Hallo!
Ich setze "Die Zeit" gegen Enzensberger:
rechtschreibreform
Die neue Freiheit
Die Rechtschreibreform erlöst von der Regelwut und bewahrt doch die Tradition der deutschen Sprache. Sie muss bleiben
Von Jens Jessen
Der größte Gewinn der Rechtschreibreform besteht in dem, was die Reformgegner am meisten aufregt. Es ist die Liberalisierung der Schreibweisen. Die Zahl der Regeln wurde halbiert, vieles Strittige ins Belieben gestellt, die verzwickte Kommasetzung durch weitgehende Freigaben ersetzt. Die Reform verlangt nicht, wie manchmal unterstellt, den Verzicht auf Kommas, wenn darunter der Sinn leidet. Jeder darf so viele setzen, wie er für nötig hält, um verstanden zu werden. So wird auch, um einen zweiten Stein des Anstoßes zu nennen, niemand gezwungen, unschöne Trennungen vorzunehmen; wer aber griechische Fremdwörter nicht kennt, muss auch nicht angstgepeitscht im Lexikon nachschlagen, um die Trennung At-rophie zu vermeiden.
Es gibt also einen antiautoritären Zug in der Reform. Er wird noch dadurch verstärkt, dass es neben der gewollten eine ungewollte Liberalisierung gibt. Von vielen wird die neue Orthografie nicht oder nur fragmentarisch angewandt. Man nennt das Rechtschreibschwäche; sie gab es immer und überall. Nicht aber wird aus der behaupteten Unverständlichkeit der neuen Regeln ein Argument für die alten, denn diese waren viel komplizierter. Wer die neuen nicht versteht, wird auch die alten kaum begriffen haben. Sie verlangten Kenntnisse von Semantik und Grammatik bis in die Verästelungen hinein, die es erlauben, zwischen der Behandlung seines Problems im ganzen und der eines Problems im Ganzen zu unterscheiden. Wenn der Schreiber aber das Problem sowohl mit allen seinen inneren Facetten im ganzen wie mit allen äußeren Zusammenhängen im Ganzen behandeln wollte, konnte er vor dem Duden nur verzweifeln.
Sprache verfügt, um Verständlichkeit herzustellen, eben nicht nur über die Mittel der Präzision, sondern auch über die der Vagheit. Eine Rechtschreibung muss elastisch genug sein, alle Mittel zu erlauben. Diese Elastizität verlor die alte Schreibung, je mehr sie sich über die Jahrzehnte verfeinerte. Sie täuschte damit auch eine Logik vor, die in der Grammatik gar nicht enthalten ist; viele ihrer Regeln waren leere Sophistereien, mit denen ein fundamentaler Unterschied zwischen radfahren und Auto fahren konstruiert wurde.
Sprachen sind aber keine logischen Systeme; sie sind halb logisch, halb systematisch, voller Ausnahmen und Reste früherer Sprachverhältnisse. Darum ist es auch Unfug, der reformierten Schreibung Widersprüche vorzuwerfen. Sie enthält zwar Unlogisches. Aber nur weil jede Logik an der einen Stelle Unlogik an einer anderen produziert. Widerspruchsfrei wäre nur eine rein fonetische Orthografie, wie es sie im Italienischen, Russischen, Portugiesischen gibt. Eine solche würde uns allerdings zur Entscheidung zwingen, ob wir weich und Keiser oder Kaiser und waich schreiben wollen. Wir müssten uns auch von der grammatikalisch begründeten Großschreibung verabschieden, obwohl sie, wie viele Untersuchungen gezeigt haben, die Lesbarkeit entscheidend erhöht.
Erst das wäre der große Kulturbruch, den die Reformgegner schon jetzt beklagen. Tatsächlich aber ist die neue Schreibung noch immer auf dem deutschen Sonderweg unterwegs, der darin besteht, sowohl fonetische wie etymologische wie syntaktische wie semantische Aspekte zu berücksichtigen. Aber die Reform hat sich um Ordnung bemüht. Es ist vernünftig, bei der Unterscheidung von ss und ß vor allem fonetisch, also nach Länge des vorangegangenen Vokals, zu entscheiden. Es ist auch vernünftig, die Wortbildung so durchsichtig wie möglich zu machen, also etwa die Verwandtschaft von aufwändig und Aufwand nach dem Muster von anständig und Anstand zu betonen. Nicht vernünftig war es, behände zu Hand zu stellen, weil es damit nichts zu tun hat. Aber solche Scheinverwandtschaften, Volksetymologien genannt, kannte auch die alte Schreibung. Wetterleuchten hatte nichts mit Leuchten zu tun (sondern mit mittelhochdeutsch leich, Spiel).
