Kapitel III: Theater zwischen Gut und Böse
„Nein, du ungeschickter Tor! Weiter nach rechts! Hast du eigentlich noch nie ein Zelt aufgebaut?“, kommentierte Herbstkruste leiernd vom Rand der Lichtung den armen Paladin. Dieser war dabei, sein edles Zweipersonenzelt aufzubauen, das auf einer Seite das Wappen Helms trug: die gepanzerte Faust, die geballt ein Auge hält. Unter der kritischen Anleitung des Gnoms schaffte es Galathon aber schließlich das Zelt korrekt aufzubauen. Canthalion hatte das alles schmunzelnd beobachtet. Besonders faszinierend fand er, dass der doch recht wehrhafte Paladin sich von dem kleinen Mann mit der großen Klappe all das gefallen ließ.
Auch der Elf suchte sich ein wenig abseits einen Platz zum Lagern. Wie alle seiner Rasse hatte er keinen Bedarf nach sieben oder gar mehr Stunden Schlaf. Eine kurze Meditation von wenigen Stunden genügte ihm, bei Kräften und frisch erholt zu sein. Als er gerade dabei war, seine Schlafmatte auszubreiten, knackte es hinter ihm bedrohlich im Gebüsch. Canthalion wirbelte herum, die Hand am Schwertgriff.
Ihm gegenüber, nur wenige Schritte entfernt, standen zwei Gestalten. Zwei Menschen, der eine, weiter vorne stehend, hatte die Hände friedvoll von sich weggestreckt. Er musterte den Elfen etwas verdutzt – er hatte wohl mit jemand anderen als Canthalion gerechnet. Dieser Mensch trug die Kleidung eines erfahrenen Reisenden und hatte ein Kurzschwert sowie einen auffällig verzierten Parierdolch an seiner Seite hängen. Der andere war in eine ausgesprochen saubere und ordentlich fallende Robe aus blauem und grünem Stoff gewandet. Es schien, als habe er sich gerade erst angekleidet. Doch zwischen seinen beiden über den Kopf erhobenen Händen, zuckten Blitze magischer Energie und er schien jederzeit bereit, sie auf den Elfen loszulassen.
„Ganz ruhig, Magier. Ich bin nur ein friedliebender Elf. Was wollt ihr beiden?“, fragte Canthalion erstaunlich gelassen, während seine Hand vom Schwertgriff sank. Der Mann in Reisekleidung gab dem Magier ein Zeichen und dieser ließ die magischen Energien fallen. „Wir sind, sagen wir, die Hüter der Gegend. Wir wollten uns nur überzeugen, dass euer Treiben auch rechtens ist.“, sprach der erste der beiden langsam, als ob er sich gerade erst überlegt hätte, was er hatte sagen wollen.
„Also, wie ihr hoffentlich seht, bin ich ein Freund der Wildnis und habe bloß mein Schlafstatt vorbereitet. Aber, mal ehrlich und offen, ihr scheint mir etwas zu verbergen. Muss wohl Art der Menschen sein. Nun, hört her, wenn ihr unter Freunden ein Abendessen teilen wollt und euch vielleicht eine bessere Erklärung für euer überraschendes Auftreten einfallen lasst, seid ihr herzlich an unser Feuer eingeladen.
Ich werde mich jetzt umdrehen und zum Lager zurückgehen. Ihr könnt mir friedlich auf die Einladung hin folgen – ansonsten schert euch dahin zurück, wo ihr hergekommen seid.“
Die beiden murmelten einen Dank, etwas überrumpelt wegen der lässigen Schroffheit des Elfen und folgten Canthalion schweigsam, der unbekümmert voran ging.
Er hatte für sich beschlossen, dass diese beiden Menschen nichts Böses wollten, aber etwas verborgen hielten. Er wollte erfahren, was es war. Dabei war er sich sicher, dass es seinen beiden Begleitern genauso gehen würde.
Nachdem Canthalion Galathon und Herbstkruste die Fremden vorgestellt hatte, entwickelte sich am Lagerfeuer nach und nach ein Gespräch. Die beiden stellten sich als Minloh und Gurdeth vor. Geschickt in seiner üblichen Beredsamkeit lockte Herbstkruste aus ihnen bald einige interessante Informationen heraus. Sie waren Diener einer großen Macht und waren in diese Gegend entsandt worden, weil sich Seltsames tat. Sie berichteten nach einigem Zaudern, dass regelmäßig drei Reiter gesichtet worden seien. An jedem Ort, von dem diese abgereist waren, waren merkwürdige Dinge passiert, böse und dunkle Dinge. Was genau, das wollten Minloh und Gurdeth nicht erklären.
