Dann gebe ich euch mal etwas Material, das mit den Kettenbrechern direkt zu tun hat...
Aleks Atem
»Was machen wir jetzt?« Dirim eröffnete das Gespräch, nachdem die Kettenbrecher einige Zeit schweigend um den Tisch im Tyrtempel gesessen hatten, jeder seiner eigenen Müdigkeit nachhängend.
»Morgen ziehen wir los nach Redgorge. Maavu wartet nicht ewig.« Helion wartete nicht, ob ihm jemand widersprach. »Ich gehe heute abend noch zu Embril und sehe mal, ob ich nicht ein paar Heiltränke oder so etwas abstauben kann.«
»Gut«, sagte Boras. »Ich treffe mich noch mit Terseon. Ich will wissen, was er weiß oder wusste. Man weiß ja nie.«
Wieder senkte sich Stille über den Raum als die Kettenbrecher einander ansahen und dasselbe dachten.
»Kann ich mitkommen?«, fragte Thargad. Boras zuckte mit den Schultern. Helion nickte Thargad verstohlen zu.
»Ich gehe dann zu Jenya. Vielleicht hat sie noch ein paar Sachen für uns«, fügte Dirim an.
»Na dann.« Helion riss die Augen auf, um seine Müdigkeit zu vertreiben. »Ich weiß noch nicht, ob ich in der Nacht noch zurückkomme. Wir sehen uns sonst morgen vor der Stadt.« Während die Anderen noch ihren eigenen Gedanken nachhingen, warum der Kobold im Azuthtempel übernachten wollte, stand er auf und machte sich auf den Weg.
-
Der Winter hatte Cauldron inzwischen im Griff. Allerdings hatte die Schneezeit noch nicht begonnen, und das nun verhältnismäßig warme Wasser des Kratersees führte dazu, dass selbst auf den höheren Straßen eine leichte Nebelschicht lag, während die unteren Gebiete in diffus nach Schwefel schmeckender Suppe schwammen, die erst gegen Mittag des nächsten Tages vollständig von der Sonne verbrannt werden würde. Alles in allem eine Witterung, die es den Stadtwachen schwerer als üblich machte, die Stadt zu sichern, es aber andererseits einem einsamen Kobold die Navigation überaus erleichterte.
Helion fühlte sich denn auch sicher genug, relativ direkt den Weg zum Azuthtempel einzuschlagen. Er wirkte einen Zaubertrick, um vor Embrils Fenster zu klopfen - das verabredete Zeichen. Allerdings dauerte es etwas, bis er aus dem Inneren grünliches Licht sah, wiederum das Zeichen, dass sie ihm nun die Tür öffnen würde. Und dann stand an der Tür auch noch ein junger Mann in brauner Robe, ein Akolyt, der sich als Fredo vorstellte.
»Ich bringe Euch zur Ersten«, sagte Fredo freundlich, konnte aber nicht verhindern, dass seine Augenbrauen angesichts des späten Gastes leicht in die Höhe gingen. Pecarri beachtete ihn nicht und ging voraus. Fredo schloss hastig die Tür und überholte ihn im Laufschritt.
Vor Embrils Tür angekommen, sah Fredo den Kobold mit indignierter Missbilligung an. Er klopfte an die Tür.
»Herein.«
Fredo öffnete die Tür und Pecarri schlüpfte an ihm vorbei in den Raum. Eine große Stundenkerze brannte neben dem Schreibtisch, und im Kamin loderte es gemütlich warm. Embril hielt gerade ihre Fingerspitzen gegen eine Glaskugel, die aus dem Inneren heraus zu leuchten begann. Sie trug einen Morgenrock aus schwerem Brokat; ihre Haare waren in der Art verwildert, die auf Schlaf schließen ließ.
»Danke, Fredo. Du kannst jetzt gehen. Nein, warte! Bring uns heißen Wein, bitte.« Fredo verneigte sich und ging rückwärts aus dem Zimmer, ohne Pecarri aus den Augen zu lassen.
»Ihr habt schon geschlafen?«, fragte dieser, als der Akolyt fort war. »Bitte verzeiht, ich dachte nicht-«
»Kein Problem«, unterbrach Embril ihn. »Ich war nur müde von den Ereignissen des Tages. Was kann ich für Euch tun?«
»Wir werden für einige Zeit verreisen, wie es aussieht. Ich wollte Euch fragen, ob Ihr vielleicht ein paar Tränke erübrigen könnt.«
»Natürlich.« Embril machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. »Allerdings,« es klopfte, »da kommt der Wein.« Fredo brachte eine Karaffe mit zwei Kelchen. Auf Embrils Geheiß zog er sich wieder zurück. Embril schenkte den Wein ein, dann nahm sie einen Schluck. Sie zuckte, als habe sie sich die Zunge verbrannt. »Was ich sagen wollte: Allerdings kann ich Euch nicht alles kostenlos überlassen. Eine Handvoll - sagen wir ein halbes Dutzend Heiltränke erhaltet ihr als Zeichen meiner Freundschaft, und ich mache Euch einen guten Preis für den Rest, aber ansonsten...«
»Das ist kein Problem«, sagte Helion und nahm ebenfalls einen Schluck des dampfenden Getränks. Es war ein wenig kühl für seinen Geschmack. Er deutete mit dem Kelch zum Schreibtisch. »Woran arbeitet ihr?«
Embril betrachtete ihn für einen Moment. »An dem Zauber, den ihr mir gegeben habt.« Sie stand auf und herüber. »Ich muss gestehen, dass der Nutzen dieser Magie sehr beschränkt zu sein scheint.« Sie stellte den Wein ab und nahm vorsichtig eine handliche Truhe hoch, die sie zu Helion zurück trug. Als sie den Deckel hob, sah er ein Dutzend kleiner Phiolen säuberlich aufgereiht. »Ich habe einige Tränke angefertigt, allerdings wirken sie bei niemandem, der sie bislang versucht hat. Ich fürchte, sie sind völlig nutzlos außer für Euch. Wollt ihr sie haben?«
»Einfach so?«
»Nun... nein.« Embril lächelte. »Es hat schließlich einiges gekostet, die Tränke herzustellen. Obwohl ich natürlich gerade zugegeben habe, sie nicht gebrauchen zu können.« Sie lachte auf und wies auf ihren kaum benutzten Kelch. »Ich schätze, der Wein ist schuld. Nun, ich gebe euch ein paar als Geschenk. Probiert sie aus, dann könnt ihr den Rest ja immer noch erstehen.« Sie nahm vier Phiolen aus der Kiste und gab sie Helion.
»Danke«, sagte dieser und steckte die Tränke ein. »Nun, ich will euch dann nicht länger stören.« Er stand auf. »Danke für den Wein.«
»Gerne«, sagte Embril. »Ich werde Fredo bitten, euch die Heiltränke zu geben und auch, was ihr sonst begehrt, zu einem guten Preis zu verkaufen. Aber Eines noch...«
»Ja?«
»Ihr spracht von Aufbruch. Wo wollt ihr hin? Wie lange werdet ihr fort sein?«
Helion zeigte seine Zähne. »Das ist ein Geheimnis.«
Embril lachte auf. »Ich liebe Geheimnisse.«
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»Der Hauptmann ist nicht hier«, beharrte der Wachmann. Er warf seinen beiden Kumpanen einen nervösen Blick zu.
»Lügst du auch nicht?« Boras lehnte sich gegen das Gitter und starrte ihm direkt in die Augen. Der Wachmann trat einen Schritt zurück.
»Warum sollte ich?«
Boras sah ihn noch einen Moment an, dann nickte er. »Wo ist er dann?«
»Woher soll ich das wissen. Er hat sich nicht abgemeldet.« Die anderen beiden Wachen kicherten. Boras verzog das Gesicht. »Er ging in Richtung Stadthaus«, sagte der Mann schnell.
»Danke«, sagte Boras. Er nickte Thargad zu, und gemeinsam marschierten die Zwei davon.
