Prolog: Nacht
Es war still im Tempel, der von der Bevölkerung ›Flammendes Auge‹ genannt wurde. Einzig eine Wache marschierte geräuschvoll über das Gelände, in einer Hand eine lodernde Fackel, die andere griffbereit am Streitkolben. Aus der Stadt drangen Geräusche an sein Ohr: das gackernde Lachen einer betrunkenen Hure, die schiefen Gesänge von Freunden auf dem Heimweg, und die gutturale Sprache der patrouillierenden Söldnerwachen.
In einem Nebenraum lagen drei Leichen aufgebahrt. Man hatte ihre Körper gewaschen und gesalbt, sie anschließend in einfache Gewänder gehüllt. Die Leiche zur Linken war groß, muskulös, ein wilder Ausdruck lag noch immer auf dem leblosen Gesicht. Daneben lag eine beinahe schmächtige Gestalt, leicht zusammengesunken, der Körper gewohnt, sich in kleine Vorsprünge zu zwängen. Im Gegensatz zu den Händen des Ersten, die voller Schwielen und Abschürfungen waren, und jenen des Dritten, welche kleine Verbrennungen und Verätzungen aufwiesen und nach Schwefel rochen, waren seine Hände glatt, die Fingerspitzen immer noch sensibel für die kleinste Unebenheit. Die letzte, rechts liegende Leiche gehörte einem schlanken jungen Mann. Die Haut dieses Toten war unberührt von den vielen Schrammen und kleinen Narben seiner beiden Gefährten, sah man von der tiefen Axtwunde auf seiner Brust ab, die der Grund für sein Ableben gewesen war.
Jenya betrat den Ruheraum und schloss die Türe hinter sich. Im Licht ihrer Kerze schälten sich die Leichen der Kettenbrecher aus der Dunkelheit wie Diebe aus tiefem Nebel. Ihr Tod drohte, ihr die Hoffnung zu stehlen. Jenya trat zu den Toten und betrachtete ihre Gesichter. Niemand würde denken, dass sie nur schliefen. Sie verneigte sich vor den Toten. Ihre Rüstung schnitt noch tiefer in ihr Fleisch, das Metall kalt und hart auf ihrer Haut - sie hatte keine schützende Kleidung darunter angelegt. Nicht heute nacht.
Jenya entzündete weitere Kerzen im Raum, bis das Zimmer in goldenen Flammen zu schwimmen schien. Schweiß bedeckte ihre Haut, als sie fertig war, rann in die Ritzen zwischen ihrer Rüstung, brannte auf den wunden Stellen, wo zwei Plattenteile aneinander rieben. Jenya kniete mühsam in der Mitte des Raums und schloss ihren Helm. Schwüle Düsternis umschloss sie. Dann begann sie, zu beten.
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Die Kerzen waren zur Hälfte herunter gebrannt, als Jenya ihre Gebete beendete. Sie erhob sich. Ihre Knie schrieen auf, ihre Haut fühlte sich an wie geschmirgelt. Irgendwo an ihrer Hüfte vermengte sich Blut mit ihrem Schweiß. Sie ignorierte die Schmerzen. Ihre Hand fasste den Griff ihres Streitkolbens ›Stern der Gerechtigkeit‹, der Waffe und Zeichen des Hohepriesters zugleich war. Der Stern der Gerechtigkeit konnte einmal pro Zehntag eine Frage an einen von Helms Gesandten richten, aber Sarcem Delasharn, ihr Vorgänger und Mentor, hatte ihr auch erzählt, dass man die Macht dieses Gegenstands aufzehren konnte, um ein Heiliges Gespräch mit dem Gott selbst zu erbitten. Dazu war sie hier.
Jenya konzentrierte sich auf den Streitkolben, erspürte seine Macht. »Helm, erhöre mich«, bat sie. »Eherner Wächter, erhöre mich. Nie Zwinkerndes Auge, erhöre mich.« Die Waffe begann, in ihren Fingern zu vibrieren. Sie begann von Neuem: »Helm, erhöre mich. Eherner Wächter, erhöre mich. Nie Zwinkerndes Auge, erhöre mich.« Ihr Arm zitterte nun im Gleichtakt mit der Waffe. Eine dritte Wiederholung. »Helm, erhöre mich. Eherner Wächter, erhöre mein Flehen. Nie Zwinkerndes Auge, erhöre das Flehen deiner Tochter.«
Der Streitkolben erstrahlte in gleißendem Licht. Jenyas Augen waren hinter dem geschlossenen Helm geschützt, doch ohne diesen Schutz wäre sie erblindet, das wusste sie im selben Augenblick, da sie das Licht erblickte. Das Licht verdrängte die Nacht aus dem Zimmer, verdrängte alles andere, bis es allein zu existieren schien. Dann, begleitet von noch hellerem Pulsieren, erklang eine Stimme.
