Hilfe von oben
Am nächsten Morgen versuchte Levold, den Fluch bei Dirim zu brechen. Vergeblich. Der Zwerg blieb durchscheinend und hilflos.
»Und jetzt?«, fragte Pecarri. »Habt ihr noch eine Idee?«
Levold senkte den Kopf. »Vielleicht hätte ich direkt darauf kommen sollen.« Er ging zu seiner Reitechse und griff in die Satteltasche. Heraus kam ein großes Ei, das von innen heraus zu leuchten schien. »Die Ältesten haben mir diesen Gegenstand gegeben. Wenn ich in größter Not sei und eines Wunders bedürfe, dann sollte ich das Ei zerbrechen.«
»Ein Wunder?«
»Und ihr würdet es für uns benutzen?« Thargad war erstaunt.
»Das würde ich«, sagte Levold ernst. »Allerdings ist meine Schuld dann bezahlt.«
»Natürlich«, beeilte sich Pecarri zu sagen.
Levold hob das Ei über seinen Kopf. »Herr der Sonne, höre mein Flehen. Gib den Kettenbrechern Hilfe, auf das ihr Freund wieder hergestellt wird.« Damit warf er das Ei zu Boden und zerbrach es. Gleißendes Licht ließ die Anwesenden ihren Blick abwenden - vor allem Pecarri verzog schmerzhaft das Gesicht. Dann hörte man eine helle Stimme.
»Hallo! Wer seid ihr denn?« Die Kettenbrecher sahen sich ebenso verwirrt um wie Levold, doch es war nichts zu sehen. Nur ein leises Flattern war zu hören. »Du siehst aber komisch aus!” Jetzt sahen sie einander an, aber es blieb unklar, wer gemeint war.
»Was ist das?«, wollte Thamior wissen.
»Ich weiß nicht«, sagte Levold. »Ein Geist?« Er berührte die goldene Sonnenscheibe auf seiner Stirn. »Zeig dich!«
»Von wegen!«, kam es aus dem Nichts.
Levold knurrte. »Beim Herrn der Sonne: Zeig dich!« Die Luft um ihn herum schlug Wellen, dann wurde der Besitzer der Stimme enthüllt. Er war etwas kleiner als Pecarri, wesentlich bunter angezogen - einschließlich einer langen Zipfelmütze - und die Spitzohren, die Mottenflügel und der übertrieben erschrockene Ausdruck auf dem Gesicht ließen nur einen Schluss zu.
»Azuth sei gnädig«, entfuhr es Pecarri.
»Was?«, fragte Boras.
Thamior rieb sich die Augen und seufzte. »Warum wir?«
»Was?«, fragte Boras.
Pecarris Blick sprach Bände. »Es ist...«
»... ein Feenkobold«, beendete Thamior den Satz.
»Was?«, fragte der Feenkobold. »Wo?« Er sah sich hektisch um. Dann zuckte er mit den Schultern und flatterte zu Thargad, der das Geschehen schweigend verfolgt hatte. »Wer bist du denn?«
»Ich bin Thargad. Und du?«
»Flitz!« Er griff Thargads Hand mit beiden Griffeln und schüttelte sie. »Angenehm.«
Boras fletschte die Zähne. Dann wollte er von Helion wissen: »Sind die immer so?«
»Immer.«
»Eigentlich bin ich sonst ganz anders«, beteuerte Flitz, »nämlich unsichtbar!«
Thamior ignorierte den Neuankömmling und wandte sich an Levold. »Sag Mal, kann es sein, dass die Ältesten dich nicht besonders mögen?«
Levold wollte empört verneinen, sah aber noch mal zum Feenkobold hin und dann von einer Antwort ab. »Meine Schuld ist jedenfalls getilgt. Der Handelsposten liegt da entlang. Ich denke, ich reite am Besten auch los.« Und mit einem letzten Seitenblick auf Flitz schwang er sich auf seine Reitechse und ritt davon.
