffenmeister, um Grimwardt mitzuteilen, dass er soeben einen Mann in Grimwardts Arbeitszimmer geführt habe, der vorgab, Scarlets Vater zu sein.
Tempus steh mir bei, dachte Grimwardt düster. Offenbar die Art von Vater, die immer nur dann auftaucht, wenn man sie gerade nicht braucht. Und so staunte der Abteivogt nicht schlecht, als er sein Arbeitszimmer betrat: Der Besucher, der es sich mit lässig unterschlagenen Beinen auf Grimwardts Arbeitstisch bequem gemacht hatte, war kein Anderer als Dorien Dantés, magiekundiges Mitglied seiner alten Abenteuergruppe und ein unverbesserlicher Weiberheld.
„DU bist Scarlets Vater?“, fragte Grimwardt fassungslos. Ein wenig mehr Verstand hätte er sogar seiner Schwester zugetraut.
„Ich freue mich auch dich zu sehen“, erwiderte Dorien sarkastisch. „Ich sehe, du bist beschäftigt“, fügte er mit einem abwertenden Blick auf Grimwardts dreckverschmierte Rüstung hinzu. „Keine Angst, ich bin schon wieder so gut wie weg. Ich bin nur hier, um Scarlet abzuholen. Alle zwei Monate wohnt sie bei mir. Heute sollte ich sie auf Winters Hausboot in Hlondeth abholen. Doch Winter und Scarlet waren nicht dort und dieser Dreikäsehoch von einem Stellvertreter gab mir die Auskunft, dass ich meine Tochter hier finden würde.“
„Sie ist nicht hier“, erklärte Grimwardt brüsk. „Sie wurde entführt.“
Der entsetzte Aufschrei und die Schimpftirade, die der Tempelvorsteher erwartet hatte, blieben aus. Stattdessen blickte Dorien seinen ehemaligen Mitstreiter mit skeptisch gerunzelter Stirn an, als warte er auf irgendetwas. Dann wurde er plötzlich kreidebleich.
„Du… du meinst das ernst, ja?“
„War ich je für meine Scherze bekannt?“, knurrte Grimwardt.
Leicht verzögert kamen der Aufschrei und die Schimpftirade dann doch noch. Grimwardt stellte seine Ohren auf Durchzug und begann ein paar Dinge einzupacken, die er für die Reise brauchen würde. Gut, dass er dank des Turniers bereits gerüstet war. Die Rüstungszeremonie nahm immer Ewigkeiten in Anspruch. Allerdings musste er sich nun, da Dorien mit seinem Hokuspokus hier war, ohnehin nicht mehr beeilen, um rechtzeitig in Myth Drannor zu sein. Als sein früherer Mitstreiter sich ein wenig beruhigt hatte, ging er dazu über, ihm den Tathergang zu schildern.
„Sollen wir Winter benachrichtigen?“, fragte der Vater der Entführten schließlich zögernd.
„Sie wird ausrasten.“
„M-hm.“
Grimwardt zuckte mit den Schultern. „Meinetwegen. Gehen wir sie suchen.“
In diesem Moment platzte Jareth mit einer weiteren Neuigkeit ins Zimmer. Dorat, der Bibliothekar, war tot in der Bibliothek aufgefunden worden. Von einem Giftpfeil durchbohrt. Höchstwahrscheinlich ermordet von dem Entführer, der seine Gestalt angenommen hatte, um in Scarlets Nähe zu gelangen. Grimwardt seufzte und legte Jareth den Arm auf die Schulter.
