Zwischenspiel: Der Reiter von Redgorge
Am frühen Morgen des zehnten Tages im Jahr des Kessels formierte sich die Stadtwache vor der Heimatschleuse – zumindest der menschliche Teil. Die Zeit drängte, auch weil die Bürger der Stadt mehr und mehr ihrem Unmut über die Ausgangssperre – genannt Nalavants Narretei – Ausdruck verliehen.
Terseon Skellerang hatte seine Leute auf drei Einheiten verteilt. Zwei Züge mit je zwanzig Mann bildeten die Infanterie, ein Kommando von zehn Soldaten fungierte als Bogenschützen. Ein weiterer Zug bestand aus Mitgliedern der MGA und einer Handvoll junger Helmkleriker mit Heilstäben. Terseon selbst und Lialee Wurzeldach, die Anführerin der MGA, waren die einzigen Personen zu Pferd; der Rest würde marschieren müssen.
Terseon nahm sein Jagdhorn vom Gürtel und blies hinein. Der helle Ton durchschnitt das morgendliche Zwielicht und eilte durch den Kessel, bis er an jedem der Stadttore vernommen war. Auf sein Kommando hin öffneten halborkische Wachtruppen alle vier Tore, und Nalavants Narretei war offiziell beendet.
Terseon Skellerang fühlte einen pelzigen Geschmack im Mund. Er spie aus und betrachtete den gelblichen Speichelfleck, den er am Boden hinterließ. Währenddessen versenkte sich das große Stadttor nahezu lautlos in der Erde. Es kam mit einem letzten Rumpeln zum Stehen. Terseon blickte sich noch einmal um und sah in die misstrauischen Gesichter einiger Bürger, die sich eingefunden hatten, und die schadenfrohen Fratzen der Söldner.
Er nickte Lialee Wurzeldach und den drei Zugführern zu, dann gab er den Befehl zum Aufbruch. Die Wachen verließen die Stadt.
-
»Vorwärts, tapfere Soldaten.« Die Worte rollten dem Beobachter von der Zunge. »Lasst euch von niemandem aufhalten. Überrennt die Rotschlucht und macht ihrem Namen alle Ehre. Und wenn ihr fertig seid, und Redgorge gefallen ist...«
Er legte seine Hände gegen die Fensterscheibe und lehnte sich vor.
»Dann habe ich, Daemonicus Grimm, Nabthatoron befreit, ohne einen Finger krumm zu machen. Vorwärts, tapfere Soldaten, tötet und sterbt.«
-
Am Abend des zehnten Hammer erreichte die Kompanie Redgorge. Die mächtigen Basaltmauern wirkten im Licht der Abendsonne, als wären sie mit Blut getränkt. Der Fluss davor war schwarz und undurchdringlich. Das Stadttor war geschlossen; auf dem Wehrgang über dem Tor standen mehrere Gestalten mit Bögen und Armbrüsten.
Terseon ließ die Kompanie eine Meile entfernt anhalten; auf diese Distanz war selbst einem Meisterschützen ein gezielter Schuss unmöglich, aber sie waren nahe genug, um rasch über die Brücke und am Tor zu sein. Er rief seine Sergeanten zu sich.
»Sie haben uns erwartet.«
»Kann nicht sagen, dass mich das überrascht«, sagte Skylar Krewis, einer der beiden Zugführer.
»Und jetzt?«, erkundigte sich Hylum, der Führer des anderen Zuges.
»Was immer wir tun, wir sollten es schnell tun«, sagte Gabby Fichtenhain. Die Halbelfe kommandierte die Bogenschützen. »Für meine Jungs wird es bald zu dunkel sein, um vernünftig zu feuern.« Gabby war die einzige Halbelfe in der Stadtwache.
»Wir sind den ganzen Tag marschiert«, überlegte Terseon. »Ich werde nicht angreifen, wenn ich nicht muss. Lialee?«
»Hauptmann?« Die Halblingsfrau war auf ihrem Pony sitzen geblieben und konnte so den Anwesenden auf Augenhöhe begegnen.
»Wenn wir in der Frühe stürmen, bekommt ihr das Stadttor auf?«
»Die MGA ist mit entsprechenden Schriftrollen versorgt. Bringt einen von uns bis zum Tor, und es wird sich öffnen.«
»Gut. Dann möchte ich, dass ihr jetzt den Bewohnern Redgorges eine Nachricht überbringt.« Terseon sah ihr in die Augen.
»Ich verstehe.«
Lialee Wurzeldach schüttelte ihre widerspenstigen Locken und lenkte ihr Pony ein Stück von der Versammlung weg. Währenddessen nahm sie eine Schriftrolle aus ihrer Satteltasche. Sie las die arkane Formel, und ein Feuerball explodierte direkt über der Stadtmauer. Man hörte die Schreie von Verwundeten.