Einen Biss Rauchfleisch herunter schlingend, sah Galathon nun endlich seine große Chance gekommen. Er stand auf, klopfte sich mit geballter Faust auf die Brust – das Zeichen eines Dieners Helms – und verkündete feierlich: „Verehrte Freunde, ich glaube, ich kann für uns drei sprechen. Minloh, Gurdeth, wir möchten euch unsere Dienste anbieten. Wir sind wohl noch nicht die am meisten erfahrenen Abenteuer, aber mit Glaube und Kraft, mit scharfer Zunge und tollkühner Schläue sowie mit Heimlichkeit und Geschick wollen wir euch gerne Beiseite stehen, das Übel, das ihr nanntet, zu bekämpfen.“
Der arrogante Gurdeth, der den Abend über recht wenig gesagt hatte, die Aussagen der drei Freunde eher überheblich belächelt hatte, zog nur zweifelnd eine Augenbraue nach oben. Doch Minloh sprang auf, er schien fast gerührt. „Ich spürte, dass wir heute Abend auf diejenigen treffen würden, die uns helfen sollen, die Wurzeln des Bösen, das in dieser Gegend geschieht, zu finden. Ich nehme euer Angebot an. Ihr habt euch mit eurer offenen Freundlichkeit verdient, all das zu wissen, was uns über die Drei bekannt ist:
Einer der drei Dunklen ist der Halbork Graud. Er ist ein überaus starker und gemeiner Mann, von unbeschreiblicher Grausamkeit. Der zweite Reiter ist ein weiblicher Halbling, über dessen Identität wir uns bisher nicht im Klaren sind. Und schließlich, beschützt von seinen beiden Begleitern, wohl für die Umtriebe des Bösen verantwortlich, gibt es da den dunklen Fürsten Semmemon. Er ist ein Feind, auf dessen Spur wir bereits seit Langem sind. Doch immer ist er uns erwischt. Vielleicht haben wir diesmal mehr Glück – mit eurer Hilfe.
Die drei befinden sich wahrscheinlich in einem Dorf, das knapp zwei Tagesmärsche entfernt liegt. Meine Bitte wäre, geht dorthin, verhaltet euch aber möglichst unauffällig und findet soviel über die drei heraus, wie euch möglich ist. Was sie dort wollen, ob sie Böses im Schilde führen und warum sie sich gerade dieses kleine Fleckchen Land ausgesucht haben, wäre wissenswert. Aber nehmt euch vor Semmemon in Acht, er ist gefährlicher als er aussieht und von unglaublicher Boshaftigkeit.“
Canthalion und Galathon hatten Minloh aufmerksam gelauscht, nur Herbskruste murmelte zum Schluß hin lauter werdend, „Semmemon, Regent der Dunkelburg, Erzfeind der legendären Harfner, Wandler zwischen den Schatten, Bezwinger der drei silbernen Drachen von Naramyr! Ein wahrlich in den Liedern der Barden bekannter Bösewicht. Und dieser dunkle Wurm – bezwungen von einem Gnom. Ja! Das würde sich gut machen. Ich bin dabei!“
Nun musste auch Gurdeth schmunzeln und wandte sich an seinen Freund, „Wenigstens das mit der Wagemut nehme ich ihnen jetzt ab. Ich stimme dir zu, Minloh, die drei sollen versuchen, uns zu helfen. Schaden kann es jedenfalls nicht.“
Zu den drei werdenden Helden sprach er, „Brecht morgen in aller Frühe auf Richtung Süd, Süd-Ost, dann werdet ihr nach einem Gewaltmarsch gegen Abend das Dorf erreicht haben. Wir beide verlassen euch jetzt umgehend. Wir werden mit einem weiteren Streiter für unsere Sache, Blith, dem Schmächtigen, Kontakt aufnehmen, auf dass wir noch mehr Unterstützung erhalten. Für alle Fälle werden wir dann aber eine Woche an dieser Stelle kampieren und auf eure Rückkehr warten. Hier, nehmt noch diesen Heldentrank. Er wird euch in einem Kampf Mut und Kraft verleihen, was ihr im Zweifel nötig haben werdet. Lebt wohl!“
Damit standen Minloh und Gurdeth auf, nickten den Drei noch einmal zu und verschwanden rasch in der hereinbrechenden Dunkelheit.