„Sorg’ dafür, dass er ein anständiges Begräbnis erhält.“
NimorothWindigwasser, ein Waldelfendorf im Cormanthorischen WaldEs hatte den ganzen Tag geregnet und noch immer tropfte es hier und da von den Blättern der Schattenkronen. Unter dem Geruch des regennassen Waldes erschnupperte Nimoroth den Duft seiner Heimat. Auch wenn er sie nicht hörte, spürte er doch die Anwesenheit der Elfenwächter, die durch das Gebüsch schlichen. Seine Ankunft in Windigwasser war also nicht ungemerkt geblieben. Ein Blick auf Nerûl, seinen treuen Gefährten, verriet dem Druiden, dass auch der Tiger erkannte, wo sie waren. Allein Laguna, sein sechsjähriger Sohn, tapste ganz in Gedanken versunken neben seinem Vater her. Dies war das erste Mal, dass er Laguna mitnahm in sein Heimatdorf und die Aussicht auf Gesellschaft machte den Jungen sichtlich nervös. Immerhin waren die einzigen Lebewesen, die Laguna bisher neben den tierischen Bewohnern des Waldes kennen gelernt hatte, seine dryadische Mutter und sein elfischer Vater. Als Nimoroth die Nachricht seiner Mutter erhalten hatte, die ihn zur Hochzeit seiner Schwester einlud, war sein erster Gedanke gewesen, dass das Fest die ideale Gelegenheit wäre, um Laguna seiner Familie in Windigwasser vorzustellen.
„Ist es noch weit?“, fragte Laguna.
„Wir sind bereits da“, erklärte Nimoroth und blieb vor einer der Schattenkronen stehen. Unter den staunenden Augen seines Sohnes sprach er die magischen Worte, die die Sprossen im Stamm des mächtigen Baumes entstehen ließen.
Im Baumhaus, das vom Boden aus nicht zu sehen war, empfing Nimoroths Mutter die Gäste. Nachdem sie Sohn und Enkel herzlich begrüßt hatte, bat sie die beiden zu Tische und reichte Laguna zum Tee kandierte Früchte.
„Eine ziemlich spontane Entscheidung, diese Hochzeit“, leitete Nimoroth das Gespräch ein.
„Du kennst doch deine Schwester“, seufzte seine Mutter. „Wechselhaft und unbeständig wie ein Blatt im Wind. Heute will sie Priesterin werden und morgen beschließt sie aus heiterem Himmel sich den Widerkehrern von Myth Drannor anzuschließen. Und diesmal sollte es eben eine Hochzeit sein.“ Nimoroths Mutter schüttelte besorgt den Kopf. „Wenn du mich fragst, ist sie viel zu jung zum Heiraten. Keine hundert Jahre. Aber was rede ich; ich kann sie ja doch nicht davon abhalten. Ich hoffe nur, sie macht sich nicht unglücklich.“
„Wer ist eigentlich der Bräutigam?“
„Gelodin Silberreif“, erklärte seine Mutter mit einem müden Lächeln. „Der Sohn des Dorfpriesters. Ein angesehener junger Mann und äußerst vernünftig. Aber steif wie ein Sonnenelf, wenn du weißt, was ich meine.“
Einen Augenblick später erschien Nimoroths Schwester Esme, umringt von einem Pulk kichernder Freundinnen, auf dem Treppenabsatz und flog ihrem Bruder förmlich in die Arme. Lachend präsentierte sie sich ihm in ihrem Hochzeitsstaat, während sie ihm zehn Fragen auf einmal stellte ohne eine einzige Antwort abzuwarten und dazwischen noch Zeit fand Laguna zu begrüßen, der seine Tante mit derselben furchtsamen Faszination betrachtete, die er auch einer unbekannten Monsterspezies entgegengebracht hätte.
