• Drucken

Autor Thema: Stadt der gläsernen Gesänge  (Gelesen 72475 mal)

Beschreibung:

0 Mitglieder und 3 Gäste betrachten dieses Thema.

Nightmoon

  • Mitglied
    • Schicksalsstreiter
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #120 am: 23. Juni 2010, 10:00:36 »
Yes! Und jetzt gehts wieder richtig rund...
Hach ist das immer schön in der eigenen Geschichte zu nostalgieren  :D

Winter

  • Mitglied
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #121 am: 24. Juni 2010, 22:09:22 »
Ich bin ganz entzückt :-) Ja, jetzt gehts richtig rund! Die kommenden Kapitel werden ganz besonders turbulent...

Niobe

  • Mitglied
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #122 am: 27. Juni 2010, 03:46:23 »
Kapitel III: Der geflügelte Blitz

Winter
Später in Westtor.
Erschöpft ließen sich die Gefährten im Schatten der Marktstände auf einer Mauer nieder, um ihren dampfenden Füßen eine Rast zu gönnen. In der brütenden Sommerhitze war Westtor mit seinen sandigen Straßen und geschäftigen Kaufleuten der reinste Hexenkessel. Ihre Nachforschungen in der Stadt hatten die Gefährten nicht weit gebracht: Die Stadtbewohner waren keine große Hilfe gewesen. Die meisten hatten ihnen die Tür vor der Nase zugeschlagen, sobald sie den Namen „Urdo“ auch nur erwähnt hatten. Selbst die Priester der Morgenröte im Tempel des Lathander schienen sich mit dem abgefunden zu haben, was niemand hier auszusprechen wagte: dass Westtor längst in den Händen der Vampirgilde war, die die politischen Geschicke des Stadtstaats aus dem Verborgenen lenkte und die Regierung an der kurzen Leine hielt.
„Seht den Geflügelten Blitz in der Arena von Westtor!“, schallte es über den Marktplatz. Mit einer Trommel in der Hand und einer Werbetafel auf dem Rücken versuchte sich ein junger Marktschreier in all dem Trubel Gehör zu verschaffen. „Der Zitternde Daumen präsentiert: Kampf um Westtor. Heute zur Mittagsstunde in den Sandgruben.“
„Ist er gut?“, fragte Faust mit mäßigem Interesse und ruckte den Kopf in Richtung der Werbetafel. „Der Geflügelter Blitz?“
„Er ist der Beste!“, versicherte der Junge eifrig. „Sie stellen die Schlacht um Westtor nach. Er spielt den Engel, der an Soleilons Seite kämpfte. Und er ist wahnsinnig schnell!“
„Dann ist er wohl wirklich ein Engel?“ fragte Faust mit sanftem Spott.
„Naja, er hat Flügel!“, verteidigte der Junge seinen Helden. „Sie sehen ein wenig aus wie… wie Falkenflügel, aber warum sollte er kein Engel sein? Habt Ihr schon mal einen echten Engel gesehen?“
Winter horchte auf. Falkenflügel? Wahnsinnig schnell? Es mochte ein Zufall sein, doch die Beschreibung passte auf einen einstigen Widersacher ihrer alten Abenteuergruppe.
„Ist dein Engel vielleicht ein Avariel?“, fragte sie.
„Ein… was?“
„Ein geflügelter Elf.“
Der Junge überlegte.
„Nun, er hat spitze Ohren“, räumte er ein.
Elijas Avalior. Jetzt fiel ihr auch der Name wieder ein. Das Intrigenspiel des Klingensängers hatte eine machtgierige Avarielfürstin zu einem verheerenden Angriff auf die Stadt der Gläsernen Gesänge verleitet, der ohne das Eingreifen der Gefährten in einem Desaster geendet hätte. Elijas’ Absichten mochten ehrenhaft gewesen sein: Durch den Angriff waren die korrupten Machenschaften der Regierung aufgeflogen und die Ungeflügelten hatten sich aus ihrer Jahrhunderte währenden Knechtschaft befreit. Doch das änderte nichts daran, dass er den Tod duzender Unschuldiger in Kauf genommen hatte, um sein Ziel zu erreichen. Für seine Verbrechen war er aus der elfischen Gemeinschaft von Faerûn ausgestoßen worden. Aber es war nicht diese Erinnerung, die Winter im Sinn hatte, als sie sich nun an den jungen Marktschreier wandte.
„Wo finde ich diesen ‚Geflügelten Blitz’?“
„Die Gladiatoren werden in den Sandgruben des ‚Zitternden Daumen’ im Arenenviertel ausgebildet“, sagte der Junge. „Aber im Moment ist keine Besuchszeit. Ihr müsst bis nach dem Kampf warten, um…“
Doch Winter war bereits davongeeilt.
„Kannst du mir erklären, was das werden soll?“, knurrte Grimwardt, der wie Faust und Miu Mühe hatte, mit ihr Schritt zu halten.
„Erinnerst du dich an unsere erste Begegnung mit Vampirdrake?“, fragte sie.
„Ja, gestern auf dem…“ Dann stockte er. „Du meinst den Einbruch bei den Wands?“
„Als er uns den Stein aus der Avarielstadt stahl, ganz recht“, bestätigte Winter.
Es war etwa zweieinhalb Monate her. Damals hatte ein Klon, den sie für Drake gehalten hatten, den magischen Steinsplitter entwendet, den Winter bei der Plünderung von Elijas’ persönlichem Hab und Gut gefunden hatte. Der Verlust war ihr als nicht weiter tragisch erschienen. Die einzige Fähigkeit des Steins schien es zu sein, seinem Träger den Grad an Verderbtheit seiner eigenen Seele aufzuzeigen. Nicht gerade die nützlichste Erfindung. Doch in Verbindung mit dem Geheimnis um die seelenlosen Geburten mochte der Stein eine weitaus größere Bedeutung haben, als sie damals hätten ahnen können. Und wer könnte mehr darüber wissen, als der vormalige Besitzer des Steins?
Vom Wächter am Tor der Gladiatorenschule erfuhren die Gefährten, dass die Sandgruben nicht nur Sklaven beherbergten. Der Politik der Arenenbetreiber, die jedem Gladiator, der die Sandgruben ein Jahr lang überlebte, die Freiheit versprachen, war es zu verdanken, dass es auch viele Gemeine in die Arena zog. Der Ruhm hatte schon so manchen Tagelöhner zum Stadthelden gemacht und die meisten der „Wiedergekehrten“ waren inzwischen erfolgreiche Söldner. Der Geflügelte Blitz jedoch war ein Gefangener, den ein Ausbilder einem Tayanischen Sklavenhändler abgekauft hatte. Winter bezweifelte, dass der „Stolz der Arena“ wie die anderen darauf hoffen durfte, in die Freiheit entlassen zu werden.
Während die anderen dem Wächter Karten für das Kampfspektakel abkauften, schlich sich die Zaubermeisterin, mit einem Unsichtbarkeitszauber getarnt, durch das Tor. Die Sandgruben befanden sich hinter dem Hauptgebäude der Gladiatorenschule: In zwei Duzend Bodengruben, die mit stählernen Gitterluken abgedeckt waren, harrten Kreaturen verschiedenster Rassen ihrem Einsatz in der Arena. Die gleißende Mittagssonne drang gnadenlos bis in den letzten Winkel der Zellen und lieferte die Gefangenen den Blicken der Aufseher aus, die das Gelände von vier Wachtürmen überblickten. Immerhin schien es kein magisches Warnsystem zu geben: Unter ihrem Zauber blieb Winter unentdeckt. Nicht einmal als sie mit Hilfe eines Flugzaubers in die Höhe schwebte, um sich einen Überblick zu verschaffen, schlugen die Wachen Alarm.
Aus der Vogelperspektive war es ein Leichtes, den geflügelten Elfen in einer der Sandgruben ausfindig zu machen. Zusammengesunken kauerte der Avariel im schattigsten Winkel seiner Zelle, das Gesicht mit dem Ellbogen abgeschirmt und die Flügel eingeknickt: Die einst kupfer-weißen Schwingen waren an den Ellen angebrochen und mit Staub bedeckt. Der Bruch wirkte gewollt.
Ein Vogel im Käfig, dachte Winter.  
„Elijas?“, flüsterte sie.
Er regte sich kurz, sah jedoch nicht auf.
„Ich bin es, Winter.“ Sie kauerte sich unsichtbar an den Rand des Käfiggitters. „Winter Fedaykin.“
„Wer?“ Es klang tonlos und schal.  
„Wir haben uns in Immerschwinge kennen gelernt…“
Kennen gelernt war nicht unbedingt der passende Ausdruck. Sie hatte ihn geplündert und dafür gesorgt, dass man ihn aus der Stadt verstieß.
Er lachte auf - kurz und bitter. Offenbar erinnerte er sich.
„Und was wollt Ihr von mir, Winter Fedaykin?“, fragte er düster. „Euch an meinem Unglück ergötzen? Nun… genießt es!“
„Nein, ich…“ Sie biss sich auf die Lippen. Wieso kam sie sich so schäbig vor, hier bei ihm aufzutauchen und ihn um einen Gefallen zu bitten? Er hatte ihr Mitleid nicht verdient. Es war nur gerecht, dass er litt. „Ich brauche Informationen zu einem magischen Stein – ein Splitter eines Edelsteins, der…ähm… der einmal Euch gehört hat.“
Stille.
„Ihr meint den Seelensplitter?“
„Ich denke schon…“ Sie stocke. Nein, das hat niemand verdient. „Elijas, ich kann Euch helfen.“
„Das könnt Ihr nicht.“
„Doch, ich kann…“
„Verschwindet!“ Mit jäher Feindseligkeit hob er den Kopf. Winter erschrak, als der Blick seiner grün-goldenen Augen sie traf – dunkel und leer und von tiefen, blessurartigen Ringen umschattet. Von dem stolzen, verschlossenen Elfenfürsten war nicht viel mehr als ein Schatten geblieben, das Gesicht aschfahl und eingefallen; die Gesichtsmuskeln angespannt als falle es ihm schwer, sie unter Kontrolle zu halten. Erst jetzt bemerkte sie, dass er trotz der Hitze zitterte.
Die Gefangenschaft bringt ihn um, erkannte Winter betroffen. Der Sandkäfig hatte ihm seinen Lebenswillen geraubt. Doch da war noch etwas. Etwas, das ihn auffraß.
„Versprecht mir, dass Ihr verschwindet, wenn ich rede, und ich sage Euch alles, was ich über den Stein weiß.“
Winter zögerte.
„Also gut“, sagte sie und war froh, dass er ihre Augen nicht sehen konnte.
„Der magische Stein, den Ihr gestohlen habt, war ein Familienerbstück“, erklärte der Avariel. „Mein Vater nannte ihn den ‚Seelensplitter’ oder einfach nur ‚den Schlüssel’ und lehrte mich, dass der Stein die Stadt der Gläsernen Gesänge niemals verlassen dürfe, weil er sonst großes Leid über Faerûn bringen könne. Weshalb, das erfuhr ich nie. Er behauptete, der Stein werde mir seine Aufgabe offenbaren, wenn meine Seele dazu bereit sei. Doch das ist nie geschehen.“
So etwas in der Art hatte Winter befürchtet.
„Er wurde gestohlen“, gestand sie leise.
Für einen Augenblick meinte sie so etwas wie Betroffenheit in Elijas’ Augen zu lesen. Dann waren sie wieder kalt und leer.
„Ihr hättet ihn niemals an Euch nehmen dürfen.“
„Ihr könntet uns helfen, den Splitter wieder zu finden.“
„Das ist nicht mehr mein Problem; Ihr habt ihn gestohlen.“
„Aber es wäre uns eine große Hilfe, wenn Ihr…“
Er schnitt ihr das Wort ab: „Ihr habt gesagt, Ihr verschwindet, wenn ich rede!“
„Da… habe ich wohl gelogen“, gestand sie. „Elijas, ich will doch nur…“
„Wachen!“
In einer einzigen blitzschnellen Bewegung katapultierte sich Elijas aus der Hocke in den Sprung. Winters beschwichtigende Worte halfen nichts: Mit Händen und Füßen klammerte er sich an das Gitterdach seiner Zelle und begann wie ein eingesperrtes Tier an den Stäben zu rütteln. Aufgeregte Stimmen wurden laut und einen Augenblick später wurde die Tür des nächstgelegenen Wehrturms aufgerissen und zwei Wächter stürmten mit Knüppeln bewaffnet heraus, um den Gefangenen unter Kontrolle zu bringen.
Winter erkannte, dass sie nichts mehr für ihn tun konnte.
Aber du kennst mich schlecht, wenn du denkst, dass du mich so einfach loswirst.

Faust
Wenig später in der Arena von Westtor.
„Vampirblut“, erklärte Grimwardt, während er halbherzig das Geschehen in der Arena verfolgte. „Auf Sterbliche wirkt es wie eine Droge. Es verbessert die Reflexe und schärft die Wahrnehmung, doch über kurz oder lang tötet es den Süchtigen und lässt ihn als Vampir wiederauferstehen. Die roten Augen, die Lichtempfindlichkeit – alles Symptome einer Blutsucht.“
„Wir sollten ihm helfen“, sagte Winter bedrückt. „Könntest du ihn nicht in der Abtei behandeln?“
„Warum sollte ich?“, schnaubte Grimwardt. „Hast du vergessen, was er getan hat? Die Unschuldigen, die er auf dem Gewissen hat? Unter den Toten waren Kinder! Sein Volk hat ihn nicht ohne Grund verstoßen.“
„Sollen wir etwa zulassen, dass er zum Vampir wird?“
„Das lässt sich verhindern“, brummte Grimwardt und deutete auf seine Axt.
„Grim!“
„Warum bist du so versessen darauf, dem Kerl zu helfen?“
„Weil…“ Winter biss sich auf die Lippen, wie sie es immer tat, wenn ihr die Argumente ausgingen, und senkte irritiert den Kopf.
„Manche Leute haben keine zweite Chance verdient“, erklärte Grimwardt eisern.
„Jeder hat eine zweite Chance verdient“, widersprach Faust und betrachtete den Priester Stirn runzelnd von der Seite. Er hatte den Geschwistern nie erzählt, was er in Myth Drannor über sich selbst erfahren hatte. Was würde Grimwardt tun, wenn er es irgendwann erfuhr? Würde es etwas zwischen ihnen ändern? Wo zog der Priester seine Grenze? Was den Avariel anging, so konnte Faust sein Urteil nur aufgrund dessen  fällen, was er von den Geschwistern erfahren hatte. Doch er musste sich eingestehen, dass ihm die Zweck-heiligt-die-Mittel-Philosophie des Elfen bis zu einem gewissen Grad imponierte.
„Miu!“
Abrupt beendete Winters Aufschrei den kleinen Disput. Faust erstarrte. Was war mit Miu geschehen? Woher kam all das Blut, das ihr aus Augen und Ohren trat? Bestürzt bemerkte er die tiefen Einschnitte, die sich über ihren gesamten Körper zogen.
„Miu, was hast du getan?!“
Die Karaturianerin sah ihn mit leidenden Augen an und deutete mit dem Kopf in Richtung der Arena. Während ihrer kurzen Auseinandersetzung hatten die Gefährten kaum auf das Kampfgeschehen geachtet. In der Arena wurde die Belagerung Westtors durch die Truppen des Soleilon nachgestellt. Sir Gen Soleilon, der Paladin des Lathander, hatte nach seinem Sieg über den roten Drachen Ashardalon eine Armee um sich gesammelt und war gegen den Vampirkönig Orlak I. in die Schlacht gezogen. Nach seinem Sieg über den Nachtkönig war er zum König von Westtor gekrönt worden. Die Vampire waren natürlich nur geschminkte Gladiatoren und die glorreichen Streiter des Lathander wussten kaum, wie man mit einem Schwert umging. Umso erstaunlicher war es, dass es auf beiden Seiten bisher kaum Tote gegeben hatte. Und Faust fiel dafür nur eine Erklärung ein: Miu! Die friedliebende Karaturianerin hatte nicht mit ansehen können, wie die Kämpfer in der Arena zur Belustigung der Menge ihr Leben ließen. Wahrscheinlich hatte sie wieder einmal irgendeinen märtyrerischen Zauber gewirkt, der sie alle Wunden auf sich nehmen ließ.
„Miu, du verdammte Irre“, stöhnte Faust. „Du kannst nicht die ganze Welt retten!“
Sieh mich nicht so an!
„Oh, fahr zur Hölle!“, fluchte der Kämpfer, während er, halb wider sich selbst, seinen Knüppel packte und sich, immer zwei Sitzreihen auf einmal nehmend, einen Weg durch den Zuschauerraum bahnte. Bis die Arenenwächter merkten, was los war, war er bereits über die Bande gesprungen und hatte den nächststehenden Kämpfer nieder geprügelt. Die Fellumkleidung seiner Keule federte die Wucht seiner Schläge, als er wie ein Orkan durch die Reihen der Gladiatoren fegte. Die Männer würden von dem Ansturm allenfalls ein paar blaue Flecken und einem brummenden Schädel zurückbehalten. Sicher nicht die Art von Rettungsaktion, die Miu im Sinn gehabt hatte - aber sie hatte nun wirklich kein Recht sich zu beschweren! Wie oft sollte er noch für sie den Trottel spielen, bis ihre Weichherzigkeit sie eines Tages umbrachte? Den Turnierkommentator brachte das Auftauchen des rasenden Irren, der entschlossen schien, mit beiden Seiten gleichermaßen abzurechnen, sichtlich in Erklärungsnot. Doch die Menge jubelte – und wen kümmerte historische Genauigkeit, wenn das Volk zufrieden war?
Es dauerte nicht lange, bis auch der letzte Mann am Boden lag. Was nun? Die Wächter, die ihn eben noch aus der Arena hatten zerren wollen, wirkten nun entschlossen, ihn um jeden Preis am Gehen zu hindern. Ein so erfahrener Kämpfer war ein seltener Gast in der Arena von Westtor… und ein würdiger Gegner für den „Geflügelten Blitz“. Unter lautem Jubel wurde das Gittertor geöffnet, das die Arena von den Sandgruben trennte, und Elijas Avalior trat aus dem Schatten. Trotz der gebrochenen Flügel war der Avariel eine eindrucksvolle Erscheinung – würdevoll und vollkommen ruhig. Doch Faust wusste genug über Aufputschmittel, um zu erkennen, dass seine Gelassenheit der benebelnden Wirkung des Vampirbluts zuzuschreiben war. Wahrscheinlich verabreichte jemand ihm die Droge stets kurz vor dem Kampf, um ihn in der Arena unter Kontrolle zu halten.  
Der Kommentator gab das Startsignal. Faust gewahrte noch, wie Elijas einen Hast-Zauber auf sich wirkte, dann streifte ihn kaltes Metal. Bevor er auch nur zu erfassen vermochte, wohin sein Angreifer so plötzlich verschwunden war, traf ihn eine magische Kugel aus purer Energie in den Magen und schleuderte ihn eine Mannslänge durch die Arena. Was zur Hölle…? Faust spuckte Sand. Alles klar: Dem Klingensänger schien daran gelegen zu sein, es schnell hinter sich zu bringen. Und „schnell“ bekam hier eine ganz neue Bedeutung. Faust hatte es schon mit vielen wendigen Gegnern zu tun gehabt, aber Elijas’ Kombination aus magischer Beschleunigung und kämpferischer Präzision übertraf selbst den rasanten Schwertertanz eines Drizzt Do’Urden. Für einen Augenblick bedauerte Faust, dass er nur seinen Knüppel zur Hand hatte – mit seinem Henkersschwert hätte er sich in diesem Kampf deutlich wohler gefühlt. Dann wirbelte er herum und antwortete mit einem Sturmangriff, der den überraschten Elfen gegen die Bande schleuderte. Es regnete Federn und für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich die Blicke der beiden Kontrahenten.  
Er will sterben, erkannte Faust.
Er wusste, dass die elfische Philosophie der Seldarine den Freitod als Verbrechen wider das Leben betrachtete. Wahrscheinlich hatte der Avariel seit langem auf einen Gegner gewartet, der ihm die Stirn bieten konnte, um sein Leben zu beenden ohne seinem Glauben zuwider zu handeln. Selbst wenn Faust ihn mit dem Knüppel nur bewusstlos schlagen konnte, so würde der Kodex der Arena seinen Tod verlangen. Und darauf hoffte er. Die Erkenntnis verpasste Fausts Kampfgeist einen schweren Dämpfer. Er brauchte das Feuer, die Leidenschaft, den Siegeswillen … Welchen Reiz hatte ein Kampf, den sein Gegner zu verlieren hoffte? Nicht, dass Elijas es ihm leicht gemacht hätte! Sein rasanter Klingentanz ließ Faust kaum Raum für Gegenangriffe, doch die überrumpelnde Wucht des ersten Angriffs blieb aus. Sicher, der Avariel war geschwächt: Fausts erster Angriff hatte ihm schwer zugesetzt und die gebrochenen Flügel taten das Übrige den Kampf zu erschweren. Ein einziger sicherer Schlag und er wäre erledigt! Doch es gab keinen sicheren Schlag gegen einen Gegner, der sich schneller bewegte als die verdammte Zeit!
Ich fürchte, ich muss dich enttäuschen, dachte Faust bitter. Immerhin hatten seine Gefährten den Klingentänzer zu fünft kaum besiegen können. Elijas schien zu demselben Schluss zu kommen. Beinahe verzweifelt wirkte sein nächster Schlag… und die Arena begann sich um Faust zu drehen.
Als er wieder zu sich kam, hielt der Avariel ihm das Schwert an die Kehle. Sein Blick aus leeren Augen war auf eine Tribüne im Zuschauerraum gerichtet, wo sich Lady Thistle Thalavar, die Herrscherin von Westtor, von ihrem Platz erhob, um die Entscheidung über Leben und Tod zu verkünden, die das Publikum gefällt hatte. Sie schien nicht besonders glücklich über diese Rolle.
Ihr Daumen zeigte nach unten.
Oh, scheiße, dachte Faust.