»Feigling!«, sagte eine der beiden Wachen zu ihrem Sprecher. Dieser bedachte ihn mit einem vielsagenden Blick.
»Nächstes Mal redest du mit ihm.«
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Der weiße Marmor des Helmtempels schien im Nebel zu verschwimmen und erinnerte Dirim an Geistergeschichten aus seiner Jugend. Vor den schweren Doppeltüren stand ein Priester Wache, in den Händen Langschwert und Fackel, um die Finsternis zu verdrängen. Dann bemerkte Dirim, dass zwischen ihm und dem Wachmann eine weitere Gestalt wartete, vor den Stufen des Tempels geradezu lauerte. Es war eine alte Frau. Dirim ging auf sie zu, musterte ihre zerschlissene Gewandung und hob die Hand zum Gruß.
»So spät noch unterwegs?«
Die Alte schob ihr Kinn vor und neigte ihren Kopf zur Seite. Spröde Lippen teilten sich und entblößten gelbe Zähne. Ein krummer und altersgeplagter Arm fuhr hoch, ein dürrer Finger streckte sich. Die Alte deutete genau auf Dirim, und begann zu sprechen.
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»Heda«, rief Terseon, als er die Gestalten bemerkte. Dann entspannte er sich. »Ach, ihr seid’s. Wo soll’s hingehen?«
»Eigentlich suchen wir nach dir«, sagte Boras.
»Tja, dann habt ihr mich gefunden. Lust auf ein Bier?«
Sie suchten eine kleine Kneipe auf, die ebenso namenlos wie gemütlich war. Die wenigen Gäste schienen Terseon zu kennen, denn keiner reagierte bei seinem Eintreten. Der Hauptmann bestellte zwei Bier auf seine Kosten - Thargad wollte nichts trinken - und nahm erst einmal einen tiefen Schluck.
»Das tut gut. Also, was gibt’s?«
»Es geht um die Herausforderung«, sagte Boras.
»Hätte ich mir denken können.« Terseon wischte sich Bierschaum von der Oberlippe. »Das ist ziemlich beschissen gelaufen. Angeblich hätte ich informiert werden sollen, aber irgendwie ist die Nachricht nicht rübergekommen. Und weil ich nichts gesagt habe, haben Severen und Tenebris angenommen, ich wollte die Sache geheim halten.«
»Was ist das überhaupt für eine Regelung?«
Terseon zögerte. »Frag mich was Leichteres. Anscheinend irgend ein altes lokales Gesetz. Ein Mitglied der fünf besten Familien kann beim Stadtherren eine Herausforderung einreichen, und der Sieger aus einem Duell wird - oder bleibt - Hauptmann der Wache.«
»Warum muss man die Herausforderung beim Stadtherren abgeben?«
»Wahrscheinlich, damit der Hauptmann nicht gemeuchelt und das Ganze als rechtmäßig verkauft wird. Aber heute habe ich wirklich Besseres zu tun, als mich um so was zu kümmern. Überhaupt - danke für Eure Hilfe auf dem Festplatz.«
»Kein Problem«, sagte Boras. »Was ist mit den Wachen, die Maavu eingelassen haben?«
»Ich habe sie festgenommen. Sie haben noch nichts gesagt, aber das kommt schon noch.«
Thargad hatte derweil still dagesessen und den Hauptmann beobachtet. Seine Antworten kamen zögerlich, als wolle er sichergehen, nichts Falsches zu sagen. Und irgendwie war er unruhig. Etwas brodelte in ihm.
»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte der Assassine.
»Na ja, angeblich ist Alek ja besessen oder so was. Wir werden versuchen, ihn ausfindig zu machen und sicher zu stellen. Ansonsten sollen wohl noch ein paar neue Söldner angeworben werden - aber frag mich nichts Genaues. Severen, Tenebris und dieser Zwölftöter sind jetzt noch zugange und klären das.«
Thargad frohlockte innerlich. Da war es also, was Terseon so beschäftigte. »Ohne Euch?«, fragte er in bestürztem Ton und wurde belohnt, als der Hauptmann als Erstes sein Bier in einem Zug leerte und gleich ein Neues bestellte.