Am Abend begann die Hochzeitsfeier: Wie es in Windigwasser Brauch war, kam die Familie des Bräutigams mit Geschenken zum Haus der Braut, wo Esme in ihrer Überschwänglichkeit beinahe ihren Hochzeitskranz vergessen hätte, als sie dem überrumpelten Gelodin um den Hals fiel. Zusammen zogen die beiden Familien, von Gesang und Harfenspiel begleitet, über die Hängebrücken, die die Schattenkronhäuser des Dorfes miteinander verbanden, zum Tempel des Corellon Larethian. Auf dem Weg schlossen sich ihnen andere Dorfbewohner an, während Kinder Feenstaub verstreuten. Im Tempel tauschten Esme und Gelodin die Trautschwüre und der Dorfpriester setzte ihnen die Brautkränze auf. In Windigwasser gab es keine rituellen Hochzeitsformeln. Es gab auch keine arrangierten oder zweckmäßigen Ehen wie es unter Mond- und Sonnenelfen manchmal Brauch war. Tatsächlich waren Hochzeiten zwischen waldelfischen Geliebten nichts weiter als eine öffentliche Bekanntgabe ihrer Liebe. Doch umso selbstverständlicher war es für die Bewohner von Windigwasser, dass eine Ehe, einmal geschlossen, für immer andauerte; und für Elfen war „für immer“ eine lange Zeit. Kein Wunder also, dass sich Esmes Mutter Gedanken machte um ihre wankelmütige Tochter…
Nachdem das Hochzeitspaar die Liebesschwüre ausgetauscht hatte, begab sich die Gesellschaft zum Dorfplatz. Am Rande der Lichtung war ein Büffet aufgebaut und Bänke aus umgestürzten Baumstämmen luden zum Verweilen ein. Es dauerte nicht lange, bis Laguna von den Dorfkindern zum Spielen entführt wurde und Nimoroth ein wenig Zeit fand, sich nach alten Bekannten umzusehen. Neben alten Freunden traf er auch die Elfe Hanali wieder, die sein Cousin Kalith und er einst in Westtor vor der Blutgier der Nachtmasken gerettet hatten. Von Hanali erfuhr Nimoroth, dass Kalith es bei den Elfenrittern von Myth Drannor zu einigem Ruhm gebracht hatte. Hanalis eigener Sohn diente unter seinem Befehl. Nimoroth freute sich für seinen Cousin, doch zugleich weckte der Gedanke an Kalith und die Abenteuer, die sie gemeinsam durchstanden hatten, in ihm eine eigenartige Schwermut. Nimoroth war niemals darüber hinweg gekommen, dass sie ihren letzten Auftrag nicht hatten vollenden können. Auf der Suche nach dem Seelenquell waren sie in die Katakomben der Stadt Westtor hinab gestiegen und von der Diebesorganisation der Nachtmasken in eine Falle gelockt worden, die sie auf die Schattenebene geführt hatte. Der Kampf gegen zwei Schattenkriecher hätte Kalith beinahe das Leben gekostet. Letztendlich hatten die Gefährten sich zurückziehen und ihre Suche aufgeben müssen. Wie viele schlaflose Nächte waren seither vergangen, in denen Nimoroth sich gefragt hatte, wie viele unschuldige Seelen durch seine Kapitulation den Tod gefunden hatten. Welches Unglück hätten sie verhindern können? Welche Verbrechen wären niemals geschehen, hätten sie damals nicht den Mut verloren?
Schlagartig riss der Schrei seines Sohnes Nimoroth aus seinen düsteren Gedanken. Alarmiert sprintete er zu der Gruppe von Kindern, die sich um Laguna und einen jungen Halbelfen geschart hatten, die sich ringend am Boden wälzten. Mit durchgreifender Hand beendete Nimoroth den Streit.
„Was ist hier passiert?“ verlangte er zu wissen, während er einige Mühe hatte, die beiden Streithähne davon abzuhalten, gleich noch einmal aufeinander loszugehen.
„Er sagt, ich sehe aus wie ein alter, runzliger Baum!“, keiferte Laguna.
„Petze!“
„Und dass mein Name klingt wie ein Mädchenname!“
Seufzend ließ Nimoroth von dem anderen Jungen ab, der sich gleich aus dem Staub machte, und zog seinen Sohn mit sich an den Rand der Lichtung. In Lagunas schwarzen Augen glitzerten bittere Tränen und auf seiner rindenbraunen Stirn hatte sich eine tiefe Zornesfalte gebildet. Nimoroth fasste den Jungen fest bei den Schultern, sodass er gezwungen war, seinem Vater ins Gesicht zu blicken.
„Laguna, der Junge hatte Unrecht“, sagte er ernst. „Doch du wirst noch oft erfahren, dass dein dryadisches Erbe bei anderen auf Unverständnis stößt. Du darfst deinem Zorn nicht freien Lauf lassen. Du musst lernen…“
„Wieso warst du mit mir nie in einer Stadt?“
„Was?“ Erstaunt hielt Nimoroth inne.
