Na dann alles liebe zum Geburtstag, Winter.
Kapitel VI: Das Portal NimorothVier Stunden später vor dem Anwesen der Avaliors Die Tür war unverschlossen und in der Eingangshalle fanden die Gefährten blutige Fußabdrücke. Alarmiert folgten sie der Spur in die Küche, wo sich ihnen ein schrecklicher Anblick bot: Lana, die Köchin des Hausherrn, lag bewusstlos auf dem Küchentisch. Ihre Arme waren im Blut gebadet: Jemand hatte der jungen Avariel die Fingernägel ausgerissen. Nimoroth eilte ihr zur Hilfe.
„Was ist passiert?“, fragte er, nachdem er ihre Wunden geheilt und die verängstigte Elfe mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt hatte. „Wer hat Euch das angetan?“
Lanas Pupillen weiterten sich, als die Erinnerung sie einholte.
„
Sie“, flüsterte sie. „Sie wird ihn töten.“
„Sie?“, Nimoroth nahm ihren Kopf in seine Hände, um ihren Blick zu fokussieren.
„Anael.“ Lanas Lider flackerten. „Sie ist zurückgekehrt. Sie wollte wissen, wo mein Herr ist. Er weiß nicht, dass ich ihn nachts beobachte, wenn er sich aus dem Haus schleicht. Ich wollte schweigen, aber sie….“ Ein trockener Schluchzer entrang sich ihrer Brust.
„Schon gut. Wohin
ist er gegangen? Lana“, drängte Nimoroth, „du musst es uns sagen, wenn wir deinem Herrn helfen sollen.“
„Zu den Shantileas“, wisperte Lana.
Kalith Kurz darauf im Palast der Shantileas Sie hatten die Eingangstür aufgebrochen und standen in der Großen Halle. Vor der Flügeltür, die in den Saal der Tränen führte, waren zwei untote Frostriesen postiert. Die Haut hing ihnen in Fetzen vom Leib und in ihren Augen glommen tote, rötliche Funken. Aus dem Saal drangen laute Stimmen und Kampfgeräusche.
Die Gefährten zogen ihre Waffen.
Der Kampf dauerte länger als erwartet. Die Frostriesen waren zäh und ihre Hiebe kraftvoll und verbissen. Kalith hatte diese Art von Untoten schon einmal bekämpft – damals im Unterreich. Es waren Widergänger, Schergen Kiaransalees. Endlich, nachdem beide Kreaturen am Boden lagen, stieß Kalith die Tür zum Saal auf.
Helles Mondlicht flutete durch die Kuppel in den Saal und verfing sich glitzernd in den herabhängenden Ästen der Gläsernen Weide, die sich in der Mitte des Raums erhob. Elijas Avalior kauerte in Angriffsposition vor dem riesigen Monument. Sein blutiges Schwert war zum Boden geneigt und wies auf den leblosen Körper Iraes, der enthauptet zu seinen Füßen lag.
„Geht.“ Seine Stimme klang hohl von den gläsernen Wänden wieder. „Ihr könnt es nicht aufhalten.“
„Wir wollen mit Euch reden“, rief Nimoroth ihm zu. „Arbeitet Ihr für die Fürstin?“
Elijas’ maß die Gefährten mit ausdruckslosen Blicken. Dann breitete er seine Schwingen aus und murmelte einen Zauber. Schneller als Kaliths Augen ihm zu folgen vermochten, hatte er sich vom Boden abgestoßen und schwebte nun unter der Kristallkuppel.
„Ich habe euch gewarnt“, flüsterte er und richtete seine ausgestreckte Hand in Richtung der Gefährten. Ein Finger wies auf Winter, ein anderer auf Dorien. Zwei grüne Strahlen schossen aus den Fingerspitzen des Avariel. Doch schneller noch als die beiden Strahlen war Elijas selbst bei seinen Opfern eingetroffen. Seine schmale Klinge durchschnitt die Luft wie Pergament und beide fielen ohne einen Laut, gleichermaßen von Zauber und Schwert durchbohrt.
Dann wandte sich der Klingensänger den drei Kämpfern der Gruppe zu.
Er bewegte sich so schnell, dass er jedem Angriff auszuweichen schien. Kalith war es unmöglich zu erkennen, ob seine Schwerthiebe trafen oder nicht. Dafür war er sich umso schmerzlicher eines jeden Treffers bewusst, den sein Gegner erzielte. Mit einer furiosen Choreographie aus magisch verstärkten Schwerthieben, Zaubern und nekromantischen Angriffen, die dem anderen die Kraft raubten und ihn selbst stärkten, behauptete sich der Avariel gegen seine Gegner. Kalith erkannte, dass er nicht mehr lange durchhalten würde und ein Blick auf seine Mitstreiter sagte ihm, dass es ihnen nicht anders erging.
Und dann war es vorbei.
Elijas keuchte auf, als er unter einem von Nimoroths gefürchteten Sturmangriffen zu Boden ging. Die Hand auf die klaffenden Wunde an seiner Brust gepresst, harrte der Avariel zu Füßen seines Bezwingers. Nimoroth zögerte… und schlug zur Sicherheit noch einmal zu. Elijas kippte um.
Totenstille.