Winter
Kurz darauf in der Nähe des Sune-Tempels im südlichen Hochwald.
Faust regte sich, als der Heiltrank zu wirken begann, und blinzelte orientierungslos ins Licht.  
„Wo…bin ich? Scheiße, bin ich tot?“
„Nein. Du bist ohnmächtig geworden, bevor ich Elijas niederschlagen konnte“, sagte Winter. „Ich habe uns aus der Arena teleportiert.“
„Oh… danke.“ Faust setzte sich auf.
„Kannst du mir mal helfen?“
Ächzend wälzte Winter den bewusstlosen Avariel auf die Seite. Ihre magischen Bolzen hatten eine hässliche Platzwunde in seine Schläfe gerissen. Faust kniete sich zu ihr und untersuchte die Wunde.
„Du hast ihm eine ordentliche Kopfnuss verpasst, aber das wird ihn nicht umbringen“, sagte er. „Wo sind Miu und Grimwardt?“
„Miu wäre fast an ihren Wunden verblutet. Grim hat sie aus dem Theater geschafft.“
„Und was nun?“ Faust wies auf Elijas. „Was machen wir mit ihm?“
„Wir bringen ihn in den Tempel.“
„Welchen Tempel?“
„Komm mit.“
Faust schulterte den Bewusstlosen und Winter führte ihn durch das Unterholz. Ein Gefühl der Beklommenheit überkam sie, als sie die Terracotta-Säulen des Sune-Tempels durch das Geäst schillern sah. Sie war nicht mehr hier gewesen, seit… seit jenem Tag. Ein Pulk junger Frauen und schöner Jünglinge in Jagdgewändern kam ihnen aus den Torbögen entgegen geeilt. Ihr unbeschwertes Lachen wich aufgeregtem Getuschel, als sie die Fremden erblickten. Das herzerweichende Bild des verwundeten Kriegers, der einen bewusstlosen „Engel“ im Arm trug, entlockte den Sune-Anhängern rührselige Seufzer. Eine junge Nymphe überwand als erste ihre Scheu und trat auf Faust zu. Schüchtern streckte sie ihre Hand aus und ließ sie sanft über Elijas’ Federkleid gleiten. Dann blickte sie mit großen, samtenen Augen zu Faust auf und zog ihn mit sich in den Tempel.
„Ähm“, machte Winter und hielt ihn am Arm zurück. „Ich muss mit Lady Amalia sprechen. Wir haben nicht viel Zeit. Wir müssen zurück nach Westtor, um einen Schlachtplan aufzustellen, ehe der Maskenball beginnt.“
„Schlachtplan...“, murmelte der Krieger mit einem entrückten Lächeln ohne die Blicke von den perfekten Rundungen der Nymphe zu lassen.
„Aber Euer Freund ist verletzt, mein Herr“, sagte sie arglos. „Und auch Ihr seid verwundet.“
„Ja, das bin ich“, hauchte Faust wie mit seinem letzen Atemzug.
Oh, bitte!
Winter verdrehte die Augen. Kopfschüttelnd sah sie zu, wie sich Faust von einem Duzend parfümierter Hände in ein luftiges Atrium und auf ein Kissenlager ziehen ließ. Dann fing sie eine der Novizinnen ab, die mit Ölen und Salben anrückten, um die beiden Verwundeten zu verwöhnen, und ließ sich zu Lady Amalia führen. Sie fand die Vorsteherin des Tempels im Gebetsraum, wo sie den Altar mit frischen Blumengestecken dekorierte.
„Winter.“ Ein schwermütiges Lächeln huschte über das Gesicht der Priesterin.
Winter musste sich beherrschen, um nicht laut mit den Zähnen zu knirschen. Sie würde Lady Amalia niemals vergeben können, was sie getan hatte.
„Wir brauchen Eure Hilfe“, sagte sie steif. „Es geht um einen Blutsüchtigen…“
Bevor sie ihr Anliegen vortragen konnte, drangen wütende Stimmen aus dem Atrium und eine Novizin kam herbeigeeilt, um Lady Amalia etwas ins Ohr zu flüstern.
„Entschuldigt mich.“
Winter folgte der Priesterin in die Säulenhalle: Das Liebesnest schien sich in wenigen Minuten in ein Tollhaus verwandelt zu haben. Faust stand aufgebracht in der Mitte des Saals und stritt mit einer hübschen Mondelfe, die mit zornigen Gesten ihre Kameradinnen aus der Nähe des bewusstlosen Avariel verscheuchte. Dazu riefen alle durcheinander und ergriffen Partei für die eine oder andere Seite.
„Nevé!“, rief Lady Amalia die Novizin zur Ordnung. „Was ist hier los?“
Sofort kehrte Stille ein.
„Der Avariel ist ein dhaerow“, sagte die Elfe starrsinnig. „Er trägt das Mal des Ausgestoßenen. Ich sagte dem Krieger, er soll ihn von hier fortschaffen!“
„Was soll der Mist?“, knurrte Faust. „Das hier ist kein elfischer Tempel.“
„Das Haus der Liebe ist freundschaftlich mit dem Immergold-Tempel verbunden, der Hanali Cenalil aus dem Pantheon der Seldarine geweiht ist“, belehrte ihn die Novizin. „Würdet Ihr dem Feind Eures Freundes Einlass in Euer Haus gewähren?“
„Das reicht.“ Lady Amalia hob beschwichtigend die Hände. „Verlasst den Raum. Ich will allein mit unseren Gästen reden… Geht. Auch du, Nevé.“
Widerstrebend gehorchte die Elfe dem Befehl ihrer Herrin.
„Es tut mir leid“, sagte Lady Amalia seufzend, nachdem die anderen gegangen waren. „Und ich entschuldige mich für Nevés Benehmen. Aber sie hat Recht. Ich kann Euren Freund nicht behandeln ohne die elfische Glaubensgemeinschaft des Hochwalds gegen uns aufzubringen.“
„Wegen eines unsichtbaren Mals?“
„Die Elfen bestrafen nur die schlimmsten Verbrechen mit dem Mal des dhaerow“, erklärte die Priesterin.
Faust murmelte schnaubend etwas von „Oberflächliches Pack“ und verließ mit Elijas in den Armen den Tempel. Lady Amalia sah ihnen bekümmert nach.
„Wenn ich sonst etwas für Euch tun kann…“
„Nein“, sagte Winter frostig und folgte Faust in den Wald. Nicht weit vom Tempel lehnten sie Elijas gegen einen Baum und ließen sich ratlos ins Moos sinken.
„Und was nun?“, fragte Faust.
Winter schüttelte mutlos den Kopf.
„Ich muss nachdenken“, sagte sie.
Ziellos machte sie einige Schritte ins Unterholz. Sie wollte allein sein. Sie war den Tränen nahe und ihre eigene Empfindsamkeit befremdete sie. Warum lag ihr so viel daran, diesen Avariel zu retten? Hatte er ihr nicht deutlich genug gezeigt, dass ihm nicht an ihrer Hilfe gelegen war?
Abrupt blieb sie stehen, als sie erkannte, wohin ihre Schritte sie gelenkt hatten.
Doriens Grab.
Er ist wie ich.
Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag: Es war nicht Elijas, den sie zu schützen versuchte, sondern sich selbst! In dem Moment, als sie ihn in der Grube gesehen und ihm in die Augen geblickt hatte, hatte sie etwas von sich selbst in ihm erkannt. Seine Welt war zusammengebrochen so wie die ihre dabei war, auseinander zu fallen, und es hatte seinen Lebenswillen zerstört. Würde sie enden wie er? Die Leere, die Doriens Tod in ihr hinterlassen hatte, die Furcht Scarlet zu verlieren und schließlich die Hilflosigkeit, die sie beim Wegfall der Magie empfunden hatte, nagten wie dunkle Schatten an ihrer Seele. Was würde von ihr übrig bleiben, wenn sich all das in Staub auflöste, woran sie hing und was ihr wichtig war?
Betäubt ließ sie sich vor Doriens Grab zu Boden sinken.
„Hilf mir“, flüsterte sie. „Sag mir, was ich tun soll.“

Faust
Wenig später.
Sie hatten Elijas mit einem Fluch belegt, der ihm beim Anblick von Vampirblut Brechreiz verursachen sollte. Ob das einen Süchtigen abhalten würde, war fraglich. Winter und Faust waren sich darüber im Klaren, dass er nur überleben würde, wenn er den Willen dazu fand.
„Er braucht ein Ziel“, hatte Winter gesagt, als sie zurückgekommen war. Sie hatte Faust nicht sagen wollen, wo sie gewesen war, doch was auch immer sie im Wald getan hatte, es hatte sie verändert. Sie wirkte entspannter als zuvor.
Faust kniete sich nieder und flößte Elijas einen Heiltrank ein. Der Avariel kam zu sich. Er blinzelte irritiert, als er in Faust seinen Kampfgegner erkannte. Doch dann erblickte er Winter und begriff.
„Aufgeben ist wohl keine Eurer Stärken“, murmelte er ergeben.  
„Nein.“
Er schloss die Augen und lachte mutlos auf.
„Ihr hättet mich sterben lassen sollen“, flüsterte er. „Schon damals, in Immerschwinge. Für mich gibt es keine Alternative. Doch das könnt ihr nicht verstehen.“
„Schon klar“, spottete Faust. „Weil wir Menschen sind, was verstehen wir schon?“ Elfischer Überlegenheitsmythos – ein weit verbreitetes Übel.
„Nein. Weil Veränderung Teil eurer menschlichen Natur ist.“
Faust runzelte die Stirn. Er hatte den Avariel falsch eingeschätzt: Er verachtete die Menschen nicht, er beneidete sie…
„Ihr könnt Euer Schicksal ändern“, sagte er. „Auch ich habe einst einen Fehler begangen, den ich glaubte, nie wieder gut machen zu können.“
„Ich habe nicht einfach einen ‚Fehler begangen’“, sagte Elijas düster. „Was ich tat, tat ich aus Überzeugung. Wenn ich falsch lag, warum haben die Seldarine mich nicht mit den anderen in den Tod geschickt? Warum… das hier?“
„Vielleicht haben sie uns geschickt, damit Ihr Euren Weg wieder findet.“
Elijas schüttelte sacht den Kopf, doch Fausts Worte schienen ihn nachdenklich gemacht zu haben. Der Kämpfer schwieg, um seine Worte nachwirken zu lassen.
„Was meintet Ihr eben, als ihr von Euren Fehlern spracht?“, fragte der Avariel schließlich.
Faust zögerte.
„Winter, würdest du vielleicht…?“
Nicht vor ihr.
„Bin schon weg.“
Nachdem Winter im Gebüsch verschwunden war, begann Faust zu erzählen. Er erzählte von den Jahren in Rabenklippe, die er als Mitglied der Neun Schwerter verbracht hatte. Von dem Streit um seinen Vater, der zu dem Kampf mit seinem Meister und dessen Tod geführt hatte. Von seiner Flucht aus Rabenklippe und der Zeit der Buße in der Welt hinter den Nebeln. Von seiner Rückkehr nach Toril und der Rebellion des Nagamura in Kara-Tur. Zu seinem Erstaunen fiel es ihm nicht schwer sich vor Elijas zu öffnen. Vielleicht weil die Ehre des Avariel mindestens so angeschlagen war wie die seine. Und es tat gut diese Dinge auszusprechen. Worte brachten alles in einen Zusammenhang, gaben dem vermeintlichen Chaos einen Sinn…
Als er schließlich aufsah, war er erstaunt, wie spät es bereits war.
„Was werdet Ihr tun?“, wandte er sich an Elijas, der ihm mit gleichmütiger Miene zugehört hatte. Unmöglich zu sagen, was er dachte.
Der Elf zögerte.
„Ich weiß nicht…Vielleicht werde ich nach Rabenklippe gehen und mich den Neun Schwertern vorstellen. Was Ihr über sie erzählt, hat mich neugierig gemacht.“
Faust hob überrascht den Kopf.  
„Oh.“
Nicht gerade die Reaktion, die er erhofft hatte. Sicher, auf eine gewisse Art und Weise hatte er genau das erreicht, was er wollte: Elijas schien nicht mehr darauf zu warten, dass ihm irgendwer ein Schwert in die Brust stieß. Fürs erste hatte er sogar ein Ziel vor Augen, etwas, aus dem er neuen Lebensmut schöpfen konnte. Wenn er ehrlich war, war die Abenteurerstadt Rabenklippe sogar der ideale Ort für einen gefallenen Avariel. Niemand würde ihn dort nach seiner Vergangenheit fragen. Und die Neun Schwerter wären ihm gegenüber vermutlich auch nicht abgeneigt: Sein Klingensänger-Stil war der karaturianischen Kampfkunst des Ordens nicht unähnlich und bei seiner kämpferischen Erfahrung wäre es Elijas vermutlich ein Leichtes, den Stil der Neun zu imitieren. Aber mussten seine Zukunftspläne unbedingt Fausts Vergangenheit beinhalten?
„Keine Angst“, sagte Elijas, der Fausts Zweifel zu erraten schien. „Falls sie noch immer nach euch suchen, werde ich niemandem verraten, wo ihr seid. Ihr habt mein Wort.“
Das Geräusch eines abgebrochenen Zweigs ließ die beiden aufhorchen. Winter trat aus dem Gehölz.
„Wir müssen zurück“, wandte sie sich an Faust. „Grim fragt sich sicher bereits, wo wir bleiben.“
Elijas, der ihre Worte als Signal zum Abschied deutete, richtete sich auf und bewegte vorsichtig die Flügel, die die Sune-Anhänger mit ihren heilenden Salben bestrichen hatten.
„Ich stehe in Eurer Schuld“, sagte er an die beiden Freunde gewandt. „Vielleicht… erhalte ich irgendwann einmal die Gelegenheit, Euch den Gefallen zurückzuzahlen.“  
Die beiden sahen ihm nach, als er die Schwingen ausbreitete und davonflog und Faust schien es als hätten sie beide den gleichen Gedanken: Vielleicht hast du das schon.