„Ich weiß, dass du manchmal in die Stadt gehst, um Re… Recherche zu machen“, erwiderte Laguna trotzig. „Warum hast du mich noch nie mitgenommen? Warum weiß ich nicht, was ein Aquadings ist? Und warum ist mein Wams dreckig und aus der Mode? Meluin hat gesagt, ich bin dumm, weil ich diese Sachen nicht weiß und die Mädchen haben alle gekichert...“
Nimoroth war sprachlos. Also darum ging es hier. Bis jetzt hatte er immer angenommen, Laguna liebe die Freiheit, die der Wald ihm bot. Das Baden im See. Das Herumtollen mit Nerûl. Die ausgedehnten Wanderungen mit seinem Vater.
Natürlich liebt er all das, erkannte er nun.
Weil er nichts anderes kennt. Nimoroth überlegte noch, wie er seine Abneigung gegen die Stadt mit all ihren Lastern und falschen Versprechungen seinem Sohn vermitteln sollte, als er einen dunklen Schatten über sich gewahrte. Als er nach oben sah, erblickte er einen großen Kolkraben. Der Vogel trug einen Hut im Schnabel, den er nun in Nimoroths Hände gleiten ließ. Gerade als der Elf die seltsame Zustellung herumdrehen wollte, formte sich eine Falte über der Hutkrempe, die einem sprechenden Mund ähnelte: „Nimoroth, wenn Ihr die Dryade Nyrael wieder sehen wollt, seid heute Abend zur Achten Stunde in
Whisper’s Braustube in Myth Drannor.“
Der Hut vibrierte leicht, als der Mund zu lachen begann, und zerfiel dann zu Staub.
Nimoroth erstarrte. Seine Geliebte entführt? Er wusste, was das bedeutete: Entfernte sich eine Dryade für länger als einen Tag von ihrem Lebensbaum, so starb sie. War den Entführern bewusst, in welche Gefahr sie ihre Geisel gebracht hatten? War das etwa Teil ihres Plans? Sicher war nur, dass ihm nicht viel Zeit blieb.
Zur Achten Stunde in Myth Drannor. Eilig schickte Nimoroth seinen Sohn zu seiner Großmutter. Dann wirkte er einen Zauber, um den Raben nach dem Absender der Nachricht zu fragen. Ohne viel Erfolg. Nachdem er Laguna in der Obhut Nerûls und seiner Mutter zurück gelassen hatte, teleportierte Nimoroth in die Sternwälder. Dort, in der Krone von Nyrales Lebensbaum, der Eiche Nesaja, hatten sie ihr schlichtes Heim errichtet.
Ein Schaudern durchfuhr Nimoroth, als er erkannte, dass sich die ersten Blätter Nesajas bereits gelb verfärbt hatten…
Winter Atkatla in Amn, SchwertküsteÜber dem Eingang d
es Roten Stiers schaukelte ein rostiges Tavernenschild quietschend im Wind und aus dem Inneren der Hafenspelunke drang Winter ein Übelkeit erregender Geruchscocktail aus Schweiß, Bier und Pfeifenrauch entgegen. Das hysterische Zirpen der Grillen, untermalt vom Kreischen der Möwen, war auch nicht eben
atmosphärisch zu nennen.
„Nisch sehr einladend“, bemerkte Winters kalimshitischer Begleiter.
„Dann sind wir hier genau richtig“, erwiderte die Anführerin der Schwarzen Dahlie. Sie setzte ihren magischen Hut auf und ließ ihn einmal um ihren Kopf kreisen, um ihr Aussehen zu verändern. Dann trat sie ein.
Das Innere hielt was das Äußere versprach. Ein heruntergekommener Musikant spielte schwermütige Melodien auf einem klapprigen Klavier, während zwei Billardspieler die beiden Neuankömmlinge über das Spiel hinweg misstrauisch beäugten. Der muskulöse Wirt – Winter tippte auf mindestens ein Viertel orkisches Blut in seinen Adern – stand hinter dem Tresen und säuberte Bierkrüge wie Gastwirte es immer zu tun pflegen, wenn sie es darauf anlegen beschäftigt auszusehen.
