GefangeneThamior kam von der Decke herunter. Sein Blick begegnete Dirims, und für einen Moment standen sie schweigend, schwer atmend im Raum. Dann beugte sich Dirim über Zenith, um das Leben des verrückten Zwerges zu retten. Thamior ging umher und sah nach den Gefährten. Sie waren alle tot.
Er half Dirim dabei, Zenith zu entkleiden und zu fesseln, dann untersuchten sie seinen Besitz: Waffe, Schild und Rüstung waren magisch, ebenso ein paar Armreifen, ein Stirnreif, und ein Amulett. Als Dirim sich versuchsweise das Amulett um den Hals hängte, erwachte die Statue der Fischgöttin zu neuem Leben und stellte sich schützend neben ihn.
»Ist er tot?« In der Tür stand Abhaca, aus mehreren Wunden blutend, aber mit einem grimmig-siegessicheren Lächeln auf den wulstigen Lippen. Er schien nicht im Mindesten beunruhigt, dass von den fünf Kettenbrechern nur noch zwei lebten, und diese beiden ihn misstrauisch beäugten.
»Nein. Er lebt noch. Anders als unsere Freunde«, sagte Dirim. Abhaca zuckte mit den Schultern, sagte aber nichts. »Und der Priester?«
Jetzt lächelte Abhaca wieder. »Mangu Picthu ist tot. Sein Verrat wurde bestraft.«
»Müssen wir jetzt kämpfen?«
»Warum? Glaubt ihr, Abhaca, der König von Bhal-Hamatugn, hält sein Wort nicht?«
»Nun«, sagte Thamior, »um ehrlich zu sein...«
»Wer würde denn dann den Propheten fortschaffen?«, entgegnete Abhaca. »Ihr habt nicht meinen Zorn, sondern meine Dankbarkeit verdient. Und die werdet ihr erfahren, wenn auch in Maßen.«
»In Maßen?«
»Ihr müsst fort, bevor die neuen Pilger kommen. Ich werde meine Getreuen anweisen, dass sie euch einen Karren zur Verfügung stellen, auf dem ihr eure Freunde und den Propheten fortschaffen könnt. Außerdem werde ich euch reichlich belohnen – aus Mangu Picthus Koffern. Der Talisman der Göttin«, er wies auf das Amulett um Dirims Hals, »bleibt allerdings hier.«
Damit waren die Kettenbrecher einverstanden. Bald hatten sie die Leichen ihrer Freunde und den immer noch bewusstlosen Zenith auf den Karren geladen. Abhaca gab ihnen einige Säcke mit Gold in die Hand, und schließlich noch eine Schriftrolle, mit der er nichts anzufangen wusste.
»Vielleicht hilft sie euch«, sagte der König.
»Was ist es denn für ein Zauber?«, fragte Dirim. Abhaca sagte es ihm. Dirim hielt inne. »Oh je. Na ja, in der Not frisst Kezef Mask.«
»Wenn ihr wollt, könnt ihr auch die Gefangenen haben. Sie sehen nicht sehr stark aus, aber sie könnten dennoch versuchen, den Karren zu ziehen, und in eurer Heimat bekommt ihr vielleicht einen guten Preis für sie.«
»Gefangene?«
»Ja. Sie wurden erwischt, wie sie sich in den Tempel schlichen. Wollt ihr sie sehen?« Sie wollten.
-
Der Zellentrakt lag in völligem Dunkel, aber Abhaca ließ Fackeln entzünden, um die schmutzigen Löcher zu erhellen, in denen die Gefangenen saßen. Beide waren sie nackt und ausgezehrt; blaue Flecken und schorfige Schrammen bedeckten ihre Körper. Der eine von ihnen war ein Mensch, der vor seiner Gefangenschaft wohl eine Glatze gehabt hatte. Jetzt bedeckte ein schmutziger Flaum seine Kopfhaut. Sein Gesicht war wellig, und die Narben von Eiterbeulen bildeten ein wildes Mosaik. Sein Mund war durch eine dieser Narben zu einem schiefen Grinsen verzerrt. Der andere Gefangene war kleiner, ein Halbling, und hatte schulterlanges, verfilztes schwarzes Haar, an dem er unablässig zupfte. Beide sprangen auf, als die Kettenbrecher den Trakt betraten.
