Extra: Phoenix
In ihrer ersten Erinnerung ist Chandra vier. Es ist kalt und windig. Sie versteckt ihre kleinen Finger im Schoß ihrer Mutter. Ihr ist langweilig. Es ist dunkel und früh, viel zu früh für sie. Sie muss gähnen. In diesem Moment zeigt sich die Sonne am Horizont, ein schmaler roter Streifen, als wolle Lathander sie beruhigen: Der Tag naht.
Chandra versteht nicht, was an dem großen Haufen vor ihr so besonders sein soll. Trockenes Gras und Nadelhölzer türmen sich vor ihr auf. Chandra hat das Gefühl, der Haufen reiche in den Himmel. Das ganze Dorf hat sich um den Haufen versammelt, sogar der alte Müller, der seine Mühle nie verlässt.
Ihre Mutter ist unruhig. Es ist nicht nur, dass ihr kalt ist, obwohl Chandra unter ihrem Rock die Gänsehaut fühlt. Die Unruhe ist anders, und Chandra spürt, dass auch die anderen Bürger ähnlich fühlen. Ohne es zu wollen, wird auch Chandra unruhig.
»Geht es jetzt bald los?«, fragt sie daher ihre Mutter.
Die schaut zu ihr herunter mit ihren großen, traurigen Augen, die so oft weinen seit Vaters Tod, und lächelt.
»Bald, mein Schatz.«
Chandra genügt diese Auskunft nicht, und sie zieht eine Schnute, obwohl sie nicht weiß, worauf sie eigentlich wartet.
Mit einem Mal wird es leise auf dem Feld. Die Bürger stellen ihre Gespräche ein, nur der Bürgermeister säuselt selig weiter, bis ihn seine Frau anstößt.
Ein Elf ist neben den Haufen getreten. Chandra sieht ihn zum ersten Mal. Später wird ihr jemand sagen, dass Silvanas Feuerstumpf ein Druide ist, der im nahen Wald haust. Jetzt bemerkt sie nur, dass ihre Mutter sich aufsetzt und Chandras Hände aus ihrem Schoß zieht. Andere Frauen stoßen einander an und flüstern sich zu. Aber Silvanas lassen sie nicht aus den Augen. Ihre Mutter streicht sich eine Strähne aus dem Haar. Chandras Hände werden kalt.
»Auril hat ihren Griff gelockert, und Chauntea drängt zurück ins Land.«
Der Elf hat eine dunkle, kröftige Stimme. Er spricht die Götternamen mit demselben komischen Akzent, den er schon zehn Jahr zuvor hatte, und den er auch zehn Jahre später noch benutzen wird, als ob er sich die Menschengötter niemals wirklich zu eigen machte.
»Und so sind wir hier zusammen gekommen, um ihren Segen zu erbitten und den kommenden Frühling willkommen zu heißen. Ein neues Jahr beginnt. Lassen wir das Feuer der Sonne leuchten, auf dass der Winter schmelze.«
Der Elf flüstert etwas, und seine Hand gebärt eine Flamme, größer als eine Kerze und kleiner als eine Fackel. Er reckt den Arm empor und zur aufgehenden Sonne hin.
»Das Gras ist grün.« Er wirft die Flammenkugel in den Haufen. Mit einem dumpfen Rauschen frisst sich das Feuer ins Heu. Eine weitere Kugel folgt, und noch eine. Jetzt lodert der Haufen. Heiße, gelbe Flammen recken sich in die Morgendämmerung. Bleicher Rauch wallt über das Feld, und einige besonders Kecke, die in Windrichtung standen, ergreifen die Flucht vor dem beißenden Qualm. Es knistert, und kleine Funkenfeen tanzen im Wind.
Hitze schwallt Chandra entgegen, hüllt sie ein, schützt sie vor dem kalten Frühjahrsmorgen. Ein sanfter Wind streicht ihr durchs Haar, lockt sie zum Feuer.
Die Kinder fangen an, kleine Äste und eigens angefertigte Kräuterbündel ins Feuer zu werfen. Es ist eine Mutprobe: Je näher sie sich ans Feuer wagen, desto mehr werden sie von ihren Freunden gefeiert. Chandras Mutter gibt ihr ein Bündel Kamillenblüten.
»Na los«, ermunter sie Chandra. »Wirf es ins Feuer.«
Chandra nähert sich dem Feuer Schritt für Schritt. Sie hat keine Furcht; sie möchte den Weg auskosten. Die Flammen schlagen nach den anderen Kindern, peitschen nach ihren Gesichtern. Aber nach Chandra schlagen sie nicht. Sie glaubt zu sehen, dass sich das Feuer ihr entgegen neigt, wie eine Verbeugung. Es ruft sie.
