Brief an de Vater III
von Nuuri
Vater, ich bin in Caliphas angekommen und habe mich erwartungsvoll auf den Weg gemacht, um dein Erbe anzutreten. Dazu bin ich beim Orden des Platinauges vorstellig geworden. Aber wie konntest du nur bei einem derart versnobten und untätigen Haufen von reichen adeligen Taugenichtsen glücklich werden? Dieser Enjurous Modd macht keinerlei Anstalt, etwas gegen den Wispernden Pfad oder die Vampire in der Stadt zu unternehmen, die mein Freund Remeny aufgespürt hat. Als ich ihm von unseren Taten im Kampf gegen den Wispernden Pfad erzählte, dass wir die Auferstehung des Wispernden Tyrannen in letzter Sekunde verhindern konnten, indem wir den Rabenkopf, einen essentiellen Bestandteil des Elixiers namens Kadaverkrone, vor dem Wispernden Pfad an uns nahmen, verlachte er uns als Straßenräuber und Halunken. Ihm ist wohl gar nicht klar, wie groß die Gefahr bereits ist, die vom Wispernden Pfad ausgeht. Seine Spuren reichen bis in die Stadt und sogar bis in das Haraday Theater, den Versammlungsort des Platinauges. Oder gehört Modd etwa selbst dem Wispernden Pfad an? Ist das der Grund, warum er so wenige tatendurstig ob der offensichtlichen Gefahr für die Stadt und das ganze Land ist?
Aber vielleicht erzähle ich dir der Reihe nach, was geschehen ist:
Wir kehrten Argmoor den Rücken und ritten gen Caliphas. Die Straßen wurden breiter und belebter, Gasthäuser waren in größerer Zahl am Straßenrand zu finden und Händler mit Pferdewägen drangen vorwärts in beide Richtungen. Ein zunehmend hektischeres Treiben nach unserem Langen Aufenthalt in der Einöde. Ich freute mich bereits darauf, endlich wieder in eine Stadt zu kommen. Doch als wir auf die Überquerung des Flusses vor den Toren Caliphas zuritten, wurde mir plötzlich bewusst, dass keine Menschseele mehr da war. In der Ferne auf der steinernen Brücke mit steinernen Wachposten erspähte ich einen seltsamen schwarzen Reiter auf einem großen Pferd mit feurigen Hufen. Der Reiter war in voller Rüstung, nur da, wo sein Helm hätte sein sollen, war Leere. NICHTS. Am helllichten Tag auf einer Brücke nur wenige Meilen vor Caliphas fing uns doch tatsächlich ein kopfloser Bote des wispernden Pfades ab und verlangte nach dem Rabenkopf. So viel Dreistigkeit hätte ich nicht erwartet.
Nachdem die Verhandlungen, die zunehmend drohender wurden, scheiterten, kämpften wir uns den Weg gegen den kopflosen Reiter und seine Schreckenswolfguhle frei. Nunja, ich muss gestehen, dass Remeny den Weg für uns freikämpfte. Feo und ich waren im Nu gelähmt und dem guten Artor, der mich aus den Fängen eines Guhls befreite, unterlief ein Malheur beim Versuch, zum Kampfgeschehen zurückzukehren.
Als ich aus meiner Starre erwachte und realisierte, was geschehen war, wurde mir mit Schrecken bewusst, dass Caliphas, die Hauptstadt, längst nicht so sicher war, wie ich erwartet hatte. Diese allgemeine Skepsis zeigte sich auch in unseren Verhandlungen mit dem Diakon des Pharasma Tempels, dem wir den Rabenkopf anvertrauen wollten. Er war vor allem begierig darauf, dieses lange verschollene heilige Artefakt zurückzuerhalten. Er war wohl etwas irritiert über unseren Argwohn ihm und dem Tempel gegenüber, konnte uns dies aber nachsehen, gerade weil der Gegenstand in den Händen der falschen Personen so mächtig ist. Zu guter Letzt ließen wir den Rabenkopf in der Obhut des Tempels mit dem Versprechen, die Rückkehr des Artefakts vorerst geheim zu halten und besondere Schutzvorkehrungen zu treffen. Im Anschluss ging jede ihres Weges und genoss, endlich wieder in einer Stadt zu sein. Feo besuchte alte Freunde. Remeny meinte, mit naiven missionarischen Taten den Waisenkindern der Stadt einen Gefallen zu tun. Und Artor errichtete sich ein Museum.
Ich vielmehr begab ich mich auf die Suche nach dem Platinauge und wurde mit etwas Hilfe auch fündig. Der Orden trifft sich im Haraday Theater. Dank des Empfehlungsschreibens der Richterin Daramid aus Lepidstadt – und vielleicht auch der guten Erinnerungen der leitenden Personen des Ordens an dich – luden sie mich ein, am kommenden Abend am Schwurtag teilzunehmen. Mit den größten Hoffnungen machte ich mich mit meinen Freunden bei Sonnenuntergang auf den Weg, doch der erwartete herzliche Empfang blieb nahezu aus. Der Archivmeister Abraun Chalest war noch recht freundlich gestimmt und teilte mit mir seine Erinnerungen an dich. Auch ein hagerer Graf war eher unzufrieden mit der Untätigkeit des Ordens und dessen Versnobtheit. Doch der Rest hing diesem Ordensmeister Enjurous Modd voll Ergebung an den Lippen. Er ist wahrlich ein reicher Schnösel, der denkt, dass man mit Geld alles erreichen könnte.
Bevor der Streit mit Modd eskalierte, konnten wir ihm zumindest noch abringen, dass wir am kommenden Tag in den Archiven des Ordens ein wenig recherchieren dürften. Chalest war uns dabei behilflich, besonders in der Interpretation einiger essentieller Funde. Passend zu dem Amulett des kopflosen Reiters, das höhergestellten Anhängern des wispernden Pfads scheinbar als eine Art Schlüssel dient, gab es eine Gargyllen-Statue in der Stadt, die den Weg zum Versteck des Wispernden Pfads weisen sollte. Und diese Statue, so zeigte uns Chalest, stand unmittelbar in einer Nische im Archiv des Platinauges. Ich weiß noch nicht, ob das, was als nächstes geschah, gut oder schlecht ist und ob ich mich jemals wieder beim Orden des Platinauges blicken lassen kann, doch Artor knackte das Rätsel mit dem Medaillon des kopflosen Reiters. Eine Illusion Caliphas erschien und zeigte, dass sich das Versteck – so später Chalest – im ältesten und am wenigsten genutzten Gebäude des Quatrefaux-Archivs außerhalb der Stadtmauern befände. Gleichzeitig mit der Illusion wurden wir von einer herrischen Stimme aufgefordert, den fünften Katechismus des Wispernden Pfades zu nennen. Oh je, woher sollten wir die Katechismen des Wispernden Pfades kennen? Er trägt seinen Namen ja nicht unbegründet. Wir waren ihnen also in die Falle getappt und standen vier Knochenteufeln gegenüber, die keineswegs eine Illusion waren. Ein zäher Kampf entzündete sich, in dem weite Teile des Archivs beschädigt wurden.
Nun weißt du, weshalb ich wahrscheinlich niemals dein Erbe werde antreten können. Aber so verkommen, wie der Orden sich mir bisher dargestellt hat, bin ich mir auch nicht mehr sicher, ob dies der richtige Weg ist. Vater, wenn ich doch nur einen Rat von dir bekommen könnte, wenn du mir den Weg weisen könntest…