»Wir sollten auch aufbrechen«, sagte Thamior mit einem Blick auf die dunkelgraue Himmelsdecke. »Ich denke, es kommt ein Sturm.«
»Na, hoffentlich wird Flitz nicht weggeweht«, sagte Boras mit gespielter Fürsorge.
»Keine Angst«, sagte der, »ich schaffe das schon.« Und wurde prompt unsichtbar, als er aus dem Wirkungskreis von Levolds Zauber heraus war.
-
Dennoch gab es keinen Zweifel, dass Flitz bei den Kettenbrechern war, als sie den Handelsposten erreichten. Davon zeugte nicht nur, dass Boras mehr als einmal über etwas Unsichtbares stolperte, sondern auch das fröhliche Geplapper, das in der Luft lag.
Der Handelsposten bestand aus einem kreisförmigen Vorhof und einem großen, viereckigen Aufenthaltsraum. Der Vorhof war nach oben offen, und die Steinmauern, die ihn umgaben, waren ebenfalls teilweise eingestürzt und eingerissen. In der Mitte des Vorhofs erhob sich ein schmaler Turm aus Mörtel, nicht unähnlich einem großen Ameisenhaufen, in dessen Schutz sich anscheinend der Brunnen verbarg, der aber ansonsten nicht begehbar war.
Thamior und Thargad schlichen sich - von Flitz unsichtbar begleitet - an und begannen mit einer vorsichtigen Durchsuchung des Vorplatzes. Flitz beobachtete sie und, nach einem Blick auf den Brunnenturm, wollte ihnen einen Schrecken einjagen. Er konzentrierte sich. Im Inneren des Turms öffnete sich ein Tor zu einer Zwischenwelt, und ein Schwarm von Hunderten von Fledermäusen drang daraus hervor, in der Spitze des Turms gerade noch Platz findend. Flitz kicherte leise. Die würden sich erschrecken!
Thargad näherte sich dem Brunnen, während Thamior die Außenwände untersuchte. Als er einen Blick hinunter in die Finsternis warf, hörte er über sich das hektische Schlagen von vielen kleinen Flügeln. Instinktiv zog er den Kopf ein und machte ein paar Schritte zurück, gerade als der Fledermausschwarm aus den schmalen Öffnungen, die die Zeit in die Turmwände geschlagen hatte, auf ihn zu schwärmte. Thargad drehte sich um und rannte zu Thamior. Flitz hingegen schalt sich einen Dummkopf, weil er vergessen hatte, dass er den Schwarm nicht steuern konnte. Trotzdem wollte er sehen, wie sich das Ganze entwickelte.
Die Fledermäuse folgten dem Schurken. Sofort flatterten überall um Thamior und Thargad kleine schwarze Blutsauger, die mit ihren kleinen Krallen fiese Risse zogen. Die beiden Kettenbrecher schlugen nach den Tieren, richteten aber nichts aus. Thamior duckte sich und rannte davon, aus dem Schwarm heraus, als plötzlich die Fledermäuse aufflogen und sich zerstreuten. In Sekundenbruchteilen war von den Tieren nichts mehr zu sehen.
»Wo sind sie hin?« Thamior presste ein Stück Stoff auf die blutende Wange.
»Keine Ahnung«, sagte Thargad. »Als hätten sie sich in Luft aufgelöst.«
»Komisch.« In diesem Augenblick kam Boras auf den Hof gelaufen, Helion auf den Schultern. »Ihr seid etwas zu spät«, begrüßte Thamior die beiden. »Aber vielleicht gehen wir von hier aus gemeinsam vor.«
»Was war denn?«, fragte Helion, während Boras ihn absetzte.
»Nichts«, sagte Thargad und sah dabei argwöhnisch nach oben. »Hoffe ich jedenfalls.«
Vor dem Unterstand wurde Flitz sichtbar. »Na, was ist denn?«, rief er betont unschuldig. »Kommt endlich!«