Chandra geht immer näher auf das Feuer zu. Die Härchen auf ihren Händen schmelzen in der Hitze. Ihre Augenbrauen sengen an. Chandra hält die Kamille wie einen Brautstrauß. Die Blüten werden langsam braun vor Hitze. Chandra hört jemanden schreien. Es ist ihre Mutter. Dann wird sie gepackt und fortgezerrt. Hände entreißen ihr die Kamille und schleudern sie achtlos ins Feuer. Die Hochzeit ist geplatzt. Chandra fühlt sich herumgewirbelt und blickt in die lodernden Augen von Silvanas Feuerstumpf. In diesem Moment weiß sie, dass sie ihn liebt.
»Dummer Mensch! Hast du denn keine Angst?«, schimpft Silvanas, doch seine Hände berühren die ihren sanft, fast zaghaft, und seine Augen sind nicht zornig. Etwas anderes liegt darin, etwas, das Chandra noch nicht versteht, aber unbedingt kennenlernen will.
»Nein«, antwortet sie ruhig. Ihre Mutter kommt, umschließt sie mit ihrem großen Körper, blickt sie mit nassen Augen an, tastet mit kalten Fingern über Chandras glühende Haut. Chandra möchte ihr sagen, dass es nicht weh tut, aber ihre Mutter würde sie nicht verstehen.
»Du bist entweder das dümmste Mädchen, das ich je getroffen habe«, sagt Silvanas leise und streichelt ihr über den Kopf, »oder das weiseste.«
Niemand würde sie verstehen. Außer Silvanas.
-
In ihrer schönsten Erinnerung ist Chandra sechzehn. Die Jungen des Dorfes machen ihr schöne Augen, so wie jedem anderen Mädchen. Aber Chandra lässt sich nicht auf ihre Schäkereien ein. Sie verzehrt sich nach Silvanas. Seit damals ist kaum eine Nacht vergangen, in dem sie nicht von ihm träumte, auch wenn die Natur der Träume sich mit der Zeit gewandelt hat.
An jenem speziellen Morgen ist Chandra besonders aufgeregt. Grüngras rückt näher, und damit das Feuer. Jedes Jahr wählt Silvanas eine Person aus, um mit ihm Feuerholz zu sammeln. Diesmal hat er sie erwählt.
Chandra trägt ihre Lieblingshose und ein braunes Lederwams, das sie nur für diesen Tag gekauft hat. Das Wams ist etwas eng, sodass sie zwar zeckmäßig, aber dennoch aufreizend gekleidet ist. Ihre Haare sind zu eng anliegenden Zöpfen geflochten.
Silvanas holt sie kurz nach Sonnenaufgang ab. Sie gehen in den Wald und sammeln Holz. Dabei versucht Chandra, möglichst im gleichen Takt wie der Elf zu sammeln, um ihm an der Sammelstelle nahe zu kommen. Eine unerklärliche Scheu hat sie ergriffen, die sie bei anderen Jungen und Männern nicht kennt, darum wagt sie es nicht, ihn direkt anzusprechen. Gleichzeitig spürt sie, dass sie es nicht muss. Silvanas weiß Bescheid. Er wusste es immer.
Es ist Abend. Sie haben viel Holz gesammelt. Bald wird sich Silvanas verabschieden, wenn Chandra nichts sagt. Sie nimmt ihren Mut zusammen und blickt ihm in die Augen. Ihr wird warm, obschon kein Feuer brennt.
»Es ist spät«, kommt Silvanas ihr zuvor. »Wir rasten im Wald, und morgen bringen wir das Holz ins Dorf.«
Er tritt an sie heran, packt sie fester, als er müsste.
»Das willst du doch, oder?« Er presst die Worte geradezu heraus.
Chandra schaudert, es läuft ihr kalt über den Rücken, doch sie sehnt sich dadurch nur noch mehr nach der Hitze, die nur Silvanas ihr geben kann.
Ohne Antwort küsst sie ihn. Sein Kopf weicht zurück, dann drückt er seinen Mund auf ihren, übernimmt die Kontrolle. Er packt sie noch fester, zieht sie auf den Boden, presst sein Gewicht auf ihres, bis er atemlos von ihr ablässt.
Chandra leckt sich die Lippen. Sie schmeckt ihn noch. Dennoch stimmt etwas nicht. Etwas ist falsch. Als er sie wieder küsst, beißt sie ihm in die Lippen.
»Spinnst du?« Er fährt hoch.
Sie leckt sein Blut, räkelt sich auf dem Boden.
Seine Wut verfliegt, er starrt sie nur an.
Chandra öffnet das Lederwams, Schnalle für Schnalle. Silvanas’ Augen lodern. Sein Mund ist dünner als die Klinge eines Stiletts. Chandra schält sich aus dem Wams. Sie öffnet ihre Hose. Silvanas starrt sie an. Er schließt die Augen, dann muss er sie wieder öffnen. Er kann nicht wegsehen.
»Was willst du eigentlich?«
Sie lacht. Als ob er das nicht wüsste.