Nur das Rasseln ihres Atems war zu hören, als Grimwardt und Nimoroth sich um die Verletzten kümmerten. Wo waren die Bewohner des Palasts? Wo all die Bediensteten?
„Was nun?“, fragte Kalith schließlich in die Stille hinein.
„Er scheint keine der Klauen bei sich zu haben und wir haben keine Zeit ihn auszuquetschen“, sagte Nimoroth. „In wenigen Minuten wird das Portal geöffnet.“
„Keine Klaue“, meldete sich Winter zu Wort, die begonnen hatte, ihren Gegner zu plündern, kaum dass sie wieder auf den Beinen war. „Aber das hier!“
Sie hielt eine faustgroße verzierte Truhe in den Händen: eine exakte Kopie der Truhe, in welche sie das Artefakt gelegt hatten, nachdem sie es aus der Krypta des Baelnorn gestohlen hatten.
NimorothAuf der Festwiese vor dem Orchideen-Palast Die ganze Stadt hatte sich auf dem Platz versammelt. Geflügelte wie Ungeflügelte saßen auf der Wiese und in den Bäumen und lauschten mehr oder weniger aufmerksam der Rede des Coronal, der von einem der Balkone des Palasts zu ihnen sprach. In der Mitte der Festwiese erhob sich ein bogenartiges Gebilde, verhüllt von seidenen Tüchern: das Portal nach Cormanthyr. Hochadmiralin Shelisale Bareithion hatte wie angekündigt die Festwiese mit Wachen umstellen lassen. Jedem Krieger hatte sie einen Magier oder Klingensänger sowie einen Heiler zur Seite gestellt. Nimoroth ließ seinen Blick über die Menge schweifen.
„Da ist sie.“ Winter entdeckte die Admiralin als erste.
Nimoroth und seine Freunde bahnten sich einen Weg durch die Menge. Großer Anstrengung bedurfte es dazu nicht. Ihr ramponiertes Aussehen und der Gestank, der Winter und Nimoroth noch von ihrer Begegnung mit dem Höhlenmonster anhaftete, taten das ihrige, um ihnen den Weg zu ebnen.
„Da seid Ihr ja.“ Hochadmiralin Shelisale kam nicht umhin ein wenig die Nase zu rümpfen. „Kalith, man hat überall nach Euch gesucht. Wieso wohnt Ihr der Portalöffnung nicht an der Seite des Coronal bei wie abgesprochen? Was ist passiert?“
Kalith setzte zu einer Erklärung an, doch in diesem Moment explodierte der Himmel in einem Meer von Farben und seine Worte gingen im Zischen und Knallen der Raketen unter. Zeitgleich mit dem Feuerwerk enthüllten zwei Wächter das Portal.
Und dann zog sich der Himmel zusammen und ein Blitz krachte aus der Wolkendecke.
„
Wolken?“, übertönte Nimoroth den aufkommenden Regen. „In dieser Höhe?“ Dann erinnerte er sich an seine Vision:
Plötzlich zuckt ein Blitz vom Himmel und die Stadt über den Wolken versinkt in Dunkelheit. „Es fängt an“, murmelte er. „Macht euch bereit.“
Die Gefährten zogen ihre Waffen und schützten sich mit Defensivzaubern.
Kaum enthüllt, begann die Holzkonstruktion in der Mitte des Platzes sich aufzublähen und zu wachsen. Plötzlich ein lautes Bersten. Holz splitterte und schwarzer Nebel flutete aus dem Portal in die Palastgärten. Die Totenstille, die sich über den Platz gesenkt hatte, begann sich langsam in Panik zu verwandeln, als jene Avariel, die dem Portal am nächsten standen, erkannten, was dort mit dem Nebel aus dem Höllentor geschwemmt kam: Ein Heer untoter Frostriesen strömte auf die Festwiese und überzog all jene mit seinen Angriffen, die nicht fliegen konnten oder nicht schnell genug in die Lüfte entflohen, gelähmt vom Anblick dessen, was sie über sich erblickten: Über dem Untotenheer schwebte, grausam und majestätisch, ein weißer Drache. Die Haut klebte ihm in Fetzen am Leib und seine Flügel wirkten wie von Motten zerfressene Leinen. Seine Augen waren schwarze, blicklose Höhlen, in denen List und Scharfsinn schon vor Jahrhunderten erloschen waren. Dennoch ließ die pure Anwesenheit des Wyrms die Wesen unter ihm vor Furcht erstarren. Auf dem Rücken der mächtigen Kreatur thronte Fürstin Mathalaya Shantilea. Ihre goldenen Augen waren von dem gleichen toten Feuer erfüllt wie die des Drachen, ihr Gesicht ohne jeden Ausdruck. Flankiert wurden die schwer gerüstete Fürstin und ihr Reittier von Mathalayas Sohn Silead und der geisterhaften Reflektion von… Irae T’sarran! Kurz nachdem die Gefährten den Palast verlassen hatten, musste die Fürstin noch einmal zurückgekehrt sein, um die Drow zu verwandeln. Mathalayas ausgestreckter Arm, um den sich eine schwarze, dornenbesetzte Klaue wand, war auf den Coronal gerichtet.