« Letzte Änderung: 27. Juni 2010, 03:56:49 von Niobe »

Winter

  • Mitglied
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #123 am: 27. Juni 2010, 10:32:34 »
Ohhhh...wie wunderwunderschön!

Nightmoon

  • Mitglied
    • Schicksalsstreiter
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #124 am: 27. Juni 2010, 13:05:37 »
Oh ja! Die inneren Konflikte der Charaktere wiederzugeben ist echt eine Stärke von dir! Aber war auch ne coole kleine Abweichung des Abenteuers  :thumbup:

Nightmoon

  • Mitglied
    • Schicksalsstreiter
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #125 am: 14. Juli 2010, 20:55:10 »
Und? Ist schon ein neues STückchen auf dem Weg?  :)

Niobe

  • Mitglied
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #126 am: 14. Juli 2010, 22:10:06 »
Auf den Weg schon, aber mit der Ankunft könnte es noch ein wenig dauern...

Nightmoon

  • Mitglied
    • Schicksalsstreiter
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #127 am: 14. Juli 2010, 23:20:29 »
Ja, jetzt wo LOST für immer vorbei ist, bleibt mir ja nur noch diese Serie ;)

Winter

  • Mitglied
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #128 am: 16. Juli 2010, 23:08:15 »
Ich sitze auch schon wie auf heißen Kohlen.
Freu mich schon auf unsere RPG-Woche!!!

Niobe

  • Mitglied
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #129 am: 18. Juli 2010, 17:37:12 »
Kapitel IV: Herrin der Träume

Winter
Am Abend im Stadtpalais der Familie Urdo.
Ein als Harlekin Maskierter öffnete den Gefährten die Tür, prüfte ihre Einladung, und bat sie mit dramatisch unheilvollen Gesten ins Haus. Zum Anlass des Abends hatten sich die Gefährten an Winters Verkleidungskiste gütlich getan – wenn es auch einiger Überredungskunst bedurft hatte, Miu balltauglich zu machen. Die genügsame Karaturianerin übertraf selbst Grimwardt in ihrem Mangel an Verständnis für derlei dekadenten Schnickschnack. Und sie hatte ein verstörendes Talent dafür, ihren „Peinigern“ mit Blicken Gewissensbisse einzubrennen: Nie hatte sich Winter bei dem Versuch, jemandem ein wenig Gesichtspuder aufzutragen, mehr wie ein Scharfrichter gefühlt.
Der Ballsaal war an den Wänden mit purpurnen Samtteppichen drapiert und ein paar silberne Kandelaber spendeten dämmriges Licht. Maskierte Ballgäste mit gepuderten Perücken und schwarzen Samtlarven standen in kleinen Grüppchen beisammen und erfüllten den Saal mit ihrem affektierten Gelächter, während Diener in schwarzen Livreen für das leibliche Wohl sorgten. Die Luft war erfüllt von einem einlullenden Duftcocktail aus Opium und Patchouli und von irgendwoher drangen die sanften, schwermütigen Klänge einer Harfe. Das Zwielicht und die Masken machten es unmöglich, zwischen Menschen und Blutsaugern zu unterscheiden, doch Winter hatte eine vage Vorstellung davon, was sich im Laufe der Nacht in den schattigen Fensteralkoven und heimlichen Sitznischen abspielen würde, wenn erst der Wein und die aphrodisierende Atmosphäre die Unvorsichtigen in die Arme ihrer Gastgeber trieben. Dennoch entfuhr der Diebesmeisterin ein sehnsüchtiger Seufzer, als sie all das lasterhafte Treiben um sich herum betrachtete. Wie lange war es her, seitdem sie selbst sich solch süßen Ausschweifungen hingegeben hatte? Wurde sie langsam zu alt für die leiblichen Freuden des Lebens? Verstohlen betrachtete sie sich in einem der mannshohen Wandspiegel: das wallende rote Haar, der schlanke Hals, die smaragdgrünen Augen… alles, wie es sein sollte. Aber waren nicht ihre Wangen ein wenig eingefallen? Hatten der Kummer und die Sorgen der letzten Monate diese dunklen Ringe unter ihre Augen gezeichnet? Und waren das etwa Krähenfüße, die sich dort in ihren Lidfalten abzeichneten? Winter erschauderte.
„Keine Zeit für Eitelkeiten“, raunzte Grimwardt und zog sie weiter. „Wir haben eine Verabredung.“
„Da sind ja unsere Ehrengäste“, ließ eine wohlbekannte Knabenstimme die Geschwister herumfahren.
Fausts Hand fuhr an den Knauf seines Schwerts und Winter hatte bereits einen Zauberspruch auf den Lippen, doch ihre Wachsamkeit verstärkte nur das süffisante Honigkuchen-Lächeln auf den Lippen des Kindvampirs. Müßig zupfte der sadistische kleine Lockenschopf ein paar Takte auf seiner Laute, um die Angespanntheit seiner Gäste auszukosten, ehe er sie mit sanfter Schlafwandlerstimme bat, ihnen zu folgen. Lauernd verfolgte Winter jeden Schritt des Knaben, während die Freunde ihm eine ausladende Treppe hinauf in den ersten Stock des Hauses folgten. Falls er sie in eine Falle zu locken versuchte, so waren sie bestens gerüstet: Die Ohrstöpsel waren nur der Anfang. Bevor sie hergekommen waren, hatten sie eine wahre Schutzzauber-Orgie veranstaltet. So eine Schlappe wie vor acht Jahren in der Purpurnen Lady würde ihnen kein zweites Mal passieren.
Der Vampir führte sie in einen Raum in orientalischem Stil mit allerlei Diwanen, exotischen Wandbehängen und leise klirrenden Windspielen. Dann schob er einen seidenen Vorhang beiseite und enthüllte drei Maskierte, die im Schneidersitz auf einem Kissenlager hockten: eine blasshäutige Adlige mit blasiertem Wimpernaufschlag und pompöser Barockperücke, ein aufgedunsener Kahlkopf in schweren Samtroben, der an jedem seiner fettigen Wurstfinger einen juwelbesetzten Ring trug, und ein Halbdrow, dessen blassrote Augen scharf hinter den Larvenschlitzen hervorstachen. Ein vierter Vampir in Knochenrüstung stand bewegungslos wie ein eherner Wächter im Hintergrund. Die Augen des Vampirknaben leuchteten auf, als er die Frau erblickte. Unterwürfig kniete er sich ihr zu Füßen.
„Candide.“ Gönnerhaft strich die Vampirin dem Jungen über die braunen Locken. „Da sind ja unsere Gäste. Sei doch so gut und bring uns etwas Wein und dann spiel uns etwas Schönes auf der Laute.“
Schweigend belauerten sich beide Parteien, während Candide davoneilte, um dem Wunsch seiner Herrin zu entsprechen. Doch die Gefährten hüteten sich, von dem Wein zu kosten, den der Knabe ihnen einschenkte. Die Vampirfürstin lachte affektiert, während der Rest des Gruselkabinetts keine Miene verzog.
„Keinen Durst?“, fragte sie spöttisch.
Winter bedachte den kleinen Seitenhieb mit einem düsteren Lächeln. Mit vergiftetem Wein hatte der Wirtshausbesitzer der Purpurnen Lady sie seinerzeit auszuschalten versucht. Sie hatten ihn vernichtet, waren jedoch am unterirdischen Labyrinth der Vampirkrypten gescheitert.
„Welch krude Zurückweisung unserer Gastfreundschaft“, stichelte die Vampirfürstin weiter. „Wo wir  doch im Gegensatz zu Eurem letzten Besuch denselben Feind bekämpfen, wie es mir scheinen will.“
„Und wer soll das sein?“
Die Vampirin zog erstaunt eine Augenbraue in die Höhe.
„Das wisst Ihr nicht?“ Sie führte forsch ihr Weinglas an die Lippen, dessen Inhalt zu zähflüssig für Rotwein war. „Dann seid Ihr nicht hier, um den Schöpfer der Albinoklone zu stellen? Dafür schient Ihr diesen liederlichen Geschöpfen aber ein lebhaftes Interesse entgegen zu bringen nach allem, was Candide mir berichtete. Und auch der Umstand, dass Euer erstes Auftauchen in der Stadt vor acht Jahren mit dem Erscheinen der ersten Klone zusammenfällt, will mir nicht wie ein Zufall erscheinen.“
Winter kniff die Augen zusammen.
„Und wer soll das sein, der Schöpfer der Klone?“
„Kein geringerer als Orlak III., Nachkönig von Westtor.“
Schon damals hatten die Gefährten vermutet, dass die Marilith, die Drake angegriffen hatte, um Komponenten für einen Klonzauber zu beschaffen, für den Vampirführer der Nachtmasken arbeitete. Aus diesem Grund waren sie überhaupt erst nach Westtor gekommen. Aber was hatte in der Zwischenzeit den vampirischen Adelsstand gegen den Nachtkönig aufgebracht?
„Und seit wann ist Orlak III. unser gemeinsamer Feind?“, sprach Grimwardt aus was sie alle dachten.
„Seit er aufgehört hat, sich an den Kodex zu halten“, erwiderte die Sprecherin des Blutsauger-Quartetts und ein unterschwelliges Knurren, das gar nicht zu ihrem damenhaften Auftreten passen wollte, begleitete ihre Worte. „Seit zweitausend Jahren beherrschen die Nachtmasken die Unterwelt von Westtor. Wir sind die Seele dieser Stadt, die wir seit jeher aus dem Verborgenen regiert haben. Seht euch um! Die Nacht ist unsere Gefährtin und Shar unsere Schutzpatronin. Es ist nicht unsere Bestimmung ans Licht zu streben so wie Orlak es tut. Er hat einen Zauber entwickelt, mit dem es uns möglich ist im Sonnenlicht zu wandeln. Kein Sterblicher sollte je unsere wahren Gesichter sehen, doch er zeigt sich ganz ungeniert in der Öffentlichkeit. An der Seite von Thistle Thalavar, diesem armseligen Geschöpf. Er plant sie zu ehelichen und mit ihr die Krone des Cormakh. Er, der das Bluterbe von Orlak I. in sich trägt, will dieses sterbliche Flittchen von niederem Stand zu seiner Frau machen! Sollen wir diesen Verrat an uns etwa dulden? Hah, vermutlich ist er nicht einmal einer von uns! Es gibt Gerüchte, wonach Orlak III. in Wahrheit von einem Klon des Schwarzmagiers Manschoon besiegt wurde, der die Treue mit den Zhentarim hält.“
„Aber wozu braucht er die Klone?“, fragte Faust.
Natürlich wussten die Gefährten die Antwort: Um den Drachen Ashardalon in der Bastion der ungeborenen Seelen zu besiegen. Doch wie gelangte man in die Bastion? Wo befand sie sich? Und was wollte der Unsterbliche dort? Wussten die Vampire die Antwort auf diese Fragen? Doch die Gefährten wurden enttäuscht.
„Orlak erschuf sich eine Armee“, meldete sich der Kahlkopf mit säuselnder Eunuchenstimme zu Wort. „Um die Kontrolle über die Gilde an sich zu reißen. Er hat die Körper der Bleichen mit der Essenz seines Geistes erfüllt, sodass sie ihm in allen Belangen ergeben sind.“ Er lehnte sich zurück, und kostete mit geschürften Lippen von seinem Blutwein. „Das ergaben jedenfalls die Auswertungen seiner magischen Experimente. Die ersten Klone tauchten vor acht Jahren auf. Seither ist ihre Zahl stetig angestiegen. Als Orlak verschwand, gingen sie mit ihm, kehrten jedoch kurz darauf zurück, um an seiner Statt die Geschicke der Gilde zu leiten.“
„Dieser Halunke“, begehrte der Halbdrow auf, der sich bis jetzt in düsteres Schweigen gehüllt hatte. „Uns hätte dieses Vorrecht gegolten! Sich einfach über Jahrtausende alte Traditionen hinweg zu setzen, wie kann er…“
Der Eunuch legte beschwichtigend seine Wurstfinger auf den Arm des jähzornigen Vampirfürsten und das animalische Zucken des Halbdrow hörte ebenso abrupt auf wie es aufgetreten war.
„Orlak ist verschwunden?“, fragte Faust.
„Oh ja“, säuselte Kahlkopf. „Seit fast drei Monaten ist er wie vom Erdboden verschluckt. Kein Aufspürungszauber vermag ihn zu orten.“
Winter fuhr ein eisiger Schreck durch die Glieder.
Er ist bereits in der Bastion!
Eilig rechnete sie zurück. Fast drei Monate. Zweieinhalb Monate war es her, seitdem der Klon ihnen den Seelensplitter gestohlen hatte. Elijas’ Vater hatte den Stein einen Schlüssel genannt. Der Schlüssel zur Bastion! Das war der Grund, weshalb der Splitter die Stadt der Gläsernen Gesänge nicht hätte verlassen dürfen! Der Mythal der Elfenstadt hatte die Ortung des Steins Jahrhunderte lang verhindert. Erst als er mit ihnen die Stadt verlassen hatte, war es Orlak gelungen, den Schlüssel ausfindig zu machen. Mit einer ganzen Armee von Soleilon-Erben war er in die Bastion marschiert und hatte den Drachen besiegt!
Winter spürte, wie ihre Hände feucht wurden. Es war ihre Schuld… wieder einmal! Es schien als habe das Schicksal sie in dieser Mission zum Scheitern verurteilt.
„Gibt es Anhaltspunkte?“, fragte sie. Vielleicht irrte sie sich. Vielleicht hatten der Diebstahl des Seelensplitters und das Verschwinden des Nachtkönigs gar nichts miteinander zu tun. Immerhin war die Welt noch nicht untergegangen…
„Ich habe sämtliche Aufzeichnungen des Nachtkönigs durchforstet“, erklärte der Eunuch und faltete selbstgefällig die Hände über dem schwammigen Bauch zusammen. „Es ist mir nicht völlig gelungen, seinen Code zu entschlüsseln, doch einige Worte schienen mir gehäuft darin aufzutreten. Immer wieder fand ich zum Beispiel den Hinweis auf einen Ort, den er den Seelenquell nannte. Auch die Traumebene erwähnte er hin und wieder. Dort erhoffte Orlak offenbar Näheres über jenen Seelenquell zu erfahren.“
Die Traumebene? Das war eine neue Information. Wahrscheinlich hatte der Vampirkönig so von dem Schlüssel erfahren. Vielleicht konnten sie dort Hinweise auf einen weiteren Zugang zur Bastion finden.
„Wie gelangt man auf die Traumebene?“, fragte Grimwardt.
„Für unsere Art ist dieser Ort unerreichbar“, erklärte der Eunuchenfürst. „Ihr Sterblichen dagegen betretet ihn jede Nacht im Schlaf. Doch im Schlaf seid ihr völlig dem Spiegel eurer Seelen ausgeliefert, den die Herrin der Träume euch vorhält. Sie ist die Herrscherin der Traumebene. Um sie zu treffen und von ihr zu erfahren, was sie in den Seelen der Sterblichen liest, müsst ihr bei Bewusstsein sein. Es gibt in den Vampirkrypten einen Zugang zur Traumebene – eine unserer Fallen, mit denen wir unsere sterblichen Besucher in die Irre führen. Ihr selbst habt bereits Bekanntschaft mit einer ähnlichen Falle gemacht, wie uns zu Ohren gekommen ist“, fügte er süffisant hinzu.
„Wenn die Traumebene für euch nicht erreichbar ist, wie ist Orlak dann dort hin gelangt?“ Winter hielt es für das Beste, die überhebliche Anspielung auf ihren unfreiwilligen Besuch auf der Schattenebene zu ignorieren.
Kahlkopf bedachte sie mit einem gönnerhaften Schmunzeln.  
„Unsere Macht über die Menschen dieser Stadt ist praktisch vollkommen“, erklärte er verächtlich. „Es dürfte dem Nachtkönig nicht schwer gefallen sein, einen willigen Informanten zu finden.“
„Wenn ihr jeden beliebigen Bürger zur Herrin der Träume schicken könnt, wozu braucht ihr uns dann?“
Der Eunuch lachte affektiert und nippte mit schlecht überspielter Nervosität an seinem Blutwein.
„Um den Nachtkönig zu töten.“
„… damit ihr, falls wir draufgehen, jede Beteiligung verleugnen könnt, verstehe“, knurrte Faust.
„Diese Unterredung hat nie stattgefunden“, betätigte der Fettwanst mit einem aalglatten Lächeln.
„Und worin genau besteht eure Beteiligung?“
„Wie wär’s mit: Wir lassen euch am Leben?“, zischte der Halbdrow und seine Eisaugen funkelten blutlüstern. Doch wieder beruhigte Kahlkopf ihn mit einem Händetätscheln.
„Wir zeigen euch den Zugang zur Traumebene und erklären uns bereit, die Verfolgung eures Piratenfreunds einzustellen. Ihr seht: Da wir euch ein Ziel vorgeben, das ihr ohnehin verfolgt, könnt ihr bei diesem Handel nur gewinnen.“
Dem war nicht viel entgegen zu setzen. Trotzdem war keinem der Gefährten wohl bei dem Gedanken, der Führungsriege der Nachtmasken einen Gefallen zu erweisen.
„Und was passiert, wenn wir erfolgreich sind und Orlak III. vernichten?“
„Dann wird einer von uns seine Nachfolge antreten“, erklärte der Vampirfürst diplomatisch, doch Winter entging nicht das wachsame Funkeln in den Augen der Vampirin und das unterschwellige Schnauben des Halbdrows. Einzig der Knochenritter, der während der ganzen Unterhaltung reglos auf seinem Platz geharrt hatte, gab auch jetzt keine Gefühlsregung preis. Es blieb nur zu hoffen, dass sich die vier Vampirfürsten nach Orlaks Vernichtung gegenseitig an die Kehle gehen würden. Eine Fehde um die Thronfolge war im Grunde das Beste, worauf die Gefährten hoffen konnten. Das Böse richtet sich gegen sich selbst – hin und wieder traf das alte Sprichwort zu. Allerdings war es wenig ratsam, sich allzu häufig darauf zu verlassen…
„Dann sind wir uns also einig.“ Die Vampirfürstin deutete das Schweigen der Gefährten als stumme Zustimmung. „Candide wird Euch morgen bei Sonnenaufgang am Gasthaus abholen, um euch zum Traumportal zu führen.“