Canthalion, Galathon und Kruste schürten das Feuer noch weiter an und begaben sich zur Ruhe, nachdem sie sich über die Wachschichten geeinigt hatten. Der Paladin verstaute gerade noch den magischen Trank Gurdeths in seinen Satteltaschen, da hörte er den Gnom noch beim Einschlafen sagen: „Herbstkruste, Bezwinger Semmemons, Freund von Elminster und Wächter Faeruns. Jeder tut eben etwas für seine eigene Legende und man muss sich ja auch noch Ziele offen lassen.“
Am nächsten Morgen brachen die drei Freunde zeitig auf und zogen über die hügelige Ebene in Richtung des von Minloh und Gurdeth beschriebenen Dorfes. Am Abend sahen sie es vor sich, eine Ansammlung von vielleicht vierhundert Häusern, aber scheinbar wohlhabend: Die Straßen waren hell erleuchtet und die Siedlung war von einer hohen Palisade mit Wachtürmen umgeben.
Man betrat nun dieses eigentümliche kleine Dorf, dass sichtbar nur von einfachen Leuten bewohnt wurde, die sich darauf verstanden, mit ihren bescheidenen Ansprüchen gut zu Recht zu kommen. Sofern man die Hauptsraße, die sich schnurgerade zur Dorfmitte erstreckte, so nennen konnte, erblickte man ihr entlang unzählige kleine Krämerläden, Handwerksgeschäfte, einige Gaststätten und jede Menge kleinerer Marktstände sowie nette kleine und mittelgroße Häuser. Offenbar kommt hier allerlei Volk vorbei, dachte Galathon als er die lasche Haltung der Stadtwache gegenüber Fremden zur Kenntnis nahm und das geöffnete Tor durchschritt – den Esel an der Leine. Zur Linken befanden sich zwei Männer, die wohl der rühmlichen Stadtwache angehörten. Ein Mensch, ziemlich betrunken, wollte man meinen und ein Zwerg, der den Neuankömmlingen mit wachen Augen und freundlich entgegenblickte.
Der Narr ließ natürlich nicht lange auf sich warten, brach das Eis und verwickelte den Zwerg gleich in ein Gespräch. Er ließ sich all das erzählen, was ein Reisender wissen sollte, der hier zum ersten Mal Station macht – insbesondere, wo sich ein gediegenes Gasthaus befand. Der Paladin stand etwas abseits und nickte dem Zwerg, der sich inzwischen als Grochtun vorgestellt hatte, entschuldigend zu, als dieser hilfesuchend zu ihm hinüber blickte. Er fühlte sich dem Wortschwall Herbstkrustes wohl nicht gewachsen. Sich vorzustellen oder gar in das Gespräch einzusteigen wäre ohnehin sinnlos gewesen, denn der Gnom schwamm in seinem üblichen Meer aus Floskeln, verbalen Nettigkeiten und Wortblümchen. Er genoss es offensichtlich, sich für den nächsten Tag bei dem überrumpelten Zwergen auf ein von diesem selbstgebrautes Bier einzuladen.
Von allen Beteiligten unbemerkt war der Waldelf Canthalion durch das Tor, an den Plaudernden vorbei, in eine schmale, weniger belebte Seitengasse geschlichen. Er wollte in seinem elfischen Argwohn erstmal die Umgebung und die Stadtbewohner genauer ins Visier nehmen. Menschen konnte man schließlich nie trauen und vielen Menschen erst recht nicht! Leise und ungesehen verschmolz er mit den Schatten der Abenddämmerung.
Kruste schien indessen nicht mehr aufhören zu wollen und Galathon beschloss, das Gespräch ein wenig zu verkürzen: „Mein lieber Herr Zwerg, ich bedanke mich für eure Aufmerksamkeit, doch ich denke, wir sind euch nun genug zur Last gefallen. Wir sollten uns jetzt einquartieren.“ Man verabschiedete sich und Herbstkruste, etwas beleidigt wegen der rüden Unterbrechung seiner anregenden Unterhaltung, kletterte wieder auf den Esel. Drei Straßengabelungen weiter stieß auch Canthalion wieder dazu, als sei er nie fort gewesen.
Sie betraten bald das erste Haus am Platze. Ein großes, uriges Wirtshaus. Hell, von vielen Kerzen erleuchtet, erstreckte sich vor ihnen ein gemütlicher Saal mit zahlreichen Sitzgelegenheiten. Viele saubere und blank polierte Tische und Bänke und eine sehr lange Theke luden zum Verweilen gerade zu ein. An den Wänden hingen riesige Lampen und schwere Wandteppiche. Die Stube war nicht übermäßig voll besetzt. Sie würde sich aber sicherlich innerhalb der nächsten zwei Stunden füllen. Einige Einheimische und ein paar reisende Händler aßen bereits zünftig zu Abend. Der Geruch von diesen herzhaften Speisen, starkem Bier und Kerzen stieg ihnen in die Nase. Canthalion erkannte dank seines äußerst feinen Geruchsinns aber auch, dass der bärtige, korpulente Wirt, der ihnen gerade einen freundlichen Blick schenkte und noch mindestens 10 Schritte entfernt stand, dringend ein Bad nötig hatte – vielleicht sogar zwei. Herbstkruste erfreute diese Wonne und er stolzierte, sich in dieser Umgebung ganz klar wohl fühlend, gefolgt vom dem etwas verloren wirkenden Elfen, munter auf die Theke los.
Dort saß ein muskelbepackter, etwas mürrisch dreinblickender Halbork. „Diese Wesen kommen nur dann zustande, wenn Orks Menschen vergewaltigen.“, schoß es Canthalion durch den Kopf. Nach einem Moment kam er dazu, dass sowohl das Verhalten der Orks gegenüber den Menschen als auch das Produkt dieser Verbindung verabscheuenswert waren.
Abartig fand auch Galathon den Ork und blieb auf Distanz. Er glaubte, den ersten ihrer Widersacher, den Halbork namens Graud, erkannt zu haben. Er setzte sich an einen freien Tisch und musterte die neue Umgebung, während der vorlaute Gnom sich anschickte, in ein Gespräch – gerade mit dem Halbork – einzusteigen. „Entschuldigt, werter Krieger, aber was trinkt man denn hier? Wir sind reisende Händler und das erste Mal hier. Könnt ihr uns einen Tipp geben?“, fragte der Gnom.
Der Ork wandte sich dem Narren nicht zu, „Tee.“, antwortete er mit einem heiseren, kehligen Flüstern. Dass die nicht gerade wohlklingende Stimme des Ork vor Hohn und Feindseligkeit geschwängert war, konnte Kruste nicht entgangen sein. Doch schien gerade das ihn anzustacheln, dem in eine speckige schwarze Lederrüstung gekleideten Halbork auf die Nerven zu fallen. Nachdem Sie Getränke – Tee – bestellt hatten, legte Kruste los. Woher er denn komme, was er hier so mache, wie stark er sei, ob er ein richtiger Krieger sei oder sich dafür halte, ob er mal den Bizeps fühlen dürfe – der Gnom wollte alles wissen. Der Ork reagierte erstaunlich ruhig und gelassen. Nach einem warnenden Blick zur ersten Frage des Gnomen zeigte er gar keine Reaktion mehr und ignorierte den Narren. Canthalion bemerkte jedoch die wohl vor unterdrückter Wut anschwellende Ader am Hals der Kreatur. Er umfasste Herbstkrustes Arm unauffällig so, dass es schmerzen musste und gab ihm mit einem ernsten Blick zu verstehen, dass es, verdammt noch eins, genug sei. Der Narr streckte ihm dafür die Zunge heraus und wandte sich noch einmal an den Ork: „Nun, ihr habt keine Lust, euch mit mir, dem großen Gnomenbarden Herbskruste, zu unterhalten. Ich merke das wohl. Auch, dass ich euch nerve. Um eurer Willen entferne ich mich und überlasse euch euren eignen düsteren und mitnichten erfrischenden Gedanken.“
Der Gnom wandte sich schnaubend ab und ging mit Canthalion, nachdem sie die letzten beiden freien Einzelzimmer angemietet hatten, hinauf, um die neue Bleibe zu besichtigen.
Galathon war derweil in sich gekehrt. Er blickte umher. Es schien nichts auffällig zu sein, jedoch dünkte ihn, dass etwas mit diesem Orte nicht stimmen mochte. Die Mönche der kleinen Abtei zu Delimbyr hatten ihm einst beigebracht, in der Stille des Gebets die Wahrnehmung zu schärfen, sich zu öffnen für eine göttliche Eingebung. Viele Jahre in Gebet und Meditation sollten sich jetzt auszahlen, denn der junge Paladin spürte, dass etwas nicht stimmte. Irgendetwas war falsch an diesem Ort, böse gar. Irgendetwas oder – irgendjemand. Als niemand zu ihm hinüber sah – der Wirt war gerade in den hinter der Theke gelegenen Vorratsräumen verschwunden – kniete Galathon im Schatten eines großen Tisches nieder und senkte sein Haupt. Er erfuhr die Präsenz des Bösen. Eine Präsenz war unweit von ihm entfernt – der Halbork, von welchem eine leicht dunkle Aura ausging. Doch war noch mehr falsch an diesem Ort. Oben in den Gästequartieren spürte er zwei weitere dunkle Auren, finstere Gegenwarten, von jenen eine sehr viel stärker war als die andere. Diese war die stärkste Struktur des Bösen, die der Mensch je wahrgenommen hatte. Auf der Hut mussten sie fortan sein, denn – da war Galathon sich sicher – sie hatten die Schurken gefunden, die hier ihr Unwesen trieben. Nun galt es, seine Gefährten zu warnen, damit sie nicht durch unüberlegtes Handeln auf sich aufmerksam machten. Das könnte schwierig werden, wenn sich der Gnom weiterhin so ungezogen und auffällig verhielt. Natürlich war das Verhalten des Narren beizeiten auch sehr nützlich, doch Vorsicht sollte dennoch angebracht sein. Er stieg hinauf zu seinen Freunden.