»Ohne mich.«
Boras war überrascht. »Aber ist es denn nicht Eure Aufgabe, die Sicherheit der Stadt zu gewährleisten?«
Terseon Skellerang senkte den Blick. Sein Unterkiefer mahlte, und er sagte nichts, bis er endlich sein neues Bier bekommen hatte. Er fuhr sich mit den Handrücken über den Mund. »Meine Aufgabe ist es, dem Stadtherren zu dienen. Und das tue ich. Wenn er meint, dass ich mich auf Maavu konzentrieren soll...«
»Aber das geht doch nicht!«
Terseon sah Boras an, dann Thargad. »Was soll ich machen? Wenn ich aufmucke, booten sie mich am Ende ganz aus. Ich spiele lieber mit und bleibe dafür auf meinem Posten. So kann ich wenigstens noch etwas ausrichten. Willst du wirklich nichts trinken?«
Thargad verneinte. »Ich glaube, ich gehe jetzt auch besser. Viel Glück, Hauptmann.« Er nickte Terseon zu und verließ die Kneipe.
Boras leerte seinen Humpen und rülpste. »Keine Angst, mein Freund«, sagte er. »Ich trinke noch eins.«
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Thargad war gerade auf dem Weg in den Tyrtempel, als ihm ein Botenjunge über den Weg lief. Der Bursche blieb überrascht stehen.
»Ihr seid doch einer von den Kettenbrechern. Ich habe eine Botschaft für Euch!«
Thargad rieb sich den Nasenrücken. »Was ist denn jetzt schon wieder?«
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Pecarri marschierte in die kleine Seitengasse. Nimbral lief neben ihm her in geduckter Stellung. Der Wachgoblin am Ende der Straße erzitterte, dann versuchte er hektisch, aus seinen Lumpen heraus zu kommen und Alarm zu schlagen. Pecarri ging einfach in ihm vorbei und öffnete die Geheimtür.
»Warte hier«, sagte er zu Nimbral und dem Goblin gleichermaßen.
Im Versteck der Kobolde war nur Laktak anwesend. Der Alte hielt ein kleines Feuer in Gang. »Schön, dich zu sehen. Warst du heute auch auf dem Platz?«
»Klar«, sagte Pecarri.
»Gab ganz schön was zu sehen, oder?«
»Und abzustauben.« Er nahm eine Handvoll Silber aus der Tasche.
»Oh. Ja, klar. Das auch. Ich hab nur alles schon verteilt oder Trakis gegeben. Was fandst du denn am Besten heute?«
»Ach, die ganze Panik, und wie der Adler aufgetaucht ist.«
»Ja, das war ein Ding, was?« Laktak lachte nervös. »Der Adler. Mannomann.«
»Wo sind die anderen?«
»Noch unterwegs. Wollen was zu essen besorgen. Ich habe natürlich schon gegessen - aber wenn du was dabei hast...« Der Kobold sah Pecarri hungrig an.
»Ne, tut mir leid.« Er setzte sich ans Feuer. »Dann warte ich mal auf die anderen.«
»Habe ich dir eigentlich schon erzählt, wie ich damals auf Jagd war, als mein Stamm von den Sturmklingen ausgelöscht wurde?«
»Mehrmals«, sagte Pecarri.
»Tja, neulich erst ist mir da noch was eingefallen. Ich war also auf der Jagd...«
Als endlich Teek auftauchte, war Pecarri kurz davor, seine gemeinsten Zauber an dem alten Kobold auszuprobieren. Teek begrüßte die Beiden und warf Laktak einen Laib Früchtebrot zu. »Dein Anteil für den guten Tipp«, sagte er.
»Tipp?«, wunderte sich Laktak. »Oh. Klar. Kein Problem.«
»Können wir kurz rausgehen?«, fragte Pecarri, während der Alte sich über sein Essen hermachte und aus dem Dunkel heraus drei ebenso hungrige Goblins neidisch zusahen. Laktak fauchte sie an, und die drei verschwanden wieder in den Schatten. Teek folgte Pecarri vor die Tür.