Faust
Am nächsten Morgen.
„Drizzt oder Elijas?“, fragte Faust, während die Gefährten vor dem Eingang des Goldenen Esel auf ihren vampirischen Führer warteten.
„Elijas“, brummte Grimwardt.
Faust schüttelte den Kopf.
„Stärkere Defensive, aber Drizzt kann besser zuhauen.“
„Fliegen und zaubern“, konterte Grimwardt.
 Faust schnalzte zweiflerisch mit der Zunge.
„Um wie viel würdest du wetten?“
„Ich wette nicht.“
„Jetzt geht das schon wieder los“, kommentierte Winter nüchtern das Gedankenduell der beiden Kämpfer. Zur Erlösung der beiden weiblichen Gruppenmitglieder trat in diesem Augenblick der Gastwirt vor die Tür.
„Seid ihr die Helden von Immerschwinge?“, fragte er. „Gerade kam ein kleiner Junge herein, der nach euch sucht.“
Candide hatte es sich auch dieses Mal nicht nehmen lassen, den Gefährten auf seine stille, höhnische Art seine Gerissenheit unter die Nase zu reiben. Wie alt er auch in Vampirjahren sein mochte, er hatte noch immer die emotionale Reife eines Zehnjährigen. Mit derselben Häme, mit der er dem Gastwirt den armen kleinen Straßenjungen vorgegaukelt hatte, um ins Haus gebeten zu werden, trat er nun mit einem seelischen Seufzer ins Sonnenlicht, nur um zu demonstrieren, dass selbst das Tageslicht kein Hindernis für ihn darstellte. Als er die Gefährten kurz darauf in die Kanalisation lockte und sie durch den ärgsten Unrat stapfen ließ, während er selbst spinnengleich an den Wänden entlang kroch, bekam Faust nicht Übel Lust, bei nächster Gelegenheit den Lichtschutzzauber zu bannen, der auf ihm lag, um zuzusehen, wie sich die Flammen durch sein überhebliches Engelsgesicht fraßen. Die Vampirlady wäre vermutlich nicht allzu glücklich über die Einäscherung ihres kleinen Lieblingsbarden, aber Candide war schließlich nicht Teil ihres Paktes…
Nebel.
Faust erstarrte. Sie waren angekommen. Der Vampirjunge hatte sie zu einem alten Bewässerungsschacht geführt, aus dem dichte, weiße Nebelschwaden quollen. Faust spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten.
„Ihr gelangt auf die Traumebene, sobald ihr durch die Nebel geht“, erklärte Candide. „Die Herrin der Träume schätzt Besucher nicht besonders. Sie wird versuchen, sich euch mit Albträumen vom Leib zu halten. Seid darauf gefasst.“ Und mit einem unheilschweren Lächeln  fügte er hinzu: „Habt süße Träume!“
Mit diesen Worten ging der Vampirjunge auf die Nebel zu, die mit geisterhaften Dunstklauen nach ihm griffen. Nach wenigen Augenblicken hatte der Nebelschlund ihn verschlungen. Mit schierem Horror starrte Faust auf die Stelle, die die kleine Gestalt verschluckt hatte. Nur mit größter Mühe widerstand er dem Drang, einfach davonzurennen.
„Da… bringen mich keine zehn Pferde rein“, brachte er schließlich hervor.
„Warum?“, fragte Winter verwundert.
„Es sind die Nebel…“ Ihm versagte die Stimme.  
Die anderen warfen sich befremdete Blicke zu.
„Du hast Angst vor Nebeln?“, fragte Grimwardt schroff.
„Das solltest du auch“, erwiderte Faust. „Sie sind gekommen, um uns zu holen. Um mich zu holen.“
Er kannte diese Blicke: Wir wussten gar nicht, wie irre zu bist. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, als er die Menschen auf Rabenhorst auf ähnliche Art und Weise angesehen hatte, wenn sie von den Nebeln gesprochen hatten… Miu ergriff behutsam seine Hand.
„Tja…“, versuchte Winter zu vermitteln. „Wir… könnten uns alle an den Händen fassen und gemeinsam durch den Nebel gehen.“
„Das bringt nichts!“, fuhr Faust sie an wie ein in die Enge getriebenes Tier. „Sie werden jeden von uns in seine ganz persönliche Hölle bringen und dann gibt es kein Zurück mehr!“
„Aber du… bist auch zurück gekommen.“
Er starrte sie an ohne ihr wirklich zuzuhören.
„Ich werde eine Münze werfen.“
Wenn das Schicksal will, dass ich zurückkehre, dann kann ich es nicht ändern.
„Äh… gut, wenn du meinst.“
„Kopf“, entschied er. Dann schnickte er die Münze in die Höhe, sah zu wie sie sich mehrmals um die eigene Achse drehte, und fing sie auf dem Handrücken auf.
Kopf.
Faust schluckte.
Das Schicksal hat entschieden.
„Können wir jetzt endlich gehen?“, brummte Grimwardt ungeduldig.
„Also gut…“, murmelte Faust. „Falls unsere Wege sich hier trennen: War mir eine Ehre, euch kennen gelernt zu haben.“
Dann holte er tief Luft und trat in den Schacht.

Grimwardt
Die Nebel verziehen sich und Grimwardt steht allein im Innenhof seiner Abtei. Leichengeruch liegt in der Luft. Seine Schritte hallen dumpf vom Steinboden wider. Der erste Leichnam hängt mit verdrehten Gliedern in der Umzäumung des Trainingsplatzes. Der vergiftete Pfeil steckt noch in seiner Kehle. Die nächste Leiche wurde auf ähnliche Art getötet. Grimwardt erkennt die Geschütze an den Schaftfedern: Drowpfeile. Sie tragen Gaum Auzkovyns Handschrift. Sein Blick geht in die Höhe, sucht das kleine vergitterte Fenster im zweiten Stock des Hauptgebäudes: sein Arbeitszimmer. Seine Befürchtung bestätigt sich, im Innern brennt Licht: Der Clanführer ist bis ins Herz seiner Welt vorgedrungen, um ihn zu verhöhnen.
„Wo warst du?“
Er dreht sich um. Dort steht Jareth als sei er aus dem Nichts erschienen: Jareth, sein Erster Schwertbruder und sein Freund aus Jugendtagen, wie er ihn zuletzt in den Kerkern der Abtei gesehen hat: sein Gesicht eine unförmige Masse aus Blut und Hautfetzen, seine Glieder verdreht und mehrfach gebrochen. Graums Männer folterten ihn, ehe sie ihn töteten. Offenbar war er nicht gewillt, mit ihnen zu plaudern. Guter Mann.
„Wo warst du, als sie die Abtei angriffen?“, fragt er noch einmal. „Wir hätten dich hier gebraucht.“
„Es gibt nichts, wofür ich mich rechtfertigen müsste“, erklärt Grimwardt ruhig „Vor dir oder der Herrin der Träume oder meinem Gewissen oder was auch immer du repräsentierst. Doch ich bedaure deinen Tod, Jareth.“
„Ach ja?“ Die Erscheinung tritt näher und mustert ihn aus verquollen, blutunterlaufenen Augen. „Du bist in die Wüste aufgebrochen, obwohl du wusstest, dass einige von uns zurückgeblieben sind, um die Abtei bis zum bittereren Ende zu verteidigen.“
„Das war deine Entscheidung“ erinnert ihn Grimwardt. „Meine war es, dafür zu sorgen, dass Myth Drannor nicht in die Hände der Feinde fällt. Es war eine taktische Entscheidung.“
„Myth Drannor?“ Jareth lacht bitter auf. „Wem hast du die Treue geschworen, Grimwardt? Den Elfen von Cormanthyr oder den Menschen des Schlachtentals?“
„Ich habe Tempus die Treue geschworen“, erwidert Grimwardt.
„Ihm und der Abtei! Die Abtei hast du verraten. Damit hast den Segen des Feindhammers verwirkt.“
Ein Windhauch fegt die Erscheinung hinfort, doch sogleich tritt eine neue an ihre Stelle: Jareth der Krieger, gerüstet mit Schild und Flügelhelm und bereit für den Kampf. Er erhebt sein Schwert gegen seinen Freund und Herrn.
„Grimwardt Fedaykin, ich fordere dich zum Kampf heraus. Verteidige deine Ehre oder stirb in Schande!“
Grimwardt schließt für einen Moment die Augen und ballt die Hände zu Fäusten, um den aufkeimenden Zorn zu unterdrücken.
Es ist nur ein Traum, erinnert er sich selbst. Jareth ist tot und er hat es nicht verdient, dass diese Hexe von Traumflüsterin ihn dazu benutzt, dir ein schlechtes Gewissen einzureden. Du hast dir nichts vorzuwerfen. Du hättest ihn nicht retten können.
„Also schön“, sagt er und zieht sein Schwert. „Du sollst in Würde sterben, Jareth. Und wenn es nur in meinen Träumen ist.“


Winter
Sie läuft durch einen morgenfeuchten Frühlingswald. Scheu tasten sich Nebelschlieren über den moosigen Untergrund und hinterlassen glitzernden Raureif auf den Farngewächsen. Dann lichtet sich der Wald und gibt den Blick frei auf einen kleinen Weiher. Ein Reiher dreht dicht über der Wasseroberfläche seine Runden und landet dann im Schilf. Am Ufer sitzt eine Gestalt, die ganz in die Betrachtung der Morgenidylle versunken ist. Winters Herz macht einen Sprung, als sie ihn erkennt.
„Das ist kein Albtraum“, flüstert sie.
Dorien wendet sich zu ihr um.
„Danke, sehr freundlich.“ Er lacht. Ein leichtes, unbeschwertes Lachen. „Komm, setz dich zu mir.“
Sie lässt sich ins Ufergras sinken. Ihr Herz pocht noch immer wie verrückt. Er wirkt zu real für ein Traumbild: die feinen Mosaike in seinen eisblauen Augen, die leicht arrogante Wölbung seiner Augenbrauen, die langen Wimpern, die seinem Gesicht eine feminine Note geben… zu detailreich für einen Traum. Wie gerne würde sie sich dem Traum einfach hingeben, vergessen, dass es ein Traum ist. Doch sie traut der Idylle nicht.
 „Du hast sicher viele Fragen…“
Sie zögert. Es fällt schwer die Frage auszusprechen, die sie am meisten quält.
„Bist du… bist du glücklich, dort, wo du jetzt bist?“
„Dort wo ich jetzt bin, bin ich nicht ich“, erwidert er. Er lächelt, doch es ist ein wehmütiges Lächeln. „Gefühle sind an sterbliche Erfahrungen gebunden.“
Sie senkt den Blick. Das ist kein Trost, es bestätigt nur ihre Befürchtungen: Es gibt keinen Ort, an dem sie ihn jemals wieder sehen könnte. Welche Form seine Seele auch angenommen hat, seine Erinnerungen, seine Erfahrungen, das was ihn ausgemacht hat, ist mit seinem Körper gestorben. Der Dorien, den sie kannte, existiert nur noch in ihren Erinnerungen und die werden nicht immer so klar sein wie dieser Traum…
„Du… verstehst doch, warum ich es getan habe, oder?“, fragt er leise. „Ich konnte es nicht ertragen. Also habe ich das getan, was ich meistens tue. Ich bin davongerannt… und habe gehofft, dass du stärker bist.“
„Ich versuche es“, sagt sie mit belegter Stimme.
„Oh, das gelingt dir ganz gut“, erwidert er nicht ohne einen Hauch von Bitterkeit. „Es ist dir immer gut gelungen, dich abzulenken.“
Sie hebt verwundert den Kopf.
„Meinst du…?“ Sie lacht auf. „Joe? Die Hochzeit? Ach Dorien, du kennst mich doch.“
„Ja“, murmelt er ohne sie anzusehen. „Und ich habe es nie verstanden.“
„Es geht dabei ums Geschäft.“
„Nein.“ Er hebt jäh den Kopf. „Auf unseren Abenteuern hast du mehr Gold verdient als jeder dieser Kerle in seinem ganzen Leben gesehen hat. Gib es zu, im Grunde genießt du es, dass…“
Irritiert bricht er ab.
„Selbst in deinem Traum streiten wir uns“, stellt er mit entwaffnender Nüchternheit fest. Dann seufzt er und streift ihr mit einer versöhnlichen Geste eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Tut mir leid…“
„Ist schon gut…“
Sie sinkt in seine Umarmung und schließt die Augen. Sein Atem streift ihr Gesicht und sie biegt den Kopf in den Nacken in Erwartung seines Kusses.
„Hat es dir eigentlich Vergnügen bereitet, mich zu töten?“
Sie fährt zusammen. Die Eiseskälte seiner Worte trifft sie unvorbereitet. Sie blickt zu ihm auf, sucht in seinen Blicken nach einer Erklärung, doch sie findet nur kalte Verachtung. Dann huscht ein eigenartiger Ausdruck schmerzhafter Überraschung über sein Gesicht und er schnappt röchelnd nach Luft. Blut rinnt aus seinem Mundwinkel und seine Augen flackern.
„Dorien!“
Erst jetzt spürt sie etwas Kaltes, Metallenes zwischen ihren Fingern und als sie an sich herabblickt, erkennt sie, dass es ein Dolch ist. Die Klinge steckt in Doriens Brust: sie hat sein Herz durchbohrt. Winter springt entsetzt zurück.
Das ist der Punkt, wo der Traum zum Albtraum wird.
Auf einmal hört sie hinter sich applaudierendes Klatschen. Das Geräusch klingt wie bitterer Hohn in der Stille, die Doriens sterbender Atem hinterlässt. Winter wirbelt herum.
Drake. Natürlich.
„Respekt!“, applaudiert der Albino. „Alle Achtung, das hätte ich dir gar nicht zugetraut.“
Das bringt das Fass zum Überlaufen.
„Du!“ Blind vor Wahn stürzt sie auf ihn zu, den blutigen Dolch noch in der Hand. „Mach dass du aus meinem Traum verschwindest!“
Drake lacht.
„Es ist dein Traum. Ich bin hier, weil du es willst.“
„Von wegen! Keine Ahnung wie, aber irgendwie hast du sich in meinen Traum geklinkt, um mich wieder zu manipulieren oder zu erpressen oder deine kranken Spielchen mit mir zu treiben, du verdammter Hurensohn!“, wütet Winter.
„Ehrt mich, dass du mir das zutraust, aber ich muss dich leider enttäuschen“, spottet Drake. „Nicht ich bin derjenige mit dem blutigen Dolch in der Hand. Wie schon gesagt: Meinen Respekt dafür. Aber hör doch bitte damit auf, dir einzureden, Dorien geliebt zu haben, bloß um seinem Tod einen Sinn zu geben. Das ist wirklich erbärmlich.“
„Erbärmlich ist es, eine Siebenjährige zu entführen, weil du zu feige bist, deine Freunde um Hilfe zu bitten!“
„Du lenkst schon wieder ab. Muss sehr frustrierend sein, mich diesmal nicht zum Sündenbock stempeln zu können. Dabei sollte dir im Moment etwas ganz anderes Sorgen bereiten... Dreh dich mal um.“
Wider sich selbst wendet Winter sich tatsächlich um. Dorien! Mit blutender Brust und totenbleichem Gesicht richtet er sich auf. Ein Schatten huscht über seine Züge und verwandelt sein Gesicht in eine Maske der Rachsucht. Anklagend erhebt er die Hand gegen Winter und von seinen Lippen dringen zischende Worte der Magie.
Sie schließt die Augen und spürt, wie ihr eine Träne über die Wange rollt. Ergeben breitet sie die Arme aus.
„Tu es“, flüstert sie.