Zu den Gemächern führte eine riesige Wendeltreppe, in deren schweres Eichenholz reichlich Ornamente geschnitzt waren. Oben angekommen bot sich ein ansehnlicher Flur, der zwar keine Fenster besaß, durch den jedoch ein zünftig bestickter Teppich führte, der Kruste entzückte. Am Ende zur Rechten hatte der Flur eine Abzweigung, die zu zwei weiteren gegenüberliegenden Zimmern führte. Unter dem Türspalt sah man das Licht auf den Flur scheinen. Galathon stockte der Atem – das musste das Zimmer derjenigen Präsenz sein, die er als unfassbar böse wahrgenommen hatte. Er teilte dies nachdrücklich den beiden anderen mit. „So, dann ist das bestimmt der Anführer der verruchten Bagage, um die wir uns kümmern sollen. Nun, den werde ich mir mal ansehen. Lasst mich mal machen.“
Der Gnom schnappte sich seinen Rucksack, den des Elfen und die Satteltaschen des Paladins. Auf diese Weise beladen, dass er kaum noch gehen konnte, wankte er zur Tür hinter der die von Galathon als böse erkannte Person weilte. Noch bevor Galathon und Canthalion den kleinen Mann zurückholen konnten, um einen etwas mehr durchdachten Plan zu fassen, lief der Gnomennarr emsig auf die Tür zu. Als Kruste die Tür auftrat, spürte Galathon Wellen von Finsternis aus dem Zimmer herausschwappen. Das schien Kruste nichts auszumachen, vermutlich spürte er es einfach nicht. Dieser nämlich platzte geradewegs in das offene Zimmer hinein. In dem Raum saß ein Mensch am Schreibtisch. Er lebte dort offenbar schon seit einiger Zeit, da sich das Zimmer ausgesprochen wohnlich und eingerichtet darbot. Zahllose Schriftrollen in einem Regal, auf dem Schreibtisch schwere Bücher, eines war aufgeschlagen und vom Schein einiger Kerzen hell erleuchtet. In der Ecke standen ein Stab und ein Langschwert. Das aufgewühlte Bett und einige leere Teller verrieten, dass dies nicht die erste Nacht des Gastes war, die er in Arbeit vor dem mächtigen Folianten verbrachte. Der Mensch – in ein edles und langes dunkles Gewand gekleidet – stand erzürnt auf und fuhr den Gnom an: „Was zum – was treibt ihr in meinen Gemächern, Wicht? Erklärt euch, hurtig!“ Kruste, davon wenig beeindruckt, setzte schlagfertig zurück: „Eure Gemächer? Ich höre wohl nicht recht. Das ist mein Quartier für diese Nacht. Unverschämter Kerl! Noch nie etwas von Zimmernummern gehört?“
Der Mensch ging zornig auf den kleinen Gnom zu, was nichts Gutes verheißen mochte. Da kam gerade recht der Paladin zur Tür hinein. „Gibt es ein Problem?“, fragte er in die Runde. Der Mensch erschrak. Nicht, weil plötzlich jemand in der Tür stand oder Galathon eine so einschüchternde Erscheinung darbot, sondern weil er auf der Kleidung des Menschen deutlich die Zeichen Helms sah, dem Gott der Wächter und Beschützer der Rechtschaffenden und Schwachen. Er erkannte auf diese Weise den Paladin und wurde schlagartig freundlich. In ruhigen, gutmütigen Ton erklärte er, dass dies seine Gemächer seien und die beiden sich geirrt haben mussten, was ja tatsächlich auch der Fall war.
Kruste, zunächst verdutzt wegen des plötzlich akzeptablen Tonfalls, schaffte es abermals, geschickt die Situation auszunutzen. Er entschuldigte sich zerknirscht für sein schroffes Auftreten, bestand aber darauf, die Sache gemeinsam unten beim Wirt zu klären. Den Fremden in der dunklen Robe immer noch um Verzeihung bittend, verschwanden Herbstkruste, Galathon und der Mensch die Treppe hinunter, um den Wirt in der Sache schlichten zu lassen.
