Kapitel XII: Aus dem Nebel
Faust
Nebel. Faust lief ein Schauer über den Rücken, als die Dunstschlieren seinen Körper hinauf krochen. So hatte es auch damals angefangen… Der Kämpfer blinzelte und sah sich um. Undeutlich erkannte er Gemäuer und Türme, die wie verschleierte Bräute hinter der Nebelschicht harrten. Wo war er? Und wo waren die anderen? Faust rief nach seinen Gefährten, doch er erhielt keine Antwort.
Verdammt, Miu, wo hast du uns hingeführt?
In einiger Entfernung hörte Faust Schlachtenlärm, doch hier war alles ruhig. Dann stieß er gegen etwas Weiches und blickte nach unten: Leichen. Der Platz war übersäht mit den toten Körpern von Elfen und Menschen. Die Elfen wiesen Brandwunden auf und waren zum Teil bis zur Unkenntlichkeit verbrannt; die meisten der Menschen dagegen schienen durch Waffengewalt zu Tode gekommen zu sein. Als Faust sich zu einem der Gerüsteten hinunterbeugte, erkannte er auf seiner Brustplatte das Emblem des Schwarzen Netzwerks. Er musste in Myth Drannor gelandet sein. Und die Allianz hatte bereits mit voller Härte zugeschlagen.
Plötzlich eine Bewegung. Reflexartig fuhr Fausts Hand an den Knauf seines Schwerts. Ein Elf, ungerüstet aber mit einem kostbaren Bastardschwert in der Hand, irrte schwer verletzt über das Schlachtfeld.
„Hey!“
Faust ging auf den Fremden zu und fing ihn auf, als er zusammenbrach. Pures Entsetzen stand in den Augen des Elfenkämpfers.
„Wohin haben sie mich diesmal geführt?“, flüsterte er, dem Delirium nah.
Faust fuhr ein eiskalter Schrecken in die Glieder, als ihm bewusst wurde, in welcher Sprache er diese Worte gesprochen hatte - eine Sprache, die er beinahe vergessen hatte. Eine Flut zusammenhangloser Erinnerungen überrollte ihn. Erinnerungen an die Zeit, nachdem die Nebel ihn in jene eigenartige Welt voller Grauen und Tod entführt hatten.
Rabenhorst, die Nebel….
Ein schrecklicher Gedanke durchzuckte ihn. Nein! Nein, er wollte nicht wieder zurück! Er hatte seinen Weg gefunden. Rabenhorst hatte ihn gehen lassen. Die Nebel hatten ihn entlassen. Warum waren sie nun zurückgekehrt? Faust schloss die Augen und versuchte die Panik niederzukämpfen, die ihn in die Dunkelheit zu reißen drohte.
Konzentrier dich.
Er bettete den verwundeten Elfen mit dem Rücken gegen eine Steinmauer. Dann stutzte er. Etwas an dem Sonnenelf kam ihm bekannt vor. Die harten Züge seines goldbraunen Gesichts, die rasiermesserscharfen Wangenknochen, sein langes Elfenhaar…
„Tyrael?“
In seinem Fieberwahn schien der Elf seine Umgebung kaum wahrzunehmen. Trotzdem glaubte Faust ihn zu kennen – aber nicht aus Rabenhorst. Die Erinnerungen, die er weckte, waren klarer als die albtraumhaften Zerrbilder aus der Anderswelt: Faust war sehr jung gewesen, als er einem geheimnisvollen Freund seines verschollenen Vaters in die Stadt Rabenklippe gefolgt war und seine Kampfausbildung bei den Neun Schwertern begonnen hatte. Keiner der anderen Rekruten hatte Faust das Wasser reichen können – keiner bis auf Tyrael. Faust und er waren wie Feuer und Eis gewesen. Unzählige Male hatten Tyraels elfischer Hochmut und seine menschenverachtenden Hassreden Faust zur Weißglut getrieben und sie hatten sich bis aufs Blut bekämpft. Nur bis zum Äußersten war keiner der beiden je gegangen, denn Ehre und ein heimlicher Respekt für die Kampfkunst des anderen hatten sie davon abgehalten. Doch all das hatte sich geändert, als… Faust runzelte die Stirn. Ja, da war noch eine Erinnerung, aber sie kauerte im Schatten, so als versuche sein Gewissen, sie von ihm fernzuhalten.