Faust
Eine Sandgrube irgendwo in der Wüste, so tief wie ein Brunnenschacht und nur ein wenig breiter. Die Sonne steht senkrecht über der Schachtöffnung wie ein gleißender, pulsierender Feuerball und es ist brütend heiß. Er spürt eine Bewegung neben sich. Neben seiner Grube befindet sich eine weitere, getrennt von seiner durch ein Gitter. Darin kauert eine kleine, dunkelhaarige Gestalt. Miu. Verängstigt schlingt sie die Arme um den Körper und versucht ihr Gesicht vor den penetranten Strahlen der Sonne zu schützen. Faust lässt sich ergeben gegen die Gitterstäbe sinken.
„Willkommen in Rabenhorst“, sagt er mit einem tiefen Seufzer. „Keine Angst, Miu. Wir werden nicht ewig in diesem Loch hocken. Nur solange, bis eine Leiche durch die Decke fällt und wir uns vor Grauen durch den Sand graben oder so.“
Zur Sicherheit probiert er einen Zauber aus. Natürlich vergeblich, hätte ihn auch gewundert, wenn die Nebel es ihnen so leicht machen würden. In seiner Hosentasche ertastet er seine Glücksmünze.
Wirklich eine beschissene Idee, durch den Nebel zu gehen, tadelt er sich selbst. Als ob ich es nicht besser gewusst hätte.
Sie müssen lange warten. Schließlich weicht die Sonne dem Mond und die Wärme des Tages einer eisigen Wüstennacht. Der Durst raubt den beiden Gefangenen beinahe die Besinnung. Dann endlich vernimmt Faust Schritte im Sand.
„Hey!“, brüllt er den Schacht hinauf.
Niemand antwortet. Einer der Fremden lässt ein Seil in Mius Zelle hinab und drei vermummte Gestalten klettern schweigend in die Tiefe. Einer von ihnen zerrt Miu zu Boden und reißt ihr die Kleider vom Leib.
„Scheiße, was…nicht!“ Faust rüttelt mit aller Macht an den Gitterstäben.
Sein Gebrüll ist das einzige Geräusch. Bis er Mius schmerzerfüllten Schrei vernimmt, kehlig und rau, das erste Geräusch, das seit ihrer Kindheit von ihren Lippen dringt. Er weiß sofort, dass das in ihren Augen schlimmer ist als alles andere. Nicht die Schändung, sondern der Bruch ihres Gelübdes, ist es, was ihr Schande bereitet.
Das ist nicht seine Hölle, sondern Mius.  
Sie gehen ebenso schweigend und gestaltlos wie sie gekommen sind. Miu liegt zusammengekauert am Boden und nur das lautlose Schluchzen, das dann und wann ihren Körper erzittern lässt, sagt Faust, dass sie noch am Leben ist.
„Miu…“ Er umklammert die Gitterstäbe so fest, dass seine Knöchel weiß unter der Haut hervorstechen, denn er weiß, dass nichts, was er sagt, sie trösten kann. „Verdammt, Miu, es war doch nicht deine Schuld… du warst machtlos“
„So wie du.“
Faust fährt herum. Ein Mann um die Fünfzig, aus dem Nichts erschienen, mustert ihn durchdringend aus rot glühenden Augen. Ein einnehmendes, wenn auch leicht spöttisches, Lächeln umspielt seine Lippen.
„Was ist das für ein krankes Spiel?“, fragt er düster, die Hand auf dem Schwertknauf. Zwielicht erzittert unter der Berührung. Wie beim Kampf mit dem Höllenteufel drängt das Schwert ihn zum Angriff.
„Warum konntest du ihr nicht helfen, Desmond?“, fragt der Fremde.
„Scheiße, woher kennst du meinen Namen?“
Der Rotäugige lacht leise.
„Du konntest ihr nicht helfen, weil du machtlos bist. Nur ein Mensch.“
„Und was bist du?“
Ein Schatten wischt die Erscheinung hinfort. Faust zieht sein Schwert und dreht sich wachsam um die eigene Achse. Der Schatten taucht am anderen Ende der Zelle wieder auf und materialisiert sich erneut – doch diesmal offenbart der Fremde ihm seine wahre Gestalt. Die ledernen Teufelsschwingen nehmen die gesamte Breitseite des Schachts ein und zwei kleine Hörner sprießen aus der Stirn des Wesens.
„Du solltest eigentlich wissen, was ich bin“, erklärt er.
Faust schluckt. „Mein Vater.“
Vielleicht ist es doch nur ein Traum, hofft er. Oder haben die Nebel ihn tatsächlich zu dem Mann geführt, nach dem er insgeheim seit Jahren sucht. Wenn dies kein Traum ist, dann hatte Thallastam Recht und sein Vater verkaufte seine Seele, um… ja, um was?
„Ja, ich habe eine Entscheidung getroffen“, beantwortet der Halbteufel die unausgesprochene Frage. „Weil ich die Ohnmacht nicht ertragen konnte. Nicht ertragen wollte. Ein sterbliches Leben ist zu kurz, für alles was ich sein konnte und noch sein werde.“
Faust weicht unwillkürlich einen Schritt zurück. Was er sagt klingt wie ein Echo seiner eigenen Gedanken.
„Und ich kann dir das selbe Geschenk machen, Desmond.“
„Zu welchem Preis?“, fragt Faust tonlos. „Den Verrat an meinen Freunden?“
Sein Vater lächelt.
„Macht ist teuer, doch sie hat nicht für jeden den selben Preis.“
Zwiespalt scheint in seiner Hand zu zerbersten.
Er kann sie spüren, die sprühende Energie, die diesem Wesen innewohnt, und sie benebelt ihn. Er verzehrt sich danach, das hat er schon immer, und der Wunsch nach Macht und Ruhm und Unsterblichkeit wird ihn immer vorantreiben. Das ist sein Schicksal. Aber nicht so… Das ist nicht sein Weg.
„Nein.“ Das Wort kommt nicht leicht über seine Lippen.
Die lässige Fassade des Halbteufels beginnt zu bröckeln und enthüllt eine grässliche Fratze des Zorns und der Verbitterung.
„Dann wählst du also die Sterblichkeit?“
„Ja…“ Für jetzt.
Der Halbteufel zieht sein Flammenschwert.
„So sei es.“

Grimwardt
Auf der Traumebene.
„Ruhe in Frieden.“
Der Traum verflüchtigte sich, noch während Grimwardt das Totengebet für Jareth sprach, und enthüllte die wahre Gestalt der Traumebene: ein gigantisches, weißes Nebelmeer, das ihm bis zu den Hüften reichte. Er spürte keinen Boden unter den Füßen, doch es bereitete ihm auch keine Schwierigkeit, sich auf dem losen Grund fortzubewegen. Der Tempuspriester machte sich auf die Suche nach seiner Gefährten.
„Verdammter Nebel!“
Grimwardt seufzte.
Er folgte dem Fluchen und überraschte Faust dabei, wie er sich verdrießlich mit dem Schwert einen Weg durch die Dunstschlieren bahnte. Der Priester trat ihm mit verschränkten Armen in den Weg.
„Bist du jetzt dazu übergegangen, den Nebel zu zerhacken, statt vor ihm davonzulaufen?“, knurrte er.  
„Grimwardt!“ Faust schien ehrlich überrascht. „Du hier?“
„Was soll das heißen, ‚ich hier’? Das war der Plan, oder nicht?“
„Dann… war das tatsächlich ein Traum?“
Faust schien darüber äußerst erleichtert zu sein. Grimwardt konnte nur den Kopf schütteln.
„Wenn du mir jetzt wieder was von der Hölle erzählst, könnte es gut sein, dass ich die Fassung verliere“, informierte er den Gefährten. „Sag mir lieber, ob du hier irgendwo eine Spur von Miu oder meiner Schwester gesehen hast?“
„Nein… hier nicht.“
Also wateten sie weiter durch das Nebelmeer, doch sie fanden keine der beiden. Stattdessen stießen sie nach kurzer Zeit auf ein seltsames, ovales Gebilde. Die schwarze Kapsel hatte etwa die Größe eines Sarges. Durch ein Glasfenster erblickten sie eine wunderschöne junge Frau, mit dichtem schwarzem Haar, die mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen in einem Bett aus Wolken ruhte. Nur ihr Busen, der sich sanft hob und wieder senkte, verriet, dass sie noch atmete.
„Ich küsse sie“, bot Faust sich eilfertig an.
Grimwardt bedachte die Ankündigung mit einem Stirnrunzeln.
„Und in wiefern soll das unsere Mission weiterbringen?“, fragte er nüchtern.
Faust grinste. „Kennst du nicht die alten Legenden? Die Herrin der Träume kann nur durch einen Kuss aus dem Schlaf erweckt werden.“
„Meinetwegen“, brummte der Kriegspriester. „Aber zuerst müssen wir an sie heran kommen.“
Sie fanden einen Mechanismus, der das Glasfenster öffnete. Kaum hatte sich der Traumnebel aus dem Gebilde verflüchtigt, verwandelte sich die Gestalt im Innern der Kapsel: Statt in das Antlitz einer schönen jungen Frau blickten die Gefährten in die grässliche Fratze einer alten Nachtvettel. Eitrige Furunkel prangten auf ihrer Stirn und aus der schiefen Nase wuchsen gräuliche Härchen.
Faust schrak angeekelt zurück.
„Dein Einsatz“, schmunzelte Grimwardt nicht ohne einen Hauch von Schadenfreude.
„Vielleicht irre ich mich auch“, versuchte der Krieger sich aus der Affäre zu ziehen. „Die Verwandlung verschweigen die Geschichten schließlich auch.“
„Aus verständlichen Gründen“, bemerkte der Priester. „Jetzt mach schon.“
Faust schluckte.
„Für die Mission“, seufzte er aufopferungsvoll und drückte der Vettel mit zugekniffenen Augen und geschürzten Lippen einen hastigen Kuss auf die Lippen. Ein Schaudern durchfuhr ihn und er versuchte den schalen Geschmack durch eiliges Spucken und Lecken wieder loszuwerden.
„Scheint nicht zu funktionieren“, bemerkte Grimwardt. „Vielleicht musst du die Sache leidenschaftlicher angehen.“
„Leck mich.“
„Dann auf meine Art.“
Grimwardt packte die alte Hexe grobschlächtig bei den Schultern und begann zu rütteln. Mit Erfolg: Ein krötiges Krächzen drang über die Lippen der Traumherrin und sie öffnete blinzelnd die Augen.
„Wer seid Ihr, dass Ihr es wagt, in mein Reich einzudringen und mich aus dem Schlaf zu rütteln?“, krakeelte sie.
„Wir haben Fragen, die nicht warten können.“
„Was könnte wichtiger sein, als die Träume der Schlafenden?“
„Aus diesem Grund sind wir hier. Wir brauchen Informationen, die nur Ihr uns geben könnt, Herrin.“
„Na gut“, grummelte die Alte. „Aber beeilt Euch. Solange ich wache, sind die Schlafenden ohne Träume.“
„Zuerst wüssten wir gerne, was mir unseren beiden Gefährtinnen passiert ist“, erklärte Faust.
„Sie konnten ihre Träume nicht besiegen. Den eigenen Tod kann man nicht träumen, darum sind sie aufgewacht und haben die Traumebene verlassen.“
„Aber es geht ihnen gut?“
„Ich töte nicht. Ich zeige den Schlafenden nur ihre Ängste und Begehren durch den Spiegel ihrer Seelen.“
„Dann könnt ihr in die Seele eines jeden Sterblichen blicken?“
„Eines jeden Wesens, das schläft“, berichtigte die Nachtvettel.
„Habt Ihr auch in den Geist des Drachens gesehen, der die Bastion der ungeborenen Seelen besetzt?“, erkundigte sich Grimwardt.
„Die Bastion, schon wieder“, grummelte die Alte. Offenbar hatte der Nachtkönig von Westtor tatsächlich einen menschlichen Boten geschickt, um Informationen über den Seelenquell zu sammeln. „Ja, ich habe Ashardalons Träume gesehen. Sie handelten meist von den ungeborenen Seelen, die er verzehrte, um sein krankes Herz am Leben zu erhalten.“
„Sein krankes Herz?“
„Er stahl es von einem Dämon, nachdem Gen Soleilon von Westtor sein eigenes Herz durchbohrt hatte. Das falsche Herz tötet ihn langsam und schleichend, darum flüchtete er sich in die Bastion, um dem sicheren Tod zu entgehen.“
„Habt Ihr in den letzten Monaten eine Veränderung in seinen Träumen bemerkt?“, fragte Grimwardt weiter.
„Sie brachen ab“, krächzte die Alte. „Seit etwa zwei Monaten habe ich keine Träume mehr von Ashardalon empfangen.“
Grimwardt und Faust warfen sich einen viel sagenden Blick zu. Das ließ darauf schließen, dass Orlaks Eroberungspläne geglückt waren und er den Drachen besiegt hatte. Oder der Drache hatte den Nachtkönig dazu gebracht, ihn in einen Vampir zu verwandeln. Auch in diesem Fall wären seine Träume abgebrochen, denn Untote schlafen nicht.
„Wie gelangte Ashardalon vor zweitausend Jahren in die Bastion?“, wollte Faust wissen.
„Er war im Besitz eines Splitters des Seelensteins“, sagte die Traumherrin und erklärend fuhr sie fort: „Vor vielen Millionen von Jahren, ehe der erste Sterbliche geboren wurde, erschuf Ao, der Göttervater, die Bastion der ungeborenen Seelen. Er verfügte, dass kein Gott den Seelenquell jemals betreten solle. Nach ihrer Fleischwerdung und noch im Tod mochten die Götter um die Seelen der Sterblichen werben und feilschen, doch auf die präinkarnierten Seelen sollten sie keinen Einfluss haben. So entstanden das Prinzip des freien Willens und der Bann der ungeborenen Seelen, der die Götter an Aos Verfügung bindet. Desayeus jedoch, der Gott der Zeit, setzte sich über das Verbot hinweg und erschuf den Seelenstein, um sich Zugang zu Bastion zu verschaffen. Als die anderen Götter davon erfuhren, fürchteten sie, dass Desayeus den Bann der ungeborenen Seelen brechen und Aos Zorn auf sie alle herab beschwören könnte. Darum verbannten sie Desayeus in ein Gefängnis auf einer der Äußeren Ebenen. Den Seelenstein versuchten sie zu zerstören, doch es gelang ihnen nur ihn in drei Teile zu zersplittern. Einen der Splitter behielt Desayeus in seinem Gefängnis, die anderen beiden verstreuten die Götter im Multiversum. Mit einem dieser beiden Splitter gelangte Ashardalon in die Bastion, der Aufenthaltsort des anderen ist mir nicht bekannt. Er blieb lange verschollen, ehe ich ihn vor einigen Monaten im Geist Eurer rothaarigen Freundin sah. Dann verschwand er wieder. Jeder der Splitter vermag, als Komponente für einen Ebenenwechsel gebraucht, den Träger zur Bastion zu führen. Ein anderer Weg in die Bastion ist mir nicht bekannt.“
Einen Splitter hatte Ashardalon, mit dem anderen musste Orlak in die Bastion gelangt sein. Solange der Splitter in Immerschwinge gewesen war, war er den Augen der Traumherrin verschlossen geblieben, denn Elfen schlafen nicht. Und als der Vampirklon ihn gestohlen hatte, war er wieder aus ihrem Blickfeld verschwunden. Somit blieb den Gefährten nur eine einzige Möglichkeit, in die Bastion der ungeborenen Seelen zu gelangen: Sie mussten den dritten Stein finden, jenen, den der gefallene Gott behalten hatte.
„Die Götter verbannten Desayeus auf eine der Äußeren Ebene, sagtet Ihr?“, fragte Faust nach.
„Nach Agathion, den Mittelpunkt einer Ebene namens Pandämonium, ja“, erklärte die Nachtvettel. „Sein Gefängnis wird von einem mächtigen Erzengel bewacht, einem Solar… Erlaubt Ihr nun, dass ich mich wieder zur Ruhe lege?“, grantelte die Traumherrin. „Ihr habt lange genug die Zeit der Träumerin in Anspruch genommen.“
„Eine Frage noch“, bat Grimwardt. Für den Fall dass Ashardalon – in welcher Form auch immer – noch immer in der Bastion weilte, blieb da noch die Frage nach seiner Bezwingung. „Um den Drachen Ashardalon zu besiegen, so heißt es, ist die Hilfe eines Erben des Soleilon nötig. Wir kennen da zwar jemanden, aber dieser Jemand versteht sich recht gut darauf, sich nicht aufspüren zu lassen. Könnt Ihr uns wohl sagen, wo wir einen gewissen Drake finden?“
„Drake was?“, blaffte die Vettel.
„Seinen Nachnamen hat er uns nie verraten. Er ist ein Auftragsmörder, der in den Silbermarken und an der nördlichen Schwertküste sein Unwesen treibt.“
„Ein Erbe des Soleilons?“ Sie dachte nach. „Ihr meint wohl Drake Noar… Ihr kommt häufig in seinen Träumen vor. Ihr und Eure Schwester.“
Na hoffentlich bereiten wir ihm Albträume, dachte Grimwardt grimmig.
„Derzeit ist er in der Stadt Tiefwasser, auf der Suche nach seinem alten Lehrmeister. Er hat ein Zimmer im Gasthaus Zum Gähnenden Portal.“
„Ich danke Euch. Das war sehr hilfreich.“
„Nun dann, auf Wiedersehen in Euren Träumen“, gnatzte die Alte und sank zurück in ihre Schlafkapsel. Als sie den Mechanismus betätigte, füllte sich der Boden mit Traumnebel und die Nachtvettel nahm wieder das Aussehen der jungen Träumerin an.
Als Grimwardt an Drake dachte, konnte er sich ein hämisches Grinsen nicht verkneifen.
„Sieht so aus, als ob wir diesmal die Überraschungsgäste sein werden.“
« Letzte Änderung: 18. Juli 2010, 23:31:50 von Niobe »