Silvanas kniet sich über sie. Er bellt ein Wort. In seiner Hand liegt eine Flamme.
»Willst du das?« Speichel fliegt aus seinem Mund. Mit seiner freien hand drückt er sie nieder. Dann fährt er mit der Flamme über ihren Arm.
Chandra bäumt sich auf, wehrt sich gegen seinen Griff. Er ist stärker. Ihr Arm schreit, doch über ihre Lippen kommt kein Laut, und sie sieht nicht weg.
Silvanas nimmt die Flamme weg, aber er lässt sie nicht los. Sein Blick ist ein Leuchtfeuer.
Chandra fleht ihn an: »Mehr!«
-
Chandra erwacht in Silvanas’ Zelt. Ihr Körper schmerzt, aber er ist unversehrt. Seine Magie hat sie geheilt. Wo zuvor schwarze Haut von rotem Fleisch fiel, herrscht nun rosige Frische.
Silvanas tritt ein. Er sieht sie nicht an.
»Du warst ohnmächtig«, sagt er. »Tagelang. Morgen ist der Tag des Feuers. Ich bringe dich heim.«
»Ich bin daheim«, sagt Chandra.
»Hör auf, Kind. Du weißt nicht, was du redest.«
»Das ist es ja, Silvanas. Ich will nicht aufhören. Ich will nicht, dass du aufhörst.«
Silvanas blickt sie an, ungläubig. Hoffnungsvoll. »Nach all dem, was geschehen ist? Was ich... dir angetan habe?«
»Ich will mehr.«
Er schluckt. Sein Blick ist eine Kerze der Hoffnung. Dann schluckt er noch mal, und die Kerze erlischt.
»Nein.«
»Ich liebe dich«, sagt Chandra.
»Wie kannst du mich lieben? Du weißt nicht, was Liebe ist, und ich bin niemand, der Liebe verdient.«
»Und doch weiß ich, dass ich dich liebe. Lass es mich beweisen.«
Mit einem Mal ist das Feuer zurück in seinen Augen, aber es lodert wild, sturmumtost. Es ist ein gefährliches Feuer. Chandra schluckt, doch es gibt kein zurück.
»Also gut. Zeig mir, was Liebe ist.«
-
Er bringt sie zum Dorf. Es ist dunkel. Sie gehen auf die Lichtung ihrer ersten Erinnerung.
»Zieh dich aus«, befiehlt Silvanas. Chandra gehorcht nur zu gerne.
»Lege dich hin.«
Er rammt Pflöcke in den Boden und bindet sie daran fest. Er spricht einen Zauber über sie. Eine dünne Schicht bedeckt ihre Haut, doch sie weiß, dass die stärksten Flammen die Schicht durchbrechen werden.
»Hast du Angst?«
»Nein.«
Er legt Holz und Reisig über ihre Arme und Beine.
»Mehr«, bittet sie.
Er bedeckt ihren Körper. Nur der Kopf ist noch frei.
»Mehr.«
Er beugt sich über sie. Sein Blick ist Asche.
»Du darfst nicht schreien. Wenn du still bleibst, dann weiß ich, dass du mich liebst.«
Sie blickt ihn an, voller Vertrauen, und schweigt.
Er schichtet weiter Äste über sie, mehr und mehr, baut den Scheiterhaufen über ihr in die Höhe. Chandra zittert vor Ungeduld. Sie wird Silvanas zeigen, dass sie ihn liebt, und dann wird er sie zu sich nehmen. Ihr herz pocht bei dem Gedanken, was sie noch anstellen werden. Sie hat ihn noch nicht einmal in sich gehabt.
Endlich ist es soweit. Wie aus der Ferne hört sie die Stimme.
»Auril hat ihren Griff gelockert, und Chauntea drängt zurück ins Land.«
Der Elf hat eine dunkle, kröftige Stimme. Er spricht die Götternamen mit demselben komischen Akzent, den er schon zehn Jahr zuvor hatte, und den er auch zehn Jahre später noch benutzen wird, als ob er sich die Menschengötter niemals wirklich zu eigen machte.
»Und so sind wir hier zusammen gekommen, um ihren Segen zu erbitten und den kommenden Frühling willkommen zu heißen. Ein neues Jahr beginnt. Lassen wir das Feuer der Sonne leuchten, auf dass der Winter schmelze.«
Chandra lächelt. In ihrem Brennholzgefängnis versucht sie, sich den Flammen entgegen zu recken.
»Das Gras ist grün.«
Fast hätte sie geschrien, wenn auch nicht vor Schmerzen. Es zischt, als die erste Flammenkugel auf das Holz trifft. Chandra will mehr. Sie will alles. Sie wird es ihm beweisen. Ein lautes Prasseln füllt ihre Ohren, und erste Funken fallen auf ihre nackte Haut. Noch spürt sie nichts, aber bald wird sie es spüren. Sie wird es ihm beweisen.
Sie wird nicht schreien.