Canhtalion war ungesehen zurückgeblieben. Schnell hatte er nämlich den Sinn hinter dem Plan seines Gnomenfreundes verstanden. Er hatte nun einige Zeit bis die anderen zurückkamen. Zudem war die Tür des Fremden nur angelehnt. Ein Trick des Gnomen, der Oghmas würdig war, dachte der Waldelf, als er sich ungehört in das Zimmer schlich. Er schaute sich kurz um, entschied sich dann aber, in der Zeit, die ihm hier gegeben war, das Buch genauer anzusehen. Er sah fünf miteinander verbundene zentrale Symbole auf den aufgeschlagenen Seiten, die ihm nicht viel sagten, ihm aber böse und unheimlich vorkamen. Er wusste, dass eines für die magische Schule der Beschwörung, eines für die der Hellsicht stand und eines wohl einen Bannkreis darstellen sollte. Er prägte sie sich ein, um sie später Kruste und Galathon aufzeichnen zu können. Auf dem Schreibtisch lagen noch weitere Pergamente, wovon eines mit dem Namen „Der Kult“ betitelt war, wohl aber in einer unlesbaren Geheimschrift verfasst war. Bei einem anderen handelte es sich um eine Abhandlung über die sich bekriegenden Geheimbünde der das Gute verfechtenden Harfner und der stets ihre eigenen dunklen Ziele wollenden Zhentarim. Letzteres Dokument war wohl ein Original und laut Unterschrift von Semmemon persönlich verfasst – womit der Mensch in der dunklen Robe mit hoher Wahrscheinlichkeit als eben jener dunkle Fürst Semmemon identifiziert war.
Als er im Nebenzimmer Geräusche hörte, als ob jemand dabei sei, sich von einem Stuhl zu erheben, verließ er schnell das Zimmer wie er es vorgefunden hatte und flüchtete leise in den Raum der Gefährten am anderen Ende des Flurs.
Kurz darauf kamen die drei, die nach unten verschwunden waren, wieder. Man verabschiedete sich freundlich und ging dann auf die richtigen Quartiere. Es war schon spät und inzwischen gänzlich finster draußen.
„Das sind die Burschen! Wir müssen Obacht geben. Die führen sicher nichts Gutes im Schilde, so arglos wie sie sich geben.“, meinte Canthalion und berichtete, was er im Zimmer Semmemons gesehen hatte. Alle drei waren sich bezüglich der Symbole aus dem Buch sicher: Sie mussten sich auf ein mächtiges magisches Ritual beziehen, das zweifelsfrei nichts Gutes bezweckte. Dem Waldelfen war außerdem nicht ganz klar, wie die drei Schurken zu kategorisieren seien. Jedenfalls waren die Bösewichter so stark, dass sie die Gefährten mit Leichtigkeit niederstrecken würden, zumindest in einem offenen Kampf Drei gegen Drei. Zu dem Schluss war auch Galathon gekommen, der bereits kampfeslustig sein Schwert mit dem Wetzstein bearbeite. Man war sich nicht ganz sicher, was die Nacht über passieren könnte, doch Herbstkruste kam auf eine vorzügliche und gleichsam raffinierte Idee – so fand er zumindest. Alle drei Gefährten sollten die Nacht über in dem größeren Gemach nächtigen und sich mit der Nachtwache abwechseln. In Canthalsions Quartier, das für die drei Widersacher näher gelegen war, stellten sie eine wacklige Konstruktion aus einer Vase und einem Stuhl hinter die Tür, die beim Versuch, sie zu öffnen, umfallen und lärmen sollte, damit sich unerbetene „Gäste“ erschraken und die Gefährten gewarnt waren.