Die Gefährten hoben vom Boden ab, um ihr im Kampf zu begegnen, doch die Fürstin schien sie kaum zu beachten. Ein schwarzer Strahl schoss aus ihren Fingern. Coronal Yorah Bareithior fasste sich nach Atem schnappend ans Herz, als sich das schwarze Gift in seine Brust fraß und seinen Körper von innen zu zersetzen begann. Dann kippte er kopfüber über den Balkon. Als sein Körper auf dem Boden aufschlug, war nichts mehr von ihm übrig als Staub und Asche.
Undeutlich nahm Nimoroth wahr, was um ihn herum geschah: Aus dem Hinterhalt feuerte Winter in rasender Abfolge eine Salve sengender Strahlen auf die Fürstin ab, doch die Zauber prallten an deren magischem Schutzschild ab und wurden auf Winter zurück geschleudert. Dorien wurde von einem schwarzen Strahl getroffen, der jenem glich, der dem Coronal zum Verhängnis geworden war. Seine Schutzzauber vermochten ihn vor dem Schlimmsten zu bewahren, doch die Wucht des Angriffs schleuderte ihn zu Boden. Kalith und die Admiralin hatten Silead Shantilea in die Zange genommen und Grimwardt versuchte der Geisterdrow mit seiner priesterlichen Macht beizukommen. Nimoroth selbst flog in die Höhe, um die Trägerin der Klaue im Sturzflug anzugreifen. Im selben Moment jedoch vollführte der Drache eine Luftrolle, sodass Nimoroth herumgewirbelt und in den Schatten des gigantischen Untoten gedrängt wurde. Kurz darauf wurde er vom wirbelnden Eisodem des Wyrm erfasst, der ihn weiter nach unten abzutreiben drohte.
Seine Waffe senkrecht nach oben gerichtet stemmte sich der Elf gegen den Sog der Odemwaffe und stürmte vorwärts. Fünf Säbelhiebe fraßen ein klaffendes Loch in den knöchernen Unterleib des Untoten. Der verwundete Drache reagierte mit einem Schwanzstreich, dem Nimoroth nur mit Mühe ausweichen konnte. Winter war indessen dazu übergegangen, den Wyrm mit Feuerbällen einzudecken und gemeinsam gelang es den Gefährten endlich das Monstrum zu besiegen. Wirbelnde Kreise schlagend segelte der erlöste Drachenleichnam zu Boden. Schlagartig löste sich die Wolkendecke auf und Mondstrahlen tasteten sich über das Schlachtfeld. Der Drache musste das Wetter kontrolliert haben. Nimoroth sah nach unten: Die Fürstin hatte sich im Augenblick seines Falls vom Rücken des Drachen gelöst und schwebte nun mit ausgebreiteten Schwingen im silbrigen Sternenlicht. Ihr Blick aus starren Goldaugen war auf Nimoroth gerichtet.
Er nahm die Herausforderung an.
Religiöse Besessenheit verlieh den Schwerthieben der Verräterin eine tödliche Wucht. Ihr Gesicht, obgleich das Gesicht einer Sterblichen, war totenbleich und die Verbissenheit, mit der sie ihr Ziel verfolgte, legte ihre Wangen in tiefe Schatten. Was auch immer ihr ursprüngliches Motiv für den Verrat an ihrem Volk gewesen war, in diesem Moment diente sie nur noch der Herrin der Klaue. Doch auch Nimoroth war inspiriert von göttlicher Energie. Mielikki ließ seine Muskeln anschwellen und seine Knochen wachsen. Und dann ein letzter Angriff. Die Welt verschwamm zu einem Meer aus Farben und Schreien, als Nimoroth im Sturzflug auf seine Gegnerin zuschnellte, sie mit sich riss, und dem Boden entgegen stürzte. Als er kurz vor dem Aufprall seinen Flug abbremste, war die Fürstin bereits tot. In ihren Augen stand ein eigenartiger Ausdruck. Furcht? Entsetzen? Hatte sie im Augeblick ihres Todes etwa Reue empfunden?
Nimoroth machte sich an die blutige Aufgabe, die Klaue der Kiaransalee von der Hand der Toten zu schneiden. Auf einmal spürte er einen Luftzug. Er sah auf und erblickte Thanduin, der mit einem Trupp seiner Rebellen in Nimoroths Nähe landete.
„Was ist hier passiert?“, fragte der Rebellenführer mit aufgerissenen Augen.
Grimwardt Der Todesalb erstarrte unter Grimwardts Blicken und beugte sich der Autorität des Feindhammers. Irae T’sarran stieß ein irres Kreischen aus, ehe sie die Arme ausbreitete und sich vom Wind davontragen ließ. Vom Schlachtfeld fliehend und aus der Stadt hinaus. Grimwardt erwog für einen Augenblick ihr nachzusetzen, entschied jedoch schließlich, dass es Wichtigeres zu tun gab.
Langsam, mit erhobenen Händen und geschlossenen Augen, ließ er sich zu Boden gleiten. Tempus, der sein Gebet erhörte, sandte Schauer heilender Energie durch Grimwardts Körper, die sich in Wellen über das gesamte Schlachtfeld ausbreiteten. Verwundete genasen in Windeseile, während die letzten Untoten unter der Einwirkung der göttlichen Energie zu Staub zerfielen. Ehrfurchtsvolles Raunen erfasste die Menge.