„Noch so ein Elfenfreund! Ich dachte, ich hätte euch alle erwischt“, durchschnitt eine dunkle, diabolische Stimme Fausts Gedanken und ein Schatten fiel über ihn. Noch ehe sein Blick die Bedrohung erfasst hatte, hatte seine Hand wie von selbst sein Schwert aus der Scheide gerissen. Die massige Gestalt eines Höllenschlundteufels kreiste mit dramatisch entfalteten Schwingen über dem Schlachtfeld. Gelbe Glut und unstillbarer Durst loderten in den Augen des mächtigen Höllenherrn.
Faust spürte, wie Zwiespalt in seiner Hand vibrierte. Eigenartige Farbreflexionen spiegelten sich auf der Klinge des Krummschwertes und Faust meinte zischelnde Stimmen in seinem Geist zu hören. Er blinzelte überrascht: Er konnte nicht verstehen, was die Stimmen sagten, doch etwas in ihm verspürte einen unwiderstehlichen Tötungsdrang: Zwiespalt wollte, dass er den Teufel angriff. Das Schwert seines Vaters schien einen eigenen Willen zu besitzen.
Dann fuhr der erste Feuerball mit infernaler Wucht auf Faust nieder. Er fluchte.
„Stellst du dich mir Mann gegen Mann oder muss ich zu dir hochkommen?“, schnaubte er, während er zur Seite wegrannte, von Tyrael fort, um den Bewusstlosen vor weiteren Flächenzaubern zu schützen. Der Teufel lachte düster und katapultierte sich im Sturzflug auf den Herausforderer zu. Seine Bissattacke brannte wie Feuer und zwang Faust in die Knie. Schwefelgeruch und schwelende Hitze benebelten seine Sinne. Doch Zwiespalts Euphorie färbte auf ihn ab und das Schwert überzog den Gegner mit einem rasenden Klingenwirbel. Der Höllenschlundteufel brüllte vor Wut, als die Klinge seine Haut aufschlitzte wie eine Orangenschale, und antwortete mit einem schmetternden Prankenhieb. Seine Krallen rissen eine hässliche Wunde in Fausts Kehle, doch während sein Gegner noch mit dem Schwanz zum Folgehieb ausholte, wirbelte der Kämpfer bereits um die eigene Achse, katapultierte sich in die Höhe, sprang von hinten auf den Teufel zu und zertrümmerte das Schlüsselbein seines Gegners. Unbeholfen wie eine verletzte Fledermaus schlug sein Gegner mehrmals mit den Flügeln, ehe es ihm gelang, vom Boden abzuheben und sich aus Fausts Reichweite treiben zu lassen. Sein Gesicht war eine Fratze aus Zorn und Schmerz, als er mit bebendem Finger auf Faust wies und mit einer zischenden Zauberformel die Feuer der Hölle auf den Schwertkämpfer herab beschwor.
Faust spürte wie seine Haut in der Glut zu schrumpeln begann, noch ehe er die Säule aus gleißendem Licht auf sich niederstürzen sah. Dann explodierten zu allen Seiten Feuerkugeln und sein Körper schien in der erbarmungslosen Hitze zu Staub zu zerglühen.