Als Canthalion seine Meditation beendet, übernahm er von den anderen beiden die Wache. Nachdem sich Herbskruste und Galathon zur Ruhe gelegt hatten, beschloss er, etwas auf eigene Faust zu unternehmen. Er wollte schließlich nicht untätig rum sitzen, während das Böse hier sein Unwesen trieb. Zudem konnte ihm beim stillen Schleichen, Belauschen und Ermitteln sowieso niemand begleiten. So beschloss er, an der Tür der Gegner zu horchen. Leise öffnete er die Tür auf den Gang und schlich auf seinen leichten Elfenfüßen zu den Räumen von Sememmon und seinen Schergen. Der Flur war stock finster. Kein Licht brannte. Nur das Mondlicht kroch den Aufstieg der großen Wendeltreppe hinauf. Ein bizarres, schwaches Licht, doch genügte es den scharfen Augen des Elfen vollauf, der sich in der Dunkelheit gut zurechtfand. Fließend wie ein Schatten glitt er zu einer der beiden Türen. Ganz schwach schien Kerzenlicht durch das Schloss und unter der Tür durch. Canthalion stand jetzt direkt vor der Tür, etwas geduckt, sodass er sein Körpergewicht besser auf die Fußballen verteilen konnte, um bei Problemen möglichst schnell und lautlos reagieren zu können. Gerade wollte er sein Ohr an die Tür legen, da hörten er von innen eine weibliche Stimme und dann, wie sich eine große, schwere Gestalt – offensichtlich der Halbork – auf die Tür zu bewegte. Er schickte sich wohl an, diese zu öffnen. Anscheinend war er nicht leise genug gewesen. Der Elf erschrak. Es wäre zweifelsohne eine ungünstige Position, so entdeckt zu werden – und dann auch noch von einem solchen Ungetüm. Schnell ergriff er die Flucht in den Gang zurück und versuchte dabei, keinen Krach zu machen. Zu spät! Mit einem Fuß blieb er ungeschickt an einem etwas hochgewölbten Ende des Bodenteppichs hängen und stolperte. Hinter ihm wurde die Zimmertür geöffnet. Canthalion eilte zur Treppe, denn er wusste, er würde es bis zu den anderen ins Zimmer nicht mehr rechtzeitig zurück schaffen, ohne gesehen zu werden. Ferner wollte er nicht das Risiko eingehen, dass bei Entdeckung die Aufmerksamkeit des Ork auf das Zimmer der Gefährten gelenkt wurde und sie aufflogen. Also stürzte er zur Treppe und huschte einige Stufen hinab, spähte dabei in den Flur, um nach seinem Verfolger Ausschau zu halten. Der Ork zeigte sich kurz, schien etwas verwirrt, glaubte etwas gehört zu haben, das scheinbar nicht da war und ging wieder zurück. Canthalion atmete auf. Geschafft! Das war gerade noch einmal glimpflich verlaufen.
Einige Zeit später konnte man es nebenan klirren hören. Da hatte sich doch jemand an der Tür zu schaffen gemacht. Scheinbar hegten ihre Widersacher eine (nicht ganz faslche) Vermutung bezüglich der Identität derer, die da nachts auf dem Flur umher schlichen. Kruste, der inzwischen auch aufgewacht war, kam mit Canthalion, welcher bereits seinen nächtlichen Ausflug gestanden hatte, überein, dass sie Galathon nicht wecken wollten. „So wie der sich nach Ruhm und Schlacht sehnt – nicht, dass er etwas Dummes anstellt.“ flüsterte der Gnom. Der Rest der Nacht verlief tatsächlich friedlich und so starteten alle drei frisch ausgeruht, aber doch mit einem unwohlen Gefühl im Herzen, in den neuen Tag.
Auf dem Programm stand heute ein Besuch bei dem Zwergen Grochtun der Stadtwache, der sie eingeladen hatte und beim Tempel Lathanders. Vielleicht konnten sie noch einiges in Erfahrung bringen. „Doch zuerst wird zünftig gefrühstückt!“, beschloss Herbstkruste. „Mein Magen fühlt sich an, als hätte ich Wochen gefastet.“ Und weil er recht extrovertiert war und ihm das Sich-Verstellen im Blut lag, scheute er sich auch nicht, sich zur Frühstückstafel von Semmemon und seinen Schergen zu gesellen. Er tat dabei, als wüsste er gar nicht, wer die drei wirklich waren, diskutierte, erzählte und tischte dabei weiterhin Anekdoten und Geschichten auf, die, wenn sie erfunden waren, jedenfalls ausgezeichnet erdichtet waren. Die beiden anderen Helden gesellten sich mit geballter Faust in der Tasche ebenfalls zu der Runde und so ergab sich ein lustiges Bild: Da saßen beide Parteien, Gut und Böse, an einem Tisch beisammen und jede gab vor, ganz arglos und friedlich zu sein und nicht zu wissen, was es mit den anderen auf sich hatte. Der Wirt tischte reichlich Tee, Milch und Met auf, dazu verschiedene frisch gebackene Brote, gut abgehangenen Schinken, würzig riechenden Käse, Früchte und Eier. Ein wahrer Gaumenschmaus!
Der Vormittag im Dorf verlief nicht sonderlich informativ. Canthalion, Herbstkruste und Galathon besuchten Grochtun. Elf und Paladin mussten sich eine geschlagene Stunde die Familienverhältnisse der in ihrer Rasse entfernt Verwandten, Grochtun und Kruste, anhören. Doch nach einer allseitigen Verbrüderung aus vormittäglicher Bierlaune trennten sich die Drei wieder, da der Zwerg zum Dienst musste.