Unglücklicherweise hatten die heilenden Schauer auch vor dem am Boden liegenden Silead Shantilea nicht Halt gemacht. Der Sohn der Verräterin spuckte Grimwardt hasserfüllt ins Gesicht, als dieser neben ihm landete. Für die Dauer eines Augenblicks war Grimwardt von so viel Dummheit wie gelähmt. Dann zertrümmerte er dem Anführer der Engelstränen mit einem beherzten Fausthieb sein Engelsgesicht, bevor er ihn mit einem gezielten Fußtritt in die Magengegend in den Schlaf sang.
„So ein Hundskerl“, grummelte er kopfschüttelnd.
NimorothKurz darauf in der Eingangshalle von Doriens Villa Grimwardt hatte Elijas Avalior an einen Stuhl gefesselt, den einer von Doriens Dienern herbei geschafft hatte. Nimoroth spritzte dem Bewusstlosen ein Glas Wasser ins Gesicht. Die Lider des Avariel flackerten, als er aus seiner Ohnmacht erwachte.
„Wo ist die Klaue der Lolth?“, fragte Nimoroth und hielt ihm das Replikat der Truhe unter die Nase, das Winter bei Elijas’ Sachen entdeckt hatte. „Wie gelangen wir an die Truhe?“
Die Blicke des Klingensängers glitten fahrig über die Gesichter der Gefährten.
„Ist sie tot?“, fragte er angespannt.
„Eure Fürstin?“, erwiderte Grimwardt grob und warf ihm die Klaue der Kiaransalee vor die Füße, in der noch Mathalayas abgetrennte Hand steckte. „Allerdings.“
Die Augen des Avariel blieben wie erstarrt an dem blutigen Ding haften. Dann stahl sich ein seltsames Lächeln auf seine Lippen.
„Gut“, murmelte er.
Nimoroth runzelte die Stirn und trat näher an ihn heran.
„Was soll das heißen? Wieso ‚gut’?“
Elijas zögerte.
„Wenn ich rede, dann nur unter der Bedingung, dass kein Avariel es je aus Eurem Munde erfährt“, sagte er. „Was mit mir passiert, ist mir gleich. Tötet mich. Liefert mich aus. Was auch immer. Aber keine Aussagen zu meinen Motiven.“
„Schön, mein Wort darauf.“
Elijas nickte.
„Ich glaube nicht an die Methoden der Rebellen“, begann er. „Aber ich glaube an ihre Grundsätze. Wenn mich der Elfenkreuzzug eines gelehrt hat, dann dass wir Elfen den Kampf gegen das Böse brauchen, um die Dinge zu ändern. Das einzige, was diese Stadt vor einem Bürgerkrieg retten konnte, war ein Monster, das sie wieder zusammenschweißt. Ich habe dieses Monster erschaffen. Durch Iraes Klaue hatte ich die Macht dazu. Um die Fürstin Glauben zu machen, dass ich auf ihrer Seite stünde, verriet ich den Rebellenführer an den Kronrat. Ich überzeugte sie davon, dass ein Sturz des Coronal die einzige Möglichkeit sei, die Reformen zu verhindern, die sie so fürchtete. Auf diese Weise brachte ich Mathalaya dazu, die Klaue anzulegen. Hätte die Fürstin gewusst, dass sie sich damit dem Willen einer dunkelelfischen Göttin unterwirft, hätte sie natürlich abgelehnt. Aber so wurde sie zu eben jenem Monster, das Immerschwinge brauchte. Ein Monster, das die Stadt mit einem Krieg überziehen würde, der Rebellen und Adlige einte.“
Nimoroth sah ihn ungläubig an.
„Und wenn sie gesiegt hätte?“, fragte er. „Besser eine korrupte Regierung als eine besessene Tyrannin.“
„Die zweite Klaue“, erklärte Elijas. „Wer beide Klauen trägt, vermag sie beide zu vernichten.“ Verständnislose Blicke.
„Kiaransalee ist eine noch junge Göttin“, klärte er sie auf. „Nachdem sie den Erzdämon Orcus bezwungen hatte, bat sie um Aufnahme ins Pantheon der Drow. Lolth stellte ihr eine Bewährungsaufgabe: Wenn es ihr gelänge ein Artefakt des Untodes zu erstellen, dass ihrer eigenen Todesklaue gleichkäme, würde sie Kiaransalee das Portfolio des Untodes überlassen und sie in den Rang eines Gottes erheben. Ihre Konkurrentin schuf also durch einen ihrer sterblichen Diener die Zwillingsklaue. Die beiden Artefakte sind einander in allen Belangen gleich. Kiaransalee hatte erreicht, was sie wollte. Wenn jedoch ein und derselbe Träger beide Klauen trägt, so heißt es in einem Dokument, das ich ausfindig machen konnte, würden die göttlichen Energien der beiden verfeindeten Göttinnen aufeinander treffen und die Klauen würden zerstört.“
„Also wart Ihr es, der uns Drake auf den Hals gehetzt hat“, murmelte Winter. „Um an die zweite Klaue zu gelangen.“
„Ja“, gab Elijas zu. „Ich beauftragte den Assassinen damit, die Klaue zu finden, alles andere – eure Einspannung, die Entführungen – war sein Tun.“
Winter kniff die Augen zusammen. „Was hat er als Bezahlung verlangt?“
„Eine Art magisches Glasauge, das jede Illusion zu durchdringen vermag.“
„Ich verstehe immer noch nicht, wie Euer Plan aussah“, lenkte Nimoroth das Verhör auf den Anschlag zurück. „Ihr wolltet also in den Besitz der zweiten Klaue gelangen, um beide zu zerstören. Aber…“
„Nicht
ich wollte sie zerstören“, berichtigte ihn der Avariel und blickte in Kaliths Richtung.