Grimwardt
„Grim! Faust! Miu! Wo seid ihr?“
Grimwardt hörte Winters Rufe, doch der Anblick, der sich ihm bot, als die Nebel sich lichteten, erstickte seine Antwort. Er stand vor den Toren Myth Drannors. Der Schutzwall der Stadt war an mehreren Stellen durchbrochen und Rauchsäulen hinter den Mauern ließen vermuten, dass die meisten Angreifer die Stadt bereits gestürmt hatten. Doch noch immer gab es hier und dort Elfen und Menschen, die auf den Feldern verbittert um ihre Heimat kämpften. Das Verschwinden der Antimagie (mochten die Götter wissen, wie es dazu gekommen war) hatte den Vorteil der Angreifer zunichte gemacht und den Verteidigern neuen Mut gegeben. Doch zu viele ihrer Gefährten lagen im Staub. Unter ihnen erkannte Grimwardt viele bekannte Gesichter. Der Abteivorsteher ballte die Fäuste, als er den Blick über das Schlachtfeld gleiten ließ. Melgrent, Godwart, Ravel... Sie alle waren Novizen in seiner Abtei gewesen. Doch es waren nicht die Toten, die Grimwardt die bleiche Wut ins Gesicht trieben. In einiger Entfernung hatten die Nebel den Verursacher all der Verwüstung enthüllt: eine unförmige, felsenartige Kreatur. Der Zwerg Borgo und zwei weitere Tempuskrieger seiner Abtei kämpften verbissen gegen das Geschöpf, doch sie waren erschöpft und dem Ende nahe und ihre Waffen hinterließen kaum Wunden in der krustenartigen Haut ihres Gegners. Dort, wo die Platten der Umpanzerung des Ungeheuers aufeinander trafen, enthüllten sie Lavaströme, die unter der Haut des Wesens pulsierten. Grimwardt erkannte, dass nur perfide Magie ein solches Wesen erschaffen haben konnte. Er erhob seine Axt.
„Graum Auskovyn!“, brüllte er über das Schlachtfeld nach dem dunkelelfischen Clanführer, der in seiner Abwesenheit die Abtei des Schwertes erobert hatte. „Zeig dich mir, du elender Schurke!“
„Dort oben.“ Winter war neben ihren Bruder getreten und wies in den grauen Mittagshimmel. „Er ist unsichtbar.“
„Hol ihn da runter“, knurrte Grimwardt ohne den Blick von der monströsen Schöpfung des Drowmagiers zu wenden. Dann stürmte er los, während Winter einen Flugzauber sprach und selbst unsichtbar wurde.
„Für Ehre und Glorie!“, brüllte Grimwardt mit Inbrunst, während er über das Schlachtfeld stürmte. Sein Zorn und der Segen des Feindhammers verliehen ihm eine Größe und Schrecklichkeit, die seine Leute für einen Augenblick innehalten ließ. Gleichzeitig eröffneten die beiden unsichtbaren Magier den Kampf und der Himmel explodierte in einem magischen Feuerwerk, sodass es den Kriegern scheinen musste, als sei Tempus in menschlicher Gestalt zur Erde herabgestiegen. Der Gedanke gab ihnen neuen Mut und belebte den Funken der Hoffnung in ihren mutlosen Gesichtern.
„Aus dem Weg, Borgo, der gehört mir!“
Der Zwerg und die Rekruten sprangen zur Seite, als Grimwardt heran raste, und seine Streitaxt drang ungehindert durch den Krustenpanzer des Ungeheuers. Das Geschöpf stieß einen jaulenden Jammerlaut aus, der in seltsamem Kontrast zu seiner monströsen Gestalt stand. Für einen Moment schien es so, als wolle die riesenhafte Kreatur aus dem Kampf fliehen, doch dann fügte sie sich dem Willen ihres Schöpfers. Einen Augenblick zu spät hob Grimwardt seinen Schild. Ein schmetternder Prankenhieb traf seinen Schädel und ein weiterer seinen Unterleib. Ihm drohte schwarz vor Augen zu werden, doch der Tempus-Priester besiegte die aufkeimende Übelkeit und holte zum Gegenschlag aus. Im selben Moment wirkte Winter ihren mächtigsten Zauber, Doriens magisches Vermächtnis. Das Monster ging in die Knie, als eine Welle negativer Energie alle Flüssigkeit aus seinem Körper sog. Schmerz und Leid spiegelten sich auf seinem von Narben entstellten Gesicht, sodass sich Grimwardts Todesstoß wie ein Gnadenstoß anfühlte. Als die Axt das Herz des Wesens durchbohrte, begannen seine Gesichtszüge zu zerfließen und die Magie, die es im Leben zusammen gehalten hatte, wich aus seinen Gliedern. Der Lavariese schrumpfte zu einer erbärmlichen Kreatur zusammen, die halb Grimlock und halb Troll zu sein schien: Sie war blind und gesichtslos und ihr massiger, unförmiger Körper war von grünlichem Schleim überzogen.