„Hier wegen Arbeit?“, empfing sie der Wirt, der zu der Sorte Mann zu gehören schien, die davon überzeugt waren, dass vollständige Sätze ihre Männlichkeit untergruben. Winter folgte seinem Blick, der auf einen schmuddeligen Aushang neben der Theke wies. „Tänzerin gesucht.“
„Nein, eigentlich…“
„Hatte auch eher an was Jüngeres gedacht.“
Winter versteckte ihre Empörung hinter einem dümmlichen Lächeln. Was Jüngeres?!? Was bildete sich der Kerl eigentlich ein? Immerhin war sie gerade einmal Mitte Dreißig und hatte erst kürzlich horrende Summen für einen prächtigen Umhang ausgegeben, der angeblich die Haut um zehn Jahre verjüngte.
„Ha’n nur Bier“, kam der Wirt einer Bestellung zuvor.
„Ich hatte eigentlich eher an etwas… Anderes gedacht“, erwiderte Winter mit einem Wimpernaufschlag, der noch um einiges erotischer hätte sein können, wenn der Kerl sich seine letzte Bemerkung gespart hätte. „Sagt euch der Name Engelsstaub etwas? Wie steht es mit Teufelskraut, hm?“ Aus den Augenwinkeln beobachtete sie auch die Reaktion der beiden Billardspieler. Volltreffer. Ein Zucken um die Mundwinkel verriet den einen, ein zu abruptes Zustoßen mit dem Queue den anderen. Der Wirt blinzelte und leckte sich über die Lippen.
„Keine Ahnung, wovon Ihr sprecht.“
Es bedurfte noch einige Minuten intensiver Überredungskunst, ehe Winter bekam, was sie wollte.
„Wartet hier“, murmelte der Wirt, nachdem er einen alarmierten Blick mit einem der Billardspieler ausgetauscht hatte und verschwand in der Küche. Winters kalimshitischer Begleiter verlagerte nervös das Gewicht von einem auf das andere Bein. Offensichtlich hatte er sich seinen Aufstieg in der Hierarchie der Schwarzen Dahlie ein wenig einfacher vorgestellt.
Winter hatte schon seit einiger Zeit mit dem Gedanken gespielt, ins Drogengeschäft einzusteigen; bisher hatten ihr jedoch die Kontakte gefehlt. Alchemistische Substanzen, die eine kurzzeitige Steigerung der geistigen oder körperlichen Fähigkeiten bewirkten, standen bei Abenteuern an der Schwertküste derzeit hoch im Kurs. Der Rauschgifthandel wurde hier von den Schattendieben kontrolliert. Am Vilhongriff dagegen war die Konkurrenz noch gering und Winter war entschlossen, sich dieses viel versprechende Geschäft unter den Nagel zu reißen, ehe ein anderer es tat. Dazu kam, dass sie kurz vor der Hochzeit mit einem Piratenbaron stand, der eine Flotte auf der See des Sternregens befehligte. Sollte sich der Drogenhandel als Erfolg erweisen, so hätte Winter durch ihren zukünftigen Gatten die Möglichkeit, das Geschäft auf die Länder nördlich des Ozeans auszuweiten. Da erschien ihr Hamid, der kalimshitische Informant, der zuvor für die Schattendiebe gearbeitet hatte, wie ein Geschenk des Himmels. Durch Hamid hatte sie erfahren, dass der Drogenhandel der Schattendiebe in den Händen dreier Männer lag, die sich „das Triumvirat“ nannten. Ihr Hauptquartier befand sich angeblich hier in Atkatla. Ein Zauber, der eine große Menge an Pillen ausfindig machen sollte, hatte sie geradewegs hierher, in den
Roten Stier geführt.
Nach einigen Minuten kehrte der Wirt zurück und machte Winter ein Zeichen ihm zu folgen. Als Hamid sich ihnen anschließen wollte, schüttelte er den Kopf.