»Was wünschst du, meine Tochter?«
Jenya wusste, sie durfte nicht zögern, und doch hatte sie Angst, dass Helm ihr Anliegen als nichtig betrachten würde. »Mein Herr«, sprach sie, »ich rufe Euch ob der Gefahr für die Stadt, die ich bewache, und um Eure Gunst zu erbitten.«
»Weißt du nicht, dass du meine Gunst bereits besitzt?«
»Doch, Herr, und dieses Wissen erfüllt mich mit Stärke.« Jenya biss sich auf die Lippen. Beinahe hätte sie ›Demut‹ gesagt, doch auf solche Gefühle legte man in der Helmkirche nur wenig Wert. »Doch ich will Eure Gunst nicht um meinetwillen erbitten. Der Kessel wird von Gefahren bedroht, die ich nur ansatzweise verstehen kann. Und mir scheint, dass nur wenige Personen willens und in der Lage sind, um dieser Gefahr Einhalt zu gebieten. Ich fürchte ebenfalls, dass meine Kraft nicht ausreicht, um diese Taten zu begehen. Und meine Hoffnung schwindet.«
»Wo die Meinen wachen, ist immer Hoffnung.«
»Und doch wäre sie größer, wenn die Streiter Cauldrons vollzählig wären.« Jenyas Herz klopfte bis zum Hals, als ihrem Gott widersprach - oder wenigstens dem kleinen Teil, der ihr Aufmerksamkeit schenkte. »Cauldron braucht die Kettenbrecher, um Freiheit von der Bedrohung zu erlangen.«
Das Licht wurde etwas schwächer, und Jenya sah am Rand der Helligkeit die drei aufgebahrten Leichen. Einzelne Lichtstrahlen glitten wie prüfend über die Körper.
»Dies ist deine Hoffnung? Ein Idealist, ein brutaler Schlächter, und ein Meuchelmörder? So sieht die Rettung Cauldrons aus?«
Was hatte Helm gerade gesagt? Jenya hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie holte tief Luft. »Ja«, sagte sie. »Ihre Loyalität gilt der Stadt, und ihr Wille ist stark. Ich brauche sie.«
»Ich vertraue deinem Urteil, meine Tochter. So wisse, dass dein Wunsch erfüllbar ist, aber großes Ungleichgewicht bringen kann. Es ist Göttern nicht gestattet, in das Geschehen auf der Grauen Einöde einzugreifen - es sei denn, das Ungleichgewicht wird ausgeglichen.«
»Was bedeutet das?«
»Was bietest du an, um deine Bitte zu erhören?«
»Mich«, antwortete Jenya ohne Zögern.
»Du riskierst den Tod.«
»Wenn mein Tod ihr Leben erkauft, dann soll es so sein. Ich biete mein Leben, meine Kraft, meine Erfahrung. Nehmt, soviel Ihr nehmen müsst.«
Für einige Atemzüge herrschte Stille. Das Licht wurde schwächer, begann zu verblassen. Jenya fürchtete schon, ihr Angebot wäre zu gering gewesen. Dann breitete sich das Licht wieder aus, und jetzt drang es auch durch ihren Helm, in ihre Augen, durch ihre Haut, erfüllte sie.
»Dein Angebot erfüllt mich mit Stolz. Die Bereitschaft, für die Sicherheit deiner Stadt in den Tod zu gehen, spricht von deiner Treue. Darum soll der Tod noch nicht dein Schicksal sein. Lebe, und sei den Deinen ein Vorbild.«
Mit einem Schlag zog sich das Licht zurück, und Jenya fühlte sich entzwei gerissen. Sie taumelte, dann fiel sie. Die Schwüle des Zimmers vermochte nicht, sie zu wärmen, und das goldene Licht der Kerzen drang nicht zu ihren Augen vor. Ihr Atem ging flach und langsam. Mühsam, Zentimeter um Zentimeter, kroch ihr rechter Arm an ihrem Körper empor, bis der Stern der Gerechtigkeit auf ihrer Brust lag. Dann verschwand auch der letzte Lichtfunken in Jenya Geist und ließ sie reglos, bewusstlos zurück, wo sie von einem Akolyten gefunden wurde, ein Lächeln auf den Lippen.