„Meister“, waren ihre letzten Worte und sie hob mit einer kraftlosen Geste die Hand.
Grimwardt folgte der Geste des Halbtrolls mit den Augen und sprach ein Gebet. Der magische Blick, den Tempus ihm gewährte, enthüllte die kämpfenden Gestalten von Winter und dem Drow, deren wildes Zauberduell den Himmel in ein farbenprächtiges Kunstwerk aus Strahlenfächern und Energiebällen verwandelt hatte. Graum Auzkovyn trug sein Haar kurz geschoren und sein Gesicht war zur Hälfte von einer bunten Maske verdeckt - das Erkennungsmerkmal der Anhänger Vhelrauns. Seine Roben waren an einer Seite völlig verkohlt und enthüllten Brandblasen, die sich über seine ganze rechte Körperhälfte zogen. Winter dagegen schien den Kampf weitgehend unbeschadet überstanden zu haben. Strähnen ihres Feuerhaars umtanzten ihr Gesicht und ihre grünen Augen glänzten vor Erregung. Freudige Erregung, wie Grimwardt erstaunt feststellte: Sie genoss diesen Kampf. Und zum ersten Mal sah er seine Schwester so wie ihre Gegner sie sehen mussten: als eine der mächtigsten Zauberinnen Faerûns, gefährlich und von tödlicher Schönheit.
Graum zischte wütend, als er erkannte, dass er im Begriff war, den Kampf zu verlieren, und schleuderte einen schwarzen Strahl auf seine Gegnerin. Doch der Zauber prallte an Winters unsichtbarem Schutzschild ab und wurde auf den Drow zurück geworfen. Die Wucht seines eigenen Geschosses sandte Graum schleudernd durch die Luft und er schlug ächzend in Grimwardts Reichweite auf dem Boden auf.
„Nicht!“, rief der Priester, als Winter zu einer weiteren Formel ansetzte, um ihm den Rest zu geben. „Er gehört mir.“
Wortlos näherte sich Grimwardt seinem Erzfeind und wuchtete seinen Schild einen Finger breit vor Graums Nasenspitze in den Boden, sodass der Drow zusammenzuckte. Dann stellte er seinen Fuß auf die Brust des Magiers.
Graum lachte ihm dreist ins Gesicht.
„Erbärmlich!“, spuckte er, während ihm Blutschaum aus dem Mund quoll. „Du hast deine Leute in der Abtei im Stich gelassen und nun schickst du deine kleine Schwester, um mich zu besiegen. Sassoon! Licht über dich, Grimwardt Fedaykin!“
„Ich denke, damit kann ich leben“, erwiderte Grimwardt trocken.
Dann hob er seine Axt und enthauptete den Mann, der Priestergeneral Eldan Ambrose und Dutzende Tempuskrieger auf dem Gewissen hatte. Endlich, nach vierundzwanzig Jahren, erfüllte er das Versprechen, das er Ambrose bei seinem Tod gegeben hatte: Eldan war gerächt und die Gefahr fürs erste gebannt. Ohne Graum Auzkovyn war die Allianz der Drow-Clans hinfällig. Es mochte Jahre, vielleicht Jahrzehnte dauern, bis sie wieder einen Anführer fanden, der genug Ansehen genoss, um die zerstrittenen Familien zu einen. Langsam begriff Grimwardt, was das bedeutete, und ein Gefühl reinen Glücks durchströmte ihn: Er war von Tempus gesegnet! Denn alles, was er erreichte, war am Ende das Werk des Feindhammers. Nur für einen Augenblick schloss er die Augen und ließ das Gefühl zu. Dann wisperte er ein kaum hörbares Dankgebet und wandte sich an Borgo und die Hand von Rekruten, die sich um ihn geschart hatten.
„Waffenmeister“, sagte er schroff.