Kalith Kalith, der sich bis jetzt im Hintergrund gehalten hatte, schlucke, als sich alle Blicke auf ihn richteten. Seine Befürchtungen der letzten Tage holten ihn ein. Irgendwie hatte er die ganze Zeit gespürt, dass so etwas kommen musste.
Nicht schon wieder, dachte er in der Erwartung gleich irgendetwas Dummes zu tun, weil eine Stimme in seinem Kopf ihm befahl, seine Freunde anzugreifen oder diese verdammte Klaue überzustreifen und der hörige Diener einer Drowgöttin zu werden. So wie schon so oft. Wenn Corellon ihm so gewogen war, wieso hatte er seinen Geist dann nicht etwas widerstandsfähiger gemacht gegen die Einflüsterungen wahnsinniger Magier?
Kaliths Erinnerung an seine Begegnung mit Elijas Avalior auf der Schattenebene vor zehn Jahren war verschwommen. Er war tot gewesen, verschlungen von einem Nachtkriecher. Das hatte er zumindest geglaubt. Doch Sklavenfänger mussten ihn aus dem Bauch der Bestie herausgeschnitten haben. Als er aufwachte, erschöpft und verwundet, hatte er sich in den Kerkern einer mysteriösen Schattenstadt wiedergefunden, die von einem sadistischen Leichnam regiert wurde. Mit seinen weißen Schwingen war Elijas Avalior ihm damals wie ein Engel vorgekommen, von den Seldarine gesandt, um ihn, Kalith Lysan, den Träger der Kriegsklinge, zu befreien. Und doch war da, irgendwo tief vergraben in seinem Geist, die Erinnerung an einen Pakt, eine Vereinbarung.
Was hatte er Elijas damals versprochen?
„Die Klaue hätte mich zu einem willenlosen Diener gemacht, genau wie Mathalaya“, fuhr Elijas fort, während sein Blick unverwandt auf Kalith ruhte. „Die einzige Möglichkeit diesem Effekt zu entgehen ist der Besitz eines gleichwertigen Artefakts, das die Wirkung der Klaue zu neutralisieren vermag. Während meiner Nachforschungen zur Geschichte Irae T’sarrans stieß ich auch auf den Namen von Kalith Lysan, dem Träger der Kriegsklinge. Dass ich Euch damals von der Schattebene befreite, war kein Zufall, Kalith“, sprach er den Elfen direkt an. „Ich wollte, dass Ihr mir einen Ehrenschwur leistet. Den Schwur, mir eines Tages zur Seite zu stehen, wenn ich Eure Hilfe bräuchte.“
„
Ich sollte die Klaue anlegen“, erkannte Kalith.
„Um Mathalaya zu besiegen und nach ihrem Tod beide Klauen zu zerstören, ja“, erklärte Elijas und in seine sonst so emotionslosen Augen trat ein aufgeregtes Funkeln. „Versteht doch! Ein Waldelf – ein Ungeflügelter - rettet Immerschwinge vor dem Untergang. Welch bessere Werbung könnten die Rebellen für ihre Forderungen finden? Und durch Eure Freunde kam es sogar noch besser!“
„Nur dass Ihr uns beinahe getötet hättet, ehe das ganze Spektakel begonnen hatte“, erinnerte ihn Nimoroth.
„Eine Ablenkung. Ich konnte nicht zulassen, dass ihr den Zugang zum Versteck der Fürstin findet und den Angriff im letzten Moment verhindert. Die Wirkung wäre nicht die gleiche gewesen. Blut schreibt Geschichte.“
„Das reicht.“ Nimoroth packte den Avariel bei seinen Fesseln und zerrte ihn in die Höhe.
„Was hast du vor?“, fragte Kalith.
Nimoroths Stirn war düster umwölkt. „Ich überstelle ihn der Justiz der Stadt. Aber vorher führe ich ihn über das Schlachtfeld, damit er mit eigenen Augen sieht, was er angerichtet hat. All die Unschuldigen, die er auf dem Gewissen hat.“
Elijas zuckte zusammen und für einen Augenblick schien es, als falle seine Maske der Gleichgültigkeit in sich zusammen. Dann besann er sich und seine Gesichtsmuskeln entspannten sich.
„Ich habe nicht erwartet, dass ihr das verstehen würdet“, murmelte er.
Winter Am nächsten Morgen im Gefängnis von Immerschwinge„Willst du mir nun endlich verraten, was wir hier tun?“, flüsterte Dorien, während er den Wachtposten im Auge behielt. Sie standen nur wenige Schritte entfernt von Silead Shantileas Zelle im Gefängnistrakt des Valendár-Hauptquartiers. Ein Unsichtbarkeitszauber hatte sie an den Wachen vorbeigeschleust. Winter musterte Silead, der sie noch nicht entdeckt hatte, mit eisigen Blicken.