»Was gibt’s denn?« Pecarri hob seinen Arm, und Nimbral glitt aus den Schatten. »He, Vorsicht! Oh, Kurtulmaks besudelte Hose! Ist das deine?«
»Das ist Nimbral«, sagte Pecarri. »Mein Freund.«
»Freund? Du meinst...«
»Schhh!«, machte Pecarri.
Teek senkte seine Stimme zur Koboldversion des verschwörerischen Tuschelns. »Du kannst zaubern?«
»Genau!«, sagte Pecarri. »Aber ich muss weg - üben. Kannst du in der Zeit ein wenig auf Nimbral Acht geben?«
Teek schluckte. »Äh.. Klar. Was frisst sie denn?«
»Ratten.«
Teek kicherte. »Ich verstehe. Sag mal, wie stehst du eigentlich zur Verteilung von Beute in einem Clan? Wie viel würdest du dir nehmen... nur so gedacht, wenn du der Führer eines Clans wärst. Und wie viel würden die bekommen, die dir auf den Posten geholfen haben?«
Pecarri grinste. »Bei mir würde jeder bekommen, was er verdient.«
Teek nickte langsam. »Ich kümmere mich um deine Katze. Und auch darum, dass wir dich während deiner Abwesenheit nicht vergessen.«
Bevor Pecarri etwas entgegnen konnte, kam Brim angerauscht. Der junge Kobold war ganz außer Atem.
»Ihr werdet nicht glauben, was vor dem Helmtempel passiert ist! Ihr kennt doch diese Kettenbrecher...«
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»Er wurde verflucht«, sagte Jenya.
Thargad sah sie nicht einmal an. Er konnte seine Augen nicht von Dirim nehmen. Der Zwerg war völlig durchscheinend - ja, er leuchtete leicht - und schemenhaft. Dirim öffnete seinen Mund, aber Thargad hörte nur ein fernes Flüstern, unmöglich zu entziffern. Dirim gab den Versuch wieder auf und trat nach nach dem Tisch vor ihm. Sein Fuß glitt durch das Holz hindurch.
»Gibt es Zeugen?«
»Einen.« Jenya bat den Priester ins Zimmer, der die Tore des Tempels bewacht hatte. »Erzähl es bitte noch einmal.«
»Da war eine alte Frau. Die stand plötzlich vor ihm und zeigte mit dem Finger auf ihn. Dann sagte sie... ich weiß nicht mehr ganz genau, aber es klang wie ›Du suchst ein reines Herz, doch du wirst keines finden. Ich verfluche dich zur Untätigkeit, solange Alek Tercival noch atmet!‹«
»Und was soll das bedeuten?«
Der Priester zuckte mit den Schultern. Jenya seufzte. »Nun, es ist natürlich ein Fluch. Dadurch, dass er mit einer Bedingung verknüpft wurde, ist dieser Fluch wesentlich schwieriger zu bannen als normalerweise. Und er hat auch eine eigenwillige Wirkung.«
»Das sehe ich.« Thargad setzte sich und sah Jenya an. »Wie kriegen wir ihn zurück?«
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»Gut, dass ihr kommt!«, rief Dernholm Boras zu. »Da war ein Bote. Ihr müsst sofort zu Jenya Urikas!«
Auf dem Weg zum Tempel rannte der Barbar beinahe Helion um, der ebenfalls auf dem Weg war, Brims verstörendes Gerücht zu überprüfen. Boras packte sich den Kobold und hastete weiter.
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»Es ist, als sei er ätherisch - aber gleichzeitig stofflich«, sagte Helion. Er schaffte es nicht, die Faszination aus seiner Stimme heraus zu halten.
»Er wird ähnlich aufgehalten wie ein normaler Erkenntniszauber«, sagte Jenya.
»Kleine Gegenstände sind kein Problem, aber dickere Materialien kann er nicht passieren. Und natürlich ist es sichtbar.«
»Kann er zaubern?«, fragte Thargad. Dirims Gestalt schüttelte den Kopf.