»Holt mich hier raus!«, riefen sie im Chor, und dann: »Nein, traut ihm nicht!« in die Richtung des jeweils anderen.
»Er ist ein Verräter!«, rief der Halbling und zeigte auf den Menschen. Seine Stimme war hell und gehässig. »Er kann zaubern! Ich habe gesehen, wie er sich mit einer Ratte unterhalten hat!«
»Hört nicht auf ihn! Er arbeitet mit den Fischköpfen zusammen!«, schrie der Mensch. »Sie haben ihn gerade erst eingesperrt, kurz bevor ihr kamt!«
»Seid ruhig!«, befahl Dirim, während Thamior nur den Kopf schüttelte ob dieses Verhaltens. »Wie heißt ihr?«
»Mein Name ist unwichtig«, sagte der Mensch. »Aber man nennt mich Pestbeule.«
»Hört ihr?«, fragte der Halbling. »Nicht mal seinen Namen will er euch verraten. Ich habe nichts zu verbergen. Ich heiße Hedian.«
»Nun gut, Pestbeule und Hedian. Wir können euch hier rausholen. Aber nur, wenn ihr euch benehmt. Und nur euch beide zusammen. Also?«
»Na gut«, sagten die Beiden.
»Schwört es«, verlangte Dirim.
»Ja ja, ich schwöre«, sagte Pestbeule gelangweilt.
»Schwöre«, sagte Hedian ebenso schnell. Dirim runzelte die Stirn. Aber was sollte er machen?
»Na gut, dann lasst sie raus.«
-
Kaum waren sie aus ihren Zellen, da warfen sich die Gefangenen schon wieder böse Blicke zu. Dirim fluchte innerlich. Das konnte ja heiter werden. Sie traten zurück in den Vorraum. Hedian blieb stehen und pfiff durch die Zähne.
»Nicht schlecht.«
»Was denn?«
»Seht ihr das nicht?« Der Halbling sah sich bewundernd um. »An den Wänden?«
»Ich sehe nichts«, gab Dirim zu.
»Da verpasst ihr etwas. Die Wände... es ist, als lebten sie. Hier sind überall Wellenmuster, und da vorne wiegt sich Schilf in der Strömung – und hier schwimmen kleine Fische!«
Thamior ging vor und griff, wo der Halbling gezeigt hatte. Da war nichts. Plötzlich begriff Dirim.
»Es ist nicht unsichtbar«, sagte er. »Es ist ätherisch! Ihr könnt auf die Ätherebe-ne schauen, oder?«
Abhaca nickte. »Nur, wenn es sich bewegt.«
»Also habt ihr bewegliche Kunst geschaffen.« Dirim betrachtete Hedian, dann wieder den Kuo-Toa. »Können wir noch mal in die große Halle?«
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Die Doppeltore taten sich auf, und Dirim führte Hedian in das Heiligtum. Nebeneinander traten sie an die Brüstung und sahen in den großen Raum hinaus, in dem immer noch träge rote Lichter trieben.
»Und?«, fragte Dirim. Hedian schwieg. Dirim wandte den Kopf und sah, wie der Halbling mit offenem Mund in die Halle starrte. Es dauerte einige Dutzend Atemzüge, bis Hedian sich wieder in der Gewalt hatte, um zu antworten.
»Einfach unglaublich.«
»Was siehst du?«
»Kennt ihr die Göttin der Kuo-Toa?«
»Blip-irgendwas? Ja, ich habe eine Statue von ihr gesehen.«
»Ich sehe auch gerade eine.«
»Wie groß ist sie?«
»Nun, sie... sie steht auf dem Boden da unten, und da oben...«
»Die Lichter?«
»Das sind ihre Augen.«
»Also deshalb bewegen sie sich. Aber...« Dirim schätzte die Distanz ein zweites Mal, »aber dann müsste die Statue ja dreißig Schritt hoch sein!«
»Ich würde sagen, das kommt hin«, sagte Hedian.