Nightmoon

  • Mitglied
    • Schicksalsstreiter
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #130 am: 19. Juli 2010, 00:15:15 »
Schön! Wieder eine tolle Passage. Toll im Abenteuer umgesetzt und toll nacherzählt! Und es macht Lust auf mehr und neugierig, was sich daraus noch entwickeln könnte...  :thumbup:

Nightmoon

  • Mitglied
    • Schicksalsstreiter
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #131 am: 13. August 2010, 16:46:16 »
Oh, fast einen Monat ist es wieder her...  ::)
Haste im Moment auch wieder einiges an Arbeit am Hals, oder kam die Muse noch nicht vorbei bisher?
Bin ja mal gespannt wie die Woche in Italien wird... Sonja hat etwas Sorge, ich könnte an Realitätsverlust erkranken  :wink:

Niobe

  • Mitglied
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #132 am: 13. August 2010, 17:21:21 »
Beides, fürchte ich...
So ein bisschen Realitätsurlaub tut hin und wieder ganz gut :-)

Niobe

  • Mitglied
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #133 am: 11. September 2010, 16:17:12 »
Kapitel V: Die Spiegel der Zukunft

Faust
In der darauf folgenden Nacht im Gasthaus zum Gähnenden Portal, Tiefwasser.
Im Schankraum der schmuddligen Hafenabsteige fanden sich zu dieser späten Stunde nur noch ein paar Dauergäste, die mit glasigen Blicken und hängenden Schultern über ihren Bierkrügen brüteten. Grimwardt und Miu waren zu Bett gegangen, während Winter und Faust von einem Fenstertisch, der einen guten Blick auf die Straße bot, Wache hielten, um Drake abzufangen, sollte er tatsächlich hier auftauchen. Fahrig trommelte Faust mit den Fingern gegen die Tischkante, bemüht sich nicht von Winters niedergedrückter Stimmung anstecken zu lassen. Seit zwei Stunden kauerte seine Gefährtin mit angezogenen Beinen auf ihrem Platz und sah nur auf, wenn das Geräusch der aufschwingenden Tür einen neuen Gast ankündigte.
„Dein Traum?“, unternahm Faust einen letzten Versuch ihr dahinvegetierendes Schweigen zu brechen. Doch wie die beiden Male zuvor zuckte sie nur stumm mit den Schultern.
„So übel?“
„Nein… ich weiß nicht.“ Fröstelnd verstärkte sie den Griff um ihre Knie. „Es fing so schön an.“
„Dann war er besser als meiner“, murmelte Faust düster und nahm einen tiefen Zug aus seinem Bierkrug.
Die Frage nach seinem Vater hing wie ein dunkles Omen über ihm. Würde er je herausfinden, was damals geschehen war? Vielleicht sollte er… Nein, er konnte nicht zu den Neun Schwertern zurückkehren. Noch nicht. Nicht bevor er die dunkle Prophezeiung seines Lehrmeisters widerlegt und bewiesen hatte, dass er nicht enden würde wie… Tja, wie wer? Wer war das Phantom, vor dem er seit zwölf Jahren davonlief?
Die Tür schwang auf und eine vermummte Gestalt trat auf die beiden Gefährten zu.
„Winter Fedaykin und Faust, nehme ich an.“
Die Fremde lüftete die Kapuze und enthüllte ein hübsches, sommersprossiges Mädchengesicht, das von einer Flut goldblonder Locken umrahmt wurde. Das niedliche Ding konnte nicht älter als siebzehn Jahre sein. Doch der ungerührte, leicht amüsierte Blick, mit dem sie Fausts Musterung standhielt, verriet, dass sie es gewohnt war, von Männern angestarrt zu werden.
„Und Ihr seid…?“
„Lady Feyleen, sehr erfreut“, stellte sie sich vor. Winter zog eine Augenbraue in die Höhe und Fausts Schwerthand fuhr an den Knauf seiner Waffe. Feyleen quittierte beides mit einem spöttischen Lächeln: „Ihr habt von mir gehört?“
Faust kniff die Augen zusammen, um seinen Geist zu fokussieren und hinter die Maske des Taliser Bauernmädchens zu blicken. Für die Dauer eines Blinzelns überlagerte die Realität Feyleens Zauber und enthüllte die ebenso sinnliche wie verstörende Gestalt der Dämonin. Ihr makelloser Frauenkörper aus Perlmutt-Schuppen schillerte golden im Zwielicht der Talgkerzen, ein schmaler Echsenschwanz schlängelte sich grazil um ihre bloßen Fußknöchel und aus ihren Schulterblättern wuchsen eindrucksvolle, blassrote Lederschwingen, die von durchscheinenden Adergeflechten durchzogen waren. Die gespaltene Zunge, die gefährlich zwischen den Zähnen der Sukkubus hervorblitzte, machte ihr Lächeln nur umso verführerischer.
„Wo-u“, entfuhr es Faust und er pfiff leise durch die Zähne.  
Aus den Erzählungen der Fedaykin-Geschwister wusste er, dass die Sukkubus eine mächtige Fürstin des Abgrunds war, die eine offene Rechnung mit Drake hatte, die sie in abgetrennten Gliedern zu begleichen pflegte. In der Absicht dem Spuk ein Ende zu bereiten, hatte der Assassine Winter in einen Hinterhalt gelockt und ihrem Bruder den Schwur abgepresst, ihm bei nächster Gelegenheit im Kampf gegen die Dämonenfürstin beizustehen. Bislang hatte ihn nur Feyleens Unauffindbarkeit daran gehindert, den Ehrenschwur des Priesters einzufordern.
„Ich weiß, wonach ihr sucht, und ich habe euch ein Angebot zu unterbreiten.“ Die Vision war verschwunden, doch Faust war es unmöglich das Mädchen, das nun am Tisch Platz nahm, mit denselben Augen zu sehen wie zuvor. „Auch ich bin seit langem auf der Suche nach Ashardalon und der Bastion der ungeborenen Seelen. Ich war dabei, als der letzte Erbe Soleilons von der Cathezar angegriffen wurde. Es erzürnte mich damals, dass die Marilith mich um meine Rache an Drake gebracht hatte, darum machte ich sie in ihrem Versteck ausfindig und tötete sie. Dabei stieß ich auf ihre Aufzeichnungen. Ihr Auftraggeber war Demogorgon. Um den Seelenkrieg zu beenden, den seine beiden Persönlichkeiten gegeneinander führen, benötigt der Dämonenprinz Ashardalons falsches Herz, dass dieser einem mächtigen Balor entriss. Denn Demogorgon ist halb Teufel und halb Dämon und nur das mächtige Herz eines Dämons, angereichert mit Seelenenergie, vermag den teuflichen Teil seiner Persönlichkeit zu bezwingen. Ich suchte Demagorgon auf und wurde zur Nachfolgerin der Cathezar. Mit mäßigem Erfolg, wie ich gestehen muss. Mehrmals versuchte ich Klone des letzten Erben zu erschaffen, doch keine meiner Schöpfungen überlegte lange. Und auch bei der Suche nach den Seelensplittern hatte ich wenig Glück. Von der Herrin der Träume erfuhr ich, wo der letzte der drei Seelensplitter zu finden ist, doch meine… gottlose Natur macht es mir unmöglich, das Gefängnis des Desayeus zu betreten.“  Die Dämonin sprach all diese Scheußlichkeiten, die keinen Zweifel an ihrer Verderbtheit ließen, ohne jede Scham, dafür aber mit einem Hauch von Ironie aus.
„Und warum sollten ausgerechnet wir Euch dabei helfen, dieses Herz zu beschaffen?“, knurrte Faust. Feyleens Geschichte passte zu dem, was er und seine Freunde in Erfahrung gebracht hatten. Ihr Versuch einen Klon des Soleilon-Erben zu erschaffen erklärte ihre Angriffe auf Drake und ihr Scheitern ließ vermuten, dass Orlaks Klone allein durch die vampirische Umwandlung hatten überdauern können. Allerdings erschien es ihm wenig rühmlich, einem Dämonenprinzen bei der Beschaffung eines gestohlenen Herzens zu helfen. Außerdem ahnte Feyleen offenbar nicht, dass Ashardalon womöglich bereits besiegt oder zum Vampir geworden und sein Herz damit verdorben war.
„Das alles mag Euch fremd und widerwärtig erscheinen. Doch meines wie Euer Anliegen ist der Tod Ashardalons, darum gibt es keinen Grund, weshalb wir uns bekämpfen sollten, anstatt uns ihm gemeinsam entgegen zu stellen. Seit mehr als 1500 Jahren nährt sich der Drache bereits von den präinkarnierten Seelen der Bastion und seine Macht wächst von Tag zu Tag – glaubt mir, Ihr und ich, wir werden jede Hilfe nötig haben, wenn wir ihn aus dem Weg schaffen wollen.“ Und mit einem anzüglichen Lächeln, das an Fausts Adresse gerichtet war, fügte sie hinzu: „Rettet ihr nur die Seelen der ungeborenen Kinder und überlasst mir das Herz des Drachens. Dieser kleine Schandfleck muss ja nicht unbedingt in die Annalen Eurer Heldentaten eingehen.“
Es wäre auch nicht der erste, ergänzte Faust in Gedanken.
Er traute der Sukkubus nicht weiter als er spucken konnte, doch er konnte sich auch nicht ganz den süßen Verheißungen ihrer latenten Tändeleien entziehen.
„Meinetwegen seid unsere Begleitung“, sagte er darum. „Winter, was meinst du?“
Die Zauberin starrte eine Weile versonnen aus dem Fenster.
„Schön“, entschied sie schließlich, doch sie betrachtete die Dämonenfürstin mit abweisendem Blick. „Kommt wieder, wenn wir den Seelensplitter haben. Und zeigt Euch nicht vor Drake, falls wir ihn bis dahin gefunden haben sollten.“

Winter
Kurz darauf.
Grimwardt stützte stöhnend den Kopf in eine Hand und rubbelte sich die Schläfen.
„Ihr habt was getan? Ihr habt euch mit der rachsüchtigen Dämonenfürstin verbündet, die ich Drake geschworen habe zu vernichten?“
So wie er es ausdrückte, klang es wirklich nicht gerade vernünftig.
„Verbündet kann man das eigentlich nicht nennen.“
„Jetzt sagt bloß, ihr habt ihr diese haarsträubende Geschichte auch noch abgekauft?“
„Vermutlich hat sie uns nur die halbe Wahrheit erzählt.“ Winter zuckte gleichmütig mit den Schultern. „Ich nehme an, sie wird versuchen sich an Drake zu rächen, sobald er seinen Nutzen für sie verloren hat. Aber was kümmert uns das?“
Der Priester hob den Kopf und sah seine Schwester durchdringend an und sie versuchte ihr Unbehagen hinter einem müden Blinzeln zu verbergen. Sie wollte ihn nicht sehen lassen, dass sie hoffte, auf diese Weise zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Es war kein besonders netter Zug, Drake auf solch hinterhältige Art loswerden zu wollen ohne sich selbst die Hände schmutzig zu machen. Aber solange das gefährliche Interesse des Assassinen an ihrer Familie anhielt, würde Scarlet nirgendwo sicher sein. Aber warum sollte sie versuchen, Grimwardt das verständlich zu machen? Ihre Bemühungen wären ja doch vergeblich und sie war zu niedergeschlagen und zu müde, um mit ihm zu streiten.  
Grimwardt und Miu waren gekommen, um ihre beiden Gefährten abzulösen. Inzwischen war auch der letzte Säufer mit dem Kopf auf der Tischkante eingenickt und der Wirt hatte ihnen bereits zum wiederholten Mal auf unflätige Weise zu verstehen gegeben, dass er nicht gedenke, die ganze Nacht hinter dem Tresen zu verbringen. Doch ein paar Silbermünzen hatten ihn gnädig gestimmt.
Winter glaubte nicht mehr daran, dass Drake noch auftauchen würde, doch sie wurde eines Besseren belehrt.
„Er kommt“, vermeldete Grimwardt, als Faust und sie bereits den Treppenabsatz erreicht hatten.
Grimwardt blies die Kerze aus. Faust belegte den Raum eilig mit einem Dimensionsanker und stellte sich mit gezücktem Knüppel hinter die Eingangstür. Und Winter sprach einen Schutzzauber, der Drakes Dolche wirkungslos von ihrer Haut abprallen lassen würde, falls er ihnen Ärger bereiten sollte. Der Wirt, der lange genug in diesem Viertel überlebt hatte, um zu wissen, wann es ratsam war, das Weite zu suchen, beließ es bei einem Fluch und dem Hinweis, dass er sie für demolierte Wirtshausgegenstände haftbar machen würde, und sah zu, dass er von der Bildfläche verschwand. Dann schwang die Tür auf.
„Tempus zum Gruße, alter Freund“, brummte Grimwardt mit schulmeisterlich gekreuzten Armen, während Faust sich vor die Tür warf, um Drake den Fluchtweg abzuschneiden. „Wir müssen reden.“
Der Albino brauchte keine Sekunde, um zu erkennen, dass Flüchten zwecklos war. Winter kannte diesen halb lauernden, halb gehetzten Ausdruck, als er seinen Blick durch den Raum schweifen ließ, und ahnte, was er vorhatte.
„Nur zu.“ Mokierend breitete sie die Arme aus. „Nimm mich als Geisel, wenn du dich dann besser fühlst.“
Deine Dolche können mir ohnehin nichts anhaben.
Drake hob halb belustigt, halb verärgert eine Augenbraue. Dann schnellte die Spitzte eines Dolches aus seinem Lederhandschuh. Doch einen Lidschlag ehe er Winter erreichte, tauchte er zur Seite weg, unter ihrem Arm hindurch und auf Miu zu, die am Fenstertisch wartete. Lautlos klappte die Ordensschwester zusammen, als Drake ihr den Knauf seines Dolches in den Nacken rammte.
„Für wie blöd hältst du mich?“, zischte er. „Und jetzt sagt, was ihr zu sagen habt, und keine faulen Tricks, oder die Kleine wacht nicht wieder auf.“ Es sollte abschätzig klingen, doch Winter entging nicht die Anspannung in seiner Stimme. Drake war kein Narr. Er wusste, wenn sie hier waren, um ihn für all die miesen Tricks büßen zu lassen, die er sich mit ihnen erlaubt hatte, standen seine Chancen schlecht. Und sie genoss es ihn noch ein Weilchen zappeln zu lassen.
„Raus mit der Sprache.“ Drake presste Miu, die langsam zu sich kam, den Dolch an die Kehle.
„Das solltest du besser bleiben lassen, Mann.“ Fausts grünes Auge blitzte gefährlich, während das blaue eiskalt blieb. Der Söldner kannte kein Pardon mit Kerlen, die sich an den Wehrlosen vergriffen: Drake hatte es wie immer auf Anhieb verstanden sich Freunde zu machen!
„Und wer ist der Kerl? Hat Bleichauge das Zeitliche gesegnet?“
„Hades ist in seine Heimat zurückgekehrt. Das ist Faust und glaub mir, du willst dich nicht wirklich mit ihm anlegen.“ Winter trat auf ihn zu. „Der Nachtkönig von Westtor hat eine Horde Klonvampire auf dich angesetzt. Wenn du es vorziehst, dich aus dem Staub zu machen, bitteschön, aber dann wunder dich nicht, wenn du demnächst eine äußerst denkwürdige Begegnung mit dir selbst haben solltest!“
Ihre Worte hatten den gewünschten Effekt: Drake war für einen Augenblick sprachlos.
„Ich habe keine Ahnung, wovon du da sprichst“, knurrte er schließlich.
Winter lächelte liebenswürdig.  
„Dann würde ich vorschlagen, du lässt Miu los und wir setzen uns.“
Wenn es eines gab, das Drake aus der Bahn werfen konnte, dann war es, die Kontrolle zu verlieren. Solange sie ihren Informationsvorsprung wahren konnten, half ihm weder seine Geisel noch sein Spott. Diesen Kampf hatten sie so gut wie gewonnen.

