Der erste Abend
„Das ist die Messingtrompete?“ Wieder einmal sprach Anna aus, was alle dachten. Sie standen vor einem Haus aus rauem Malachit. Die Fensterrahmen waren verrußt, verbrannt und halb verrottet. Vor den oberen Fenstern spannte sich schwarze Ölhaut, die unteren Fenster waren ebenso verbarrikadiert wie die Tür, die offensichtlich erst nach dem verheerenden Brand eingesetzt worden war.
„Da muss es ja heiß her gegangen sein,“ sagte Thargad.
„Wir sollten uns darin mal umsehen,“ sagte Anna.
„Später,“ entgegnete Thargad. Er nickte mit dem Kopf zur Seite, wo gerade ein Trupp Stadtwachen mit ihren Hellebarden um die Ecke bog. „Wir sind schließlich gerade erst angekommen.“
Auf Nachfrage erklärte Pellir, das Haus sei verbarrikadiert worden, seit damals ein kleiner Junge in den Ruinen geklettert war und sich bei einem Sturz das Bein gebrochen hatte. Dirim fragte ihn, ob hier in der Nähe ein Lathanderschrein sei, und Pellir bejahte. Dann führte er die Nachkommen dorthin. Es war ein schmaler Turm, der sich nach oben hin nicht verjüngte. Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend betraten die Vier den Schrein, in dem warmes rotes Licht leuchtete. Eine Treppe am Rand führte nach oben, und von dort kam auch gleich ein junger Mann mit ernstem Gesicht herab geschritten.
„Willkommen in der Rose des Morgens. Ich bin Kristof Jurgensen. Wie kann ich euch dienlich sein?“
„Mein Name ist Dirim Gratur,“ stellte sich der Zwerg vor. Schon war es mit der Ruhe des Priesters vorbei.
„Gra... Gratur?“
„Meine Mutter war Branda Gratur.“
„Bra... Branda Gratur?“
„Ja?“, sagte Dirim.
„Bra... Oh je. Willkommen. Willkommen, ihr alle. Wie... Wie kann ich... Kann ich euch helfen? Wollt ihr... Ihr könnt hier schlafen, wenn ihr wollt. Es gibt nur zwei Betten, aber... Ich schlafe auf dem Boden. Ich... Oh je. Wartet einen Moment.“ Der junge Mann lief nach oben und kehrte nach einigen Augenblicken mit einer Karaffe Wein und fünf Kelchen wieder zurück.
„Wein?“, fragte er und stürzte den ersten Becher hinunter. „Oh je.“
„Nun mal ganz ruhig,“ sagte Helion. „Woher kennst du den Namen?“
Kristof sah den Magier mit verdutzten Augen an.
„Branda Gratur hat diesen Schrein erbaut.“
Nach einem weiteren Becher Wein erzählte Kristof, was er wusste. Seine Vorgesetzte Tao Sintal hatte einst von Branda Gratur die Priesterweihe empfangen und unter der Zwergin in dem Schrein gedient. Leider war Sintal vor einem Jahr verstorben, und nun war Kristof, ein einfacher Dämmerungsgrüßer, der amtierende Dämmerfürst der Stadt.
„Wisst ihr irgendetwas von meiner Mutter?“, fragte Dirim schließlich.
„Was ich weiß, kenne ich nur aus Erzählungen. Tao hat immer gesagt, sie sei eine gute, ja gütige Frau gewesen. Jemand mit reinem Herzen, der den Schwachen geholfen und das Dunkel mit ihrem Sein erhellt hat.“
Dirim lächelte. Seine Augen glänzten feucht. „Schön.“
Auf Anraten von Kristof machte man sich dann auf zum besten Haus am Platz, dem Trunkenen Morkoth.
Der Morkoth sah von außen aus wie der Bug eines Schiffes, der Obsidian des Fundaments mit rustikalem Holz verkleidet. Die Galionsfigur des Schiffes ragte über den Eingang hinweg, ein fischähnliches Wesen mit einem Humpen in der Hand. Im Inneren umgab heimelige Düsternis die Gäste, auf den Tischen brannten Kerzen, und ruhige Musik driftete durch den Schankraum. Sogleich war eine Schankmaid bei den Vieren. Pellir hatte sich draußen verabschiedet und versprochen, Dirims Pony in den örtlichen Stallungen abzugeben.
„Willkommen im Trunkenen Morkoth,“ sagte die junge Frau. „Ich bin Doreen. Wünscht ihr einen Tisch und etwas zu Essen? Oder nur etwas zu trinken? Vielleicht ein Zimmer?“
„Klingt alles gut,“ sagte Dirim.
„Vielleicht zuerst das Zimmer, damit wir unser Gepäck abladen können?“
„Wie ihr wünscht.“
Man entschied sich für vier Einzelzimmer, die alle geräumig und luxuriös ausgestattet waren. Auf Wunsch, so erklärte Doreen ihnen, konnte man sich sogar Badezuber auf die Zimmer bringen lassen.
„Was kostet denn die Nacht hier so?“, fragte Dirim schließlich. Doreen lächelte.
„Fünfzehn Klingen für die Nacht, Herr.“ Betretenes Schweigen breitete sich aus. Schließlich sagte Helion:
„Na ja, für eine Nacht...“
Als sie unten am Tisch saßen, schüttelte Dirim den Kopf.