„Ja, Herr?“
„Begrabt unsere Toten. Wir wollen für sie beten. Und dann reiten wir los und erobern die Abtei zurück.“
Faust
Er sieht die Klinge auf sich zukommen und weiß, dass er dem Schlag nicht ausweichen kann. Seine Glieder sind schwer wie Blei und sein Schwert zittert in seiner Hand. Als die schwarze Seelentrinkerklinge in sein Fleisch schneidet, spürt er wieder diesen benebelnden Schmerz, als ob etwas alle Kraft und allen Mut aus ihm saugt. Ihm wird schwarz vor Augen und er sinkt in die Dunkelheit. Er weiß, wenn er ihr nachgibt, ist das sein Ende. Und er will nicht sterben! Zu viel, was er noch nicht erlebt hat, zu viel, was er der Welt noch zu geben hat. Wie ein Ertrinkender klammert er sich an diesen Gedanken und kämpft gegen die Wogen der Finsternis. Endlich, mit ungeheurer Anstrengung, gelingt er ihm die Augen zu öffnen. Das Sonnenlicht, das durch die Baumwipfel fällt, empfängt ihn mit gleißender Schärfe und mit seinem Bewusstsein kehrt auch der Schmerz wieder zurück.
Als das blendende Weiß sich aus seinem Sichtfeld zurückzieht, erblickt er seinen Gegner, der, auf sein Schwert gestützt, an seiner Seite kniet. Thallastam hat noch nicht bemerkt, dass er wieder bei Bewusstsein ist, denn er hat die Augen geschlossen und hält den Kopf gesenkt.
Er betet für mich, fährt es Faust durch den Kopf.
Der Gedanke entfacht den schwelenden Zorn in ihm von neuem. Er betet für ihn, weil er glaubt, dass seine Seele verloren ist. Wie die seines Vaters. Mit dem Streit um seinen Vater hat alles begonnen. Faust weiß, dass sein Meister lügt. Wie könnte seine Mutter ihn belogen haben? Wie könnten all ihre Geschichten eine Farce sein? Der Mann aus ihren Geschichten hätte niemals seine Freunde verraten und einen Pakt mit der Hölle geschlossen wie der Waldelf behauptet. Auch wenn Faust diesem Mann nie begegnet ist, weiß er, dass sie ihm niemals ein Lügenmärchen aufgetischt hätte. Der Gedanke an die Verleumdung seines Vaters durch dessen alten Freund treibt ihm Tränen der Wut in die Augen und seine Hand verkrampft sich um den Knauf seines Schwertes.
Dann versinkt die Welt in Rot.
Als seine Sinne zu ihm zurückkehren, kniet Faust schwer atmend im Gras. Klebriges Blut tropft von seinem Gesicht und der Rüstung auf die enthauptete Leiche des Waldelfen. Er blinzelt verwirrt und starrt in die aufgerissenen Augen seines Meisters. Für einen Augenblick weigert er sich zu begreifen, was geschehen ist. Dann überrollt es ihn mit unbarmherziger Härte. Keuchend springt er auf und taumelt zurück. Ein eigenartiger, panischer Laut dringt aus seiner Kehle, halb Schrei, halb hysterisches Lachen. Doch er kann nicht die Stimme seines Gewissens übertönen.
Du hast einen wehrlosen Mann getötet.
Faust schnappte keuchend nach Luft. Mius Hand auf seiner Stirn fühlte sich an wie glühende Kohlen und ein höllisches Brennen durchfuhr ihn, als seine verkohlte Haut zu regenerieren begann.
„Danke“, brachte er schließlich ächzend hervor und setzte sich auf. „Wo… hast du gesteckt?“
Miu ergriff seinen Arm und er spürte ihre Beunruhigung. Alarmiert folgte er ihrem Blick nach Westen… und erblickte den Höllenschlundteufel, der im rasenden Flug auf sie zuhielt. Offenbar hatte er Faust für tot gehalten und seinen Fehler bemerkt. Ein Feuerball formte sich zwischen seinen Klauen.
„Lauf, Miu!“, rief Faust und stieß sie beiseite. Dann stolperte er auf die Beine und sprach einen Flugzauber. Der Feuerball raste an Faust vorbei auf Miu zu, doch die flinke Karaturianerin ging rechtzeitig hinter einer Straßenecke in Deckung.
