Der Unterschlupf
Zwei Stunden später traf man sich im Helmtempel wieder. Die Kettenbrecher hatten sich gewaschen und gestärkt. Ihre Vermieterin, Minuta, hatte Ihnen empfohlen, umzuziehen, da sich das Ufer des Zentralsees inzwischen innerhalb der umgebauten Scheune befand. Jenya erbot sich, im Notfall die Besitztümer der Nachkommen aufzubewahren.
»Ich habe außerdem etwas über die Stäbe herausfinden können«, kam sie dann zur Sache. »Sie befinden sich irgendwo nördlich von hier, etwa zweihundert Meter unterhalb der Stadt.«
»Unterhalb der Malachitfeste?«, fragte Dirim.
»Nein, weiter nördlich. Ich habe mich außerdem an die Götter gewandt, wer hinter dem Ganzen steckt. Ihre Antwort lautete, dass ich für die Lösung hinter Feuer und Wasser verborgen wäre.«
»Das würde zu Triel passen«, sagte Helion. »Aber wahrscheinlich sperrt sich Terseon immer noch.«
»Sonst noch was?«, fragte Boras.
»Nein«, antwortete Jenya.
»Nun gut«, gab Helion zurück. »Dann erzählt jetzt noch einmal, warum die Stäbe so wichtig sind.«
»Sarcem hatte eine Vorahnung. Er befürchtete – und war sich seiner Sache sehr gewiss –, dass in diesem Jahr der Regen nicht rechtzeitig stoppen würde. Über zehn Jahre lang gab es keine wirklichen Fluten mehr in Cauldron. Aber wenn es weiter regnet, werden versteckte Hohlräume und unterirdische Seen überlaufen, und dann wird der Kratersee schneller ansteigen, als man glauben könnte. Deshalb hat er die Stäbe der Wasserkontrolle erstanden – acht Stück. Damit könnten wir den Fluten Herr werden.«
»Warum befürchtet nur ihr diese Gefahr?«
»Zum Teil liegt das sicher daran, dass unser Glaube uns zu größter Wachsamkeit erzieht. Aber das Flutfest ist sicherlich mit daran schuld. Es ist längst nur noch symbolisch, und die Kirchen nutzen es auch, um ihre Anhängerschaft zu vergrößern. Niemand hält eine Flut mehr für möglich.«
»Seid ihr denn nicht zu den anderen Kirchen gegangen?«
»Doch, sind wir. Aber es liegt ebenfalls in der Natur unseres Glaubens, dass man uns für übervorsichtig hält. Die meisten Menschen – und anderen Lebewesen – glauben erst dann an eine Katastrophe, wenn sie passiert ist. Und dann, wenn sich kaum jemand auf die Flut eingestellt hat, und wir vielleicht nur drei oder vier Priester haben, die von alleine das Wasser beherrschen können, ist es wahrscheinlich zu spät.«
»Ganz davon ab, dass Triel mit den Stäben den Wasserpegel noch stärker anheben könnte«, fügte Thargad hinzu.
»Soweit wird es nicht kommen«, sagte Dirim. »Wir werden es verhindern.«
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Früh am nächsten Morgen begannen die Kettenbrecher mit den Nachforschungen. Thargad erkundigte sich bei Meerthan, ob dieser eine Ahnung hätte, wo Triels Unterschlupf sein könnte. Aber der Elf war ratlos.
»Der einzige Lavatunnel, den ich kenne, war der, in dem eure Eltern verschwanden«, sagte er. »Aber der ist verschüttet – ich habe mich bei meine Ankunft vor einigen Wochen selbst davon überzeugt.«
Helion wandte sich an Vortimax Weer. Die Kobolde, die von den Sturmklingen ausgeräuchert worden waren, hatten schließlich in einer Höhle gehaust. Vielleicht kannte er ihren Standort. Widerwillig und nur mit ein paar Schmeicheleien beschrieb Weer den Weg zur Höhle, fügte aber hinzu, dass die Sturmklingen von keinem weiteren Ausgang berichtet hatten. Und ein Söldnertrupp wäre ihnen bestimmt aufgefallen. Dann begann er, die Phiolen in seinen Regalen zu zählen. Helion verstand den Hinweis, und ging.
Dirim versuchte, Pellir ausfindig zu machen. Seit dem Kampf um die Malachitfeste war der kleine Junge nicht mehr aufgetaucht. Nach einigen Erkundigungen hatte Dirim herausgefunden, in welchem Gebäude sich die Straßenkinder aufzuhalten pflegten. Aber bei seinem Klopfen hörte er nur Stille in dem Haus. Es war die Art Stille, die nur von Personen ausging, die besonders leise sein wollten. Einer Eingebung folgend ging Dirim, um frisches Brot zu kaufen, und solcherart bewaffnet lockte er die Straßenkinder aus ihrem Versteck.
»Habt ihr Pellir gesehen?«
Einer der Jungen, scheinbar der Anführer, trat vor und reckte das Kinn. »Du bist der Zwerg, oder? Der mit der komischen Bezahlung.«
»Ich wollte nicht...«, Dirim seufzte. »Ja, der bin ich.«
Der Junge entspannte sich etwas. »Du bist in Ordnung, hat Pellir gesagt. Aber wir ham ihn nich mehr gesehen, seit er für dich Eingänge in den Untergrund suchen sollte.«
»Wisst ihr denn, wo er gewucht hat?«
»Als Letztes hat er gesagt, wollte er vor dem Tor suchen. Er ist mit Tamara losgegangen, und nich wiedergekommen. Tamara auch nich.«
»Vor dem Nordtor?« Der Junge zuckte mit den Achseln.
»Trotzdem danke.«
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Das Nordtor (genannt Dschungelschleuse)war wie das Südtor ganztags geöffnet. Hier kamen die Händler aus dem Dampfsee, aus Chult und noch exotischeren Orten an, und derart war auch das Gebiet vor dem Tor ein Schauplatz fremdartiger Waren. Hier wurden calishitische Pfannkuchen angeboten, und ein Zwerg bot gemeinsam mit einem Halbork gewöhnungsbedürftige Alkoholika feil.
Die Kettenbrecher hatten ihre magische Ausrüstung bei Jenya hinterlegt, um den Torzoll möglichst gering zu halten. Dieser Ausflug sollte ja nur der Erkundung dienen. Vor dem Tor führte Dirim den selben Ortungszauber aus, der Jenya auf die Spur der Stäbe gebracht hatte.
»Ich spüre sie... gerade so eben. Sie sind genau unter uns, am Rande meiner Wahrnehmung. Sehr tief.«
»Das hilft uns natürlich überhaupt nicht«, sagte Thargad. »Der Weg nach unten lässt sich so nicht herausfinden.«
Dennoch nahmen sie sich ein paar Stunden Zeit, um die nähere Umgebung nach einem Pfad abzusuchen, erfolglos. Gegen Mittag kehrten sie in die Stadt zurück.
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»Wen haben wir denn da?« Die Sturmklingen waren aus einer Seitengasse getreten. Annah Taskerhill hatte die süffisante Frage gestellt. »Der Helden der Stadt!«, fügte sie in gespielter Ehrfurcht hinzu.
»Das „Kompliment“ kann ich nur zurück geben«, sagte Helion ebenso überzeugend.
»Wir tun unser Bestes.«
»Das ist zwar mehr als andere Adelige, aber immer noch nicht viel.«
Corah Lathenmire hatte ihre lange Klinge schon halb gezogen, als sie Annahs scharfer Ruf zurückpfiff. Sie verharrte leicht nach vorne gebeugt, bereit zum Angriff.
»Entschuldigt Corahs Unmut«, lächelte Annah. »Sie hat euren Freund sicher mit einem Ork verwechselt.« Jetzt war es an Helion und Dirim, Boras zu beruhigen.
»Wollt ihr irgendwas Bestimmtes?«, fragte Thargad gelangweilt. »Oder seid ihr nur auf einen Plausch vorbeigekommen?«
»Ach, wir untersuchen nur eine mögliche Bedrohung. Und ihr?«
»Wir untersuchen etwas«, sagte Helion. Er wollte sich von den Sturmklingen nicht den Ruhm ablaufen lassen. Für einen Moment standen sich die beiden Gruppen gegenüber, und niemand sagte etwas. Annah schürzte die Lippen.
»Nun denn. Guten Tag.«
Die Sturmklingen drängten sich an den Kettenbrechern vorbei und verschwanden in Richtung Stadthaus. Keiner von ihnen bemerkte, dass Thargad sich ihnen unauffällig angeschlossen hatte.
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Thargads Stimmung sank auf einen weiteren Tiefpunkt herab, als er durch die matschigen Straßen huschte. Zweimal wäre er beinahe einem Bürger in die Arme gelaufen, der sich sicher lauthals über den Rempler beschwert hätte. Dann wäre seine Anwesenheit offenbar geworden. Er wäre gerne etwas sorgfältiger vorgegangen, aber leider hatte er nicht so viel Zeit, wenn er den Sturmklingen auf den Fersen bleiben wollte. Zum Glück war der stetige Regen ein Schleier vor den Augen jener, die ihn entdecken könnten.
Und so schlüpfte er aus einer Seitengasse, hinter einen Obststand, und in eine Häusernische, darauf bedacht, den Abstand weder zu groß noch zu klein werden zu lassen. Zu seinem Glück ließen sich die Sturmklingen Zeit. Sie hielten hier und da an, unterhielten sich mit den Leuten, und kauften Kleinigkeiten von fahrenden Händlern. Thargad wurde klar, dass die Sturmklingen beim Volk durchaus beliebt waren. Man konnte sie also nicht einfach umbringen und hoffen, dass die einfachen Leute Stillschweigen bewahrten.
Thargad hatte das Ziel der Sturmklingen früh geahnt, und tatsächlich marschierten sie schnurstracks auf das Stadthaus zu, und gingen selbstbewusst hinein. Thargad suchte sich einen Platz, in dem er sowohl vor neugierigen Blicken als auch Regen geschützt war. Dann wartete er.
Etwa eine Stunde später kamen die Sturmklingen wieder heraus. Thargad konnte auf den ersten Blick keine Veränderung an ihnen erkennen. Der Regen erschwerte nun auch ihm die Sicht. Er wagte sich vorsichtig näher heran. Die Sturmklingen sahen zufrieden aus. Vor allem Todd und Annah trugen fast schon ein überlegenes Grinsen zur Schau. Was immer sie im Stadthaus gewollt hatten, war eindeutig erfolgreich gewesen. Während Thargad nach dem Grund ihres Besuches forschte, trat er aus den Schatten. In diesem Augenblick sah Annah sich um. Ihre Augen weiteten sich für einen Moment, dann fing sie sich wieder. Obwohl die Sturmklingen weiter gingen, als wäre nichts gewesen, wusste Thargad, dass sie ihn gesehen hatte. Ihnen weiter zu folgen hatte jetzt keinen Sinn. Sie würden ihn zum Narren halten oder sogar in eine Falle locken. Er machte sich auf den Weg zurück in den Helmtempel.
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Dirim las den Brief noch einmal.
»An die Kettenbrecher: Ich habe Informationen über Triel Eldurast. Trefft euch mit mir am Hintereingang des Schlüpfrigen Aals. Bringt 500 Königinnen mit. Kommt allein.«
»Kommt allein?«, fragte Helion. »Was soll das heißen? Nur einer von uns?«
Dirim kratzte sich am Bart. »Der Brief ist an uns alle gerichtet. Allein bedeutet also nur, dass wir keine Wachen mitbringen sollen.«
»Das ist eine Falle«, sagte Thargad.
»Und wenn nicht?«, fragte Helion.
»Und wenn?«, gab der Schurke zurück.
»Dann habt ihr mich dabei«, sagte Boras.
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Der Hinter- oder Kücheneingang des Schlüpfrigen Aals bildete mit dem Rücken zweier anderer Häuser eine enge Sackgasse, die bei Nacht und Regen nahezu völlige Ungestörtheit versprach. Weshalb die Kettenbrecher aus erst Mal ein Liebespärchen verscheuchen mussten. Helion, Dirim und Boras warteten unten auf den geheimnisvollen Kontaktmann, während Thargad das Dach der Kneipe erklommen hatte. Gesang und Stimmengewirr drangen dumpf aus dem Aal in die Nacht.
Trotzdem hörte Thargad ein leises Geräusch, oder vielmehr das Fehlen eines Geräusches. Das Plätschern des Regens auf dem Dach war leiser geworden. Seine Instikte verrieten dem Schurken, dass eine weitere Person auf dem Dach war und den Regen aufhielt. An der Spannung in der Luft merkte er, dass die Person ihn ebenfalls bemerkt hatte.
Er sah sich um. Sie hatte kurze schwarze Strubbelhaare und ein schwarzweiß bemaltes Gesicht. Nachtschwarzes Leder umhüllte einen athletisch-weiblichen Körper. Das Funkeln ihrer Augen sah man selbst durch den Regen hindurch. Ihre rechte Hand schob sich zu einem der Wurfdolche, die sie am Gürtel trug.
»Ich hatte doch gesagt, ihr sollt alleine kommen!«, zischte sie.
»Sind wir doch.«
Sie zögerte einen Moment, dann verdrehte sie die Augen. »So kann man es auch sehen, nehme ich an.«
»Kenne ich euch?«, fragte Thargad unvermittelt. Wieder blitzte es in ihren Augen auf.
»Der Überfall auf den Priester. Ich war auf dem Dach. Mein Name ist übrigens Jil.«
Thargad war für einen Atemzug versucht, sich wie bei einer Vorstelllung gebührend zu verbeugen, so skurril erschien ihm die Situation. Aber das Gefühl ließ rasch nach. »Habt ihr die Informationen?«
»Habt ihr das Gold?«
Der Sack wurde hochgereicht, und Jil hielt ihn prüfend in den Hand. »Scheint zu stimmen. Also gut: Triel hat einige unserer Leute angeworben; eine ganze Menge sogar. Sie haust in einer verlassenen Ruine unterhalb der Stadt.«
»Wie kommen wir dahin?«
»Geht durch das Nordtor, dann an der ersten Biegung nach Westen. Geht etwa fünfhundert Meter, dann kommt ihr an ein Plateau. Da geht’s rein.«
»Und dann?«
Jil hob die Arme in einer Mixtur aus Unwissenheit und Unschuld. »Ich war noch nicht da.«
»Warum helft ihr uns?«, fragte Thargad schließlich.
»Nicht für das Gold, soviel ist klar«, antwortete die Schurkin. »Sagen wir, unsere Ziele sind im Augenblick verträglich. Indem ich euch helfe, helfe ich mir selbst.«
»Und wenn sich die Situation ändert? Wenn wir euch nicht mehr helfen können?«
Jil sah Thargad in die Augen. Ihr Blick verriet Kälte, schlecht verheilte Narben, und einen unstillbaren Hunger, der mit ihrem Geist um die Herrschaft ihres Körpers rang.
»So oder so«, sagte sie schließlich, »werde ich euch finden.« Sie verschwand im Regen.
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Die Kettenbrecher erzählten Jenya von ihrer Spur und ließen ihre Schmuckstücke wieder bei der Priesterin. Kaum war die Sonne hinter dem Wolkenschleier erkennbar, zogen sie wieder zur Dschungelschleuse hinaus. Da sie vermuteten, dass die Sturmklingen ihnen zuvorkommen wollten, zählte jede Stunde.
»Der frühe Held erntet den Ruhm«, hatte Dirim gesagt. Und er hatte Recht – wie es sich für einen Tyrpriester gebührte.
Sie folgten Jils Wegbeschreibung und gelangten nach einer rutschigen Kletter-partie tatsächlich an einen versteckten Höhleneingang. Vorsichtig sahen sie sich noch ein letztes Mal um. Thargad war er erste, dem der kleine Körper etwa dreißig Meter tiefer auffiel. Es sah aus wie ein Kind, das von dem Plateau vor der Höhle abgestürzt war.
»Boras, hilf mir«, rief Dirim. Er warf dem Barbaren ein Seil zu und kletterte hinab. Boras’ gewaltige Muskeln spannten sich, als er Dirim und die Leiche nach oben brachte.
»Wenn ich es nicht besser wüsste«, sagte Helion angesichts der schenkelgroßen Oberarme, «würde ich sagen, dass du noch stärker geworden bist.«
Die Leiche war tatsächlich die eines Kindes. Der Regen hatte die Kleidung völlig ruiniert, und anhand der Verwesung und des Wurmbefalls schloss Dirim, dass sie schon seit knapp drei Wochen tot war. Trotzdem erkannte er Tamara. Ob die Leiche des kleinen Perrin ebenfalls hier irgendwo lag? Dirims Mine versteinerte; selbst sein Bart schien plötzlich still im Wind zu hängen.
»Sie hat meine Kinder getötet.«
Die anderen sahen sich an. »Deine...«, begann Helion.
»Hallo«, sagte Dirim mit bedeutungsschwangerer Stimme. »Mein Name ist Dirim Gratur. Du hast meine Kinder getötet, und jetzt bist du des Todes!« Er nickte. »Das klingt gut.«
Sie schichteten einen behelfmäßigen Steinhaufen über der Leiche auf, und Dirim sprach ein kurzes Gebet.