„Er bleibt hier.“ Er sah zu den beiden Billardspielern hinüber. „Als Pfand.“
Hamid schien nicht allzu glücklich darüber, als Pfand herhalten zu müssen, fügte sich aber, als er Winters warnenden Blick auffing. Der Wirt führte sie in den Keller. Vor einer der Türen waren zwei fettleibige Kalimshiten mit Krummschwertern postiert. Auf ein Zeichen des Wirts hin ließen sie Winter passieren. Sie trat in einen schmutzigen Hinterhof, der zu allen Seiten von Hauswänden umschlossen war. In der Nähe der Tür saßen drei menschliche Roulette-Spieler an einem Spieltisch: ein Hüne von einem Mann, dessen dicke Oberlippen und raue Gesichtszüge ihn als einen Barbaren aus dem Norden auswiesen, eine Lady im Reifrock, die mit ihrer Turmfrisur und dem Schönheitsfleck über der Oberlippe wie eine Personifikation adliger Dekadenz wirkte, und schließlich ein kleiner, hagerer Kamlimshit, der, zwei Krummsäbel im Schoß überkreuzt, im Schneidersitz auf einem fliegenden Teppich harrte und grinsend sein diamantenes Gebiss zur Schau stellte. Die drei waren in eine Runde Roulette vertieft, doch anstelle von Geld oder Coupons horteten sie vor sich Berge von kleinen Beutelchen, die mit weißem, porösem Pulver und Pillen gefüllt waren. Turmfrisur hob als erste ihren gepuderten Kopf.
„Und wer seid Ihr?“
Winter nannte ihr ihren Decknamen. In den Augen der Spielerin blitzte ein blauer Funke und sie murmelte einige magische Worte. „Wer seid Ihr wirklich?“, fragte sie gelangweilt. „Und lasst doch bitte diese lächerliche Verkleidung.“
Scheinheilige Schlampe, dachte Winter, während sie ihre Verkleidung fallen ließ und den Roulette-Spielern ihren wirklichen Namen und ihr Anliegen nannte.
Meine Verkleidung ist jedenfalls nicht halb so einfallslos wie deine. Nun meldete sich Diamantengebiss zu Wort. „Ihr wollt Linzens für Drogenhandel an Vilhorngriff?“, fragte er mit einem Akzent, der zu stark war, um echt zu sein. „Die kann nur Triumvirat ausstellen.“ Dicke Lippe grunzte zustimmend.
„Und wie finde ich das Triumvirat?“
„Vielleicht könnten wir Euch weiterhelfen“, schlug Turmfrisur mit einem süffisanten Lächeln vor und wies einladend auf einen leeren Stuhl zu ihrer Rechten. „Wie Ihr seht ist noch ein Platz frei an unserem Tisch. Als Einsatz könntet Ihr einige Eurer magischen Gegenstände ins Spiel einbringen. Wie ich sehe tragt ihr derer nicht wenige. Spielt mit uns und wir sehen weiter.“
Winter lehnte ab. Tymora schien ihr heute wenig gewogen zu sein. Außerdem konnte selbst ein Blinder sehen, dass ihre Gegenstände weitaus wertvoller waren als die sich im Spiel befindlichen Rauschmittel. Turmfrisur zuckte nur mit den Schultern und widmete sich wieder dem Spiel. Offensichtlich hatten sie bereits das Interesse an Winter verloren. Während sie noch überlegte, was sie weiter tun sollte, wurde die Szene jäh unterbrochen: Hinter der Tür, die in den Roten Stier führte, erklangen laute Stimmen und das Surren von Klingen, die aus den Scheiden gezogen wurden. Die drei Roulette-Spieler warfen sich alarmierte Blicke zu. Der Kalimshite griff nach seinen Säbeln und lenkte seinen fliegenden Teppich über den Türrahmen, bereit jeden ungebetenen Gast von oben zu überraschen. Der schweigsame Nordmann brachte einen Knüppel zum Vorschein, den er wer weiß wo versteckt hatte, und die Frau mit der Turmfrisur ließ hastig die Pillen und Pulverbeutel unter einer magischen Illusion verschwinden und warf einen Blick über die Schulter. Winter folgte ihrem Blick mit den Augen und meinte in einem der Dachfenster Metall aufblitzen zu sehen.
Plötzlich begann die Luft zu vibrieren und ließ die Umgebung kurzzeitig verschwimmen. Winter wusste, was das zu bedeuten hatte: Jemand teleportierte sich in diesem Moment in den Hinterhof. Als die beiden Eindringlinge jedoch sichtbar wurden, klappte auch ihr die Kinnlade herunter.