Faust
Pandämonium, am nächsten Tag.
Drake hatte um eine Bedenkzeit von einer Nacht gebeten. Als er am Morgen zurückgekehrt war, waren sie zu fünft zu den Äußeren Ebenen in das Labyrinth von Pandämonium aufgebrochen. Winter hatte einen Ortungszauber gewirkt, der sie nach Agathion, in den Mittelpunkt des Labyrinths führen sollte, in das außerdimensionale Gefängnis des gefallenen Gottes Desayeus. Das Portal nach Agathion, so hatten sie von der Herrin der Träume erfahren, wurde von dem Erzengel Eco bewacht.
Pandämonium war eine Welt im Fluss, ein lichtloses Höhlenlabyrinth, das sich auf keine Form festlegen mochte: Höhleneingänge sprossen plötzlich aus dem Nichts und vor den Augen der Gefährten entstanden wild verzweigte Tunnelgeflechte, während ein anderes Mal trutzige Höhlenwände aus dem Boden aufschossen und einen weit verzweigten Gang in eine Sackgasse verwandelten. Einmal wäre Grimwardt fast von zwei aus dem Boden brechenden Stalagmiten aufgespießt worden. Ein anderes Mal hatte Faust plötzlich den Boden unter den Füßen verloren und war in einen Abgrund gestürzt, der eine Sekunde zuvor noch nicht da gewesen war. Kein Wesen vermochte in dieser kargen, unsteten Landschaft zu überleben; ihre Herrscher waren allein die peitschenden Winde, deren ohrenbetäubendes Säuseln wie ein klagender Geist durch die Gänge spukte und jede Unterhaltung im Keim erstickte.  
Faust konnte nicht sagen, wie lange sie schon durch diese unberechenbare Unterwelt geirrt waren. Zeit war an diesem Ort ein ebenso unzuverlässiger Ratgeber wie Geographie. Winters Ortungszauber war mehrere Male einfach abgebrochen, nur um die Fährte dann in entgegen gesetzter Richtung wieder aufzunehmen. Faust hatte das Gefühl, als versuche der Mittelpunkt des Labyrinths ihnen davonzulaufen. Doch nach einer halben Ewigkeit begann die Umgebung stetiger zu werden und die eigentümlichen Umwälzungen blieben aus. Selbst das zornige Pfeifen des Windes verlor an Intensität und verebbte schließlich ganz. Das wechselhafte Labyrinth von Pandämonium schien wie erstarrt. Und im Zentrum dieses Vakuums ruhte reglos wie in Stein gemeißelt eine Gestalt und blickte den Gefährten entgegen.
Eco der Solar hatte den Körper einer überlebensgroßen Menschenfrau mit eindrucksvollen, schneeweißen Schwingen, doch ihr Gesicht war geschlechtslos, erhaben und hart, und scheinbar aus dem selben Silber geformt wie die blitzende Klinge an ihrer Seite. Einzig die Topasaugen des Engels wirkten lebendig: Es waren Augen, unter denen ein Sterblicher zu Stein erstarren mochte.
Faust spürte eine eigenartige Spannung, die seinen ganzen Körper erzittern ließ. Hass. Verblüfft stellte er fest, dass er dieses Wesen aus tiefstem Herzen verabscheute.
„Eco, Gesandte der Götter“, sprach Grimwardt und sank ehrerbietig auf ein Knie. „Wir sind gekommen, um Eure Hilfe zu erbitten.“
Miu senkte demütig den Kopf und selbst Winter und Drake wandten die Blicke zu Boden. Allein Faust rührte sich nicht. Nur mit Mühe gelang es ihm ein verächtliches Schnauben zu unterdrücken.
„Sprecht, Priester.“
Grimwardt erhob sich.
„Ist es richtig, dass Ihr das Portal zu Desayeus’ Gefängnis bewacht?“
„Ich bin das Portal“, erwiderte der Engel.
„Als Priester des Tempus ersuche ich Euch um Einlass für mich und meine Gefährten. Der Gott Desayeus ist im Besitz eines Schlüssels, der uns Zugang zur Bastion der ungeborenen Seelen gewähren kann. Dort labt sich ein vampirischer Parasit an den Seelen der Sterblichen. Es ist unser Anliegen, ihn aus der Bastion zu vertreiben, um die göttliche Ordnung wiederherzustellen.“
„Mein Zorn gilt diesem Ungeheuer“, erklärte die Wächterin, doch ihre versteinerten Züge zeigten keine Regung. „Doch ich kann Euch nicht einlassen. Es liegt nicht in meiner Macht.“  
Töte sie.
Fausts Hand bebte und er erkannte voller Befremden, dass sie das Heft seines Schwertes fest umklammert hielt. Endlich begriff er: Es war Zwiespalts Stimme, Zwiespalts Hass. Das Schwert hatte das Prinzip, das in sein Metall geschmiedet war – die Vernichtung aller Ordnung und derer, die für deren Erhalt einstanden – in eine menschliche Regung übersetzt, um Faust zu seinem Vollstrecker zu machen. Der Kämpfer spürte, wie sich eine dünne Schweißschicht auf seiner Stirn bildete. Er widerstand der Versuchung, Zwiespalts Drängen nachzugeben, doch der schwelende Hass, der ihn wie eine Blase umgab, wollte nicht weichen.  
„Wäre es wohl möglich, dass Ihr dem Gefangenen unser Anliegen vortragt?“, hörte er Grimwardt sagen, doch es klang unwirklich in seinen Ohren, meilenweit entfernt.
„Ich bin das Portal“, wiederholte Eco. „Es ist mir nicht möglich, Agathion zu betreten, und ich stehe auch nicht in Verbindung zu Desayeus.“
„Könnte Euch denn ein göttlicher Befehl dazu bewegen, das Portal zu öffnen?“, versuchte der Priester es weiter.
„Gewiss“, antwortete der Engel. „Doch obliegt ein solcher Befehl nicht einem Gott allein. Zu groß wäre die Gefahr, Aos Zorn heraufzubeschwören.“
Plötzlich spürte Faust eine Veränderung, wie einen unsichtbaren Schutzschild, der sich um seinen Körper legte. Und dann sprang Zwiespalt in seine Hand. Abrupt, wie eine zum Leben erweckte Statue, fuhr der Engel herum und zog seinerseits blank. Miu stellte sich schützend vor die Wächterin und mahnte Faust mit einem vorwurfsvollen Blick zur Mäßigung.
„Ihr erhebt Euer Schwert gegen einen Diener des Pantheons?“ Die Stimme der Gottesdienerin war wie erkaltetes Metall.
„Da Ihr Euch weigert, uns durchzulassen, bleibt mir keine andere Wahl.“
Der Blick der goldenen Augen bohrte sich in seinen Geist, versuchte Fausts Absichten zu ergründen, doch der Schutzschild seines Schwertes wehrte den Versuch ab. Zwiespalt vibrierte ungeduldig in seiner Hand.
„Faust, beherrsch dich“, knurrte Grimwardt und legte ihm mäßigend die Hand auf den Arm. Der Anflug einer Drohung klang in seiner Stimme mit. „Sie hat keine göttliche Befugnis, uns einzulassen. Ich werde zu Tempus beten, damit er Sie uns erteilt.“
„Spar dir die Mühe“, murmelte Faust, den Blick auf den Gegner gerichtet. Seine Bewegungen spiegelten die des Engels. Grimwardt hatte vermutlich Recht. Aber er wollte angreifen, er wollte den Zorn der Götter heraufbeschwören. Vielleicht war es Wahnsinn, doch er hatte nie verstanden, mit welchem Recht die Götter den Sterblichen ihre Ordnung aufzwangen. Sind sie wirklich so viel besser als wir? Oder sind sie nur Teil einer Hierarchie, die so allgegenwärtig ist, dass sie noch nie jemand in Frage gestellt hat? Möglich, dass Zwiespalt diesen Hass in ihm geweckt hatte, doch in ihm geschlummert hatte er schon lange.
„Bei Veiros’ Ungestüm, Faust, du gottloser Narr!“ Die Zornesader auf Grimwardts Stirn trat pochend hervor, als er erkannte, dass der Gefährte sich nicht würde belehren lassen. Mit gezückter Axt stellte er sich ihm in den Weg, doch Faust wich der Bewegung aus und griff an.
Einen Augenblick, bevor er den Engel erreichte, sah er aus dem Augenwinkel, wie Miu diesen am Arm berührte. Seine Klinge stieß oberhalb des Herzens durch Ecos Rüstung, doch die Wunde war kleiner als die Wucht des Stoßes vermuten ließ. Im selben Moment ging Miu in die Knie und eine blutige Wunde klaffte an der der gleichen Stelle oberhalb ihres Herzens. Ihr Gesicht war bleich, doch von unumstößlicher Entschlossenheit: Wenn du sie tötest, musst du mich auch töten. Faust verfluchte die Karaturianerin und ihren stummen, aufopferungsvollen Widerstand. Es war eine Art des Kampfes, gegen den er machtlos war. Doch diesmal würde er nicht zulassen, dass sie den Sieg davontrug! Während er den Hieben des silbernen Engelsschwertes auswich, das ganz von alleine zu tanzen begann, steckte er Zwiespalt zurück in die Scheide. Ohne auf das protestierende Vibrieren des Schwertes einzugehen, griff er nach seiner gepolsterten Keule. Sie würde genügen, um den Engel bewusstlos zu prügeln, ohne Miu in Lebensgefahr zu bringen. Doch es erwies sich als gar nicht so einfach, zu dem Gegner vorzudringen. Von rechts hatte sich mit grantiger Miene Grimwardt zwischen ihn und die Gottesdienerin gedrängt und seine schmetternden Axthiebe ließen keinen Zweifel daran, wem seine Loyalität galt. Zu seiner Linken hörte Faust Winter magische Worte murmeln. Welchen Zauber sie auch entfesselt hatte, er verfehlte ihn. Doch bei der Erkenntnis, dass selbst Grimwardts Schwester, die gerade so viel Gottesfürchtigkeit besaß wie ihrem Opportunismus dienlich war, sich gegen ihn gewandt hatte, sank ihm der Mut. Doch er erhielt Unterstützung von unerwarteter Seite: Plötzlich tauchte Drake hinter Winter auf und in jeder seiner Fäuste blitzte ein Dolch. Die Zauberin durchschaute die Finte, konnte dem Angriff jedoch nicht mehr rechtzeitig ausweichen, um zu verhindern, dass Drake eine hässliche Wunde in ihren Hals riss.
„Du verdammter Bastard!“, rief sie empört.
Es sah dem Assassinen ähnlich, sich an dem verwundbarsten „Gegner“ zu vergreifen, statt zu riskieren, den göttlichen Zorn des Engels heraufzubeschwören. Doch Faust, den Grimwardts zorniger Angriff in arge Bedrängnis brachte, konnte es sich im Augenblick nicht erlauben, wählerisch zu sein. Immerhin verschaffte Drakes Angriff ihm genug Luft, um zu dem Engel durchzudringen. Und er ergriff die winzige Gelegenheit, die sich ihm bot, und versetzte seinen Körper in jenen Zustand innerer Ruhe, der der Stille im Auge eines Sturms glich, wenn die Zeit für einen Herzschlag stillstand, ohne dass die Welt um ihn herum es bemerkte: Götterdämmerung, wie der Samurai Nakamura das Manöver genannt hatte. Der Engel ging unter der Wucht der eilig aufeinander folgenden Keulenangriffe zu Boden – und Miu mit ihm.
Doch Faust hatte sich zu früh gefreut. Er hatte sich bereits abgewandt, als er den bohrenden Blick der Topasaugen in seinem Rücken spürte. Dann wurde er von einer Schockwelle göttlicher Energie erfasst und gegen die Höhlenwand geschleudert.

Grimwardt
„Untersteh dich!“, knurrte Grimwardt und versuchte Drake zu fassen zu bekommen. Doch der Schurke entwand sich seinem Griff und tauchte flink unter seinen Armen hindurch. Nach dem Angriff auf Faust war Eco wieder zu Boden gesunken. Drake schlitzte dem wehrlosen Gegner die Kehle auf und eine Blutfontaine ergoss sich über die Rüstung des Tempuspriesters. Als die Wächterin von Agathion zu Boden ging, brach ein gleißendes Licht aus der tödlichen Wunde, gefolgt von einer Druckwelle, die alle Umstehenden zu Boden warf. Als Grimwardt wieder sehen konnte, war der Engel verschwunden. An ihrer Stelle hatte sich ein strahlend weißer, schmuckloser Torbogen materialisiert.
Grimwardt rappelte sich auf und betete im selben Atemzug um Vergebung in welchem er den Engelstöter mit einem Schwall äußerst profaner Flüche überschüttete.
„Hör schon auf“, höhnte Drake, der seelenruhig seine Dolche reinigte. „Ihr brauchtet jemanden, der für euch die Drecksarbeit macht und siehe da: Das Tor ist offen.“
Die letzten Worte hatte er brüllen müssen, denn mit Ecos Tod hatte das Labyrinth von Pandämonium seinen ruhenden Mittelpunkt verloren und mit den unvorhersehbaren Veränderungen der Umgebung waren auch die heulenden Winde zurückgekehrt: Das Chaos forderte zurück, was der Engel in Schach gehalten hatte. Fausts launisches Schwert würde das freuen.
Der Kriegspriester hatte nicht übel Lust, die beiden Abtrünnigen Tempus’ heiligen Zorn spüren zu lassen, bevor er wieder verflog. Doch er musste seinen beiden bewusstlosen Gefährten helfen, ehe sich ein Stalagmit entschied Miu oder Faust aufzuspießen oder ihnen allen die Decke auf den Kopf fiel. Nachdem er die Karaturianerin geheilt hatte, setzte diese sich zu Faust und legte ihm die Hand auf die Stirn. Der Kämpfer stöhnte, doch es war wohl weniger sein angeschlagener Kopf als Mius leidvoller Blick, der ihm zu schaffen machte.
„Es ging nicht anders, Miu…“, versuchte er sich zu rechtfertigen. Er merkte offenbar selbst, wie mager und erbärmlich diese Entschuldigung klang, denn plötzlich veränderte sich sein Gesichtsausdruck. „Verflucht, hast du erwartet, dass ich ewig nach deiner Pfeife tanze, Täubchen?“, fragte er grantig und rappelte sich auf. Miu zuckte merklich zusammen und Grimwardt sah die fromme Ordensschwester zum ersten Mal schockiert.  Für einen Augenblick lieferten sich die beiden ein stummes, regloses Duell, dann formten Mius Hände einen Zauber und sie verschwand.
„Mach doch, was du willst.“ Faust biss sich auf die Lippen und vermied es, irgendwen anzusehen. „Du kommst ja doch wieder zurück.“
„Wir sollten gehen, solange das Portal noch offen ist“, grummelte Grimwardt. Und bevor wir anfangen, uns gegenseitig an die Gurgel zu gehen, fügte er in Gedanken hinzu.
Der Priester schritt als erster durch den Torbogen und gelangte in einen gigantischen Saal mit Spiegeln an allen vier Wänden und einer Kuppel, die ebenfalls aus Spiegelglas bestand. Der Raum war leer bis auf einen Lehnsessel, so hoch wie ein Haus, auf dem, ihnen den Rücken zugekehrt, eine verschleierte Gestalt harrte.
Irgendwas stimmt hier nicht, dachte er. Und dann stürzte es auch schon auf ihn ein.

„General Grimwardt.“
Er erwidert den Gruß der Wachen mit einem mürrischen Grummeln und betritt eiligen Schrittes das Gemach seines Dienstherrn. Es ist ihm gleich, ob ihn alle hier für einen Finsterling halten, solange sie dem Emblem auf seinem Mantelrevers Respekt zollen: der schwarzen Feder, gekreuzt mit dem schwarzen Schwert auf feurig rotem Grund. Abfällig mustert Grimwardt die komfortable Einrichtung des Gemachs, die kostbaren Diwane aus Turmisch, die kunstvollen calimshitischen Wandteppiche und die Weingläser aus elfischem Kristallglas auf dem Tisch. Er tritt ans Fenster und lässt den Blick vage über die fliegende Stadt, den dunklen See und die Dünenlandschaft dahinter gleiten. Irgendwer hat einmal gesagt: Nirgendwo ist der Horizont so fern wie in der Wüste von Anauroch.
Das leise Rascheln der Türvorhänge kündigt die Ankunft des Prinzen an. Wie immer ist der Arkanist in schwere, weinfarbene Roben gekleidet.
„Mein Prinz“, murmelt Grimwardt und neigt leicht den Kopf. Seine Hand ruht auf dem Heft seines schwarzen Obsidianschwerts. „Ihr habt Neuigkeiten?“
„Allerdings!“ Der Prinz lässt einen Pagen Wein in die elfischen Kristallgläser einschenken und stößt mit Grimwardt an. Ein schiefes, unheilvolles Lächeln lauert in den Mundwinkeln des schattigen Umbrantengesichts. Es heißt, es habe schon Menschen im Angesicht dieses Lächelns der Tod ereilt. Grimwardt hält das für Unsinn – der Prinz ist ein Schwächling, der lediglich das Glück hat, mit genug List und Tücke gesegnet zu sein, um seine Brüder über seine unzulänglichen magischen Fähigkeiten hinwegzutäuschen. Ihm ist es gleich – er ist des Krieges wegen hier, nicht um des Prinzen willen.
„Wir konnten zwei der Verbündeten der Sandfürstin identifizieren“, erklärt der Umbrant. „Es scheint, dass sie dem Imperium schon einmal einen schweren Schlag versetzt haben.“
Er vollführt eine magische Geste und lässt zwei Trugbilder entstehen: ein Mann und eine Frau. Ersteren hat Grimwardt noch nie zuvor gesehen: ein Kämpfer mit breiten Schultern, einer Eisenfaust und verschiedenfarbigen Augen. Beim Anblick der Frau dagegen erstarren seine Gesichtszüge für einen Augenblick.
„Sie ist meine Schwester“, murmelt er. „Aber ich nehme an, das wisst Ihr bereits.“
Das lauernde Lächeln gräbt sich tiefer in die Wangen des Umbranten. „Ist das ein Problem, General?“
Grimwardt kneift die Augen zusammen und blinzelt in die untergehende Sonne, die hinter den Dünen versinkt, ohne ihr Spiegelbild im trüben Wasser des Schattensees zu hinterlassen. Dann sieht er seinem Dienstherrn in die Augen.
„Nein“, sagt er.