„Ich spreche mal mit dem Wirt.“ Und das tat er dann auch, doch selbst die beste Zwergenfeilscherei vermochte nichts auszurichten, und der Zwerg trottete wieder zurück. Er warf einen Blick auf die Karte, und ächzte.
„Ich mag es hier nicht. Ich schlafe bei Kristof. Bis morgen.“ Er stand auf und ging, einem überglücklichen Lathanderpriester entgegen.
„Er war nur zu grummelig,“ sagte Anna. „Ich versuche es mal.“
Kurz darauf kam sie zurück.
„Der Kerl steht nicht auf Frauen, glaube ich. Er wollte mich nicht mal auftreten lassen, ohne dass ich bei ihm vorspreche.“ Sie zog eine Schnute. „Was gibt’s denn zu essen?“
„Geräucherte Muscheln mit Pfeffer und Krustenbrot,“ sagte Thargad. „Und dazu elfisches Bier?“
Sie entschied sich für Beerenbier, während Helion bei Wein und Thargad bei Wasser blieb.
„He, Spitzohr!“, rief plötzlich eine männliche Stimme herüber. „Bring mir noch was zu trinken.“
Anna sah sich um und bemerkte einen jungen Mann in Begleitung von zwei Frauen an einem Tisch in der Nähe. Die Frau zu seiner Linken war groß und schön, mit weicher calishitischer Haut, ihr schwarzes Haar zu einzelnen Zöpfen geflochten, die eng am Kopf anlagen. Ihm gegenüber saß ein Mädchen mit kurzen roten Haaren und mehreren Narben auf den Händen. Beide trugen eng anliegende und teure Kleidung. Er selbst war dünn und schmächtig, ebenfalls gut gewandet, und lächelte gemein. Alle trugen Rapiere an der Seite. Er bemerkte Annas Blick.
„Schau nicht so verdrossen. Ich bin sicher, auf meinem Schoß ist noch ein Platz für dich.“
„Ihr scheint reich zu sein,“ rief Anna zurück, „warum leistet ihr euch keine hübschen Frauen?“ Die Rothaarige wollte aufspringen, aber die Andere hielt sie zurück.
„Lass Todd das machen,“ flüsterte sie. „Mal sehen, wie er sich schlägt.“
„Weißt du nicht, wer wir sind, Spitzohr? Wir sind die Sturmklingen! Und jetzt hol mir was zu trinken.“
„Oho, die Sturmklingen,“ sagte Anna gespielt beeindruckt. „Sofort, Herr.“ Mit einem spöttischen Lächeln ging sie zum Wirt.
„Was ist euer teuerstes Getränk?“
„Wir haben einige wenige Flaschen Verethere Amnae.“ Die Antwort verblüffte Anna. Dieser kostbare Amnae – Elfenwein – war das Prunkstück elfischen Weinbaus. Die Flüssigkeit hatte eine ätherische Qualität, ein beinahe unbezahlbares Gut. Sie lächelte.
„Der Herr dort wünscht etwas davon.“ Sie wies zu Todd. Der Wirt blickte hinüber. Als Todd das bemerkte, rief er:
„Was ist denn, Welvihk? Nun mach schon!“ Der Wirt schluckte, verschwand dann aber im Hinterzimmer und kehrte mit einer kleinen Flasche aus kostbarem Bleiglas zurück. Vorsichtig und mit zittriger Hand goss er drei kleine Gläser voll.
„Was kostet das jetzt?“, fragte Anna.
„Die Flasche kostet 250 Platinkelche, jedes Glas also etwa 50 Kelche.“
„500 Goldköniginnen also. Gut.“ Mit einer schwungvollen Bewegung drehte sie sich herum und brachte unter den wachsamen Augen von Helion, Thargad und dem einzigen anderen Gast, einem Zwerg, das kostbare Getränk zu den Sturmklingen.
Todd schluckte, als er sah, was Anna angeschleppt hatte.
„Dafür wirst du bezahlen,“ drohte er.
„Im Gegenteil,“ sagte Anna, „ich fürchte, der Wirt wird bei dir kassieren. Schließlich war der Wein für dich.“
Seine Augen versprühten Dolche, die Rothaarige schien sich kaum zu beherrschen, aber die dunkle Schöne taxierte Anna nur mit eiskaltem Blick.
„Gehen wir.“ Die drei stürzten ihren Wein herunter – es tat Anna in der Seele weh, das zu sehen – und verließen die Kneipe schnellen Schrittes.
„Am ersten Abend in der Stadt, und schon haben wir neue Freunde,“ sagte Anna leichthin, als sie sich wieder setzte. Der Wirt kam zu den dreien an den Tisch. Er warnte sie vor den Sturmklingen, Kinder von örtlichen Adelsfamilien, die nicht nur selbst erfolgreiche Abenteurer waren – gerade erst hatten sie ein Koboldnest ausgehoben – sondern auch über großen Einfluss verfügten. Falls das überhaupt möglich war, sah Thargad danach noch mürrischer drein.
Nach dem Mahl bezahlten die Drei schweren Herzens für ihr Zimmer und das Essen – jeder wurde 26 Silberklingen los – und gingen zu Bett. Zurück blieb nur der Zwerg, der bedächtig an seiner Pfeife zog, um dann mit dem Kopf zu schütteln.
„Menschen.“