Viele der Soldaten machten sich kampfbereit, andere sahen geschockt aus und blickten zwischen ihrem Hauptmann, Lialee und dem Stadttor hin und her. Terseon schritt eilig zu der Halblingsfrau.
»Was macht ihr denn da?« Nur mühsam zwang er seine Stimme zu einem Flüstern.
Lialee nickte hastig. »Es tut mir leid. Ich konnte den Feuerball nicht tiefer platzieren – die Basaltmauern verschlucken jegliche Magie. Und ich wollte den Zauber nicht zu hoch setzen. Anscheinend wollte ich zu genau sein.«
»So kann man es auch ausdrücken.«
Terseon drehte sich zu den Soldaten um und hob seine Stimme.
»Wir ziehen uns hinter den Hügel dort vorne zurück. Morgen früh greifen wir an.«
Die Männer und Frauen gehorchten ohne Murren, trotzdem wusste Terseon, dass er sich morgen höchstens auf die Hälfte würde verlassen können. Es musste reichen.
-
Als Skylar die Augen aufschlug, war die Sonne nur ein verwaschener Fleck hinter der Zeltwand. Er gähnte, kratzte sich über den Bauch. Er schlug den Schlafsack zurück und setzte sich auf. Gähnend schlüpfte er in die fischige Umarmung seiner Stiefel, die noch immer nach der gestrigen Reise rochen. Nur im Unterkleid stapfte er aus dem Zelt und hinter einen Busch, um sich zu erleichtern.
Hier draußen war die Sonne auch nicht heller. Der Tag begann neblig und still; nicht einmal ein Vogel war zu hören. Als er fertig war, erklomm Skylar den kleinen Hügel, hinter dem die Wachen Schutz gesucht hatten. Redgorge war durch den Dunst nur als großer Schatten zu erkennen. Er ließ seinen Blick über das Lager schweifen. Die Zelte lagen wie verlassen dar, nur aus dem Zelt des Hauptmanns drang schon (noch immer?) Rauch.
Skylar fröstelte. Er stieg wieder hinab und trabte zurück ins Zelt. Schlafgeruch empfing ihn. Schmatzend, gähnend und streckend kamen seine Kameraden langsam ins Land der Lebenden zurück. Skylar ging zu seinem Rucksack. Im Vorbeigehen stieß er Hylum an. Wie immer schnarchte der zweite Zugführer noch, anstatt seinen Leuten ein Vorbild zu sein. Hylum reagierte auf den Stupser mit einer Grimasse und drehte sich zur Seite, um weiterzuschlafen.
»Morgen.«
Gerold hatte sich gerade aufgesetzt. Anders als Skylar schlief Gerold in seiner Kleidung, weil ihm schnell kalt wurde.
Skylar nickte ihm zu. Er nahm sein Hemd vom Kleiderhaufen und zog es über, dann musste er wieder aus den Stiefeln raus und in seine klamme Hose rein. Im Zelt wurde es jetzt lebendiger, als sich mehr und mehr Wachleute bereit machten oder in die Büsche verschwanden.
»Was macht das Wetter?«, fragte Gerold, während er sich im Schritt kratzte.
»Beschissener Nebel. Gabby wird sich freuen.«
Skylar rollte seinen Schlafsack zusammen und band ihn an seinen Rucksack.
»Neblig genug, damit ich im Fluss ein Scheißbad nehmen kann?«
Skylar schnüffelte in Gerolds Richtung, dann zog er eine übertriebene Grimasse. »Leider nicht. Warte bis nachher.«
»Scheiße, was weiß ich, ob ich dann noch lebe? Ich will nicht in verpennten Klamotten sterben.«
»So ein Gerede will ich nicht hören.«
»Schon gut. Scheiße, ich muss mal.« Gerold stand auf und hastete aus dem Zelt.
Skylar fühlte sich entsetzlich müde. Er zwängte sich in seine Überhose aus beschlagenem Leder. Haken um Haken schloss er die entsprechende Lederweste um seinen Körper. Der Gefreite Fezzik legte ihm währenddessen die Beinschienen an. Er hielt den Brustpanzer so, dass Skylar hineinschlüpfen konnte. Während Fezzik die Schnallen fest zurrte, betrachtete Skylar den Panzer mit dem brennenden Auge darauf, dem Zeichen Cauldrons. Was taten sie hier? Ihre Aufgabe war es, die Stadt zu schützen. Jetzt überließen sie Cauldron irgendwelchen Söldnern und machten sich auf die Suche nach einem Händler, der nicht nur immer harmlos gewirkt hatte, sondern auch Tymora weiß wo sein konnte.