„Kastrier’ ihn“, sagte sie düster.
„WAS?“
„Mit einem Verwandlungszauber.“
Dorien packte Winter beim Arm und zog sie mit sich. Als sie außer Hörweite des Wachtpostens waren, fuhr er herum.
„Bist du
irre?“, fragte er. „Ja, der Typ ist ein Mistkerl, aber
das…“
„Sieh dir das an.“
Winter hielt einen kleinen Kristall zwischen ihren Fingern, den sie bei den Habseligkeiten von Elijas Avalior gefunden hatte. Als sie erkannt hatte, dass er magisch war, hatte sie ihn vor den anderen verborgen und in ihrem nimmervollen Beutel verschwinden lassen.
„Was ist das?“
„Eine gestohlene Erinnerung“, erklärte Winter. „Ich hab sie bei Elijas’ Sachen gefunden. Er muss sie Silead abgenommen haben, um ihn zu erpressen. Offenbar hatte der Sohn der Fürstin Verdacht gegen ihn geschöpft.“
Der Erinnerungskristall enthielt eine Szene aus Sileads Vergangenheit: Um ein Kind reinen Blutes zu zeugen, hatte er seine Schwester, die Gemahlin des Coronal, vergewaltigt. Das Kind, das ohne Seele geboren worden war. Die Valendár-Admiralin hatte sich geirrt: Silead
hatte Hochverrat begangen, doch ohne das Wissen seiner Mutter. Und ohne die Zustimmung seiner unglücklichen Schwester. Winter überkam die blanke Wut, wenn sie sich a, wie das Leben der Königin am Hof von Immerschwinge ausgesehen haben musste: vermählt mit einem Mann, der ihr Urgroßvater sein könnte, unterdrückt von einer herrschsüchtigen Mutter und vergewaltigt von ihrem eigenen Bruder.
Dorien ließ den Stein sinken, als er sich die Erinnerung angesehen hatte, und sagte nichts.
„Weißt du, was mit ihm geschieht?“ Winter musste die Zähne zusammenbeißen, um es nicht herauszuschreien. „Elfen verhängen keine Todesstrafe, sagt Nimoroth. Respekt vor dem Leben und dieser ganze Schwachsinn. Sie werden ihn freilassen: Nach Avariel-Recht ist die höchste Strafe die Verbannung in die Welt der Menschen. Sehr schmeichelhaft, ich weiß. Aber der Punkt ist: Sie lassen ihn auf
unsere Welt los!“
Dorien sah sie stumm an.
„Behalte den Wachtposten im Auge“, sagte er.
Ein finsteres Lächeln stahl sich auf Winters Lippen, als die akustische Manifestation von Sileads Tobsuchtsanfall die Mauern aus Glasstahl erzittern ließ.
Kapitel VII: AufbrücheNimorothElf Tage später auf dem Weg zum Hochpalast von Myth Drannor Einen Zehntag nach der Trauerfeier für Coronal Yorah Bareithior und drei Tage, nachdem seine Tochter Shelisale zur Königin gekrönt worden war, war das Portal nach Cormanthyr doch noch geöffnet worden. Zur Einweihung hatte es ein großes Fest gegeben. Die „Helden von Immerschwinge“, wie sie hier in Myth Drannor nun hießen, waren reich beschenkt worden und Nimoroth und Winter hatten ihre Kinder in die Stadt bringen dürfen. Laguna und Scarlet hatten den schönsten Tag ihres Lebens verlebt, woran die Flugringe, die ihre Eltern ihnen geliehen hatten, sicher nicht unschuldig waren. Die beiden schienen sich gut zu verstehen. Die junge Scarlet, die schon an mehr Orten gelebt hatte als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben zu Gesicht bekamen, spielte sich vor Laguna gern als die welterfahrene ältere Schwester auf. Und sie kam damit durch: Laguna schien sie grenzenlos zu bewundern, auch wenn ihre Sturheit und seine Hitzköpfigkeit nicht selten für einigen Zündstoff sorgten. Nimoroth freute sich für seinen Sohn. Er sah ein, dass er Laguna nicht länger vor der Welt außerhalb des Waldes fernhalten konnte. Er hatte ihre schönen Seiten erlebt, die finsteren würden folgen. Doch es war nicht an seinem Vater, ihm diese Erfahrungen zu verweigern.
Aus diesem Grund hatte Nimoroth beschlossen, mit seinem Sohn nach Myth Drannor zu ziehen. Eigentlich hatte er gehofft, Lagunas Mutter dazu überreden zu können, ihren Lebensbaum zu verpflanzen und mit ihm zu kommen. Doch Nyrael hatte abgelehnt: Dryaden waren an den Ort ihrer Geburt gebunden. Nimoroth wusste, dass Nyrael ihn und ihren Sohn über alles in der Welt liebte, und doch schien es ihr nicht schwer zu fallen, sie gehen zu lassen. In ihren gütigen dunklen Augen hatte er Melancholie gelesen, aber keine Trauer, als er ihr seinen Entschluss mitgeteilt hatte. Und schließlich waren er und Laguna nicht aus der Welt.