»Dann ist er also völlig nutzlos«, sagte Boras. Alle sahen ihn an. Dirim schüttelte wieder den Kopf, diesmal vehement.
»Wenn man so will, ja«, sagte Jenya.
»Zum Glück hatte er seinen Heilstab nicht dabei«, sagte der Barbar. »Kann ich den eigentlich benutzen?«
»Nein«, sagte Helion. »Es gibt nur einen einzigen Zauberstab, den du benutzen kannst - und ich hoffe, du benutzt ihn nicht, wenn ich dabei bin.«
Thargad räusperte sich. »Wir waren gerade dabei, wie wir Dirim von diesem Fluch befreien können«, erinnerte er.
»Nun ja«, sagte Jenya. »Wie es aussieht, habt ihr verschiedene Möglichkeiten. Ihr könnt versuchen, den Fluch zu bannen - dafür benötigt ihr einen entsprechend mächtigen Zauberwirker. Ich habe es mit einer Schriftrolle versucht, aber ohne Erfolg. Oder ihr tötet den Urheber des Fluches - mit etwas Glück beendet das den Fluch, aber das ist keineswegs sicher. Oder ihr erfüllt die Bedingung.«
»Also muss Alek Tercival sterben?«, fragte Thargad. Jenyas Kopf fuhr herum und bedachte ihn mit einem warnenden Blick.
»Ich hoffe doch, nicht. Denn eigentlich«, sie lächelte, »wollte ich euch bitten, nach Alek zu suchen.«
»Aber er muss zumindest aufhören, zu atmen«, sagte Helion.
»Ja. Vielleicht.« Jenya presste die Lippen aufeinander.
»So oder so müssten wir ihn finden. Habt ihr eine Idee, wo er sein könnte?«
»Nein, leider nicht. Aber ich fürchte, mit dem Kopfgeld und den Anschuldigungen gegen ihn wird er nicht gerade zimperlich behandelt werden. Alek ist ein guter und enger Freund. Es soll ihm nichts geschehen.«
»Habt ihr wirklich keine Idee?«, fragte Thargad nach.
»Denkt nach! Warum sollte ich sie vor Euch verheimlichen?« Jenya hielt inne. Sie presste die Fingerkuppen gegeneinander, bis das Fleisch weiß wurde. »Vergebt mir. Ich bin müde.«
»Es gibt nichts zu vergeben«, sagte Thargad ernst. Jenya lächelte.
»Danke. Nun, ihr könntet mit seiner Schwester sprechen. Sie arbeitet in der Wäscherei. Oder mit Tygot, dem Antiquitätenhändler. Alek und er verstanden sich sehr gut. Ansonsten kann ich euch nur unsere letzten Heiltränke anbieten. Wir bekommen bald Nachschub aus Saradush.«
»Das wäre sehr freundlich«, sagte Helion. »Wir sollten jetzt gehen. Wenn wir morgen nach Redgorge wollen und vorher noch Aleks Spuren finden, wird es ohnehin eine kurze Nacht.«
»Möge Helm seine Hand über euch halten«, sagte Jenya.
»Und über Alek«, gab Thargad zurück.
»Ja«, sagte Jenya. »Über Alek auch.«
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Am nächsten Morgen standen die Kettenbrecher früh auf. Helion bereitete die Abreise vor und würde sich mittels Dimensionstor vor die Stadt begeben und dort auf die anderen warten. Thargad wollte Franca Tercival einen Besuch abstatten, und Boras bei Tygot vorbei schauen. Dann würde Dirim sich so gut wie möglich in Boras verstecken, um unauffällig aus dem Tor zu kommen.
Währenddessen kam Thamior nach Cauldron zurück. Die letzten Wochen hatten ihm gut getan. Er und der Falke - sein Falke - hatten gut gelebt im Wald. Wider Erwarten hatte Thamior aber gemerkt, dass ihn etwas nach Cauldron lockte. War es das Versprechen, das er am Grab seiner Tochter gegeben hatte, oder doch nur der Kontakt mit anderen Personen? Es war nicht wichtig. Aber er war zurück gekehrt.