Skylar nickte Fezzik dankbar zu. Er schnallte sich sein Schwert um. Die übrigen Wachen machten, dass sie ebenfalls fertig wurden. Der Sergeant mochte es nicht, wenn sie trödelten. Er zog die Handschuhe an. Bald würde ihr Leder die einzige Distanz zwischen Skylar und dem Tod sein, den er nach Redgorge brachte. Als er den Helm über sein Gesicht stülpte, spürte er seine Zweifel weichen. Seine Wandlung von Skylar Krewis zum Sergeanten der Stadtwache war vollzogen. Er warf sich seinen Rucksack über die Schultern.
An Hylums Bett blieb er stehen.
»Verdammt, Sergeant, steht endlich auf!«, herrschte er.
Hylum grunzte. Er hob an, etwas zu sagen, wurde jedoch von einem Hustenanfall erschüttert. Sergeant Krewis wandte sich ab. Er schlüpfte mit geübter Leichtigkeit aus dem Eingang, ohne Schwert oder Gepäck in den überlappenden Zeltbahnen zu verfangen. Ein Trompetensignal hallte durch das Lager. Es wurde Zeit.
-
Daemonicus Grimm stellte sich neben die Seherin und blickte in das Wasserbecken hinab. Den Fall Redgorges wollte er sich auf keinen Fall entgehen lassen.
-
»Da tut sich was!«
Skylar reckte den Hals. Er stand bei seinem Zug, einige hundert Schritt entfernt von sowohl dem Hauptmann als auch den anderen Einheiten. Wenn Terseon Skellerang das Signal gab, würden seine Leute sich auffächern und vorrücken; Hylums Männer ebenso von der anderen Flanke. So wollten sie möglichen Magiern kein einfaches Ziel bieten. Gleichzeitig würden je zwei Angehörige der MGA unsichtbar mit dem Zug vorangehen, um die Stadttore zu öffnen. Die Bogenschützen schließlich näherten sich – ebenfalls unsichtbar – dem Flussufer, wo sie in loser Formation die Verteidiger auf der Stadtmauer in Schach halten sollten.
»Ich sehe nichts«, sagte Skylar. Er drehte sich zu Gerold um und sah ihn fragend an.
»Doch, irgendetwas geht da vor sich. Da ist ein dunkler Fleck, als ob... das Stadttor offen wäre.«
Skylar sah wieder nach Redgorge hin. Gerold hatte gute Augen, das wusste er. Und tatsächlich schien es so, als habe die Stadtmauer ihr Maul geöffnet. Durch den Nebel sah man nicht viel mehr als ein schwarzes Loch. Nein, halt! Da war doch noch etwas. Ein... Fleck, der sich auf sie zu bewegte.
»Ein Reiter!«, erkannte Gerold, und jetzt sah Skylar es auch.
Ein Hornsignal ertönte. Der Hauptmann rief.
»Wartet hier!«, befahl Skylar. Er hastete den Hügel hinauf.
-
»Was soll das denn jetzt?« Grimm packte den Arm der Seherin. »Näher ran!«
-
Schwer atmend erreichte Skylar den Hauptmann. Hylum und Gabby Fichtenhain folgten kurz darauf. Gemeinsam stellten sie sich vor Terseons Streitross, während Zauberer der MGA und gepanzerte Helmkleriker um sie alle herum Aufstellung bezogen.
Der Reiter näherte sich zügig. Sein Rappen war nachtschwarz, seine Kleidung wiesengrün. Er schien unbewaffnet, aber was hieß das schon? Skylar tastete nach seinem Schwert und konzentrierte sich darauf, magischen Angriffen zu widerstehen.
Das Pferd des Reiters verlangsamte in Trab. Der Reiter trug eine weite Mütze. Er saß aufrecht im Sattel, und er hielt zielstrebig auf den Hügel zu.
»Meine Jungs haben ihm im Visier«, sagte Gabby. »Gebt mir das Signal, und wir feuern ihn aus dem Sattel.«
»Noch nicht«, beschied Terseon Skellerang. «Ich will hören, was er zu sagen– Helms wachendes Auge!«
Auch Skylar entfuhr beinahe ein Fluch, allerdings kein so gepflegter, als er den Reiter erkannte.
-
»Cyrics pickeliges Arschgesicht!«, fluchte Grimm. Seine Finger gruben sich in den Arm der Seherin, dass sie aufschrie. Mit der anderen Hand schlug er ins Wasserbecken und beendete so den Zauber. Er stieß die Seherin zu Boden und stürmte hinaus.
»Das werden sie mir büßen!«
-
»Hauptmann Skellerang, seid gegrüßt.« Maavu nahm seine Mütze ab und hielt sie sich vor die Brust.
Terseon antwortete nicht.
»Spielt nicht den Überraschten, Hauptmann. Wegen mir seid Ihr doch hier, oder?«
Terseon sagte nichts.
»Na, seht Ihr.«
Maavu setzte sich die Mütze wieder auf. Er wendete sein Pferd in Richtung Cauldron.
»Wollen wir?«