Kruste betrat mit den anderen anschließend den Tempel des Lathander. Er war gutgelaunt, auch wenn ihnen Grochtun rein gar nichts hatte verraten können, was sie in ihrem Auftrag weiterbrachte. Im Tempel unterhielten sie sich mit dem vorstehenden Tempeldiener, einem charismatischen Halbelfen namens Dorlan, der einen kurzen weißen Bart hatte und den drei Freunden aufmerksam zuhörte. Kruste übernahm wieder das Reden, wobei Galathon dem Gespräch aufmerksam folgte und es beizeiten, durch Einwürfe und Fragen, wieder in die richtige Richtung lenkte. „Sagt euch der Name Semmemon etwas, Tempelälstester?“, fragte der Gnom unverblümt. Dorlan erbleichte ein wenig und machte Schutzzeichen. „Nun, seine Boshaftigkeit und die Umtriebe, die stets von seiner Festung Dunkelburg im Süden ausgehen sollen, sind legendär. Aber warum fragt ihr so offen nach etwas, dass besser verborgen und ungenannt bliebe, kleiner Freund?“ Kruste wippte auf den Zehenspitzen und sprach oberlehrerhaft mit erhobenem Zeigefinger, „Ja, ich habe schon viel in meinem Leben erlebt. Aber noch nie begegnete mir so abgrundtiefe Boshaftigkeit wie bei einer Person. Ihr Name ist Semmemon.“
Galathon unterbrach den Gnom, der abzuschweifen drohte. „Herr, es muss unter uns bleiben. Aber der dunkle Fürst weilt in diesem Dorfe. Wir sind ihm auf der Spur. Er scheint etwas Verwerfliches auszuhecken, vielleicht ein magisches Ritual – jedenfalls brütet er immer über einem mächtigem Folianten, vermutlich einem Grimoire.“ Canthalion reichte Dorlan seine Zeichnung mit den Symbolen aus dem Buch. Dieser hatte die Hand vor den Mund geschlagen und sprach bedächtig nach einem Moment der Sammlung. „Ich kann euch leider nicht sagen, was die Zeichen genau zu bedeuten haben, dafür reichen meine magischen Kenntnisse nicht aus. Doch sie verheißen nichts Gutes. Ich vermag euch ebenso wenig tätlich zu unterstützen, aber ihr habt meinen Segen. Geht nun, tut, was nötig ist, aber seid, bei Lathander, vorsichtig!“
Galathon nickte dankend. Unzufrieden mit der Auskunft des Priesters und mit ihm einen bösen Scherz treibend murmelte Herbskruste gerade so laut, dass der Tempelälteste es noch hören konnte, „Nun, vielleicht sollte ich in magischen Angelegenheiten meinen Fachmann Elminster befragen.“ „Ihr kennt Elminster persönlich?“, fragte Durlan ungläubig. „Natürlich! Aber leider spricht er nicht mehr mit mir, seitdem ich ihm einmal aus Spaß an seinem Bart zog – auch der große Elminster ist eben manchmal nur eine beleidigte Opa-Unke.“
Die Stimme des Gnomen, sein Minenspiel und seine Körperhaltung waren so perfekt, dass der Halbelf ihm seine Geschichte abnahm. Er stand immer noch sinnierend da, was der Gnom denn für eine Persönlichkeit sei, dass er Elminster kenne, als die Drei den Tempel verließen.
Ins Wirtshaus zurückgekehrt besprachen Canthalion, Galathon und Herbstkruste auf ihrem Zimmer, was denn jetzt zu tun sei. Herbstkruste meinte, dass man den Leuten hier nicht verraten durfte, wer dort unter ihnen hauste. Insbesondere hielt er es für wichtig, sich gegenüber dem Wirt und den anderen Gästen nichts anmerken zu lassen.
Canthalion war der Auffassung, man solle die Angelegenheit jetzt gänzlich Minloh und seinen Freunden überlassen. Schließlich sei das Böse zu stark und der Auftrag ja eigentlich erfüllt. Sie hätten die nötige Aufklärungsarbeit geleistet. Der Paladin hingegen hätte sich am liebsten in das Getümmel der Schlacht gestürzt und das Dunkle hier und jetzt ausgemerzt.
Nach langem Disput fanden sie schließlich eine gemeinsame Lösung: Vielleicht war das Böse auch zu stark für Minloh und seine Freunde. Der erdachte Plan sah vor, dass man die drei Bösen trennte, um ihre Kraft zu teilen und sie einzeln zu schlagen. Galathon – wohl der beste Reiter unter ihnen – sollte in das Versteck Minlohs zurückkehren und berichten, was alles geschehen war. Zudem sollte er ihren Plan unterbreiten und die Hilfe der Gefährten anbieten, den Schurken endgültig im Kampfe das Handwerk zu legen. Gemeinsam mit Minloh, Goleth und Blithe würden sie es schon schaffen – das hofften die Drei zumindest.