Als er durch die Straßen der Stadt ging, fielen ihm die vielen Menschen auf, die Kratzer oder blaue Flecken hatten. Scheinbar hatte es eine große Prügelei gegeben. Die Stadtwachen - waren es auch vorher gemischtrassige Trupps gewesen? - warfen den Bürgern immer wieder warnende Blicke zu, aber das war wohl normal. Unten am See stiegen dünne Rauchfinger aus der verkohlten Ruine eines Gebäudes, aber auch das war nicht notwendigerweise ein Grund für Besorgnis.
Thamior wanderte durch die Straßen, bis er den kleinen Wald erreichte, in dem Shensen zuvor gehaust hatte. Die komische Dunkelelfe war schließlich abgehauen, also konnte er dort ein Lager aufschlagen. Nachdem er einen geeigneten Lagerplatz gefunden hatte, markierte er erst einmal sein Revier. Dann entschloss er sich, ein wenig einzukaufen.
-
»Was wollt ihr?« Thargad schrak zurück.
»Spricht man so mit Kunden?«
Die ältere Frau ihm gegenüber pustete eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Seid ihr denn ein Kunde?«
»Nein, ich-«
»Da seht ihr’s. Also?«
»Ich suche Franca Tercival.«
»Und?«
Thargad bemühte sich um Ruhe. Diese Frau war schlimmer als der beste Wachhund. »Kann ich mit ihr reden?«
Die Frau musterte ihn von oben bis unten und schien nicht gerade begeistert. »Sie ist schon vergeben.«
»Ich will nur mit ihr reden.«
Die Frau schüttelte mit dem Kopf. Dann steckte sie ihren Kopf in den hinteren Waschraum. »Franca, hier ist ein Kerl, der dich sehen will. Pack dich!«
»Ich komme, Frau Lingdar«, kam eine Stimme von hinten. Kurz darauf kam Franca Tercival durch den offenen Durchgang. Sie war eine junge Frau von unscheinbarem Äußeren, vor allem im Vergleich zu ihrem statuesken Bruder. Auch gehörte sie nicht zu jenen seltenen Frauen, denen ein verschwitztes Äußeres zusätzliche Anziehungskraft verlieh. Franca wischte sich die von Seifenlauge schrumpligen Finger am Rock ab und blickte Thargad unsicher an.
»Herr? Seid ihr unzufrieden mit Eurer Kleidung?«
»Nein, ich komme wegen Eures Bruders.«
»Was immer man Euch gesagt hat, Alek ist nicht besessen! Bitte tut ihm nichts!«
»Das hatte ich auch nicht vor. Ich will ihn finden, gerade damit ihm nichts zustößt.«
Francas Augen weiteten sich. »Ihr seid einer von den Kettenbrechern, oder?«
»Ja. Warum?«
Unwillkürlich strich sich Franca ihr Haar glatt, und selbst Hanna Lingdar reckte sich ein wenig. » Alek hat mir von Euch erzählt, und von Eurem gemeinsamen Kampf. Und von eurem brutalen Zwerg«, fügte sie hinzu.
»Der wird schnell missverstanden«, sagte Thargad. »Na ja, ich würde gerne wissen, ob Ihr eine Ahnung habt, wo Alek sein könnte.«
»Wenn ich etwas wüsste, würde ich es Euch sagen.« Franca sprach mit ernster Stimme. »Aber ich weiß es nicht. Er wollte auf eine Queste gehen, eine heilige Queste, wie er sagte. Mehr weiß ich nicht. Seitdem halte ich den Schrein in Schuss, so gut es geht.«
»Ihr habt wirklich keine Ahnung?«
»Ich fürchte, er sah eine Möglichkeit, zu viel Gold zu kommen. Er spart ja alles, um unseren Besitz zurückzukaufen.« Franca schien von diesem Plan nicht sehr begeistert. »Aber ich weiß nicht, wohin es ihn verschlagen haben soll.«
»Das reicht jetzt«, mischte die Hausherrin sich ein. »Franca, zurück an die Arbeit. Wenn ihr wollt, könnt ihr sie nach ihrer Schicht wiedersehen.«
»Trotzdem danke«, sagte Thargad und wandte sich deutlich nur an Franca.