Nimoroth plante, sich zur Ruhe setzten und eine Mielikki geweihte Tempelschule zu errichten, in der Kinder sowohl der elfische Glaube als auch die guten Religion des Menschentums näher gebracht werden sollten. Die traurige Geschichte Immerschwinges hatte ihm einmal mehr gezeigt, wie wichtig es war, die Völker zu lehren friedlich miteinander zu leben und Myth Drannor schien ihm der richtige Ort dafür. Die Stadt hatte schon einmal bewiesen, dass sie sich von der Vergangenheit nicht unterkriegen ließ.
Doch Nimoroths Zukunftspläne waren nicht der einzige Grund, weshalb er und seine Freunde beschlossen hatten, Fürstin Ilsevele Miritar von Myth Drannor einen Besuch abzustatten…
Kalith Kurz darauf im Thronsaal des Hochpalasts Für einen Coronal war Fürstin Ilsevele Miritar ungewöhnlich jung. Mit dem langen rotblonden Haar, das offen über ihre schmalen Schultern flutete, und den großen Augen, die von hellen Wimpern umrahmt waren, wirkte die kleine Sonnenelfe erstaunlich zerbrechlich und puppenhaft. Kalith fühlte oft einen seltsamen Stich in der Magengegend, wenn er sie mit ihrem ernsten Gesichtsausdruck auf dem Thron sitzen sah. So, als wünsche er ihr im Geheimen, dass sie wie früher als Mitglied der Ehrengarde von Fürstin Amladruil von Immerdar durch die sonnendurchfluteten Wälder ihrer Heimat spazieren und sich an der Schönheit ihrer Umgebung laben konnte. Der Kontrast zwischen ihr und Hauptmann Fflar, dessen kühle graue Augen schon alles gesehen, alles erlebt zu haben schienen, hätte nicht größer sein können. Selbst Taube Falkenhand wirkte im Vergleich zu der jungen Königin robust. Die Auserwählte Mystras, die mit dem Rücken gegen den Thron gelehnt dasaß, spielte gedankenverloren mit einer Strähne ihres silberweißen Haares, während sie dem Bericht der fünf Gefährten lauschte.
Nachdem Kalith und seine Freunde alle Fragen beantwortet hatten, nahm Hauptmann Fflar die Klaue der Kiaransalee in die Hand und betrachtete sie aufmerksam von allen Seiten.
„So viel Leid“, murmelte er nachdenklich.
In diesem Moment traf ein Diener mit der Schriftrolle ein, die Fürstin Ilsevele angefordert hatte. Mit ihren zarten Fingern nahm sie das Schriftstück entgegen, überflog es flüchtig und reichte es dann an Dorien weiter.
Während er den Zauber von der Schriftrolle ablas, ließ der Hexenmeister das kleine Truhenreplikat in seiner Handfläche rotieren. Einen Augenblick später materialisierte sich die echte Truhe auf dem Marmorboden zu seinen Füßen. Während die Gefährten noch zauderten, trat Hauptmann Fflar vor, hob den Deckel an und nahm die zweite Klaue aus der Truhe.
„Sie lassen sich also zerstören, indem ein und derselbe Träger sie beide zur gleichen Zeit anlegt?“, wiederholte der Paladin, was Nimoroth ihm zuvor erklärt hatte. „Habt ihr das nachprüfen lassen?“
„Wir haben das Dokument gefunden, von dem der Avariel sprach und es von dem Weisen Belivimir prüfen lassen“, erklärte Nimoroth. „Es schien echt zu sein.“
„Soll ich das Wagnis eingehen, Herr?“, fragte Kalith.
Der Hauptmann bedachte seinen Ersten Leutnant mit einem knappen Blick, antwortete jedoch nicht. Stattdessen zog er sein Schwert
Keryvian, stützte sich auf den Heft und begann ein kurzes Gebet zu sprechen. Kalith stockte der Atem, als er erkannte, was Fflar vorhatte. Es hieß
Keryvian sei eine der Fluchklingen des Demron.
Ein elfisches Artefakt. „Nicht!“, flüsterte Kalith.
Doch der Hauptmann ignorierte ihn. Mit festen Handgriffen streifte er den ersten Panzerhandschuh, die Klaue der Lolth, über sein Armgelenk. Nichts geschah. Dann das zweite Artefakt, die Kiaransalee-Klaue.
Fflar keuchte auf, als die Klauen an seinen Armen lebendig wurden. Wie schwarze Schlangen begannen die Ringe, aus denen die Artefakte gefertigt waren, sich auseinander zu winden und seine Schultern empor zu kriechen. Wo sie seine Haut berührten, fraßen sich dunkle Löcher der Verwesung in sein Fleisch. Kreischende Stimmen hallten von den Wänden wieder und es klang, als stritten zwei Todesfeen miteinander. Der Hauptmann schrie auf und ging zu Boden.
„Fflar!“ Fürstin Ilsevele war aufgesprungen, ihr Gesicht kreidebleich. Die Königin wollte vor dem Hauptmann in die Knie gehen, doch Taube Falkenhand hielt sie zurück. In all dem Tumult, der nun losbrach, war sie die einzige, die weder Furcht noch Sorge zeigte. Die anderen schrieen wild durcheinander und aus der Vorhalle drangen schnelle Schritte und das klirrende Geräusch von Stahl. Kalith stand da wie versteinert.