„Zäher Bursche, wie?“, lachte der Höllenschlundteufel, während sie beiden Gegner aufeinander zu schossen. „Ist fast schade um dich!“
Faust reagierte einen Augenblick früher als sein Gegner. Zwiespalt erstrahlte in allen Regenbogenfarben, als die Henkersklinge das Herz des Teufels durchstieß. Der Tod kam so überraschend für seinen Gegner, dass sein Körper noch ein paar Mal mit den Flügeln zuckte, ehe er zu stürzen begann. Faust schloss für einen Moment die Augen. Dann glitt er ihm erschöpft nach und die verlorene Erinnerung echote in seinen Gedanken.
Du hast einen wehrlosen Mann getötet.
Sein Gegner war besiegt, aber noch nicht tot. Bereits im Sturz hatten die ersten Wunden begonnen sich zu schließen. Faust war froh darüber. Nicht dass er eine Rechtfertigung gebraucht hätte, um auf irgendetwas einzudreschen.... Es verringerte nicht die Last der Schuld, aber die bleierne Erschöpfung, die die körperliche Anstrengung mit sich brachte, benebelte seine Sinne. Alles wirkte gedämpft hinter dem Schleier aus Blut und Schweiß, der sich vor seine Augen legte. In diesem Moment war es nicht die Reue, die ihn zu überwältigen drohte, sondern die Erkenntnis, dass Thallastam die Wahrheit gesagt haben könnte. Hatte sein Vater, der vor ihm den Titel des Faust getragen hatte, tatsächlich seine Seele verkauft, um die Macht eines Teufels zu erlangen? War es das, was Zwiespalt ihm durch diesen Kampf hatte mitteilen wollen? Er hatte immer angenommen, sein Vater habe das Krummschwert um seinetwegen zurück gelassen. War es umgekehrt gewesen? Hatte die Chaosklinge ihren Träger verstoßen, weil er seinen Idealen den Rücken gekehrt hatte? Doch weshalb? Was war mit ihm passiert? War er noch am Leben? Mit schmerzlicher Bitterkeit wurde Faust bewusst, dass womöglich der einzige, der ihm seine Fragen beantworten konnte, nicht mehr am Leben war.
„Faust!“
Der Ruf zwang ihn innezuhalten. Es war Tyrael. Miu musste seine Wunden geheilt haben. Mit angewiderter Miene stieg der Elf über das Ergebnis von Fausts Hackwut. Dann zog er sein Schwert, murmelte etwas in seiner Muttersprache und ein kleines Irrlicht sauste in Spiralen um die Klinge des Bastardschwerts. Nachdem das geisterhafte Licht die Klinge umspielt hatte, hob Tyrael das Schwert und enthauptete den Teufel (oder was noch von ihm übrig war) mit seiner verzauberten Klinge. Augenblicklich löste sich der Höllenschlundteufel in Luft auf: Die Hölle hatte zurückgefördert, was ihr gehörte.
„Danke“, keuchte Faust.
Tyrael hob langsam den Kopf und sein Blick aus kalten grauen Augen triefte vor Verachtung.
„Ich habe nicht vergessen, was du getan hast“, zischte er.
„Es… tut mir leid“, sagte Faust mit ehrlicher Reue und machte einen Schritt auf Tyrael zu. Der Elf wich vor ihm zurück wie vor einer giftigen Viper und ein unheilvolles Funkeln streifte seine Augen. Das war purer Hass, erkannte Faust. Er hielt inne. Tyrael hatte ihn nie leiden können, aber sein Maß an Verachtung war nie über das hinausgegangen, was der arrogante Elf der gesamten Menschheit entgegen brachte. Dann begriff er: Er hatte einen Elfen umgebracht – etwas, das Tyrael ihm niemals vergeben würde.
„Ich habe einen Racheschwur gegen dich geleistet“, sagte Tyrael leise und die Spitze seines Schwertes zeigte auf Fausts Brust.
„Nicht jetzt“, murmelte Faust erschöpft.
„Nein, nicht jetzt“, erwiderte der Elf mit einem verächtlichen Blick auf Fausts Wunden. „Aber ich werde dich finden und wenn wir uns das nächste Mal sehen, wird einer von uns sterben.“
Mit diesen Worten wandte er sich um und ließ Faust stehen. Der Kämpfer schloss ergeben die Augen und ließ sich mit dem Rücken gegen eine Gebäudewand sinken. Gerade als er im Begriff war einzunicken, spürte er Mius Hand auf seiner Schulter. Er blickte auf. Sie lächelte und es tat gut ihr Lächeln zu sehen nach allem, was passiert war. Dann legte sie eine Hand an ihr Ohr und sah Faust erwartungsvoll an. Er runzelte die Stirn. Dann begriff er: Der Kampfeslärm hatte aufgehört. Die Schlacht war zu Ende und Myth Drannor war gerettet.
Faust und Miu brachen auf, um in Erfahrung zu bringen, wie es den anderen ergangen war. Auf dem Weg durch die Stadt schlossen sie sich einem Strom von Elfenkämpfern an, die es zum Hochpalast zog. Hier hatte sich ein Großteil der Überlebenden um den Vorplatz geschart und zu ihrer Freude erkannten Faust und Miu viele bekannte Gesichter: Kalith, Nimoroth, Razeema und der Halbork Grax hatten die Kämpfe überstanden. Auch Winter war dort und berichtete, dass es Grimwardt gut ginge. Schließlich trat Hauptmann Fflar Melruth vor die Menge, um offiziell den Ausgang der Schlacht zu verkünden: Die Kastellanin von Zhentil-Feste, die Anführerin der Allianz, war besiegt und ihre Truppen zurückgeschlagen. Die Rettung des magischen Gewebes war der Simbul und dem Erzmagier Elminster vom Schattental zu verdanken. Auch die antimagische Zone über Cormyr war verschwunden. Nur den magischen Knoten unter der Wüste von Anauroch hatten die beiden Auserwählten Mystras nicht retten können. Trotzdem waren es allem in allem gute Nachrichten, die der Hauptmann zu verkünden hatte, und die Versammelten brachen in Jubelstürme aus. Faust, der sich von der Hochstimmung anstecken ließ, drückte übermütig der nächststehende Elfe einen Kuss auf die Lippen. Dann wirbelte er eine überrumpelte Miu durch die Luft und trug sie im Triumphzug durch die Stadt. Schon nach wenigen Straßenblocks hatte sich eine Schar von Bewunderern um sie geschart und als sie in Whispers Braustube ankamen, wusste bereits die halbe Stadt von den Heldentaten der Gefährten und von Fausts Kampf gegen Drizzt Do’Urden.
Winter
Am Abend in der Abtei des Schwertes.
Als Grimwardt und Borgo nach einem siebenstündigen Ritt durch das Tor der Abtei ritten, fanden sie den Innenhof mit Leichen übersät vor. Die verkohlten und vertrockneten Körper der Drowkämpfer trugen Winters Handschrift. Grimwardts Schwester trat kurz darauf aus dem Hauptgebäude. Fröstelnd verschränkte sie die Arme vor der Brust.
Nach der Schlacht vor den Toren Myth Drannors hatte sie Grimwardt angeboten, ihn in die Abtei zu teleportieren, doch er hatte abgelehnt. Winter kannte seine Gründe: Die Abtei war Grimwardts Verantwortungsbereich und er empfand es als seine priesterliche Pflicht sie Kraft seiner eigenen Hände aus der Gewalt der Besetzer zurückzuerobern. Doch Winter gab einen Dreck auf Grimwardts priesterliches Ehrgefühl, wenn sein Leben auf dem Spiel stand. Wer wusste schon, was in der Abtei auf ihn wartete: Sie war nicht gewillt, ihn seiner Sturheit willen an die Schergen des Drowmagiers zu verlieren. Aus diesem Grund war sie auf eigene Faust ins Schlachtental aufgebrochen. Faust und Miu hatten sie begleitet. Doch Winter hatte die zwei Dutzend Bogenschützen und Schwertkämpfer, die der Clanführer zur Verteidigung der Abtei zurückgelassen hatte, fast im Alleingang besiegt. Ein Verdorren-Zauber hatte die Hälfte von ihnen dahin gerafft, noch ehe sie ihren Gefährten auch nur das Tor geöffnet hatte. Winter hatte sich ganz dem Pulsieren der Magie in ihrem Körper hingegeben. Unsichtbar hatte sie aus der Luft beobachtet, wie ihre Feinde in Panik vor dem versteckten Angreifer flohen und das Grauen auf ihren Gesichtern hatte sie auf morbide Weise fasziniert. Der Rausch und das Entzücken waren ein neues, aufregendes Gefühl. Früher hatte sie den Kampf allenfalls als lästiges Übel betrachtet und ihre magischen Kräfte als Überlebensmittel. Heute war ihr zum ersten Mal bewusst geworden, dass es auf ganz Faerûn vielleicht gerade mal ein Duzend Zauberwirker gab, die es mit ihr aufnehmen konnten. Es war ein erhebendes Gefühl. Doch es hatte einen seltsamen Beigeschmack. War das wirklich sie, deren Augen beim Gedanken an diese Macht zu glänzen begannen?
„Winter“, knurrte Grimwardt, als sie den beiden Reitern entgegen trat, und die Zornesader auf seiner Stirn trat pochend hervor. „Hab ich mich nicht klar und deutlich ausgedrückt, als ich sagte, du sollst in Myth Drannor auf mich warten?“
„Ich habe traurige Neuigkeiten.“ Winter hielt es für besser, seine Rüge zu ignorieren. „Jareth ist tot. Die Drow haben ihn gefoltert, um zu erfahren, wo du steckst.“
Das Auffinden des verstümmelten Leichnams hatte Winters Euphorie einen schweren Dämpfer verpasst. Grimwardt und sein Erster Schwertbruder waren seit ihrer Novizenzeit Freunde gewesen und in all der Zeit hatte Winter mit Jareth nie mehr als ein paar höfliche Worte gewechselt. Und dennoch war er ein Teil ihres Lebens – ein Teil der Abtei – gewesen. Wie oft hatte sie Grims Schimpftiraden über Jareths Hitzköpfigkeit gelauscht. Oder Jareth dabei beobachtet, wie er einen ungehorsamen Rekruten zusammenstauchte.
Grimwardt nahm seinen Helm ab und senkte den Kopf.
„Führ mich zu ihm.“
Winter führte ihren Bruder und den Zwerg in den Kerker. Auch Engart, der Rekrut, der den Drow als Informant gedient hatte, war tot – wahrscheinlich verdurstet. Doch da er aus Grimwardts Sicht ehrlos gestorben war und kein priesterliches Begräbnis verdient hatte, verbrannten sie ihn mit den anderen Leichen. Jareth dagegen unterzog Grimwardt einer heiligen Waschung, ehe er ihm seine Rüstung anlegte und ihn im großen Gebetssarg aufbahrte. Als sich Grimwardt und Borgo zur rituellen Totenwache an sein Totenbett knieten, verließ Winter unauffällig die Halle. Tempus war nicht ihr Gott und Jareths Tod hatte sie daran erinnert, dass sie noch ein Versprechen einzulösen hatte.
Winter reiste nach Silbrigmond und steuerte das Haus der Dantés’ an. Scarlet, die mit Marlas Katzen auf der Eingangstreppe spielte, grüßte ihre Mutter verhalten. Erst als Winter ihr versichert hatte, dass es auch ihren Freunden gut ginge, zeichnete sich ein angedeutetes Lächeln auf ihrem Kindergesicht ab. Mit ihrer Tochter und ihren Schwiegereltern teleportierte Winter in den Hochwald an Doriens Grab wie sie es ihnen bei ihrem letzten Treffen versprochen hatte. Seine Mutter hatte Lilien mitgebracht, die sie über dem kleinen Hügelgrab verstreute und sein Vater kniete im stillen Gebet am Fuß des Grabes.
Winter war fast ein wenig erstaunt, als sie feststellte, dass ihr Schmerz an diesem Ort unvermindert war. Und erleichtert. So vieles hatte sich verändert, dass alles, was sie an ihr früheres Leben band, ihr kostbar erschien.
Plötzlich spürte sie Scarlets Hand, die nach ihrer tastete. Schüchtern und ein wenig reumütig sah sie mit Doriens Augen zu ihr auf. Winter ergriff ihre Hand. Dann lächelte sie, während ihr stille Tränen über das Gesicht rannen.