Die Vision verschwand aus dem Spiegel und dieser zeigte ihm nur noch seine Reflektion, tausendfach reproduziert durch die Spiegelungen der gegenüberliegenden Wand, sodass der Raum von unendlicher Weite erschien.
„So ein Humbug“, knurrte Grimwardt kopfschüttelnd. Ein schwarzes Schwert und ein fremdes Emblem. Sicherheitshalber sah er nach, ob er noch seine Streitaxt und den Schild mit dem Zeichen des Feindhammer bei sich trug. Alles am rechten Fleck. Dann sah er sich um.
Neben ihm harrten Winter und Faust mit schockstarren Mienen und weit aufgerissenen Augen. Allein Drake hatte der eigenartige Zauber der Spiegel nicht in seinen Bann geschlagen. Grimwardt packte seine Schwester beim Arm und schüttelte sie und Drake versuchte Faust durch einen angedeuteten Faustschlag zum Blinzeln zu bewegen, doch ohne Erfolg.
„Wie in der Zeit gefroren“, bemerkte der Albino mit einer Mischung aus Faszination und Schadenfreude.
„Wie kommt’s dass du nicht dastehst wie ’ne Salzsäule“, grummelte Grimwardt. „Was haben sie dir vorgegaukelt, die Spiegel?“
Drake runzelte die Stirn.
„Nichts…?“ Es klang wie: Worauf willst du hinaus?
Doch Grimwardt ging nicht näher auf das Thema ein, sondern trat auf die Gestalt auf dem Lehnsessel zu. Als er das Gebilde umrundet hatte, stellte er fest, dass der erste Blick ihn getäuscht hatte: Die Gestalt war ein greiser Mann und was er zunächst für einen Schleier gehalten hatte erwies sich als schütteres Kopf- und Barthaar, das wie feinstes Lametta den gesamten riesenhaften Körper des gefallenen Gottes einhüllte und noch über die Lehnen des Thronsessels hinaus wuchs. Desayeus schien dasselbe Schicksal ereilt zu haben wie Grimwardts Gefährten: Seine Pupillen waren schockgeweitet und starr auf sein Spiegelbild gerichtet. In den Falten seines Greisengesichts hatte sich der Staub von Jahrtausenden angesammelt.
„Ziemlich… ernüchternd“, befand Drake respektlos.
Grimwardt brummte etwas Unverständliches – immerhin war Desayeus noch immer ein Gott und sollte als solcher behandelt werden. Allerdings siegte am Ende doch sein Pragmatismus und er begann auf der Suche nach dem Seelensplitter mit seiner Axt wie mit einer Heusense durch das dichte Gestrüpp von Gotteshaar zu pflügen. Nach einer halben Stunde schweißtreibender Arbeit jedoch musste der Kriegspriester feststellen, dass die silbrigweiße Pracht schneller wuchs als er sie zurechtzustutzen vermochte. Auf diese Weise würden sie in einem göttlichen Schuppenmeer versinken, ehe er auch nur bis zum Kinn vorgedrungen war. Auch der Versuch Desayeus mit einer Augenbinde aus Gotteshaar die Augen zu verbinden, um ihn aus seiner Starre zu erlösen, fruchtete nicht, und die Spiegel erwiesen sich als gänzlich unzerstörbar.
„Zieh ihm die Lider über die Augen“, knurrte Grimwardt schließlich entnervt an Drake gewandt, der gerade damit beschäftigt war, die göttliche Ohrmuschel in Augenschein zu nehmen.
„Eklig, aber einen Versuch ist es wert“, bemerkte Drake, dessen Hang zum Absurden ihn die Sache mit Humor nehmen ließ.
Und tatsächlich hatten sie Erfolg: Desayeus blinzelte träge aus trüben, rauchgrauen Augen, musste einmal heftig niesen, sodass Drake von seiner Schulter purzelte und blickte schließlich schläfrig auf die beiden Sterblichen herab.
„Ihr… seid gekommen“. Die heisere Stimme des göttlichen Greises schien sich aus einer Vielzahl anderer Stimmen zusammenzusetzen.
Grimwardt weckte eilig seine beiden Gefährten auf die selbe Weise. Zu spät fiel ihm ein, dass es sich vermutlich gehört hätte, vor dem Gott auf die Knie zu sinken. Allerdings schien Desayeus auf derlei Respektbekundungen keinen Wert zu legen. Kaum war der Bann der Spiegel gebrochen und die unnatürliche Starre von ihm abgefallen, da sackte er in sich zusammen wie ein Sack Reis und schien einzudösen.
„Ähm… Desayeus?“ Wie, bei den Neun Höllen, sprach man einen Gott an?
Träge hob der Greis noch einmal den Kopf.
„Wie lange habe ich darauf erwartet, dass sich die Vision der Spiegel erfüllt? Ich sah euch kommen, die Erlöser, die mich aus den Klauen meiner Zukunft befreien… Es gibt im ganzen Multiversum nur noch eine Handvoll Sterblicher, die meinen Namen noch nicht vergessen haben. Zu wenige, um mich am Leben zu halten… Wir Götter sterben mit dem Glauben an uns und ich bin… entsetzlich müde.“
Er drohte wieder einzunicken, doch Winters helle Stimme holte ihn in die Wirklichkeit zurück. „Was sind das für Visionen… in den Spiegeln, meine ich?“ Sie klang zittrig und erst jetzt bemerkte Grimwardt, dass seine Schwester kreidebleich war.
„Sie zeigen die Zukunft desjenigen, der in sie hineinsieht“, murmelte Desayeus. „Die wahrscheinlichste Zukunft….“
Winter schluckte heftig.
„Was… was heißt das, die wahrscheinlichste Zukunft?“
„Die Zeit entzieht sich selbst dem Auge der Götter“, erklärte Desayeus. Eine Erinnerung schien ihn zu streifen und was auch immer sie in ihm berührte, es bewirkte, dass seine Augen sich klärten und seine Schultern sich strafften. „Sie ist wie ein reißender Strom, der ausnahmslos jeden erfasst, der in ihm weilt. Niemand weiß genau, wohin die Reise führt, doch es ist wahrscheinlich, dass sie bei jeder Flussgabelung dem Strom mit der stärksten Strömung und des geringsten Widerstands folgt. Diesen Weg zeigen die Spiegel… den Weg des geringsten Widerstands.“
„Die Spiegel zeigen die wahrscheinlichste Zukunft, sagt Ihr?“ Faust runzelte die Stirn. „Ihr meint… eine einzige?“
„Aber gewiss.“
Faust schien verwirrt, doch ehe er weiterfragen konnte, ergriff Winter wieder das Wort.
„Und was… kann man tun, um diese Zukunft abzuwenden?“ Grimwardt sah seine Schwester forschend an, doch sie wich seinem Blick aus.
„Quäl dich nicht mit den Visionen der Spiegel, mein Kind“, seufzte Desayeus schwermütig. „Begehe nicht denselben Fehler, den ich begangen habe. Die Spiegel sind meine Schöpfung … und mein Untergang. Ich bin… war der Gott der Zeit und bin ihrem Geheimnis näher gekommen als jeder andere vor mir, doch am Ende hat die Zeit mir ein Schnippchen geschlagen… mich mit meinen eigenen Waffen geschlagen.“
„Dann habt Ihr versucht, Eure Zukunft zu ändern?“
„Das habe ich.“ Bei der Erinnerung sackte der Gott erneut in sich zusammen und verstummte. Es bedurfte ihrer vereinten Schnipskünste, um Desayeus aus seiner Lethargie zu reißen. Als er sprach, schien er zu sich selbst zu sprechen als habe er die Sterblichen zu seinen Füßen völlig vergessen. „Ich sah meinen Tod in den Spiegeln – diesen Tod. Und ich beschloss ein Zeitportal zu bauen, um in die Zukunft zu reisen und mich selbst aus diesem Gefängnis zu befreien. Doch ein Zeitportal kann nur außerhalb der Zeit bestehen und es gibt nur zwei Orte, die unberührt sind vom Strom der Zeit. Der eine ist die Stadt der Seelen, wohin es die Seelen der Sterblichen nach dem Tode zieht; der andere ist die Bastion der ungeborenen Seelen, woher sie kommen. Die Stadt der Seelen kann kein Gott betreten außer dem Herrn der Toten und seinen Dienern; wir anderen können nur bis zu ihren Häfen vordringen. Darum erschuf ich den Seelenstein, der mir Einlass in die Bastion verschaffen sollte. Dort begann ich mit der Errichtung des Zeitentors. Doch mein Schaffen erregte das Misstrauen der anderen Götter. Sie glaubten, ich sei in die Bastion eingedrungen, um den Bann der ungeborenen Seelen zu brechen und die Herrschaft über die präinkarnierten Seelen an mich zu reißen, und sie fürchteten, dass Aos Zorn ob meiner Machtgier sie alle treffen könnte. Darum verbannten sie mich… hierher. Ich war ein Tor – das Opfer meiner eigenen Prophezeiung. Und so holte mich die Ironie des Schicksals ein.“
Grimwardt räusperte sich.
„Was uns zum Grund unseres Kommens bringt.“ Offenbar war er der einzige hier, der über all den hellseherischen Unfug nicht völlig vergessen hatte, weshalb sie hier waren. „Ein Parasit ist mit einem der Splitter des Seelensteins in die Bastion eingedrungen. Wäret Ihr so gütig, uns Euren Splitter zu überlassen, damit wir dorthin reisen und ihn stellen können.“
„Nehmt ihn nur“, murmelte Desayeus. „Das grässliche Ding hat mir nichts als Ärger bereitet. Ich will nur noch eines… schlafen.“
„Aber Ihr müsst uns noch sagen, wo er ist… Desayeus? Desayeus!“
Doch es war zu spät: Der Kopf des alten Gottes war vornüber gesunken und diesmal vermochte ihn nichts aus seinem lange ersehnten Schlummer zu reißen. Der Gott der Zeit verblasste einfach - so wie die Erinnerung an ihn verblasst war. Als die Gestalt auf dem Thronsessel nur noch ein durchscheinendes Schemen war, ging ein breiter Riss durch die Spiegelkuppel. Der Sprung spaltete sich in vier Risse, die sich mit klirrendem Kreischen durch das Glas der vier Spiegelwände fraßen, und der Raum zerbarst in einem Hagelgewitter aus Spiegelsplittern. Grimwardt suchte Deckung unter seinem Schild und stimmte den magischen Betgesang an, der die Gefährten von hier fortbringen würde. Gerade noch rechtzeitig erspähte Faust das kristallene Amulett zwischen den Trümmern.

Winter
Am Abend in Whispers Braustube, Myth Drannor.
„Was habt ihr in den Spiegeln gesehen?“, fragte Winter. Eine lähmende Kälte hatte sich in ihren Gliedern festgesetzt und es war allein dem Weinbecher in ihren Fingern zu verdanken, dass sie nicht zitterte wie Espenlaub.
„Viel!“, entgegnete Faust und blinzelte wie geblendet. „Und nichts davon ergibt einen Sinn. Es war wie ein wilder Ritt durch ein… Meer von Realitäten. Ich sah mich auf einem Schlachtfeld inmitten eines Heers von Titanen – vielleicht Göttern – und als sie gegeneinander stürmten schien die Welt unterzugehen. Dann Miu…. Sie war tot oder bewusstlos und ich beugte mich voller Entsetzen über sie. In einer anderen Vision sah ich mich gar mit meinem alten Meister sorglos durch einen Wald schlendern…. Und sofern sich nicht meine Vergangenheit ändert, ist das ziemlich unwahrscheinlich, denn er ist schon seit Jahren tot und selbst wenn nicht, wäre er… vermutlich nicht besonders gut auf mich zu sprechen. Dann wieder sah ich ein Licht auf mich zukommen und dann Dunkelheit, vermutlich mein eigener Tod… Das alles ähnelte eher einer abstrusen Traumsequenz als einer Zukunftsvision. Also wenn ihr mich fragt, mit diesen Spiegeln stimmt etwas nicht.“
„Das ist doch ohnehin alles nur Blendwerk“, knurrte Grimwardt. „Kein Grund sich den Kopf darüber zu zerbrechen.“
„Was hast du denn gesehen?“, fragte Winter so beiläufig wie möglich. Doch sie konnte ihrem Bruder dabei nicht in die Augen sehen.
Was er daraufhin erzählte, bestätigte ihre Befürchtung.
„Du meinst, du hast einem anderen Herrn gedient und noch dazu für die Umbranten gearbeitet?“, fragte Faust und pfiff durch die Zähne. „Na so was, der standhafte Grimwardt!“, feixte er.
„Wie ich schon sagte, alles Unfug“, brummte der Priester. „Ich würde niemals meinem Gott abschwören. Und seit wann ist dieses kleine Schattenreich inmitten der Ödnis bitteschön ein ‚Imperium’?“
„Trugst du… vielleicht zufällig ein schwarzes Schwert?“, fragte Winter beklommen.
„Ja... Als ob ich für so ein unhandliches Ding meine treue Axt aufgeben würde.“ Er runzelte die Stirn. „Woher weißt du das?“
Winter holte tief Luft und begann zu erzählen.  
„Ich sehe mich selbst auf einem Schlachtfeld in der Wüste.“ Die Vision, die sich im Spiegelsaal in einer Endlosschleife vor ihrem Auge wiederholt hatte, war so lebendig, als sei sie bereits real. „Vermutlich die Wüste von Anauroch, denn im Hintergrund sehe ich eine fliegende Stadt. Um mich herum wird gekämpft, doch ich achte nicht auf die Kämpfenden, die Schlacht ist wie etwas, das weit entfernt von mir stattfindet. Ich… bin in Panik und rufe immer wieder Scarlets Namen. Dann wirke ich einen Zauber und fliege hoch, um das Schlachtfeld besser überblicken zu können. Irgendwann entdecke ich sie zwischen den Kämpfenden. Sie ist älter, eine junge Frau, obwohl ich selbst nicht älter aussehe als jetzt. Und sie trägt ein seltsames, fließendes Gewand, das ihre Haare bedeckt, wie die Beduinen in der Wüste es manchmal tragen. Sie wirkt irgendeine Art von Zauber – schwarze Strahlen schießen aus ihrer Handfläche. Plötzlich kommt von der Seite ein Kämpfer auf sie zugestürmt.“ Winter musste heftig schlucken, als die Erinnerung den Moment vorwegnahm: Eine schwarze Klinge ragt aus Scarlets Brust. Der unbekannte Reiter wendet ihr sein Gesicht zu. Sie riss sich zusammen und sah ihrem Bruder unverwandt in die Augen. „Ich rase auf sie zu, aber ich bin nicht schnell genug. Er erreicht sie vor mir und rammt ihr sein Schwert in die Brust. Kurz bevor sie stirbt, blickt er zu mir auf und ich… ich sehe in dein Gesicht, Grim.“
Grimwardt konnte ein Schaudern nicht unterdrücken, doch dann schüttelte er ungeduldig den Kopf. „Das glaubst du doch nicht im Ernst, oder?“
Winter zuckte hilflos mit den Schulten.
„Desayeus’ Zukunftsvision hat sich erfüllt“, erinnerte sie ihn leise.
„Weil er versuchte sie zu ändern“, bemerkte Faust. „Vielleicht ist das der springende Punkt. Eine Art Test der Zeit… Sofern wir ihr nicht auf den Leim gehen, lässt sie uns vermutlich in Ruhe.“
Winter bedachte ihn mit einem zweifelnden Blick. Sie konnte die Sache nicht so leicht nehmen wie ihre beiden Gefährten. Welche Mutter, die ihr eigenes Kind sterben sah, könnte das? Sie wusste, sie würde in Zukunft keinen Schritt mehr tun können ohne auf verräterische Zeichen zu achten: ein schwarzes Schwert, das Feder-und-Schwert-Emblem, die geheimnisvolle Sandfürstin aus Grimwardts Vision...
„Hey, Schneeweißchen“, rief Faust und stieß Drake unsanft in die Seite, der mit einem giftigen Zischen zusammenfuhr. Offenbar beabsichtigte Faust, für ein wenig Wirbel zu sorgen, um zu verhindern, dass Winter wieder in ihr düsteres Brüten verfiel. „Bist verdammt ruhig… Hast du in den Spiegeln gesehen, wie ich dir die Eier zertrete?“
Der Assassine maß ihn mit einem abschätzigen Blick und erwiderte dann: „Ich habe gar nichts gesehen.“
„Sicher.“
Drake achtete nicht auf Fausts Hohn.
„Auch nicht mein eigenes Spiegelbild. Es war als wäre ich unsichtbar für die Spiegel.“ Sein Blick traf Winters und als sie den gehetzten Ausdruck in seinen neblig-roten Albinoaugen sah, wusste sie, dass er die Wahrheit sagte. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem sarkastischen Lächeln. „Ich schätze, es ließe sich darüber streiten, welche Vision nun die düsterer ist.“
« Letzte Änderung: 22. September 2010, 03:12:54 von Niobe »

Nightmoon

  • Mitglied
    • Schicksalsstreiter
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #134 am: 12. September 2010, 02:23:58 »
Das ist toll! endlich wieder was Neues!  :thumbup:
Wie immer sehr cool! War auch mal schön sich gegen seine Gruppe zu stellen  :twisted:

  • Drucken