Volksetymologien sind nicht verwerflich; sie entstehen bei dem Versuch der Sprecher, sich die eigene Sprache zu erklären. Wir haben sie aus Jahrhunderten vorwiegend mündlicher Überlieferung geerbt; sie zeigen die historische Tiefe der Sprache an. Auch die rücksichtslose Eindeutschung von Fremdwörtern ist nicht neu; der Schose (Chose) ist schon die Perücke (Perruque) vorausgegangen. Gerade die Vergangenheit aber tritt uns in der neuen Schreibung wieder näher, anders als der ungebildete Konservatismus der Reformgegner meint. Ein Beispiel ist die Zunahme von Groß- und Getrenntschreibungen; sie ist eine Rückkehr zu Gewohnheiten des 19. Jahrhunderts, wo im Zweifel groß und auseinander (zum Beispiel auch aus einander) geschrieben wurde.
Selbst manche willkürliche Neuerung schärft den Sinn dafür, dass Orthografie eine Sache der Mode ist. Es gibt keine wahre, heilige Schreibung des Deutschen. Schiller und Goethe, Kleist und Fontane schrieben nicht nach dem alten Duden. Man kann sie verstehen, obwohl sich mancher über Hülffe oder fodern (statt fordern) wundern mag. Die alte Schreibung wird zu Unrecht als klassisch empfunden; sie entstand im Kern durch die Rechtschreibkonferenz von 1901. Auch sie war das Ergebnis einer Expertenkommission und keiner demokratischen Volksbewegung.
Sprache ist etwas Gewachsenes; eine verbindliche Schreibung dagegen immer ein Hoheitsakt. Wer zu einer alten Orthografie zurückkehren will, müsste erklären, warum er ausgerechnet die Duden-Schreibung nach 1901 will und nicht etwa zu Johann Christoph Adelungs Wörterbuch von 1786 zurückmöchte. Die Reformgegner haben nur die Bequemlichkeit ihrer Generation auf ihrer Seite. Sie könnten sich aber auch an der neuen Liberalisierung erfreuen.
© DIE ZEIT 29.07.2004 Nr.32
Und so logisch war die alte Rechtschreibung:
Quelle: Dieter E. Zimmer, DIE ZEIT, 3. Nov. 1989
Auflösung:
1. Irgend jemand fläzte sich auf dem Diwan neben dem Büfett [oder Buffet], ein anderer rekelte [oder räkelte] sich rhythmisch auf der Matratze, ein dritter planschte im Becken.
2. Man stand Schlange und kopf, lief Ski und eis, schob Kegel, sprach Englisch, und wer diät gelebt und hausgehalten hatte, hielt jetzt hof.
3. Auf gut deutsch heißt das, die libysche Firma hat Pleite gemacht, aber die selbständigen Mitarbeiter konnten ihre Schäfchen ins trockene bringen.
4. Alles mögliche deutet darauf hin, daß sich etwas Ähnliches wiederholen wird, obwohl alles Erdenkliche getan wurde, etwas Derartiges zu verhindern und alles zu annullieren.
5. In einem nahe gelegenen Haus fand sich das nächstgelegene Telefon [oder Telephon], im Portemonnaie der numerierte Bon.
6. Im Zenit ihres Ruhms wagten sie die Prophezeiung, man werde trotz minuziöser [oder minutiöser] Prüfung weiter im dunkeln tappen und aufs Beste hoffen, und insoweit werde alles beim alten bleiben.
7. Auch wer aufs Ganze geht und überschwenglich sein Bestes tut, tut manchmal unrecht, hält es aber gern für Rechtens.
8. Er war statt dessen bemüht, den zugrundeliegenden Konflikt - also den Konflikt, der ihrem Dissens zugrunde liegt und allen angst macht - zu entschärfen, und infolgedessen kam er mit allen ins reine.
9. Wie kein zweiter hat sich der Diskutant dafür stark gemacht, auch die weniger brillanten Reflexionen der Koryphäen ernst zu nehmen.
10. Daß es not tut, alles wieder instand zu setzen, darf ein einzelner nicht in Frage stellen.
Worttrennungen: Ex-amen; Exo-tik; Hekt-ar; igno-riert; Land-au-er; Lin-ole-um; Psych-ia-ter; Psych-ago-ge; Psy-cho-lo-ge; päd-ago-gisch; pä-do-phil; Päd-erast; So-wjet; Syn-onym.
Und
http://www-aix.gsi.de/~giese/rsreform95/index.html' target='_blank'>hier eine schöne Übersicht, warum die neue Rechtschreibung besser ist.