»Du warst zu jung, um die Gnade Tyrs erfahren zu haben. Aber noch im Jenseits wirst du seine Gerechtigkeit erleben, und deine Mörderin von seinem Zorn gestraft.« Er sah zu dem niedrigen Tunnel hin, den heiße Lava vor mindestens einer Zwergengeneration geschaffen hatte, und den nun ein Rinnsal Regenwasser hinabfloss. »Gehen wir«, sagte er, und folgte dem Wasser.
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Der Tunnel war eng und zu niedrig, um aufrecht gehen zu können. Selbst Dirim musste hin und wieder den Kopf einziehen. Dafür wand er sich aber stark genug, dass die Kettenbrecher es riskierten, im Schein der Laterne vorwärts zu gehen. Auch dadurch rutschte niemand auf dem steten Schwall Regenwasser aus, dass denselben Weg wie die Abenteurer nahm.
Nach etwa einer halben Stunde schließlich sahen sie grünliches Schimmern voraus und dimmten das Licht. Kurz darauf traten sie in eine gewaltige Höhle. Von dem Sims, auf dem sie standen, fiel das Regenwasser plätschernd in einen etwa dreißig Schritt tiefer gelegenen See. Weiter als einen Steinwurf entfernt und auf Höhe der Wasseroberfläche ragten Gebäude aus dem Fels. Das Ufer und der Sims waren durch zwei straff gespannte Taue verbunden, von denen ein großer Metallkäfig hing. Der Käfig baumelte eine Hand breit vom Sims entfernt über dem Abrgund – nahe liegende Holzbretter dienten wohl als behelfsmäßige Brücke. Die ganze Höhle wurde von leicht grünlichem Schimmern erhellt, dass seinen Ursprung im Wasser des Sees hatte.
»Und was ist hier drin?«, fragte Helion mit Blick auf das niedrige Gebäude, das aus dem Fels gehauen in den Sims ragte. Eine schwere Steintüre, die anscheinend um die Mittelachse rotierte, verhieß Einlass.
»Finden wirs raus«, sagte Boras und heftete die Axt.
Der erste Raum beherbergte eine Vorrichtung aus Zahnrädern und einer Kurbel, mit der man wohl den Käfig herablassen konnte, und ein kleines Fenster mit einem rot angestrichenen Stein, der in einer Klemme am Fenster steckte.
Durch eine weitere Steintüre gelangte man in einen Wachraum. Typischerweise spielten die beiden Aufpasser gerade Karten, als Boras hereinstürzte und gegen den Stuhl des Einen trat. Der Wachmann flog nach hinten gegen die Wand und sah mit großen Augen zu den Kettenbrechern hin, während die andere Wache gleich aufsprang und die Hände hob.
»Langsam, langsam! Wir ergeben uns!« Er warf die Karten auf den Tisch. Der andere stand langsam auf und sah hin.
»Ich wusste du bluffst! Ich wusste es!«
Der Erste wollte gerade etwas entgegnen, als Boras kurz knurrte. Sofort war die Aufmerksamkeit wieder bei ihm und seiner Axt.
»Also, ihr ergebt euch?«
»Klar. Ihr habt die Oberhand, und wir werden nur bezahlt. Wenn wir zwischen Gold und Leben wählen müssen... na ja.«
»Das wird Triel aber nicht gerne hören«, sagte Helion kopfschüttelnd.
»Wa... Gehört ihr etwa dazu?« Der Wachmann lachte und entspannte sich. »Ihr habt mir vielleicht einen Schrecken eingejagt. Tempus’ Hintern, das habt ihr.«
»Wir sind nicht wirklich beeindruckt, wie ihr eure Arbeit macht.«
»He, das ist ein ruhiger Posten. Hier kommt niemand hin, der hier nix zu suchen hat – ihr gehört ja auch dazu.«
»Jedenfalls weiß ich jetzt, warum Triel Profis haben wollte«, fiel Thargad mit ein. Der Wachmann rollte mit den Augen.
»Was soll das heißen?«, brummte Boras. Sofort hob sein Gegenüber wieder die Arme.
»Nix für ungut, Jungs, aber ihr müsst es uns nicht noch unter die Nase reiben, dass ihr uns überrascht habt.« Er wischte sich mit dem Ärmel seine Nase ab, dann spuckte er auf den Boden. »Also was ist nun, wollt ihr runter oder nicht?«
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Ruckelnd und zuckelnd bewegte sich der Käfig abwärts, und bei jedem Ruck schwankte er hin und her. Mehr als einmal sah einer der Kettenbrecher zu den Trageseilen, die jedoch zu halten schienen – gerade so. Endlich kamen sie unten an. Der Käfig hielt an einem frei stehenden Gebäude vor den eigentlichen Wohnstätten. Der Wasserspiegel des unterirdischen Sees war durch die Regenfälle gestiegen, und die Kettenbrecher bekamen kalte Füße, als der Boden des Käfigs im Wasser versank. In trockeneren Zeiten endete die Fahrt wahrscheinlich am Ufer, aber jetzt mussten sie waten.
Das Gebäude war nur der Sitz einer weiteren Kurbelanlage – und einer Falle. Ein Regal voller Holzbretter stürte über Dirim ein, der allerdings relativ unversehrt blieb. Thargad machte die Mechanik der Kurbelanlage unbrauchbar. Danach sahen die Nachkommen sich erst einmal um.
Der Kiesstrand endete in der Felswand, die vierzig Schritt in die Höhe ragte. Aus dem Felsen heraus schälten sich die Vorderseiten von Gebäuden, deren glatter Fels auf eigentümliche Art sowohl künstlich als auch natürlich wirkte. Das Wasser war beinahe bis zu den Eingängen in den Gebäudekomplex gestiegen; hier und da ragten Felsen aus dem Nass. Die Kettenbrecher konnten sechs Eingangstüren ausmachen. Ob sie zu getrennten Wohnungen oder einem zusammenhängenden Bauwerk führten, konnte selbst Dirim nicht sagen. Ohne Hinweise wählten sie einfach eine Tür aus und gingen hinein.
Dirim betrat den achteckigen Raum als Erster, und sogleich wurde er Opfer der nächsten Falle. Der Boden brach unter dem Zwerg weg und er stürzte ins Wasser. Noch im Fallen sah er eine schwarze Wolke aus kleinen Gallerten, die auf ihn lauerten. Schon schlug das Wasser über seinem Kopf zusammen, und gleich war die Wolke um ihn herum. Schwarze Egel saugten sich am Körper des Zwerges fest. Gallertklumpen drangen ihm in Ohr und Nase, und einen zerbiss Dirim sogar. Dann warf Boras ein Seil herunter, und Dirim kletterte hoch. Ein paar Augenblicke später pulte er den letzten Gallert aus seinem Bart und zertrat ihn.
»Bah!«
Die Fallgrube hatte einen schmalen Grat gelassen, auf dem die Kettenbrecher den Raum durchquerten. Der Gang dahinter öffnete sich in zwei Wachräume, in denen Soldaten mehr oder minder friedlich schlummerten. Thargad legte lächelnd einen Finger auf den Mund, zog seinen Totschläger, und machte sich ans Werk. Bald schlummerten die Wachen in einem wesentlich tieferen Schlaf, jeder mit einer oder zwei Beulen am Kopf. Ein paar besonders rauh aussehende Gesellen wurden in Fesseln gelegt, und die Türen grob mit ihren Schwertern verbarrikadiert. Dann gingen es weiter.
Ein halbes Dutzend Wachen lehnte auf Stühlen und vertrieb sich die Zeit, als die Kettenbrecher herein kamen. Sofort stürmte der erste los und durch eine weitere Tür, noch bevor die restlichen seinen Rückzug decken konnten. Boras ging mit einem glücklichen Seufzer und erhobener Axt auf den erstbesten Söldner zu, und Dirim und Thargad kümmerten sich ebenfalls um einen. Helion hielt sich zurück, um schwankende Feinde mit gezielten magischen Geschossen zu Boden zu schicken. Bald war nur noch einer übrig, und auch dieser ergriff die Flucht, wurde aber schnell wieder von Boras gestellt. Die Axt sprach ihr Urteil, und dann war Stille.
»Wo ist der Andere hin?«, fragte Boras. Gemeinsam gingen die Vier den Gang entlang, bis sie an ein Zimmer kamen, dessen Boden von Staub bedeckt war.
»Hier ist er nicht lang.«
Auf dem Weg zurück gab es zwei weitere Türen. Die Kettenbrecher entschieden sich für die, welche dem Wachraum näher lag. Sie war versperrt. Thargad rolte sein Werkzeug auf dem Boden aus und kniete sich vor die Tür.
»Ich erledige das.«