„Grimwardt? Dorien? Was, zum Henker, macht ihr denn…?“
„Scarlet wurde entführt“, brüllte Dorien ihr über den Kampf hinweg zu, der in diesem Moment losbrach. Armbrustbolzen prasselten auf die Eindringlinge hinab. Der kleine Kalimshit näherte sich Grimwardt von hinten und rammte ihm gewieft seine beiden Krummsäbel in die Seite, ehe der gestandene Krieger den Gegner auch nur erblickt hatte. Erzürnt beim Anblick ihres verletzten Bruders schleuderte Winter ihm einen sengenden Strahl entgegen, der den Säbelschwinger beinahe von seinem fliegenden Teppich gefegt hätte.
„Nun komm endlich!“, dröhnte Grimwardt, während Dorien bereits begonnen hatte, die Teleportationsformel zu sprechen. Winter bekam noch in letzter Sekunde die Hand ihres Bruders zu fassen, ehe sie spürte, wie die Dimensionen sich überlagerten und ihre Umgebung vor ihren Augen verschwamm.
„Entführt!“, tobte sie los, kaum dass sie wieder festen Boden unter den Füßen spürte. „Was soll das heißen, Scarlet wurde entführt? Grim, wie konntest du das zulassen?“
„Ich habe dir gesagt, sie ist in der Abtei nicht sicher“, verteidigte sich ihr Bruder ruhig. „Ganz abgesehen davon, war
ich da, als es passierte, während ihr zwei mal wieder irgendwo in der Weltgeschichte herum getingelt seid.“
Winter ging nicht auf seine Worte ein. Gerade war ihr eingefallen, dass sie sich vor einiger Zeit von einem Magier einen sehr nützlichen Zauber abgeschaut hatte: Der Magier hatte sich tanzend im Kreis gedreht und auf diese Art und Weise Aufschluss über die Gefühlslage eines Freundes erhalten, der sich meilenweit entfernt befand. Winter tat es ihm gleich und sprach dabei die magischen Worte des Magiers aus der Erinnerung. Doch nichts geschah. Scarlets Gefühle blieben ihr verschlossen.
„Hast du jetzt völlig den Verstand verloren?“, knurrte Grimwardt, der Stirn runzelnd ihre kleine Tanzeinlage beobachtet hatte. Dorien konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen… was er kurz darauf bitter bereute.
„Lach nur!“, fuhr Winter ihn an. „Das ist auch das einzige, was du beizutragen hast, wie? Wo warst du überhaupt die letzten acht Jahre?“
„Winter, wir…“
„Na sag schon!“
„Maztika. Winter, du…“
„Maztika!“, schnaubte Winter. „Weiter weg ging wohl nicht! Ist es dir je in den Sinn gekommen, dass Scarlet ihren Vater brauchen könnte?“
„Du bist doch diejenige, die hochschwanger bei Nacht und Nebel davon gelaufen ist“, grollte Dorien. „Ganz abgesehen davon, dass Scarlet über die Jahre hinweg genug Männer ihre Väter genannt hat!“, fügte er bissig hinzu. „Vielleicht hat ja einer deiner Ex-Ehemänner herausgefunden, dass du ihm ein Kuckuckskind ins Nest gesetzt hast, und hat sie aus Rache entführt!“
„Was soll das heißen?“, fauchte Winter. „Bin
ich jetzt an dem Schuld, was passiert ist?“
„RUHE, ALLE BEIDE!“, donnerte Grimwardt mit seiner Titanenstimme.
Trotziges Schweigen.
Erst jetzt wurde sich Winter ihrer Umgebung bewusst. Sie standen im Schilf am Rande eines kleinen Weihers. Die Wellen glitzerten sanft im Abendlicht und ein Reiher hob elegant von der Wasseroberfläche ab. Hinter den Weiden am Uferrand erhoben sich die Türme einer wunderschönen Stadt vor dem vanillefarbenen Abendhimmel. Myth Drannor. Die Stadt der Liebe. Winter seufzte ernüchtert.
Plötzlich raschelte es hinter ihr im Unterholz.
„Was macht ihr denn hier?“, fragte Nimoroth.