»Hoffentlich findet Ihr ihn!«, rief Franca noch, schon halb im Waschraum verschwunden. Thargad warf Hanna Lingdal noch einen düsteren Blick zu, der sie aber kalt zu lassen schien, dann verließ er die Wäscherei und war so klug als wie zuvor.
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»Sieh mal einer an!«, rief Anna Taskerhill erfreut. »Wen haben wir denn da?« Die Sturmklingen waren gerade aus Tygots Alten Sachen getreten, als Boras vor dem Laden auftauchte.
»Sag mal-«, setzte sie zu einer Frage an. Boras senkte den Kopf und drängte sich an den Vieren vorbei in den Laden hinein. Anna blinzelte zweimal. Erst dann schloss sie ihren Mund.
»Lass ihn doch«, meinte Todd Vanderboren. »Tygot weiß ohnehin nichts.«
Anna zuckte mit den Schultern. »Er hätte die Frage ohnehin nicht verstanden.«
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Das Innere des einstöckigen Hauses war ein ordentlicher Laden. In mehreren Regalen standen Vasen, Statuetten, außerdem sah Boras kleinere Möbel, Wandbehänge, und ein Extraregal mit Tonmodellen von Cauldrons Gebäuden. An einem Tisch im hinteren Teil saß ein ältlicher Halbling, dessen Haare nur noch in einem schmalen Kranz kurz über den Ohren wuchsen, und arbeitete an einem Tonmodell des Fingers. Zu seinen Füßen schnarchte ein Hund, dessen Fell zwar lose und struppig von seinem Körper hing, aber immer noch von einem satten Goldton war. Der Hund öffnete ein Auge, als Boras sich näherte, rührte sich sonst aber nicht.
»Tygot?«
Der Halbling erschrak. Er sah zu Boras auf. »Ach, ihr seid’s. Ich hatte mich schon gefragt, wann ihr kommen würdet.«
Boras runzelte die Stirn. »Häh?«
»Ihr kommt doch wegen der Schnitzereien, oder?«
»Schnitzereien?«
Tygot sah sich kurz um. »Spielt ihr mir einen Streich?« Er ging zu einer Schublade und nahm vier längliche Stücke trockener Baumrinde heraus. »Ich rede von den Schnitzereien Eures Vaters.« Er legte sie auf den Tisch. »Ihr seid doch der Sohn von Boros Breda, dem Schwarzen Opal?«
Boras antwortete nicht. Er nahm das erste Stück in die Hand. Auf die Innenseite der Rinde hatte jemand ein Bild eingeritzt. Es zeigte eine Gruppe von sechs Personen, die um ein Lagerfeuer herumsaßen. Boras erkannte die Schätze Tethyrs beinahe sofort. Er nahm das nächste Rindenstück. Darauf sah er einen Drachen. Helion würde eindeutig einen Grünen Drachen erkennen. Boras nicht. Das dritte Rindenstück war das Portrait einer sehr schönen Frau, die Boras nicht kannte. Er legte es wieder hin und nahm das letzte Stück auf. Er schüttelte den Kopf, dann sah er noch einmal die anderen Stücke an. Alle vier trugen ein kleines doppeltes ›B‹ in der unteren rechten Ecke. Trotzdem...
»Seid ihr sicher, dass dieses Stück von meinem Vater ist?«
Tygot erschrak ob des harschen Tons. »Natürlich. Er gab sie mir selbst.«
»Das ergibt keinen Sinn«, murmelte Boras. »Ich verstehe das nicht.«
Helion hatte Wochen damit verbracht, die Bedeutung des Symbols zu ergründen, das Zenith und der Waisenjunge Terrem auf der Stirn trugen. Und jetzt das. Auf dem Rindenstück, das Boros Breda vor nahezu zwanzig Jahren geschnitzt hatte, prangte Boras genau das selbe Zeichen entgegen.