Und dann kam das Licht.
Plötzlich war es so hell, dass alles in weißem Nichts verschwamm. Kalith konnte nicht einmal erkennen, wo es herkam, jenes Licht, das mit ungeheurer Kraft alles um sich herum zu durchdringen schien. Es war kein äußerliches, es war ein innerliches Licht. Es brannte wie Feuer in seinen Gliedern, seinen Eingeweiden, seinen Gedanken, doch es war ein heilendes, ein reinigendes Feuer. Und Kalith erkannte, dass in diesem Feuer nichts bestehen konnte, das aus Dunkelheit geschmiedet war.
Allmählich begann die Welt um ihn herum wieder Gestalt anzunehmen. Die Königin saß neben Fflar Sternbraue am Boden und half ihm vorsichtig sich aufzurichten. Der Hauptmann war unversehrt und betrachtete verwundert seine blanken Armgelenke. Die Zwillingsklauen waren verschwunden.
Kein Staub, keine Asche.
Winter Später Winter fand Dorien an Glyrryls Weiher, wo viele Elfen in den frühen Abendstunden im Schatten der alten Linden flanierten, um sich von ihrem Tagwerk zu erholen. Dorien saß an einen der mächtigen Stämme gelehnt und nutzte die letzten Strahlen der Sonne, um einen Brief zu verfassen. Er sah auf, als er Winters Schatten über sich gewahrte.
„Ich wollte mit dir sprechen“, begann Winter. „Es geht um Scarlet. Nimoroth möchte eine Schule errichten und ich finde, dass wir Scarlet zu ihm schicken sollten. Mit Laguna hätte sie in Myth Drannor bereits einen Freund und außerdem wäre die hier gegen Ausspähung geschützt. Ich dachte nur, ich sollte dich darüber informieren“, sagte sie in einem Tonfall, der ihm klarmachen sollte, dass ihr Entschluss bereits gefasst war.
„Hm“, machte Dorien. „Was sagt denn Scarlet dazu?“
Winter seufzte. „Du weißt doch, sie hat es sich in den Kopf gesetzt eine Kriegerin zu werden wie ihr Onkel Grimwardt. Sie wünscht sich eine Axt zum Geburtstag.“
„Vielleicht sollten wir ihr ihren Willen lassen und sie bei deinem Bruder in die Ausbildung schicken.“
Winter sah verblüfft auf ihn herab. Sie hatte erwartet, dass Dorien ihr widersprechen würde, aber dass der Sune-Anhänger so weit gehen würde, seine Tochter dafür in Grimwardts Metzelschule zu schicken, hatte sie nicht erwartet.
„Soll das heißen, du unterstützt sie in diesem absurden Wunsch?“
Dorien zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder seinem Brief zu. „Scarlet ist unsere Tochter, Winter. Sie wird schon noch früh genug erkennen, dass sie nicht zur Axtkämpferin geboren ist. Aber wenn du sie diese Erfahrung nicht selbst machen lässt, wird sie es dir auf ewig übel nehmen.“
„Hm.“
„Außerdem ist Myth Drannor kein sicherer Ort, solange der Mythal noch nicht wieder hergestellt ist.“
Winter wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie musste zugeben, dass Doriens Argumente nicht aus der Luft gegriffen waren.
„Ich habe gerade einen Brief an meine Mutter verfasst“, wechselte Dorien nonchalant das Thema. „Sie möchte ihre Enkeltochter sehen. Ich habe zugesagt. Du bist natürlich eingeladen uns nach Silbrigmond zu begleiten.“
„Schön“, sagte Winter. Sie hatte ihn schon früher dazu zu überreden versucht, ihr seine Familie vorzustellen, doch Dorien hatte stets abgelockt und ein Geheimnis aus seiner Herkunft gemacht. Doch sie wollte ihr Glück nicht überreizen, indem sie ihn nach dem Grund für seinen plötzlichen Sinneswandel fragte.
„Würdest du mich heiraten?“
Die Frage traf Winter wie ein Blitz aus heiterem Himmel.
„Wie
bitte?“
Ein verschmitztes Funkeln stand in Doriens saphirblauen Augen, als er ihre Reaktion beobachtete.
„Für einen Tag“, erklärte er. Ein wenig verlegen fügte er hinzu: „Meine Mutter... Sie wünscht sich, was sich alle Mütter für ihre Söhne wünschen: eine glückliche Ehe, Kinder, ein geordnetes Leben. Es würde sie glücklich machen, uns verheiratet zu sehen.“ Er richtete sich auf und griff im Aufstehen nach einem Kieselstein. Dann kniete er vor Winter nieder und wisperte einen Zauberspruch. Als er die Faust wieder öffnete, lag ein goldener Ring in seiner Hand.
„Winter Fedaykin“, sagte er, sie bei ihrem Mädchennamen nennend. „Willst du meine Frau für einen Tag werden?“
Winter lachte und strich sich eine Strähne ihres feuerroten Haares aus der Stirn.
„Ja, ich will.“
Von den Umstehenden, die den Zusatz „für einen Tag“ offenbar der menschlichen Kurzlebigkeit zuschrieben, ernteten die beiden frisch Verlobten laute Jubelrufe.