»Unglaublich.«
»Das ist nicht alles«, sagte der Halbling. »Die Statue bewegt sich – das habt ihr wohl schon gewusst. Sie... sie tanzt. Und um sie herum tanzen Kuo-Toa, Dutzende von ihnen. Es ist... ich kann es nicht beschreiben.«
Schweigend standen sie noch einen Moment nebeneinander. Schließlich wandten sich die beiden wieder zum Gehen.
»Ich mag die Kuo-Toa nicht besonders«, sagte Hedian. »Aber jetzt respektiere ich sie. Wisst ihr, was ich am erstaunlichsten finde?«
»Was?«
»Wie lebensecht sie die Brüste ihrer Göttin hinbekommen haben. Da kann man schon in Ehrfurcht erstarren. Versteht ihr? ›Erstarren‹.« Hedian kicherte.
»Und ich dachte schon, ich hätte mich in dir getäuscht«, sagte Dirim kopfschüttelnd.
-
Währenddessen hatte Pestbeule sich auf den Karren gesetzt. Ebenso wie Hedian hatte er einen alten Lumpen erhalten, der gerade so als Gewand durchging. Thamior stand ein paar Schritt entfernt, den Bogen betont lässig so vor sich, dass er schnell kampfbereit wäre. Aber der Mensch schien keinen Verrat zu planen. Er saß nur auf dem Karren und kratzte sich ständig.
Schließlich fragte Thamior: »Juckt es?« Pestbeule bedachte ihn nur mit einem bösen Blick. Dann kratzte er sich weiter. Schabend fuhren seine langen Fingernägel über den Hals, hinter die Ohren, über den Schädel.
»Du kratzt dich noch wund.«
Pestbeule kratzte sich weiter. Thamior fiel auf, dass der Mensch darauf bedacht war, nicht über die Erhebungen in seinem Gesicht zu kratzen. Thamior vermutete, dass es dort wirklich juckte. Sich dann an anderen Stellen zu kratzen konnte nur dazu führen, dass das Jucken noch stärker wurde. Schließlich hielt Pestbeule es nicht mehr aus und kratzte einen Höcker. Sofort platzte die Haut auf, und milchiger Eiter floss aus der Wunde.
»Scheiße! Malars Warzenhintern noch eins! Scheiße noch mal! Sieh dir das mal an!« Er beugte sich zu Thamior hin und präsentierte ihm so die Eiterwunde.
»Hättest dich halt nicht kratzen sollen«, sagte der Elf trocken.
-
Kurz darauf kam Dirim mit dem Halbling zurück.
»Ihr zieht den Karren«, sagte Dirim zu den ehemaligen Gefangenen. Beide murrten, gingen aber nach vorne. Hedian blieb bei Zenith stehen.
»Ist er wach?«, fragte Thamior sofort.
»Sieht nicht so aus«, sagte Hedian. »Aber da ist was auf seiner Stirn.«
»Was denn?«
Der Halbling zuckte mit den Schultern. »Irgendein Zeichen.«
»Bewegt es sich?«, fragte Dirim. »Vielleicht ist es ein Rangabzeichen der Kuo-Toa.«
»Nein, es ist ganz ruhig. Die Kuo-Toa haben es vielleicht selbst nicht gesehen.«
»Wie sieht es aus?«
»Ich kann es aufzeichnen.« Und das tat Hedian dann auch.
»Danke«, sagte Dirim. Er sah sich die Zeichnung an, konnte aber mit dem Zeichen nichts verbinden. »Und jetzt zieh den Karren.«
Die Kettenbrecher verabschiedeten sich von Abhaca, und dann begannen sie ihren Aufstieg aus dem Unterreich in der Hoffnung, dass die Gefahren fürs Erste vorbei seien. Sie gingen schweigend, nur unterbrochen von Hedians unregelmäßigen Seufzern und Ausrufen, was Blipdoolbulps Brüste betraf.
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Zeniths Zeichen: