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Workshop => Story Hour => Thema gestartet von: Niobe am 09. Oktober 2009, 00:36:16

Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 09. Oktober 2009, 00:36:16
Nach langer Pause gibt's eine neue High-Level-Kampagne mit den Helden aus Rundreise durch die Reiche/ Bastion der Gebrochenen Seelen (http://forum.dnd-gate.de/index.php/topic,14854.0.html (http://forum.dnd-gate.de/index.php/topic,14854.0.html)). Spielsystem ist eine Mischung aus 3.5, Pathfinder und einigen Hausregeln. Zu Beginn sind alle Charaktere auf Stufe 17.
Die neue Kampagne spielt etwa 8 Jahre nach den Ereignissen der alten. Nach einer beinahe tödlichen Begegnung mit zwei Nachtkriechern in einer Pocketdimension der Schattenebene mussten sich die Gefährten geschlagen geben und das Abenteuer abbrechen.  Inzwischen haben sie alle wieder zu ihrem vor-abenteuerlichen Leben zurückgefunden, haben geheiratet, sind Eltern geworden... Oder so ähnlich.


ERSTES BUCH
STADT DER GLÄSERNEN GESÄNGE


Kapitel I: Die Entführung  


Grimwardt
Abtei des Schwertes, Schlachtental, am Nachmittag
Grimwardt Fedaykin schnaubte missmutig, als er den Turnierplatz betrat und ehrfurchtsvolles Raunen die Menge der Zuschauer erfasste. Wie er diesen Humbug hasste!
Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie in der letzten Reihe der Tribüne die Rekruten des dritten Jahrgangs unter der Hand Wetten darauf abschlossen, wie lange sein Gegner wohl gegen ihn durchhalten würde. Eine Reihe unter ihnen reckte Grimwardts junge Nichte Scarlet ihren hübschen roten Lockenkopf, um ja nichts von dem zu verpassen, was dort unten vor sich ging, während Dorat der Bibliothekar, wenig begeistert von seiner Rolle als Kindermädchen, sie immer wieder auf ihren Platz zurück zerren musste, damit sie bei all dem Gerecke und Gehopse nicht vorn über fiel. Der Gedanke an Scarlets Mutter trug nicht eben dazu bei, Grimwardts düstere Stimmung zu heben. Erst gestern hatte seine Schwester ihre Tochter wieder in der Abtei abgeladen ohne es für nötig zu befinden, irgendeine Erklärung abzugeben. Sie schien in Eile, doch das war Winter eigentlich immer. Und die Götter mochten wissen, wer der Vater der Kleinen war.
Sicher war nur, dass Grimwardt Scarlets Anwesenheit hier wenig zugetan war: Schließlich war die Abtei des Schwertes seit dem verheerenden Überfall vor fünf Jahren kein sicherer Ort mehr. Eine Allianz abtrünniger Drow-Familienclans aus dem Unterreich, die nach Lolths Wiedergeburt von den Priesterinnen der Spinnenkönigin vertrieben worden waren, war mit vereinten Kräften in die Talländer eingefallen. Bei der Verteidigung des Schlachtentals hatte die Abtei des Schwertes eine zentrale Rolle gespielt. Nur unter schweren Verlusten hatten sie die Invasion abwehren können.
Welche Verschwendung von Kampfeswillen, dachte Grimwardt darum grimmig, während von der anderen Seite sein Turniergegner, Jareth Burlisk, der Anführer der Schwertgeschworenen, den Turnierplatz betrat und mit allerlei Klamauk die Menge bei Laune hielt. Hätte es die Abtei, der es seit dem Überfall an Männern fehlte,  nicht bitter nötig, für sich zu werben, so hätte Grimwardt diesem Mummenschanz niemals zugestimmt.
Nachdem der zwergische Waffenmeister Borgo vom Clan der Feisten Faust die Regeln verlesen hatte, begann der Kampf. Bereits Grimwardts erster Axthieb brachte Jareth völlig aus dem Gleichgewicht, während dessen Verteidigung allenfalls einen Kratzer in Grimwardts Rüstung hinterließ. Ein enttäuschtes Raunen ging durch die Reihen der Zuschauer und Grimwardt fing Jareths tadelnden Blick auf, der so etwas wie „Du sollst ihnen eine Schau liefern“ zu besagen schien. Grimwardt zuckte mit den Schultern. Dann eben anders. Da sein Versuch, Jareth zu entwaffnen nicht fruchtete, versuchte er ihn zu Boden zu ringen, was dank seiner massigen Gestalt und der dicken Rüstung auch ohne weiteres gelang. Der Krieger ächzte vernehmlich, als Grimwardt es sich mit dem gelangweilten Blick des überlegenen Siegers auf seinem Rücken bequem machte und gelassen seinen feuerroten Bart streichelte. Die Menge grölte vor Lachen.
In all dem Tumult wäre Scarlets überraschter Schrei beinahe untergegangen. Als Grimwardt zu seiner Nichte blickte, sah er nur noch, wie das Mädchen bewusstlos in die Arme des Bibliothekars sank. Ehe der Abteileiter auch nur aufspringen und ihren Namen rufen konnte, waren beide verschwunden. Sofort brach die Hölle los: Die Novizen aus der obersten Reihe, die alles mit angesehen hatten, sprangen Zeter und Mordio schreiend von ihren Sitzen auf. Die Menschen auf den Tribünen, von denen kaum jemand das eigenartige Schauspiel verfolgt hatte, schienen zu glauben, ihnen selbst drohe Gefahr und sprangen gehetzt von den Bänken auf, um wie eine aufgebrachte Herde dem Ausgang zuzuströmen.
„Kümmere dich darum“, knurrte Grimwardt an Jareth gewandt, den er unsanft auf die Beine zog, ehe er sich, immer zwei Bänke auf einmal nehmend, durch die Menge an den Ort des Geschehens kämpfte. Nachdem er die aufgebrachten Rekruten zur Ruhe gerufen hatte, ließ er sie einzeln vortreten. Ihren Ausführungen zufolge hatte der Entführer Scarlet zunächst mit einem Giftpfeil betäubt und sich dann mit ihr fort teleportiert.
Einer der Schüler überreichte Grimwardt einen schwarzen Hut, der auf Scarlets Sitzplatz gelegen hatte. Ein anderer Rekrut wollte gesehen haben, wie der Bibliothekar ihn kurz vor der Entführung hatte fallen lassen. Als der Oberste Gläubige das Kleidungsstück in die Hand nahm, vibrierte es leicht und ein magischer Mund, der sich über der Hutkrempe bildete, sprach: „Grimwardt Fedaykin, wenn Ihr Eure Nichte wieder sehen wollt, seid heute Abend zur Achten Stunde in Whisper’s Braustube in Myth Drannor.“ Kaum war die Nachricht übermittelt, verschwand der magische Mund und der Hut zerfiel zu Staub.
„Als ob wir nicht genug Probleme hätten“, grummelte Grimwardt. Doch es wollte ihm nicht ganz gelingen, seine Sorge mit Missmut zu überspielen.
Myth Drannor. Ein eigenartiger Treffpunkt. Grimwardts Wissen nach glich die wiedererrichtete Elfenstadt noch immer einem Trümmerfeld. Doch Grimwardt war ein Kämpfer, der keinen unnötigen Gedanken verschwendete, wenn die Situation Taten erforderte.
„Sattelt mein Pferd“, befahl er darum einem der Absolventen. Wenn er zur achten Stunde in Myth Drannor sein sollte, würde er die Schnelligkeit seines Kampfrosses durch magische Mittel verstärken müssen. Vor seiner Abreise suchte er Jareth auf, um ihm für die Zeit seiner Abwesenheit die Leitung der Abtei zu übertragen und ihm den Auftrag zu geben, die Bibliothek zu durchforsten. Grimwardt glaubte nicht daran, dass diese Aktion auf dem Mist eines siebzigjährigen Bücherwurms gewachsen war, dessen einziges Laster bisher seine Liebe zum Rum gewesen war. Gerade als er aufbrechen wollte, erschien Borgo, der Waffenmeister, um Grimwardt mitzuteilen, dass er soeben einen Mann in Grimwardts Arbeitszimmer geführt habe, der vorgab, Scarlets Vater zu sein.
Tempus steh mir bei, dachte Grimwardt düster. Offenbar die Art von Vater, die immer nur dann auftaucht, wenn man sie gerade nicht braucht. Und so staunte der Abteivogt nicht schlecht, als er sein Arbeitszimmer betrat: Der Besucher, der es sich mit lässig unterschlagenen Beinen auf Grimwardts Arbeitstisch bequem gemacht hatte, war kein Anderer als Dorien Dantés, magiekundiges Mitglied seiner alten Abenteuergruppe und ein unverbesserlicher Weiberheld.
„DU bist Scarlets Vater?“, fragte Grimwardt fassungslos. Ein wenig mehr Verstand hätte er sogar seiner Schwester zugetraut.
„Ich freue mich auch dich zu sehen“, erwiderte Dorien sarkastisch. „Ich sehe, du bist beschäftigt“, fügte er mit einem abwertenden Blick auf Grimwardts dreckverschmierte Rüstung hinzu. „Keine Angst, ich bin schon wieder so gut wie weg. Ich bin nur hier, um Scarlet abzuholen. Alle zwei Monate wohnt sie bei mir. Heute sollte ich sie auf Winters Hausboot in Hlondeth abholen. Doch Winter und Scarlet waren nicht dort und dieser Dreikäsehoch von einem Stellvertreter gab mir die Auskunft, dass ich meine Tochter hier finden würde.“
„Sie ist nicht hier“, erklärte Grimwardt brüsk. „Sie wurde entführt.“
Der entsetzte Aufschrei und die Schimpftirade, die der Tempelvorsteher erwartet hatte, blieben aus. Stattdessen blickte Dorien seinen ehemaligen Mitstreiter mit skeptisch gerunzelter Stirn an, als warte er auf irgendetwas. Dann wurde er plötzlich kreidebleich.
„Du… du meinst das ernst, ja?“
„War ich je für meine Scherze bekannt?“, knurrte Grimwardt.
Leicht verzögert kamen der Aufschrei und die Schimpftirade dann doch noch. Grimwardt stellte seine Ohren auf Durchzug und begann ein paar Dinge einzupacken, die er für die Reise brauchen würde. Gut, dass er dank des Turniers bereits gerüstet war. Die Rüstungszeremonie nahm immer Ewigkeiten in Anspruch. Allerdings musste er sich nun, da Dorien mit seinem Hokuspokus hier war, ohnehin nicht mehr beeilen, um rechtzeitig in Myth Drannor zu sein. Als sein früherer Mitstreiter sich ein wenig beruhigt hatte, ging er dazu über, ihm den Tathergang zu schildern.
„Sollen wir Winter benachrichtigen?“, fragte der Vater der Entführten schließlich zögernd.
„Sie wird ausrasten.“
„M-hm.“
Grimwardt zuckte mit den Schultern. „Meinetwegen. Gehen wir sie suchen.“
In diesem Moment platzte Jareth mit einer weiteren Neuigkeit ins Zimmer. Dorat, der Bibliothekar, war tot in der Bibliothek aufgefunden worden. Von einem Giftpfeil durchbohrt. Höchstwahrscheinlich ermordet von dem Entführer, der seine Gestalt angenommen hatte, um in Scarlets Nähe zu gelangen. Grimwardt seufzte und legte Jareth den Arm auf die Schulter.
„Sorg’ dafür, dass er ein anständiges Begräbnis erhält.“
   
Nimoroth
Windigwasser, ein Waldelfendorf im Cormanthorischen Wald
Es hatte den ganzen Tag geregnet und noch immer tropfte es hier und da von den Blättern der Schattenkronen. Unter dem Geruch des regennassen Waldes erschnupperte Nimoroth den Duft seiner Heimat. Auch wenn er sie nicht hörte, spürte er doch die Anwesenheit der Elfenwächter, die durch das Gebüsch schlichen. Seine Ankunft in Windigwasser war also nicht ungemerkt geblieben. Ein Blick auf Nerûl, seinen treuen Gefährten, verriet dem Druiden, dass auch der Tiger erkannte, wo sie waren. Allein Laguna, sein sechsjähriger Sohn, tapste ganz in Gedanken versunken neben seinem Vater her. Dies war das erste Mal, dass er Laguna mitnahm in sein Heimatdorf und die Aussicht auf Gesellschaft machte den Jungen sichtlich nervös. Immerhin waren die einzigen Lebewesen, die Laguna bisher neben den tierischen Bewohnern des Waldes kennen gelernt hatte, seine dryadische Mutter und sein elfischer Vater. Als Nimoroth die Nachricht seiner Mutter erhalten hatte, die ihn zur Hochzeit seiner Schwester einlud, war sein erster Gedanke gewesen, dass das Fest die ideale Gelegenheit wäre, um Laguna seiner Familie in Windigwasser vorzustellen.
„Ist es noch weit?“, fragte Laguna.
„Wir sind bereits da“, erklärte Nimoroth und blieb vor einer der Schattenkronen stehen. Unter den staunenden Augen seines Sohnes sprach er die magischen Worte, die die Sprossen im Stamm des mächtigen Baumes entstehen ließen.
Im Baumhaus, das vom Boden aus nicht zu sehen war, empfing Nimoroths Mutter die Gäste. Nachdem sie Sohn und Enkel herzlich begrüßt hatte, bat sie die beiden zu Tische und reichte Laguna zum Tee kandierte Früchte.
„Eine ziemlich spontane Entscheidung, diese Hochzeit“, leitete Nimoroth das Gespräch ein.
„Du kennst doch deine Schwester“, seufzte seine Mutter. „Wechselhaft und unbeständig wie ein Blatt im Wind. Heute will sie Priesterin werden und morgen beschließt sie aus heiterem Himmel sich den Widerkehrern von Myth Drannor anzuschließen. Und diesmal sollte es eben eine Hochzeit sein.“ Nimoroths Mutter schüttelte besorgt den Kopf. „Wenn du mich fragst, ist sie viel zu jung zum Heiraten. Keine hundert Jahre. Aber was rede ich; ich kann sie ja doch nicht davon abhalten. Ich hoffe nur, sie macht sich nicht unglücklich.“
„Wer ist eigentlich der Bräutigam?“
„Gelodin Silberreif“, erklärte seine Mutter mit einem müden Lächeln. „Der Sohn des Dorfpriesters. Ein angesehener junger Mann und äußerst vernünftig. Aber steif wie ein Sonnenelf, wenn du weißt, was ich meine.“
Einen Augenblick später erschien Nimoroths Schwester Esme, umringt von einem Pulk kichernder Freundinnen, auf dem Treppenabsatz und flog ihrem Bruder förmlich in die Arme. Lachend präsentierte sie sich ihm in ihrem Hochzeitsstaat, während sie ihm zehn Fragen auf einmal stellte ohne eine einzige Antwort abzuwarten und dazwischen noch Zeit fand Laguna zu begrüßen, der seine Tante mit derselben furchtsamen Faszination betrachtete, die er auch einer unbekannten Monsterspezies entgegengebracht hätte.  
Am Abend begann die Hochzeitsfeier: Wie es in Windigwasser Brauch war, kam die Familie des Bräutigams mit Geschenken zum Haus der Braut, wo Esme in ihrer Überschwänglichkeit beinahe ihren Hochzeitskranz vergessen hätte, als sie dem überrumpelten Gelodin um den Hals fiel. Zusammen zogen die beiden Familien, von Gesang und Harfenspiel begleitet, über die Hängebrücken, die die Schattenkronhäuser des Dorfes miteinander verbanden, zum Tempel des Corellon Larethian. Auf dem Weg schlossen sich ihnen andere Dorfbewohner an, während Kinder Feenstaub verstreuten. Im Tempel tauschten Esme und Gelodin die Trautschwüre und der Dorfpriester setzte ihnen die Brautkränze auf. In Windigwasser gab es keine rituellen Hochzeitsformeln. Es gab auch keine arrangierten oder zweckmäßigen Ehen wie es unter Mond- und Sonnenelfen manchmal Brauch war. Tatsächlich waren Hochzeiten zwischen waldelfischen Geliebten nichts weiter als eine öffentliche Bekanntgabe ihrer Liebe. Doch umso selbstverständlicher war es für die Bewohner von Windigwasser, dass eine Ehe, einmal geschlossen, für immer andauerte; und für Elfen war „für immer“ eine lange Zeit. Kein Wunder also, dass sich Esmes Mutter Gedanken machte um ihre wankelmütige Tochter…
Nachdem das Hochzeitspaar die Liebesschwüre ausgetauscht hatte, begab sich die Gesellschaft zum Dorfplatz. Am Rande der Lichtung war ein Büffet aufgebaut und Bänke aus umgestürzten Baumstämmen luden zum Verweilen ein. Es dauerte nicht lange, bis Laguna von den Dorfkindern zum Spielen entführt wurde und Nimoroth ein wenig Zeit fand, sich nach alten Bekannten umzusehen. Neben alten Freunden traf er auch die Elfe Hanali wieder, die sein Cousin Kalith und er einst in Westtor vor der Blutgier der Nachtmasken gerettet hatten. Von Hanali erfuhr Nimoroth, dass Kalith es bei den Elfenrittern von Myth Drannor zu einigem Ruhm gebracht hatte. Hanalis eigener Sohn diente unter seinem Befehl. Nimoroth freute sich für seinen Cousin, doch zugleich weckte der Gedanke an Kalith und die Abenteuer, die sie gemeinsam durchstanden hatten, in ihm eine eigenartige Schwermut. Nimoroth war niemals darüber hinweg gekommen, dass sie ihren letzten Auftrag nicht hatten vollenden können. Auf der Suche nach dem Seelenquell waren sie in die Katakomben der Stadt Westtor hinab gestiegen und von der Diebesorganisation der Nachtmasken in eine Falle gelockt worden, die sie auf die Schattenebene geführt hatte. Der Kampf gegen zwei Schattenkriecher hätte Kalith beinahe das Leben gekostet. Letztendlich hatten die Gefährten sich zurückziehen und ihre Suche aufgeben müssen. Wie viele schlaflose Nächte waren seither vergangen, in denen Nimoroth sich gefragt hatte, wie viele unschuldige Seelen durch seine Kapitulation den Tod gefunden hatten. Welches Unglück hätten sie verhindern können? Welche Verbrechen wären niemals geschehen, hätten sie damals nicht den Mut verloren?
Schlagartig riss der Schrei seines Sohnes Nimoroth aus seinen düsteren Gedanken. Alarmiert sprintete er zu der Gruppe von Kindern, die sich um Laguna und einen jungen Halbelfen geschart hatten, die sich ringend am Boden wälzten. Mit durchgreifender Hand beendete Nimoroth den Streit.
„Was ist hier passiert?“ verlangte er zu wissen, während er einige Mühe hatte, die beiden Streithähne davon abzuhalten, gleich noch einmal aufeinander loszugehen.
„Er sagt, ich sehe aus wie ein alter, runzliger Baum!“, keiferte Laguna.
„Petze!“
„Und dass mein Name klingt wie ein Mädchenname!“
Seufzend ließ Nimoroth von dem anderen Jungen ab, der sich gleich aus dem Staub machte, und zog seinen Sohn mit sich an den Rand der Lichtung. In Lagunas schwarzen Augen glitzerten bittere Tränen und auf seiner rindenbraunen Stirn hatte sich eine tiefe Zornesfalte gebildet. Nimoroth fasste den Jungen fest bei den Schultern, sodass er gezwungen war, seinem Vater ins Gesicht zu blicken.
„Laguna, der Junge hatte Unrecht“, sagte er ernst. „Doch du wirst noch oft erfahren, dass dein dryadisches Erbe bei anderen auf Unverständnis stößt. Du darfst deinem Zorn nicht freien Lauf lassen. Du musst lernen…“
„Wieso warst du mit mir nie in einer Stadt?“
„Was?“ Erstaunt hielt Nimoroth inne.
„Ich weiß, dass du manchmal in die Stadt gehst, um Re… Recherche zu machen“, erwiderte Laguna trotzig. „Warum hast du mich noch nie mitgenommen? Warum weiß ich nicht, was ein Aquadings ist? Und warum ist mein Wams dreckig und aus der Mode? Meluin hat gesagt, ich bin dumm, weil ich diese Sachen nicht weiß und die Mädchen haben alle gekichert...“
Nimoroth war sprachlos. Also darum ging es hier. Bis jetzt hatte er immer angenommen, Laguna liebe die Freiheit, die der Wald ihm bot. Das Baden im See. Das Herumtollen mit Nerûl. Die ausgedehnten Wanderungen mit seinem Vater.
Natürlich liebt er all das, erkannte er nun. Weil er nichts anderes kennt.
Nimoroth überlegte noch, wie er seine Abneigung gegen die Stadt mit all ihren Lastern und falschen Versprechungen seinem Sohn vermitteln sollte, als er einen dunklen Schatten über sich gewahrte. Als er nach oben sah, erblickte er einen großen Kolkraben. Der Vogel trug einen Hut im Schnabel, den er nun in Nimoroths Hände gleiten ließ. Gerade als der Elf die seltsame Zustellung herumdrehen wollte, formte sich eine Falte über der Hutkrempe, die einem sprechenden Mund ähnelte: „Nimoroth, wenn Ihr die Dryade Nyrael wieder sehen wollt, seid heute Abend zur Achten Stunde in Whisper’s Braustube in Myth Drannor.“
Der Hut vibrierte leicht, als der Mund zu lachen begann, und zerfiel dann zu Staub.
Nimoroth erstarrte. Seine Geliebte entführt? Er wusste, was das bedeutete: Entfernte sich eine Dryade für länger als einen Tag von ihrem Lebensbaum, so starb sie. War den Entführern bewusst, in welche Gefahr sie ihre Geisel gebracht hatten? War das etwa Teil ihres Plans? Sicher war nur, dass ihm nicht viel Zeit blieb. Zur Achten Stunde in Myth Drannor.
Eilig schickte Nimoroth seinen Sohn zu seiner Großmutter. Dann wirkte er einen Zauber, um den Raben nach dem Absender der Nachricht zu fragen. Ohne viel Erfolg. Nachdem er Laguna in der Obhut Nerûls und seiner Mutter zurück gelassen hatte, teleportierte Nimoroth in die Sternwälder. Dort, in der Krone von Nyrales Lebensbaum, der Eiche Nesaja, hatten sie ihr schlichtes Heim errichtet.
Ein Schaudern durchfuhr Nimoroth, als er erkannte, dass sich die ersten Blätter Nesajas bereits gelb verfärbt hatten…

Winter
Atkatla in Amn, Schwertküste
Über dem Eingang des Roten Stiers schaukelte ein rostiges Tavernenschild quietschend im Wind und aus dem Inneren der Hafenspelunke drang Winter ein Übelkeit erregender Geruchscocktail aus Schweiß, Bier und Pfeifenrauch entgegen. Das hysterische Zirpen der Grillen, untermalt vom Kreischen der Möwen,  war auch nicht eben atmosphärisch zu nennen.
„Nisch sehr einladend“, bemerkte Winters kalimshitischer Begleiter.
„Dann sind wir hier genau richtig“, erwiderte die Anführerin der Schwarzen Dahlie. Sie setzte ihren magischen Hut auf und ließ ihn einmal um ihren Kopf kreisen, um ihr Aussehen zu verändern. Dann trat sie ein.
Das Innere hielt was das Äußere versprach. Ein heruntergekommener Musikant spielte schwermütige Melodien auf einem klapprigen Klavier, während zwei Billardspieler die beiden Neuankömmlinge über das Spiel hinweg misstrauisch beäugten. Der muskulöse Wirt – Winter tippte auf mindestens ein Viertel orkisches Blut in seinen Adern – stand hinter dem Tresen und säuberte Bierkrüge wie Gastwirte es immer zu tun pflegen, wenn sie es darauf anlegen beschäftigt auszusehen.
„Hier wegen Arbeit?“, empfing sie der Wirt, der zu der Sorte Mann zu gehören schien, die davon überzeugt waren, dass vollständige Sätze ihre Männlichkeit untergruben. Winter folgte seinem Blick, der auf einen schmuddeligen Aushang neben der Theke wies. „Tänzerin gesucht.“
„Nein, eigentlich…“
„Hatte auch eher an was Jüngeres gedacht.“
Winter versteckte ihre Empörung hinter einem dümmlichen Lächeln. Was Jüngeres?!? Was bildete sich der Kerl eigentlich ein? Immerhin war sie gerade einmal Mitte Dreißig und hatte erst kürzlich horrende Summen für einen prächtigen Umhang ausgegeben, der angeblich die Haut um zehn Jahre verjüngte.
„Ha’n nur Bier“, kam der Wirt einer Bestellung zuvor.
„Ich hatte eigentlich eher an etwas… Anderes gedacht“, erwiderte Winter mit einem Wimpernaufschlag, der noch um einiges erotischer hätte sein können, wenn der Kerl sich seine letzte Bemerkung gespart hätte. „Sagt euch der Name Engelsstaub etwas? Wie steht es mit Teufelskraut, hm?“ Aus den Augenwinkeln beobachtete sie auch die Reaktion der beiden Billardspieler. Volltreffer. Ein Zucken um die Mundwinkel verriet den einen, ein zu abruptes Zustoßen mit dem Queue den anderen. Der Wirt blinzelte und leckte sich über die Lippen.
„Keine Ahnung, wovon Ihr sprecht.“
Es bedurfte noch einige Minuten intensiver Überredungskunst, ehe Winter bekam, was sie wollte.
„Wartet hier“, murmelte der Wirt, nachdem er einen alarmierten Blick mit einem der Billardspieler ausgetauscht hatte und verschwand in der Küche. Winters kalimshitischer Begleiter verlagerte nervös das Gewicht von einem auf das andere Bein. Offensichtlich hatte er sich seinen Aufstieg in der Hierarchie der Schwarzen Dahlie ein wenig einfacher vorgestellt.
Winter hatte schon seit einiger Zeit mit dem Gedanken gespielt, ins Drogengeschäft einzusteigen; bisher hatten ihr jedoch die Kontakte gefehlt. Alchemistische Substanzen, die eine kurzzeitige Steigerung der geistigen oder körperlichen Fähigkeiten bewirkten, standen bei Abenteuern an der Schwertküste derzeit hoch im Kurs. Der Rauschgifthandel wurde hier von den Schattendieben kontrolliert. Am Vilhongriff dagegen war die Konkurrenz noch gering und Winter war entschlossen, sich dieses viel versprechende Geschäft unter den Nagel zu reißen, ehe ein anderer es tat. Dazu kam, dass sie kurz vor der Hochzeit mit einem Piratenbaron stand, der eine Flotte auf der See des Sternregens befehligte. Sollte sich der Drogenhandel als Erfolg erweisen, so hätte Winter durch ihren zukünftigen Gatten die Möglichkeit, das Geschäft auf die Länder nördlich des Ozeans auszuweiten. Da erschien ihr Hamid, der kalimshitische Informant, der zuvor für die Schattendiebe gearbeitet hatte, wie ein Geschenk des Himmels. Durch Hamid hatte sie erfahren, dass der Drogenhandel der Schattendiebe in den Händen dreier Männer lag, die sich „das Triumvirat“ nannten. Ihr Hauptquartier befand sich angeblich hier in Atkatla. Ein Zauber, der eine große Menge an Pillen ausfindig machen sollte, hatte sie geradewegs hierher, in den Roten Stier geführt.
Nach einigen Minuten kehrte der Wirt zurück und machte Winter ein Zeichen ihm zu folgen. Als Hamid sich ihnen anschließen wollte, schüttelte er den Kopf.
„Er bleibt hier.“ Er sah zu den beiden Billardspielern hinüber. „Als Pfand.“
Hamid schien nicht allzu glücklich darüber, als Pfand herhalten zu müssen, fügte sich aber, als er Winters warnenden Blick auffing. Der Wirt führte sie in den Keller. Vor einer der Türen waren zwei fettleibige Kalimshiten mit Krummschwertern postiert. Auf ein Zeichen des Wirts hin ließen sie Winter passieren. Sie trat in einen schmutzigen Hinterhof, der zu allen Seiten von Hauswänden umschlossen war. In der Nähe der Tür saßen drei menschliche Roulette-Spieler an einem Spieltisch: ein Hüne von einem Mann, dessen dicke Oberlippen und raue Gesichtszüge ihn als einen Barbaren aus dem Norden auswiesen, eine Lady im Reifrock, die mit ihrer Turmfrisur und dem Schönheitsfleck über der Oberlippe wie eine Personifikation adliger Dekadenz wirkte, und schließlich ein kleiner, hagerer Kamlimshit, der, zwei Krummsäbel im Schoß überkreuzt, im Schneidersitz auf einem fliegenden Teppich harrte und grinsend sein diamantenes Gebiss zur Schau stellte. Die drei waren in eine Runde Roulette vertieft, doch anstelle von Geld oder Coupons horteten sie vor sich Berge von kleinen Beutelchen, die mit weißem, porösem Pulver und Pillen gefüllt waren. Turmfrisur hob als erste ihren gepuderten Kopf.
„Und wer seid Ihr?“
Winter nannte ihr ihren Decknamen. In den Augen der Spielerin blitzte ein blauer Funke und sie murmelte einige magische Worte. „Wer seid Ihr wirklich?“, fragte sie gelangweilt. „Und lasst doch bitte diese lächerliche Verkleidung.“
Scheinheilige Schlampe, dachte Winter, während sie ihre Verkleidung fallen ließ und den Roulette-Spielern ihren wirklichen Namen und ihr Anliegen nannte. Meine Verkleidung ist jedenfalls nicht halb so einfallslos wie deine.
Nun meldete sich Diamantengebiss zu Wort. „Ihr wollt Linzens für Drogenhandel an Vilhorngriff?“, fragte er mit einem Akzent, der zu stark war, um echt zu sein. „Die kann nur Triumvirat ausstellen.“ Dicke Lippe grunzte zustimmend.
„Und wie finde ich das Triumvirat?“
„Vielleicht könnten wir Euch weiterhelfen“, schlug Turmfrisur mit einem süffisanten Lächeln vor und wies einladend auf einen leeren Stuhl zu ihrer Rechten. „Wie Ihr seht ist noch ein Platz frei an unserem Tisch. Als Einsatz könntet Ihr einige Eurer magischen Gegenstände ins Spiel einbringen. Wie ich sehe tragt ihr derer nicht wenige. Spielt mit uns und wir sehen weiter.“
Winter lehnte ab. Tymora schien ihr heute wenig gewogen zu sein. Außerdem konnte selbst ein Blinder sehen, dass ihre Gegenstände weitaus wertvoller waren als die sich im Spiel befindlichen Rauschmittel. Turmfrisur zuckte nur mit den Schultern und widmete sich wieder dem Spiel. Offensichtlich hatten sie bereits das Interesse an Winter verloren. Während sie noch überlegte, was sie weiter tun sollte, wurde die Szene jäh unterbrochen: Hinter der Tür, die in den Roten Stier führte, erklangen laute Stimmen und das Surren von Klingen, die aus den Scheiden gezogen wurden. Die drei Roulette-Spieler warfen sich alarmierte Blicke zu. Der Kalimshite griff nach seinen Säbeln und lenkte seinen fliegenden Teppich über den Türrahmen, bereit jeden ungebetenen Gast von oben zu überraschen. Der schweigsame Nordmann brachte einen Knüppel zum Vorschein, den er wer weiß wo versteckt hatte, und die Frau mit der Turmfrisur ließ hastig die Pillen und Pulverbeutel unter einer magischen Illusion verschwinden und warf einen Blick über die Schulter. Winter folgte ihrem Blick mit den Augen und meinte in einem der Dachfenster Metall aufblitzen zu sehen.
Plötzlich begann die Luft zu vibrieren und ließ die Umgebung kurzzeitig verschwimmen. Winter wusste, was das zu bedeuten hatte: Jemand teleportierte sich in diesem Moment in den Hinterhof. Als die beiden Eindringlinge jedoch sichtbar wurden, klappte auch ihr die Kinnlade herunter.
„Grimwardt? Dorien? Was, zum Henker, macht ihr denn…?“
„Scarlet wurde entführt“, brüllte Dorien ihr über den Kampf hinweg zu, der in diesem Moment losbrach. Armbrustbolzen prasselten auf die Eindringlinge hinab. Der kleine Kalimshit näherte sich Grimwardt von hinten und rammte ihm gewieft seine beiden Krummsäbel in die Seite, ehe der gestandene Krieger den Gegner auch nur erblickt hatte. Erzürnt beim Anblick ihres verletzten Bruders schleuderte Winter ihm einen sengenden Strahl entgegen, der den Säbelschwinger beinahe von seinem fliegenden Teppich gefegt hätte.
„Nun komm endlich!“, dröhnte Grimwardt, während Dorien bereits begonnen hatte, die Teleportationsformel zu sprechen. Winter bekam noch in letzter Sekunde die Hand ihres Bruders zu fassen, ehe sie spürte, wie die Dimensionen sich überlagerten und ihre Umgebung vor ihren Augen verschwamm.
„Entführt!“, tobte sie los, kaum dass sie wieder festen Boden unter den Füßen spürte. „Was soll das heißen, Scarlet wurde entführt? Grim, wie konntest du das zulassen?“
„Ich habe dir gesagt, sie ist in der Abtei nicht sicher“, verteidigte sich ihr Bruder ruhig. „Ganz abgesehen davon, war ich da, als es passierte, während ihr zwei mal wieder irgendwo in der Weltgeschichte herum getingelt seid.“
Winter ging nicht auf seine Worte ein. Gerade war ihr eingefallen, dass sie sich vor einiger Zeit von einem Magier einen sehr nützlichen Zauber abgeschaut hatte: Der Magier hatte sich tanzend im Kreis gedreht und auf diese Art und Weise Aufschluss über die Gefühlslage eines Freundes erhalten, der sich meilenweit entfernt befand. Winter tat es ihm gleich und sprach dabei die magischen Worte des Magiers aus der Erinnerung. Doch nichts geschah. Scarlets Gefühle blieben ihr verschlossen.
„Hast du jetzt völlig den Verstand verloren?“, knurrte Grimwardt, der Stirn runzelnd ihre kleine Tanzeinlage beobachtet hatte. Dorien konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen… was er kurz darauf bitter bereute.
„Lach nur!“, fuhr Winter ihn an. „Das ist auch das einzige, was du beizutragen hast, wie? Wo warst du überhaupt die letzten acht Jahre?“
„Winter, wir…“
„Na sag schon!“
„Maztika. Winter, du…“
„Maztika!“, schnaubte Winter. „Weiter weg ging wohl nicht! Ist es dir je in den Sinn gekommen, dass Scarlet ihren Vater brauchen könnte?“
„Du bist doch diejenige, die hochschwanger bei Nacht und Nebel davon gelaufen ist“, grollte Dorien. „Ganz abgesehen davon, dass Scarlet über die Jahre hinweg genug Männer ihre Väter genannt hat!“, fügte er bissig hinzu. „Vielleicht hat ja einer deiner Ex-Ehemänner herausgefunden, dass du ihm ein Kuckuckskind ins Nest gesetzt hast, und hat sie aus Rache entführt!“
„Was soll das heißen?“, fauchte Winter. „Bin ich jetzt an dem Schuld, was passiert ist?“
„RUHE, ALLE BEIDE!“, donnerte Grimwardt mit seiner Titanenstimme.
Trotziges Schweigen.
Erst jetzt wurde sich Winter ihrer Umgebung bewusst. Sie standen im Schilf am Rande eines kleinen Weihers. Die Wellen glitzerten sanft im Abendlicht und ein Reiher hob elegant von der Wasseroberfläche ab. Hinter den Weiden am Uferrand erhoben sich die Türme einer wunderschönen Stadt vor dem vanillefarbenen Abendhimmel. Myth Drannor. Die Stadt der Liebe. Winter seufzte ernüchtert.
Plötzlich raschelte es hinter ihr im Unterholz.    
„Was macht ihr denn hier?“, fragte Nimoroth.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 09. Oktober 2009, 17:31:30
Sehr schön! Freue mich auf die Fortsetzung! ...und auf Hades ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: szorn am 09. Oktober 2009, 19:08:49
Ich auch. Gute Story. Gut geschrieben.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 11. Oktober 2009, 15:09:53
Kapitel II: Die Krypta des Baelnorn

Nimoroth
Kurz darauf in Myth Drannor
Die Elfenstadt Myth Drannor war einst berühmt gewesen für ihre atemberaubende Architektur und ihr kulturelles Vermächtnis. Doch nach der Verwüstung der Stadt durch die Armeen der Finsternis hatten Myth Drannor und der Elfenhof sechshundert Jahre lang in Ruinen gelegen – ein Eldorado für todesmutige Grabräuber und waghalsige Abenteurer. Erst acht Jahre war es her, dass sich im Zuge des Elfenkreuzzuges Elfen aus Immerdar hier niedergelassen hatten. Doch der Wiederaufbau der Stadt würde noch Jahre in Anspruch nehmen: Noch immer gab es zahlreiche Stadtviertel, in denen die Magie aufgrund des zerstörten Mythals, der die Stadt einst als Schutzschild umgeben hatte, verrückt spielte oder gar nicht funktionierte. Da architektonische Arbeiten in diesen Gebieten äußerst schwierig waren, lagen die meisten Gebäude hier noch immer in Schutt und Asche. Zudem gab es auch heute noch ungesicherte Portale. Um das liederliche Gezücht zu bekämpfen, das sich in den ungesicherten Gebieten von Myth Drannor herumtrieb, oder auch um noch etwas von den vielen versunkenen Schätzen der Hauptstadt von Cormanthyr abzustauben, bevor alles wieder in den Besitz der Elfen überging, waren aus ganz Faerûn Abenteuergruppen angereist. Die Regierung der Stadt um Fürstin Ilsevele Miritar war dankbar für jede Hilfe, hatte sie selbst doch wenig Zeit sich um den Wiederaufbau der Stadt zu kümmern. Schließlich lauerten im Norden bereits die Zhentarim, die der Wiedererrichtung einer elfischen Nation in ihrem Einflussgebiet wenig zugetan waren. Und auch die Menschenstädte des Mondsees und der Talländer blickten mit Misstrauen in Richtung des Elfenhofs.
Whispers Braustube lag am Rande eines Ruinengebiets. Das Wirtshaus, das einen großen, rustikalen Schankraum und eine Galerie umfasste, war bis auf den letzten Winkel besetzt. Und obgleich die Mehrzahl der Kundschaft elfischer Herkunft war, konnte Nimoroth auch zahlreiche Menschen und sogar den ein oder anderen Halbling unter den Gästen ausmachen. Wie in Abenteurerkneipen üblich wurde gelacht, getrunken, lamentiert, musiziert und Karten gespielt was das Zeug hielt. Die Wirtin war eine kleine grünhäutige Elfe (Nimoroth meinte auch ein wenig Nymphenblut und vielleicht sogar etwas von einer Seeelfe in ihr zu sehen) mit sehr eigenwilliger, zu Berge stehender Haarfrisur, die flink wie ein Eichhörnchen zwischen den Gästen umherwuselte, Bestellungen aufnahm, Essensberge auf winzigen Servierbrettern balancierte, mit dem ein oder anderen Besucher schäkerte und dazwischen noch die Zeit fand, einen Streit zu schlichten, der sich zwischen zwei konkurrierenden Abenteurergruppen anbahnte. Kaum hatten Nimoroth und seine Gefährten sich am letzten freien Tisch niedergelassen, war sie auch schon zur Stelle, um die Bestellung aufzunehmen. Als sie Grimwardt erblickte, stutzte sie.
„Ihr habt eine Nachricht für uns?“, tippte Nimoroth. Offenbar hatte er ihren Blick richtig gedeutet, denn die Elfe nickte eifrig und begann die zahlreichen Taschen und Beutelchen, die sie um die zierliche Hüfte trug, nach der Mitteilung zu durchsuchen.
„So muss es sein“, antwortete die quirlige Wirtin. „Ein großer, rotbärtiger Krieger und ein Waldelf, so hat er euch beschrieben. Wartet – hier ist die Nachricht.“
„Wer ist ‚er’?“, fragte Nimoroth, während die anderen die Pergamentrolle in Augenschein nahmen, die Whisper ihnen über den Tisch reichte. Sie enthielt einen Ring und den Ausschnitt einer Stadtkarte.
„Ein Mensch; hat seinen Namen nicht genannt“, erklärte Whisper, während sie den Nachbartisch abräumte und gleichzeitig ein Tablett mit Metkrügen, die der Küchenjunge zur Abholung auf die Theke gestellt hatte, per Magierhand durch den Raum lenkte. „Sehr blasses Gesicht, weißes Haar, dunkle Kleidung. Sagt euch das etwas?“
„Drake!“, riefen die vier Gefährten wie aus einem Mund. Der zwielichtige Schurke, der ihnen vor zehn Jahren schon einmal einen schweren Verlust zugefügt hatte, bevor die Umstände ihn zu einem ihrer Gefährten gemacht hatten, war seinem Handwerk offensichtlich treu geblieben.
„Dieser Schweinehund“, entfuhr es Winter. „Wenn ich den zu fassen bekomme...“
Der Kartenausschnitt aus der Pergamentrolle enthielt die Wegbeschreibung zu einer alten Tempelruine und die Anweisung, dort nach „der Krypta des Baelnorn“ zu suchen. Den Ring, den Drake der Karte beigefügt hatte, identifizierte Winter mit Hilfe ihres magischen Monokels als einen Sklavenring. Der Träger eines Sklavenrings stand in telepathischer Verbindung zum Träger eines mit ihm verbundenen Rings, des Meisterrings. Wurde seinen Anweisungen nicht Folge geleistet, so konnte der „Meister“ dem „Sklaven“ über den Ring Züchtigungen in Form von magischen Schocks zuteil werden lassen. Da niemand besonders erpicht darauf war, Drake diese Genugtuung zu verschaffen, steckte Grimwardt den Ring ein.
„Lasst uns diese Krypta suchen und herausfinden, was Drake will“, sagte Nimoroth, der es nicht mehr länger ertrug, tatenlos herum zu sitzen. Jede Minute, die verging, brachte Nyrael ihrem Ende ein Stück näher.

Grimwardt
Wenig später im Ruinenviertel
Von dem Trümmerhügel, auf dem Grimwardt harrte, war zu erkennen, dass der Tempel, der einst auf dem Platz gestanden hatte, gigantisch gewesen sein musste. Die marmornen Mauerreste, das aufwendige Bodenmosaik und die Überreste von Pfeilergruppen, die noch aus dem Boden ragten, ließen nur erahnen, welche Pracht diesen Mauern einst innegewohnt haben musste. Das Bemerkenswerteste an dieser Ruine jedoch war ihr Zentrum: Hier ragte der gigantische, verkohlte Baumstumpf einer Trauerweide aus dem Boden, deren Zweige die Gebetshalle einst wie eine riesige Kuppel umschlossen haben mussten. Das Wurzelgeflecht des toten Baumes durchzog die Halle wie ein obskuren Adergeflecht und Grimwardt spürte, dass etwas Unheimliches von diesen Wurzeln ausging: Sie waren knochenbleich und stachen aus der Erde wie die Arme eines Ertrinkenden.
„Ein todloser Baum“, erklärte Nimoroth, der lautlos neben Grimwardt getreten war.
„Todlos?“, grummelte Grimwardt. „Du meinst, ein untoter Baum?“
Auf Nimoroths Gesicht stahl sich eines dieser elfischen Lächeln. „Nicht alles, was nach dem Tod nicht die Schwelle überschreitet, ist böse. Dieser Baum hat noch eine Aufgabe zu erfüllen.“
„Kommt schnell her, ich habe etwas gefunden!“, rief in diesem Moment Winter, die zusammen mit Dorien die Ruine erkundet hatte. Grimwardt beobachtete von seinem Hügel aus, wie seine Schwester sich vor der Weide zu Boden kniete und konzentriert über eine der mächtigen Wurzeln strich. Dann sprang sie plötzlich zurück. Wie eine riesige verwundete Schlange wuchtete sich die Wurzel schwerfällig aus der Erde, bis sie einen Torbogen gebildet hatte, unter dem bequem zwei Menschen Platz fanden.
„Scheint so, als hätte sie herausgefunden, was seine Aufgabe ist“, brummte Grimwardt, schulterte seine Axt und schlenderte den Hang hinunter. Bei Winter angelangt, griff er in seine Tasche und brachte den Sklavenring zum Vorschein.
„Denke, es ist an der Zeit, herauszufinden, was Drake von uns will“, meinte er und streifte sich den eisernen Ring über den Finger, bevor irgendwer protestieren konnte.
„Es geschehen noch Zeichen und Wunder“, hörte er Drakes spöttische Stimme in seinem Kopf. „Ich dachte schon, ich hätte die Anweisung ‚Streift mich über’ besser in den Ring gravieren lassen sollen, um sicher zu gehen, dass wir uns verstehen.“
„Was willst du?“, fragte Grimwardt ruhig.
„Grimwardt Fedaykin“, lachte Drake. „Du verlierst wie immer nicht viele Worte.“ Aus irgendeinem Grund stellte Grimwardt sich den Albino auf einem Diwan liegend vor, die Beine von sich gestreckt und ein Glas Wein in der Hand.
„Wo ist eigentlich der fünfte im Bunde?“, fragte Drake. „Ich dachte, Kalith lebt hier in Myth Drannor? Ich hätte es bevorzugt, die ganze Gruppe zu… rekrutieren. Dumm nur, dass mir in Kaliths Fall das Druckmittel fehlte…“
Weil du seine Familie bereits umgebracht hast, Witzbold, dachte Grimwardt.
„Was willst du?“, fragte er, entschlossen sich von Drakes Sticheleien nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.
„Warum sucht ihr nicht die Krypta und findet es heraus?“
„Soll ich dir sagen, was ich denke? Ich denke, dass da unten irgendein Untoter auf uns wartet, der etwas besitzt, was du haben willst. Und da du gegen Untote nicht viel ausrichten kannst, brauchst du unsere Hilfe.“
Grimwardt schloss aus Drakes Schweigen, dass er nicht ganz falsch lag.
„Weißt du, Drake“, fügte er nüchtern hinzu. „Du hättest auch einfach fragen können!“ Er selbst hatte sich immer gut mit Drake verstanden… Allerdings waren es auch nicht seine Eltern, die der Schuft ermordet hatte.
Drake lachte leise. „Darauf wärt ihr niemals eingegangen.“
„Woher willst du das wissen?“
„Findet die Krypta.“
Die Verbindung brach ab.
Grimwardt zuckte mit den Schultern und trat als erster durch das Wurzelportal. Für einen Augenblick überkam ihn Schwindel und ein Gefühl, als verliere er den Boden unter den Füßen. Dann Dunkelheit. Kurz darauf enthüllte Doriens Lichtzauber einen engen Erdtunnel, der von den Wurzeln der todlosen Weide fast vollständig versperrt wurde. Doch als Grimwardt mit seiner Axt nach den Wurzeln schlagen wollte, wischen sie vor ihm zurück und gaben den Weg frei. Offenbar hatte das Portal sie tief ins Erdreich geführt. Der Tunnel endete nach wenigen Schritten vor einer morschen Tür, durch deren Ritzen ein schwacher Lichtschein in den Gang fiel. Hinter der Tür befand sich eine Grabkammer mit zehn Sarkophagen. Aus einem seitlich angrenzenden Raum schien ein gleißend heller Lichtkegel in den Raum hinein. Die Sarkophage, die von dem Licht berührt wurden, waren unversehrt. Jene jedoch, die außerhalb des Lichtkegels lagen, waren geplündert und entweiht worden. Das verkohlte Skelett eines Humanoiden vermittelte den Gefährten eine Ahnung davon, was mit Grabräubern geschehen war, die ihr Glück an den anderen Sarkophagen versucht hatten.
Sie sahen einander ratlos an. Grimwardt zuckte mit den Schultern und hielt den kleinen Finger seiner linken Hand ins Licht. Ein Finger war entbehrlich. Doch nichts geschah. Grimwardt spürte im Gegenteil sogar eine angenehme Wärme durch seinen Körper strömen. Entschlossen trat er vor. Und tatsächlich: Er wurde von einem angenehmen Schauer überkommen, der seinen Geist belebe und seine Sinne schärfte.
„Darum braucht Drake also unsere Dienste“, murmelte Nimoroth. „Das Licht hätte seine niederträchtigen Absichten erkannt und ihm den Zutritt verwehrt.“
Die Lichtquelle war ein geweihter Altar im hinteren Teil des Raumes. Nimoroth konnte die Symbole und Runen darauf Corellon Larethian, dem Göttervater der Seldarine, zuordnen. In der Mitte des Raumes erhob sich ein weiterer Sarkophag, feiner gearbeitet als jene im Vorraum. Den Grabdeckel zierte ein Relief des Verstorbenen: das friedliche Bild eines Sonnenelfen mit edlen Gesichtszügen, der in prunkvolle Roben gewandet war. „Eoleth Keluvin“ lautete die elfische Grabinschrift.
Ein leises, spöttisches Lachen mischte sich in Grimwardts Gedanken.
„Eoleth Keluvin“, sagte Drake. „Ein Elfenmagier, begraben in einem geweihten Grab. Und du hast Recht, Grimwardt. Er besitzt etwas, das ihm nicht gehört. Ein Drowartefakt, genannt die Todesklaue. Und nun sag mir, Grimwardt“, fügte er sarkastisch hinzu. „Hättet ihr mir hierbei geholfen, wenn ich euch nett darum gebeten hätte?“
Grimwardt gab ein unverständliches Grummeln von sich und gab Drakes Worte an die anderen weiter. Dann sagte er mit düsterer Entschlossenheit: „Ich werde diesen Ort nicht entweihen.“
Winter drehte sich jäh zu ihm herum.
„Grim! Es geht um Scarlet!“
„Nichts wird mich dazu bringen, zum Grabräuber zu werden“, erklärte Grimwardt mit Nachdruck. Er hatte seine Entscheidung getroffen und würde sie nicht widerrufen. Die anderen starrten ihn betreten an. Ihnen allen war klar, dass Nimoroth allein mit der Hilfe der beiden Hexenmeister den Deckel des Grabes nicht würde lüften können.
„Also schön“, schnaubte Winter und funkelte ihn böse an. „Wenn du uns nicht helfen willst, dann werde ich eben einen Weg finden müssen, da hineinzugelangen.“ Mit ähnlicher Entschlossenheit wie ihr Bruder, gepaart mit einer erheblichen Portion Trotz, stieg sie auf das Grab und legte sich flach darauf.
„Was hast du vor?“, grummelte Grimwardt. „Willst du dich in das Ding hinein teleportieren?“
„Genau das habe ich vor!“, schnappte Winter. „Ich gehe da rein und hole mir diese dumme Artefakt.“
Gesagt, getan.
Nimoroth riss seinen Krummsäbel aus der Scheide und Dorien erhob seinen Zauberstecken. Gespenstige Stille. Dann plötzlich ein ohrenbetäubendes Bersten und Grimwardt konnte gerade noch der Sargplatte ausweichen, die von einer unsichtbaren Kraft in die Höhe geschleudert und dann zur Seite geschmettert wurde.

Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Alcarin am 11. Oktober 2009, 15:57:15
Sehr schön geschrieben, bitte mehr :)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 12. Oktober 2009, 00:25:15
Ich muss gerade an die äußerstlustige Ingame-Situation denken, als Winter sich da rein teleportierte... :D
...Und ich überlegte gerade, dass da ja eigentlich noch der Kampf gegen die Dämonen vorher statt fand, aber andererseits sind ein Glabrezu und ein paar Vroks in unserer Gruppe ja tatsächlich nicht mehr das, was man einen Gegner nennen würde  :wink:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 12. Oktober 2009, 01:35:06
Ja, die Glabrezu-Begegnung habe ich absichtlich rausgelassen. War, wie du schon sagtest, nicht wirklich herausfordernd und hätte außerdem den Handlungsfluss gestört. Im Nachhinein finde ich die auch ziemlich unnötig und unpassend, hätte ich mir sparen können. Kleine Schönheitsoperation am Rande sozusagen...

@all
Danke für das Lob. Hoffe, das hält mich bei der Stange :-)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 12. Oktober 2009, 17:46:55
Nimoroth
Eoleth Keluvin stand aufrecht in seinem eigenen Sarg. Seine bleichen, pupillenlosen Augen waren auf Winter gerichtet, die vor ihm kauerte, und seine ausdruckslosen Lippen formten magische Worte. Die einstmals prächtigen Samtroben des Elfenmagiers hingen ihm in Fetzen vom Leib und seine Haut spannte sich wie Pergament über die knirschenden Knochen.
Ein Baelnorn. Ein Elfenleichnam.
Am rechten Arm trug Eoleth einen schwarz glänzenden Panzerhandschuh aus einem organisch wirkenden Material, das sich in Ringen um sein knochiges Handgelenk wand. Dies musste die Todesklaue sein, von der Drake gesprochen hatte. Verblüfft starrte Nimoroth das Artefakt an: Die Klaue an Eoleths Handgelenk erinnerte ihn an einen Gegenstand, den er einst am Arm einer fanatischen Drow-Priesterin gesehen hatte, die er mir seiner alten Abenteuergruppe im Unterreich bekämpft hatte. Im Augenblick ihres Todes hatte sich die Priesterin samt der Klaue aus ihrem Turm teleportiert. Eoleths Panzerhandschuh war identisch mit jenem Artefakt, das sie damals nicht hatten bergen können, mit der Ausnahme, dass dieser Gegensand von einer in Silber gefassten Obsidianspinne geziert wurde.
Blinzelnd lenkte Nimoroth seine Aufmerksamkeit von dem rätselhaften Artefakt auf seinen Träger. Im Gegensatz zu anderen Untoten roch Eoleth nicht nach Verwesung und Verfall. Nimoroth hatte nichts anderes erwartet: Baelnorns waren heilige Wesen, von den Seldarine gesegnet und auf ewig einer Aufgabe auf der Erde verschrieben. Was ihn jedoch verwunderte war die völlige Geruchlosigkeit dieses Wesens.
Irgendetwas stimmte nicht.
Doch Nimoroth blieb keine Zeit, sich darüber klar zu werden, was der fehlende Eigengeruch des Leichnams zu bedeuten hatte. Der Magier hatte eine Salve magischer Geschosse auf Winter abgefeuert und wurde nun seinerseits von Dorien unter Beschuss genommen. Nimoroth flüsterte die göttliche Formel, die seine Muskeln anschwellen ließ und seine Kampfinstinkte schärfte, und preschte vor. Ein einziger Angriff reichte aus, den Magier zu Fall zu bringen. Doch anstatt besiegt in sein Grab zurück zu sinken, löste sich Eoleth samt seiner Ausrüstung in Luft auf als hätte es ihn niemals gegeben.
„Weshalb trachtet ihr nach der Klaue der Spinnenkönigin?“, fragte eine eisige Stimme und Nimoroth fuhr mit gezücktem Säbel herum. Eoleth Keluvin schwebte, umgeben von einem energetischen Schutzfeld, das in allen Farben des Regenbogens schimmerte, vor dem Eingang der Grabkammer und die Strahlen des Lichts von Arvandor brachen sich myriadenfach in seinen weißen blicklosen Augen. Nimoroth nahm seinen Duft auf: Er roch nach den Gestaden des gepriesenen Landes. Sie hatten nichts weiter als eine Projektion besiegt.
Mit demütig gesenktem Haupt schilderte Nimoroth dem Baelnorn ihr Dilemma: Um seine Geliebte und die Tochter seiner Freunde aus den Klauen eines hinterhältigen Erpressers zu befreien, mussten sie diesem die Todesklaue liefern.
Eoleths tote Augen blieben unbewegt.  
„Die Klaue ist bis zu meiner Zerstörung an mich gebunden“, sagte er. „Selbst wenn ich wollte, so könnte ich sie nicht ablegen, denn es ist meine heilige Aufgabe, sie vor jenen zu schützen, die durch sie unsägliches Leid über Toril bringen könnten. Der Träger dieses Zeugnisses nekromantischer Schaffenskraft vermag diese Welt innerhalb weniger Jahre mit seinen untoten Dienern zu überziehen. Ich habe Lolths dunkle Macht am eigenen Leibe erfahren“, fügte er mit leiserer Stimme hinzu. „Mehr als 400 Jahre muss es her sein, dass ich die Straßen Myth Drannors in sterblicher Gestalt durchwandelte. Damals erhielt ich die Aufgabe, eine Drowpriesterin zu verfolgen, die die Todesklaue einsetzen wollte, um die Welt unter der Sonne in Lolths Namen zurückzuerobern.“
„Ihr sagt, es ist ein Artefakt der Spinnenkönigin?“, fragte Nimoroth Stirn runzelnd. „Seid ihr euch dessen gewiss?“ Die Drowpriesterin, die sie damals im Unterreich bekämpft hatten, war Anhängerin einer anderen Göttin gewesen. Sie hatte Kiaransalee, die dunkelelfische Göttin des Untodes, verehrt.
„So ist es.“
„Was wisst ihr von einer zweiten Klaue?“
Der Baelnorn neigte den Kopf; seine blicklosen Augen blieben unbewegt.
„Ich weiß nur von dieser einen Klaue. Ich verfolgte ihre Trägerin bis ins Unterreich. Doch der entscheidende Kampf brachte auch mich an die Schwelle des Todes. Kurz bevor meine Sinne mich verließen, legte ich das Artefakt an. Ich konnte die Klaue nicht im Unterreich zurücklassen, wo sie über kurz oder lang nur wieder den Dunkelelfen in die Hände gefallen wäre. Die dunkle Macht des Artefakts rettete mir das Leben, doch mein Geist war zu schwach, um den Einflüsterungen der Klaue zu widerstehen und so wurde ich als ihr Träger zu Lolths Diener, einzig darauf bedacht meine Brut zu vergrößern. Meine Missetaten blieben nicht unbemerkt und Myth Drannor sandte seine Elfenritter gegen mich und meine untoten Konsorten aus. Sie bezwangen mich und als ich wieder ich selbst war, gaben die Seldarine mir die Chance Buße zu tun für meine Verbrechen. In Gestalt eines Baelnorns bannten sie mich in diese Krypta. Und hier werde ich auf Ewigkeiten bleiben, um zu beschützen, was mir anvertraut wurde. Ihr seht also“, wandte sich Eoleth wieder an Nimoroth: „Dieses Artefakt kann in den Händen eines jeden Sterblichen zur Gefahr werden. Mein Herz ist von Mitleid erfüllt für euch und jene, die ihr zu schützen versucht. Doch selbst das Leben zweier Sterblicher macht das Grauen nicht wett, das dieses Artefakt anzurichten vermag.“
Nimoroth seufzte schwer und verfluchte Drake im Stillen. Nein, ihnen würde kein anderer Ausweg bleiben als gegen den Wächter der Todesklaue zu kämpfen, so sehr ihm diese Vorstellung auch zuwider war. Grimwardt indessen war nicht dazu zu bewegen, gegen sein Gewissen zu handeln und diesen heiligen Ort zu entweihen. Mit düsterer Miene kehrte er seinen Gefährten den Rücken und verließ die Grabkammer. Nimoroth schüttelte traurig den Kopf. Er selbst hatte den Glauben daran, die Welt in einen besseren Ort zu verwandeln, vor acht Jahren in den Katakomben von Westtor verloren. Es gab zu viel Unglück auf Faerûn. Alles, was er tun konnte, war jene zu schützen, die er liebte.
Entschlossen packte er seine Waffe fester und flüsterte einen Flugzauber. Bevor Eoleth reagieren konnte, schwang er sich in die Lüfte und griff den schwebenden Magier im Sturzflug an. Sein magischer Säbel schnitt mühelos durch das vielfarbige Schutzschild, das den Baelnorn umgab und fügte ihm eine schwere Wunde zu, doch im selben Moment durchfuhr Nimoroth brennende Hitze und er taumelte betäubt einige Schritte zurück. Winter und Dorien versuchten dem Magier mit Angriffszaubern beizukommen. Als diese an dem Regenbogenschild abprallten, änderten sie ihre Taktik und versuchten Nimoroth mit ihren Zaubern zu schützen. Als nächstes spürte Nimoroth Eoleths leeren Blick auf sich, als der Magier einen Bannzauber wirkte, der Nimoroth seiner göttlichen Verstärkungen beraubte und seinen Flugzauber beendete. Während er fiel, durchfuhren ihn elektrische Stöße, die seine Glieder unkontrolliert zucken und ihn vor Schmerz aufschreien ließen.
„Ihr Elenden“, flüsterte Eoleth und aus seinen gespreizten Fingern schoss ein Kegel bunter Strahlen. Das letzte, was Nimoroth sah, war Grimwardt, der mit erhobener Axt aus dem Nebenraum gestürzt kam. Selbst die eherne Entschlossenheit des Tempuskriegers zerfiel wie Staub im Wind, wenn es darum ging, seine Schwester zu retten.
Dann erstarrte Nimoroths Geist, als ein grüner Strahl ihn traf und in Stein verwandelte.

Grimwardt
Teils fluchend, teils um Vergebung bittend, rammte Grimwardt seine Axt in den ungeschützten Körper des Magiers. Eoleths blicklose Augen weiteten sich, als er in die Arme des Priesters sank.
„Bringt die Klaue… zurück“, keuchte er, während sein untoter Körper dem Verfall anheim fiel, den göttliche Magie über all die Jahre aufgehalten hatte. Am Ende blieb nichts als Staub und die vermaledeite Klaue. Als der Baelnorn starb, erlosch das Licht von Arvandor und ein Riss spaltete den Altar. Dunkelheit senkte sich über die Höhle des Baelnorn.
„Wir haben sie“, knurrte Grimwardt an Drake gewandt. „Was nun?“
„Lauft weiter nach Osten und betretet das letzte intakte Haus im Ruinengebiet. Erster Stock, erste Tür auf der linken Seite.“
Grimwardt fuhr sich über den Bart. Die ganze Aktion stank zum Himmel.
„Wenn du das Ding haben willst“, knurrte er düster: „Dann komm und hol es dir aus meinen kalten, toten Händen!“  Mit diesen Worten machte er Anstalten sich die Klaue überzustreifen, doch Winter griff hastig ein und entrang das Artefakt dem Griff ihres Bruders.
„Nicht, Grim! Hast du nicht gehört, was der Elfenleichnam gesagt hat? Die Klaue würde dich beherrschen wie ihn! Wir müssen eine andere Lösung finden. Soll Drake das Ding haben. Fürs erste. Sicher will er es an irgendwen verkaufen. Wir machen den Käufer ausfindig und holen es uns wieder.“
„Und wie stellst du dir das vor?“
Da sich der Aufenthaltsort von Artefakten nicht durch Erkenntniszauber ermitteln ließ, versteckten die Gefährten einen Kiesel und einen Tintenklecks, zwei Dinge von denen sie hofften, dass sie unauffällig genug waren und sich dennoch zurückverfolgen ließen, im Innern der Klaue. Grimwardt warf sich den versteinerten Nimoroth über die Schulter und sie machten sich auf den Weg zu dem Übergabeort, den Drake ihnen genannt hatte. Im ersten Stock der Ruine fanden sie eine magische Truhe mit arkanen Motiven vor, die an diesem trostlosen Ort seltsam fehl am Platze wirkte. Der Deckel stand offen. Gemäß Drakes Anweisungen legten sie das Artefakt in die Truhe. Kaum hatten sie den Deckel zugeklappt, erbebte die Truhe kurz und verschwand dann ohne einen Laut.
 „Zufrieden?“, knurrte Grimwardt. „Also wo sind die Geisel?“
„Fragt in Whispers Braustube nach einer Nachricht… und Grimwardt…“ Drake lachte spöttisch. „Danke für die gute Zusammenarbeit.“
Wie sie kurz darauf feststellten, war bei Whisper tatsächlich eine zweite Nachricht für sie abgegeben worden. Darin nannte Drake den Ort, an dem er Scarlet und Nyrael festhielt: ein kleines, spärlich eingerichtetes Dachzimmer in einem der magietoten Gebiete der Stadt. Die Antimagie, die durch den zerstörten Mythal bedingt war, musste Winters Ortungszauber in die Irre geführt haben.
Als Grimwardt mit den anderen in dem Zimmer eintraf, fanden sie Nimoroths Lebensgefährtin in tiefer Bewusstlosigkeit vor: Ihre Haut und ihr moosgrünes Haar waren gelb verfärbt und vertrocknet wie die vergilbten Blätter eines sterbenden Baumes. Die kleine Scarlet, die verunsichert und befremdet zu den Füßen der sterbenden Fremden saß, sprang von Erleichterung überwältigt auf, kaum dass sie den Raum betreten hatten, und flog erst ihrer Mutter und dann ihrem Onkel in die Arme. Dorien, den sie erst seit einigen Monaten kannte, begrüßte sie verhaltener. Nicht ohne Stolz bemerkte Grimwardt, dass seine Nichte keine einzige Träne vergossen zu haben schien. Doch Zeit für ausgiebige Umarmungen blieb nicht. Die Dryade musste dringend zu ihrem Lebensbaum zurückgebracht werden. Behutsam nahm Dorien sie in die Arme und teleportierte alle, nachdem sie den magietoten Bereich verlassen hatte, in die Sternwälder. Kaum hatten sie die Dryade mit dem Rücken gegen ihren Lebensbaum gebettet, erholte sie sich sichtbar. Ihre Augenlider flackerten.
„Irgendjemand sollte Nimoroth dringend entzaubern“, murmelte Grimwardt, der ächzend die schwere Steinstatue von seinem Rücken wuchtete. „Sonst trifft die Kleine der Schlag, kaum dass sie aufwacht.“
Da sie genug mächtige Magierfreunde in Tiefwasser und Umgebung hatten, wussten sie, an wen sie sich in solchen Fällen zu wenden hatten.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Alcarin am 12. Oktober 2009, 19:29:35
Das will ich doch hoffen, und deswegen gleich nochmal:
Neuer Post = sehr schön und detailiert geschrieben :)

Mehr bitte!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 13. Oktober 2009, 00:33:02
Ich hab schon so viele schöne Kleinigkeiten wieder vergessen... ich war ja versteinert...  :boxed:
Ist toll, wenn man das alles nochmal in seinem Geist wiederholen kann :)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 15. Oktober 2009, 19:38:37
Kapitel III: Über den Wolken

Winter
Myth Drannor, 4 Tage später
„Die Schweigenden Schwestern?“, fragte Grimwardt skeptisch, während er mürrisch einen Marienkäfer fortschnippte, der sich in seinen langen Barthaaren verfangen hatte.
„Scarlet wäre dort gut aufgehoben“, beteuerte Winter, während sie ungeduldig unter der Schattenkrone auf und ab lief, in der sich das Heim des Weisen Belivimir befand, von dem sich die Gefährten Hinweise auf den möglichen Verbleib der Todesklaue erhofften. Da Winter kein Elfisch sprach, und Grimwardt sich schlichtweg weigerte mit Leuten zu reden, die in Bäumen lebten, waren Nimoroth und Dorien allein hinauf gestiegen.
Seit vier Tagen suchten sie bereits nach der Klaue – bisher ohne Erfolg. Dass Dorien weder den Kieselstein noch den Tintenklecks hatte zurückverfolgen können, musste bedeuten dass die beiden Peiler entweder entdeckt worden waren oder die Klaue sich an einem Ort befand, der gegen magische Ausspähungen geschützt war. Auch die Suche nach Drake hatte sie nicht weiter gebracht. Winter, die am besten mit den Symbolen und Praktiken der Unterwelt bekannt war, hatte die sprechenden Hüte, die der Entführer ihrer Tochter an den beiden Tatorten zurück gelassen hatte, als das Symbol einer Diebesorganisation erkannt, die sich selbst „Der lachende Hut“ nannte. Die Organisation war ein kleiner und noch junger Verband von Dieben, Assassinen und Giftmischern, deren Hauptquartier in den Silbermarken oder an der nördlichen Schwertküste vermutet wurde. In Silbrigmond hatten die Gefährten mit Nachforschungen zu Drake und der Diebesorganisation begonnen. Sie hatten jedoch lediglich herausfinden können, dass diese offensichtlich in Zellen organisiert und darum äußerst schwierig zu knacken war. Schließlich waren sie nach Myth Drannor zurückgekehrt, weil ein Ortungszauber, der Drakes Aufenthaltsort ermitteln sollte, sie hierher geführt hatte. Doch anstatt auf ihren Erzfeind waren sie lediglich auf eine Illusion gestoßen, die ihnen dessen Anwesenheit vorgegaukelt hatte und Nimoroth einen unfreiwilligen Fall durch den Boden eines morschen Dachstuhls beschert hatte. Zu allem Überfluss hatte man sie schließlich wegen der Entweihung der Krypta, die inzwischen entdeckt worden war, festgenommen und dem Hauptkommandanten der Schwertgarde vorgeführt: Fflar Sternbraue hatte ihnen den Eid abgenommen, die Klaue zurück zu bringen. Ansonsten drohten ihnen die Kerker der Elfenstadt. Einzig aus Respekt für seinen Ersten Leutnant, Kalith Lysan, einen Freund der Gefährten, war der Hauptmann geneigt gewesen, ihnen ihre Geschichte überhaupt abzukaufen. Von Kalith selbst hatten die Gefährten noch nichts gesehen; Der Elfenhauptmann hatte behauptet, er sei in außenpolitischer Mission unterwegs. Winter empfand die ganze Aufregung um das Artefakt indes als überaus lästig, da sie im Moment ganz andere Sorgen plagten.
„Bei den Schweigenden Schwestern wäre Scarlet sicher“, versuchte sie gerade ihren Bruder von dem Plan zu überzeugen, ihre Tochter in ein Klosterinternat zu schicken. Scarlets Entführung hatte ihr bewusst gemacht, wie angreifbar sie durch ihre Tochter geworden war. „Ich habe mich über den Kult informiert. Ein kleines Kloster in den Bergen, magisch geschützt. Erstklassige Ausbildung. Und niemand würde sie dort vermuten. Was meinst du?“ Für den Augenblick hatten sie Scarlet bei Nimoroths Familie in den Sternwäldern untergebracht. Doch Winter ließ der Gedanke keine Ruhe, dass ihre Tochter noch einmal das Ziel eines Anschlags werden könnte, der ihr selbst galt. Am liebsten hätte sie Scarlet in Watte gepackt und in eine andere Dimension gebannt. Ein abgeschiedenes Bergkloster schien dieser Idee am nächsten zu kommen.
„Sie wünscht sich eine Axt.“
Jäh blieb Winter stehen. „Wie bitte?“
„Scarlet. Sie wüscht sich eine Axt zu ihrem nächsten Geburtstag.“
„Hast du mir überhaupt zugehört?“
„Ich habe ihr eine versprochen.“
„WAS?“ Fassungslos starrte Winter ihren Bruder an. „Ich mache Pläne, wie ich meine Tochter beschützen kann und du versprichst ihr eine Axt?“
„Angriff ist die beste Verteidigung.“
„Sie ist sieben Jahre alt!“
„Und wird in einem Monat acht.“ Grimwardts Gelassenheit trieb Winter zur Weißglut. „So alt wie die jüngsten meiner Schüler.“
„Sie ist meine Tochter, nicht eine deiner Schülerinnen“, schnaubte Winter. „Und ich sage, sie kommt zu den Schweigenden Schwestern!“
„Sollte ich da nicht ein Wörtchen mitzureden haben?“
Winter wandte sich um: Dorien war mit Nimoroth vom Gespräch mit dem elfischen Weisen zurückgekehrt.
„Was herausgefunden?“, lenkte Grimwardt, der einen neuerlichen Disput befürchtete, das Gespräch auf ihre Mission zurück.
„Nicht viel“, erwiderte Nimoroth. „Die Klaue erlaubt es dem Träger mächtige Untote - Zinkarlas und Geister - zu erschaffen und eine beliebige Anzahl dieser Kreaturen zu kontrollieren. Von einer zweiten Klaue wusste Belivimir nichts.“
„Vielleicht solltest du Mielikki um Hilfe bitten“, schlug Dorien vor. „Sie hat dir schon früher in solchen Situationen weitergeholfen.“
„Vielleicht“, sagte Nimoroth zögernd. „Wenn das die letzte Möglichkeit ist.“

Nimoroth
Am nächsten Morgen
Der Wald ist mit Raureif überzogen und wabernde Nebel verklären Nimoroths Sicht. Sie ist in Gestalt eines Einhorns gekommen. Ein Einhorn mit unendlich traurigen Augen. Nimoroth ruft ihren Namen, während er auf sie zu läuft, doch er kann sie nicht erreichen. Wie in einem Traum, in dem man langsamer wird, je schneller man läuft. Dann wendet sie sich um und er folgt ihr durch den Morgenwald. Während sie laufen, beginnt sich seine Umgebung zu verändern. Pflanzen verdorren; Bäume altern wie im Zeitraffer. Schnee fällt, bis er die Erde mit einer weißen Schicht überzogen hat, die sich wie ein Leichentuch über die Verwüstung senkt. Das Einhorn läuft immer schneller, bis ihm Flügel wachsen und es von der Erde abhebt. Nimoroth verliert den Boden unter den Füßen und schwebt in einem Nichts aus Dunstschleiern. Dem Einhorn folgend steigt er höher und höher, bis er die Wolkendecke durchbricht. Hier bietet sich ihm ein atemberaubender Anblick: In der Ferne ragt eine Stadt aus dem Wolkennebel: eine Stadt aus Glas, umspielt von leisen, gläsernen Tönen, erstrahlt im gleißenden Licht der Sonne. Als er näher kommt, erblickt Nimoroth die Silhouetten geflügelter Wesen. Plötzlich zuckt ein Blitz vom Himmel und die Stadt über den Wolken versinkt in Dunkelheit.
Schweißgebadet wachte Nimoroth auf.
„Alles in Ordnung?“, grummelte Grimwardt.
Winter half dem Elfen sich aufzusetzen. „Du hast den Zauber gesprochen und bist umgekippt.“
„Wie müssen ins Sonnenaufgangsgebirge“, sagte Nimoroth. „Die Klaue ist in Immerschwinge."
So musste es sein. Nimoroth kannte die Stadt der Avariel nur aus Mythen und Legenden. Doch was sonst konnte die Botschaft seiner Vision sein?
„Avariel?“, fragte Dorien überrascht. „Geflügelte Elfen? Was wollen die mit einem Drowartefakt?“
„Finden wir’s heraus.“

Winter
Am selben Abend in Pyrados, östliches Tay
„Wucherer“, knirschte Winter und verließ wütenden Schrittes das Gasthaus Zum Guckloch. Diese ganze Stadt war ein Nest aus Geizhälsen, Wucherern und Fremdenhassern. Nicht genug damit, dass Nimoroth, der einzige Elf der Gruppe, den doppelten Preis für sein Abendessen hatte zahlen müssen („Loyalitätszuschlag“, hatte der Gastwirt es genannt, als Absicherung, dass er nicht die tayanischen Sklavenfänger auf sie hetzte). Für jedes verdammte Wort, das aus seinem Mund drang, hatte der Schnösel mit dem aalglatten Grinsen eine Goldmünze verlangt. Nicht einmal den Namen des höchsten Berges des Sonnenaufgangsgebirges hatte er Winter ohne Bezahlung preisgeben wollen. Wenn seine Informationen sie wenigstens weiter gebracht hätten! Aber nein! Die Existenz von geflügelten Elfen hatte der Kerl für ein Märchen gehalten. Und als sie ihn nach einer gläsernen Stadt über den Wolken gefragt hatte, hatte er sie schlichtweg ausgelacht.
„Er kann es sich erlauben“, sagte Nimoroth, der die Erniedrigungen des Gastwirts mit stoischer Miene hingenommen hatte. „Pyrados ist die letzte Stadt vor dem Sonnenaufgangsgebirge. Alle Handelskarawanen nach Kara-Tur müssen hier durch. An Kundschaft mangelt es den Gastwirten hier sicher nicht.“
„Dem werd’ ich’s zeigen“, murmelte Winter und trat kurz entschlossen an ein altes Waschweib heran.
„Verzeiht, gute Frau, könnt Ihr mir sagen, wie der Name des höchsten Berges in dieser Gegend lautet?“
Die Frau beäugte die Gefährten misstrauisch.
„Das muss die Schmelzwasserspitze sein“, erwiderte sie, ohne dass der Argwohn aus ihrer Stimme wich.
Mit einem zuckersüßen Lächeln bedankte sich Winter bei der Frau und belohnte sie mit der Goldmünze, die sie dem Gastwirt des Gucklochs verweigert hatte. Da es im gesamten Sonnenaufgangsgebirge nur einen einzigen Berg gab, der über die Wolkendecke hinausragte, konnte sich die Stadt, die Nimoroth in seiner Vision gesehen hatte, nur auf jener Schmelzwasserspitze befinden.
Mit diesem Wissen machten sich die Gefährten auf den Weg zu einem Zauberladen, den der Wirt des Gucklochs ihnen empfohlen hatte, um sich die nötige Ausrüstung zu beschaffen. Der Besitzer des Ladens, ein jungenhafter Magier mit Segelohren, dem die tätowierte Glatze, die unter den Roten Magiern von Tay Brauch war, nicht eben zum Vorteil gereichte, verkaufte ihnen (natürlich zum doppelten Preis) Schriftrollen mit Atemzaubern gegen den abnehmenden Luftdruck im Hochgebirge, sowie Schutzzauber gegen die Kälte und einige grundlegende Bergsteigerutensilien. Gegen die entsprechende Bezahlung empfahl er ihnen auch einen Bergsteiger: Devon Jadsat.
Das Haus des Gebirgsführers, das die Gefährten kurz darauf ausfindig machten, sah wenig einladend aus: eine heruntergekommene Hütte mit verwüstetem Vorgarten im ärmeren Teil der Stadt. Der bissige Kläffer, der die Gefährten am Tor erwartete, ließ sich dank Nimoroths Beruhigungskünsten zähmen. Sein Herrchen, das kurz darauf fluchend aus dem Haus gestolpert kam, hatte durchaus das Potential, dem Hund in Sachen Ungekämmtheit die Schau zu stehlen. Die penetrante Alkoholfahne, die ihm anhaftete, machte ihn auch nicht unbedingt liebenswerter. Nach Austausch der üblichen Begrüßungsfloskeln kam Winter gleich auf ihr Anliegen zu sprechen.
„Die Schmelzwasserspitze?“ Devon lachte und zog die verschnupfte Nase hoch. „Ihr werdet keinen Gebirgsführer finden, der euch da hinauf bringt.“
„Wieso nicht?“
„Der Berg wird von einem unermüdlichen Hagelsturm umbraust, der den Aufstieg praktisch unmöglich macht. Ein Überbleibsel der alten Raumatar-Magie, wie die Roten Magier sagen. Dafür spricht auch, dass im Umkreis von fünf Meilen um die Schmelzwasserspitze keine Dimensionsreisen möglich sind. Die Magie des alten Imperiums ist noch mächtig in dieser Gegend.“
Die Gefährten sahen einander an. Das roch verdächtig nach einem Schutzmechanismus. Ein weiteres Indiz dafür, dass sich die Stadt der Avariel auf dem Berg befinden musste.
„Könnt Ihr uns denn bis zum Fuß der Schmelzwasserspitze führen?“
Devon kratzte sich am Hintern. „Ihr wollt es wirklich wissen, hm? Bedenkt aber, dass ich euch gewarnt habe. Für 400 Gold am Tag plus Verpflegungs- und Ausrüstungskosten kann ich euch hinbringen. Und mit einem Augenzwinkern fügte er hinzu. „Gegen ein Schlückchen Wein hin und wieder hätte ich natürlich auch nichts einzuwenden.“
Winter war erstaunt: Nach der Habgier des Gastwirts und den Wucherpreisen des Zauberhändlers hatte sie nicht mehr erwartet, hier so günstig davonzukommen.
„Ihr seid nicht von hier, oder?“, riet sie.
„Bei den Göttern, nein“, wehrte Devon ab. „Wir sind Herumtreiber, nicht wahr?“ Er tätschelte den Hund hinter den Ohren. „Denke nicht, dass es mich lange in diesem Nest von Halunken und Halsabschneider halten wird.“
Der Handel war schnell geschlossen und Devon, der nicht so übel war wie sein Geruch, zum Abendessen eingeladen. Seitdem Dorien sich eine außerdimensionale Villa im Taschenformat zugelegt hatte, die sich an jedem beliebigen Ort in Originalgröße aufzaubern ließ, und Tempus Grimwardt die Fähigkeit gewehrt hatte, Heldenmahle zu erschaffen, die eine ganze Armee verköstigt hätten, waren abendliche Festgelage bei den Gefährten an der Tagesordnung. Devon hatte nichts dagegen einzuwenden, die Nächte im Gebirge zur Abwechslung in einem weichen Federbett zu verbringen und der tägliche Kulturschock (oder besser: Naturschock), wenn sie aus dem prunkvollen Ambiente des Herrenhauses in die Eiseskälte des Hochgebirges hinaustraten, war ein wahrlich geringer Preis für die Annehmlichkeiten, die Doriens Villa ihnen bot.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 18. Oktober 2009, 20:03:51
Nimoroth
Etwa eine Woche später im Sonnenaufgangsgebirge
Früh am Morgen hatten sie sich von Devon Jadsat und seinem tierischen Begleiter verabschiedet. Inzwischen war es Nachmittag und der Fuß der Schmelzwasserspitze lag schon meilenweit unter ihnen. Die Kälte, die Nimoroth selbst noch durch die magische Schutzschicht spürte, die seinen Körper vor dem Schlimmsten schützte, und die Erschöpfung, die sich unter den Gefährten breitgemacht hatte, waren nicht der einzige Grund für ihre Schweigsamkeit. Etwa zwei Stunden war es her, dass sie das beständige Tosen des Hagelsturms, von dem Devon gesprochen hatte, zum ersten Mal vernommen hatten. Seither war das monotone Dröhnen immer lauter geworden, bis es sich wie ein Knebel über ihre Ohren gelegt und jede Kommunikation unmöglich gemacht hatte. Um sich im dichter werdenden Wolkennebel nicht zu verlieren, hatten die Gefährten sich mit Seilen aneinander gekettet. Alles, was Nimoroth sehen konnte, war Grimwardts breite Rüstung vor ihm; alles andere verschwand hinter einem Schleier der Unkenntlichkeit. Und so kletterten sie, all ihrer Sinne beraubt, Stunde um Stunde in die Höhe.
Und dann prasselten die ersten Hagelkörner auf sie ein.
Zunächst schienen die feinen Körnchen harmlos. Doch der Wind wurde stärker und beschleunigte die eisigen Geschosse, die sich wie Pfeile einen Weg durch die Kleidung der Gefährten bohrten. Mit Sorge gewahrte Nimoroth Doriens Flüche hinter sich. Er und Winter würden diese Tortur nicht lange überstehen. Dann spürte er Winters Hand auf seiner Schulter. Ein Flugzauber. Fliegend übernahm Nimoroth die Führung und führte die Gruppe, sich im Neunzig-Grad-Winkel von der Bergwand fortbewegend, aus dem Hagelsturm hinaus. Die Wolkenschlieren, die ihn umgaben, nahmen ihm jede Orientierung. Endlich, nach einer halben Ewigkeit, durchstießen sie, die Wolkenschicht. Etwa eine Meile entfernt erblickte Nimoroth die Stadt aus seiner Vision: Im Licht der untergehenden Sonne erhob sich Immerschwinge, die sagenumwobene Stadt der Avariel, aus dem glühenden Wolkenmeer.
„Und wo ist sie nun, deine gläserne Stadt?“
Nimoroth wandte sich verständnislosen Blickes zu Grimwardt um.
„Soll das heißen, du kannst sie nicht sehen?“
Seine drei menschlichen Begleiter sahen ihn an als habe er den Verstand verloren. Eine Illusion also. Das erklärte, wie es den Avariel über all die Jahrhunderte gelungen war, die Existenz der Stadt vor den Augen der Welt geheim zu halten. Gerade wollte er seine Entdeckung seinen Gefährten mitteilen, als sechs Avariel-Krieger pfeilschnell aus der Wolkendecke stoben und sie mit gezückten Schwertern einkreisten. Ihre weißen Schwingen glühten rot im Abendlicht und auf ihren Stirnen trugen sie dünne, farbige Tätowierungen. Familieninsignien, wie Nimoroth vermutete. Die Blicke der Anführerin verhießen nichts Gutes.
„Was wollt Ihr in Immerschwinge?“, fragte sie in einem seltsam archaischen Elfisch. „Seit 1000 Jahren hat kein N’Tel-Quessir mehr die Stadt der Gläsernen Gesänge betreten. Allein das Wissen um ihre Existenz könnte euch eure Leben kosten.“
 „Wir haben ein Empfehlungsschreiben von Coronal Ilsevele Miritar von Cormanthyr“, erwiderte Nimoroth und überreichte der Anführerin das Schreiben, das sie von der Herrscherin von Myth Drannor erwirkt hatten. In drei Tagen sollte in der Stadt der Gläsernen Gesänge ein Portal nach Cormanthyr eingeweiht werden. Das Portal sollte dem Aufbau diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen zwischen den beiden Elfenreichen dienen. Das Schreiben, das die Herrscherin des Elfenhofs für die Gefährten verfasst hatte, wies diese als Bürger Myth Drannors aus, die – angeblich auf Geheiß des Elfenrats – dem Ereignis beiwohnen sollten. In Wahrheit galt das Schreiben lediglich dem Zweck, Nimoroths menschlichen Gefährten Einlass in die Stadt der Avariel zu verschaffen.
Die Anführerin überprüfte das Siegel und überreichte das Schreiben dann einem ihrer Krieger, der damit zur Stadt zurück flog.
„Mitkommen“, befahl sie schroff und führte die Gefährten zu einem Aussichtsturm, der auf einem nahe gelegenen Berggipfel gelegen war. Während die anderen sich im Innern des Turms ausruhten, suchte Nimoroth das Gespräch mit der Avariel-Kriegerin.
„Ihr seid nicht sehr gut auf menschlichen Besuch zu sprechen“, stellte er fest. Ihm war nicht entgangen, wie die Avariel seine menschlichen Freunde genannt hatte: N’Tel-Quessir – jene, die nicht dem Volk angehören. „Ihr haltet Euch für privilegiert.“
Die Avariel-Kriegerin starrte in die Ferne. „Wir sind privilegiert“, ließ sie sich schließlich zu einer Antwort herab und breitete demonstrativ ihre eindrucksvollen Schwingen aus. „Wer will das leugnen?“
„Hm“, machte Nimoroth. „Verleiht Euch das nicht eine gewisse Verantwortlichkeit jenen gegenüber, die es nicht sind?“
Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. „Ich hasse die Menschen nicht“, sagte sie schließlich. „Ich bemitleide sie. Ich bemitleide sie wie ich eine Kakerlake dafür bemitleide, dass sie so auf die Welt kommen musste: erdgebunden, parasitisch...“
Nimoroth seufzte. Wie oft hatte er diese Art von Argumentation schon gehört. Von beiden Seiten.
Sie mussten lange warten. Es war bereits dunkel, als Nimoroth drei Greifen gewahrte, die durch die Wolkendecke brachen und auf sie zuhielten. Auf dem Rücken des ersten saß ein Avariel, der in eine weiße Toga gewandet war: ein Diplomat, wenn Nimoroth seine Kleidung richtig deutete. Auf dem zweiten Greifen jedoch…
„Kalith!“, rief Nimoroth verblüfft.
Lachend schwang sich Kalith Lysan von seinem Reittier, kaum dass er festen Boden unter den Füßen spürte, und klopfte seinem Cousin grinsend auf die Schulter. Die anderen, die Nimoroths Ruf aus dem Aussichtsturm gelockt hatte, waren nicht minder erstaunt, den alten Gefährten anzutreffen.
„Ich bin als Botschafter des Elfenhofs hier. Ähnlich wie ihr, wie es scheint.“ Kalith warf Nimoroth einen seiner Ich-habe-wohl-einiges-verpasst-Blicke zu.
„Und das“, Er wies auf den Avariel, der mit ihm gekommen war. „Das ist Fürst Elijas Avalior, der Elf, der mich vor acht Jahren auf der Schattenebene gerettet hat.“
„Verzeiht die Verzögerungen“, erklärte der Avariel in akzentfreier Handelssprache. „Leider ist der Zeitpunkt Eurer Ankunft politisch etwas ungünstig gewählt.“ Er musterte die Gefährten aus kühlen grün-goldenen Augen, ehe sich der Ansatz eines Lächelns auf seinem Gesicht abzeichne. „Dennoch heiße ich Euch willkommen in der Stadt der Gläsernen Gesänge. Die Greife werden Euch nach Immerschwinge bringen.“

Grimwardt
Grimwardt umklammerte mit verkrampftem Griff den Sattelknauf, während sein Greif vorpreschte. Von Zaumzeug schienen diese geflügelten Spitzohren nicht viel zu halten. Grimwardt hasste es, keine Kontrolle über sein Reittier zu haben. Und wo sollte hier eine Stadt sein, wo es meilenweit nichts gab als Wolken und Sterne?
Und dann tauchte sie viel zu plötzlich vor ihm auf, überrumpelte ihn mit ihrer gläsernen Riesenhaftigkeit. Undeutlich vernahm er die Worte des Avarielfürsten, der ihnen erklärte, dass der äußere Ring des Mythals der Stadt verhinderte, dass sie aus der Ferne wahrgenommen werden konnte. Nur Elfen konnten sie sehen. Wie zuvorkommend.
Die Stadt unter Grimwardt war auf vier Plateaus auf dem Gipfel der Schmelzwasserspitze errichtet. Von Fürst Elijas erfuhren die Gefährten, dass die vier Plateaus die Gesellschaftspyramide der Avariel widerspiegelten: Das oberste und kleinste Plateau – das Kronplateau – bestand aus einem riesigen, tropischen Wald, in dessen Mitte sich der Orchideenpalast des Coronal erhob. Wie fast alle Gebäude in Immerschwinge war der Palast aus Glasstahl erbaut und durch Magie verstärkt. Das machte die gläsernen Gebäude, so filigran und zerbrechlich sie auch wirken mochten, geradezu unzerstörbar. Die Mischung aus Magie und Glasstahl erzeugte zudem einen singend-vibrierenden Ton, welcher der Stadt der Gläsernen Gesänge ihren Namen verlieh (und Grimwardt schon jetzt tierisch auf die Nerven ging). Das Ästhetenplateau unter dem Kronplateau beherbergte die wichtigsten Adelspaläste der Kleriker- und Magierfamilien. Das Kriegerplateau darunter war der Kaste der Valendár-Klingensänger vorbehalten, während das Bürgerplateau die Glasbläsereien, Silberweinkeltereien, Gasthäuser und Bürgerhäuser beherbergte. Verbunden waren die vier Plateaus durch einen durchgehenden Ringwall und ein wirres Geflecht kleiner Bäche und Kaskaden, die von Plateau zu Plateau sprangen, sich teilten, wieder vereinten und sich schließlich unterhalb der Wolkendecke in einem Wasserfall in den Thaylambar-Fluss ergossen.
Grimwardt war heilfroh, als er wieder festen Boden unter den Füßen spürte.
Der Palast der Avaliors, in dem sie für die Dauer ihres Aufenthalts untergebracht waren, befand sich auf dem Ästhetenplateau. Das Haus war in den Hang gebaut und Treppen gab es nicht. Da traf es sich gut, dass sie von Fürst Elijas Flugringe überreicht bekamen.
„Ein Begrüßungsgeschenk des Kronrats“, erklärte der Avarielfürst. „Sie funktionieren nur innerhalb des Mythals.“
Der Avarielfürst verabschiedete sich gleich nachdem er den Gefährten eine Einladung für den abendlichen Tränenball im Palais der Familie Shantilea überbracht hatte und überließ sie der Obhut seiner Haushälterin, einer ungeflügelten Elfe namens Lana. Als Nimoroth sie nach ihrer Heimat fragte, erlebten die Gefährten eine Überraschung.
„Meine Heimat ist hier“, erklärte die junge Elfe, während sie eilfertig damit beschäftigt war, den Gästen passende Kleidung für den abendlichen Ball zurechtzulegen. „Ich bin eine Avariel wie Fürst Elijas.“
Im Gespräch mit Lana erfuhren die Gefährten, dass nur etwas mehr als die Hälfte aller Avariel geflügelt waren. Vor zweitausend Jahren, nachdem das Volk der Avariel nach Überfällen weißer Drachen auf ihre Heimatstadt nur knapp dem Untergang entgangen war, hatte sich eine Heiratspolitik durchgesetzt, die vorschrieb, dass keine Hochzeiten zwischen ungeflügelten und geflügelten Avariel geschlossen werden durften, um die Wahrscheinlichkeit für die Geburten geflügelter Kinder zu erhöhen und das Volk der Avariel vor dem Aussterben zu bewahren. Das Resultat war eine gespaltene Gesellschaft. Ungeflügelten Avariel blieb für gewöhnlich der Werdegang als Magier, Priester oder Valendár-Krieger verwehrt; die meisten arbeiteten für den Adel der Stadt. Doch in jüngster Zeit hatte sich eine Gruppe von ungeflügelten Rebellen und geflügelten Sympathisanten in den umliegenden Bergen versteckt, um durch gelegentliche Überfälle auf Valendár-Patrouillen auf ihre Forderungen nach Gleichberechtigung aufmerksam zu machen.
Auch an der Isolationspolitik aus alten Zeiten hielt der Kronrat, der Immerschwinge regierte, noch heute eisern fest: Jahrtausendelang hatten die Avariel die Beziehungen zu allen nichtelfischen Völkern strikt gemieden und den Handel auf Immerdar und die Elfenzivilisationen des Hochwaldes beschränkt. Die Öffnung des Portals nach Myth Drannor, einer Stadt mit gemischter Bevölkerung, war darum ein Meilenstein in der Geschichte Immerschwinges. Ein erster Schritt der Eingliederung. Und ein äußerst umstrittenes Ereignis.
„Ihr seht also“, erklärte Lana. „Eure Anwesenheit hier ist so etwas wie ein Jahrtausendereignis. Wundert euch nicht, wenn man euch anstarren wird wie Jahrmarksattraktionen. Die meisten Elfen hier haben noch nie einen Menschen gesehen.“
„Was ist mit Euch?“, fragte Nimoroth. „Ihr erscheint mir recht… weltoffen. Weshalb geht Ihr nicht fort von hier, wenn man Euch hier wie eine Sklavin behandelt?“
Lana schüttelte den Kopf. „Elijas behandelt mich nicht wie eine Sklavin“, verteidigte sie ihren Herrn. „Er brachte mir Eure Sprache bei und lehrte mich die Geschichte der anderen Völker. Und ist es wirklich so schwer zu begreifen, weshalb die Ungeflügelten hier bleiben wollen? Sie wissen nichts von der Welt da draußen und fürchten sich vor dem, was sie nicht verstehen. Außerdem wurden wir wie die Geflügelten mit der Sehnsucht zu fliegen geboren. Näher als hier werden wir dem Himmel wohl niemals kommen.“
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 19. Oktober 2009, 13:02:16
Ist ne ganz schöne Arbeit, oder?  :wink:
Aber ich find´s gut, dass du dir die Mühe machst.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 19. Oktober 2009, 18:33:06
Noch macht's Spaß. Mal sehen wie lange das anhält ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 27. Oktober 2009, 01:29:41
Kapitel IV: Engelstränen

Winter
Eine Stunde später auf dem Ästetenplateau
Der Palast der Familie Shantilea war ein pompöses, achteckiges Glashaus mit zahlreichen Erkern und Türmen. Wie alle Gebäude der Stadt wirkte es kalt trotz des vielen Lichts - wie ein Spiegel der Seele seiner Bewohner. Von Lana hatten die Gefährten erfahren, dass die Shantileas eines der ältesten und einflussreichsten Häuser der Stadt waren. Die Familie brüstete sich damit, ihre Wurzeln bis zu dem Archon zurückverfolgen zu können, der der Legende nach das Volk der Avariel begründet hatte. Fürstin Mathalaya, die seit Jahrhunderten verbissen nach dem Thron des Coronals strebte, war die mächtigste Verfechterin des Kastensystems und eine erklärte Feindin der ungeflügelten Rebellen. Der Tränenball in ihrem Hause leitete traditionell ein dreitägiges Fest zum Gedenken an den Gründer Immerschwinges ein.
„Halt! Geht zurück, wo ihr hergekommen seid, Fremde!“ Verwirrt hob Winter den Kopf. Die Worte waren in gebrochener Gemeinsprache mit starkem elfischem Akzent gesprochen worden. Der junge Avariel, der ihnen mit dieser wenig schmeichelhaften Begrüßung aufwartete, versperrte den Gefährten schwebend und mit gezücktem Schwert den Weg zum Eingangsportal des Palasts. Sein blanker Schädel glänzte elfenbeinern im Mondschein und in seinen Augenwinkeln glitzerten künstliche Tränen. Die prächtigen, schneeweißen Schwingen hatte er zu ihrer vollen Breite entfaltet und aus seinen goldenen Augen musterte er die Gefährten mit unverhohlener Abscheu. Wäre sein Gesicht nicht verzerrt gewesen von jener Maske aus Hass und Arroganz, so hätte Winter über seine Schönheit nur staunen können. Als sie sich umsah, erkannte sie, dass sie und ihre Gefährten von fünf weiteren Avariel umzingelt waren. Sie alle hatten kahl rasierte Schädel und Tränen in den Augenwinkeln, wenn ihre Flügel auch nicht mit dem strahlenden Glanz des Anführers konkurrieren konnten. Dieser begann die Gefährten auf Elfisch zu beschimpfen, während die Ballgäste, die von allen Seiten herbei geströmt kamen, stehen blieben und mit verhaltener Neugier die Konfrontation verfolgten.
Nachdem er sich den Wortschwall des Goldäugigen eine zeitlang mit versteinerter Miene angehört hatte, rief Nimoroth ihm etwas in seiner Muttersprache zu. Es folgte ein hitziger Wortwechsel, der damit endete, dass Goldauge vor Nimoroth ausspuckte, sein Schwert in die Scheide steckte und davon flog. Seine Gefolgsleute taten es ihm gleich. 
„Was war denn das?“, fragte Winter.
„Er hat uns zum Kampf herausgefordert“, erwiderte Nimoroth mit düsterer Miene.
„Und?“
„Ich habe zugesagt“, erklärte der Elf. „Morgen gegen Mittag in der Arena auf der Bürgerebene.“
„Das war ein Fehler“, bemerkte Fürst Elijas, der die Konfrontation mit ausdrucksloser Miene verfolgt hatte.
„Warum?“
„Das war Silead Shantilea, der Sohn der Fürstin“, erwiderte Elijas. „Der kahlrasierte Schädel soll daran erinnern, von wem er abstammt, doch ihm haftet wenig Engelsgleiches an. Er ist ein skrupelloser Bandenführer; selbst seine Mutter hat sich öffentlich von ihm distanziert. Er ist bekannt dafür, dass er politische Machtkämpfe in der Arena austrägt. Bei vier Mann gegen einen kann er nur gewinnen. Unter Avariel gilt nur ein Kampf Mann zu Mann als fairer Kampf.“
„Auch gut“, knurrte Grimwardt. „Treten wir eben einzeln gegen ihn an.“
Elijas zuckte gleichgültig mit den Schultern und überreichte den Palastwachen die Einladungen. Die Gefährten folgten ihm in ein Atrium, das fünf Galerien und eine riesige Tanzfläche umfasste. In der Mitte erhob sich ein gläserner Baum, der bis unter die kristallene Kuppel des Palasts reichte.  Kaum hatten sie Platz genommen, erschien auf der obersten Galerie der Coronal an der Seite seiner jungen Gemahlin. Doch obgleich er aus Rücksicht auf die Besucher davon absah seine Eingangsrede auf Elfisch zu verlesen, schenkte Winter seinen Worten wenig Beachtung. Ihr Augenmerk war auf die Galerie unter ihm gerichtet, wo die Herrin des Hauses, Fürstin Mathalaya Shantilea, Platz genommen hatte: Ihre Flügel waren ebenso schneeweiß wie die ihres hitzköpfigen Sohnes, ihre Augen golden, ihr Haar silbrig-weiß und ihre Gesichtszüge so ebenmäßig wie aus Stein gemeißelt. Winter fiel zudem auf, dass die junge Gemahlin des Coronals dieselben celestischen Merkmale aufwies.
„Die Familienoberhäupter der  Shantileas pflegen untereinander zu heiraten, um die celestische Blutlinie nicht zu verunreinigen“, erklärte Elijas, der ihrem Blick gefolgt war, mit einem Anflug von Bitterkeit in der Stimme. „Silead und seine Schwester Vanya, die Frau des Coronals, sind das Resultat dieser Tradition.“
Winter blinzelte.
„Seht… ihr das auch“, fragte sie irritiert. Die anderen folgten verständnislos ihrem Blick.
„Ich meine den Kerl, der gerade mit blankem Schwert auf den König zufliegt.“
Der Abend wurde immer skurriler.
Elijas runzelte die Stirn, dann sprang er alarmiert auf und stieß einen Warnruf aus.
Er ist unsichtbar, durchzuckte Winter in diesem Moment die Erkenntnis. Durch eine magische Manipulation ihrer Augen war sie in der Lage Unsichtbares zu sehen.
Doch es war zu spät. Der Unsichtbare hatte die oberste Galerie bereits erreicht und nun schienen ihn auch die anderen sehen zu können. Ehe irgendwer reagieren konnte, hatte der Eindringling die Gemahlin des Coronals gepackt und hielt sie wie ein Schild vor sich, während er ihr drohend sein Schwert unter die Kehle hielt. Dolche wurden gezückt und Fürstin Mathalya rief nach den Wachen, doch niemand wagte etwas zu unternehmen. Winter reagierte schnell. Flüsternd sprach sie die magischen Worte eines Versetzungstricks und tauschte Platz und Aussehen mit der Geisel des Eindringlings. Dieser schien nichts zu bemerken. Seine blitzenden dunklen Augen flackerten spöttisch und seine eindrucksvollen Schwingen vibrierten leicht, als er seine Blicke über die Ballgesellschaft gleiten ließ. Der Coronal stand mit hilflos geballten Fäusten an Winters Seite und zischte einige Worte auf Elfisch. Winter horchte auf, als sie den Namen Thanduin aus seinem Mund vernahm.
Thanduin, der Rebellenführer.
Was folgte war ein weiteres Beispiel elfischer Selbstinszenierung.
 „Ein Vögelchen hat mir gezwitschert“, rief Thanduin an die Ballgesellschaft gewandt, „welch ungewöhnliche Gäste heute Abend hier sind.“ Er nickte in die Richtung von Winters Freunden. „Freunde aus Myth Drannor, es tut mir aufrichtig leid, dass dies der erste Eindruck ist, den Ihr von der Stadt der Gläsernen Gesänge bekommen sollt. Ich hoffe nur, dass Ihr Euch von all dem Lug und Trug nicht die Augen verschließen lasst. Die Einweihung des Portals nach Cormanthyr ist alles andere als eine Annäherung der Avariel an die guten Völker von Faerûn. Wusstet ihr, dass das geplante Portal nur in eine Richtung passierbar ist? Nun ratet mal in welche!“
Mit diesen Worten ließ der Rebellenführer von Winter ab und verschwand, wieder unsichtbar, in einem der Gänge, die von der Galerie abzweigten. Winter hörte, wie Fürstin Mathalaya mit klarer Stimme einen Befehl gab und sogleich wurde der Raum von Wachen gestürmt, die sich an die Fersen des Flüchtigen hefteten. 
Nachdem Winter ihr Verwechslungsspiel aufgeklärt hatte und die Gäste sich von dem Schock erholt hatten, wurde das Essen serviert. Fürst Elijas, dem plötzlich sehr daran gelegen schien, sich den Fragen seiner Gäste zu entziehen, entschuldigte sich noch vor der Vorspeise und verließ den Tisch, um sich anderen Gesprächen zuzuwenden. Den Gefährten war das nur Recht. Es gab viel zu besprechen. In wenigen Worten setzten sie Kalith über ihren eigentlichen Auftrag und die Todesklaue in Kenntnis. Die einseitige Öffnung des Portals warf neue Fragen auf. Grimwardt befürchtete, dass von hier aus ein Angriff auf Myth Drannor seinen Ursprung nehmen könnte. Irgendwer erschaffte eine Armee aus Untoten und Myth Drannor schien ein plausibles Angriffsziel. Doch wer profitierte davon? Die Rebellen, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen und die Regierung zu erpressen? Die Isolationisten, die von Anfang an gegen die Portalöffnung gewesen waren? Oder gab es eine dritte Partei, die noch nicht in Erscheinung getreten war? In jedem Fall musste die Herrscherin von Myth Drannor von der möglichen Gefahr unterrichtet werden.
Der Abend verlief schleppend. Ein Gespräch mit dem Coronal brachte den Gefährten keine neuen Erkenntnisse bis auf die, dass der Herrscher von Immerschwinge ein Schwächling und Zauderer war, der viel reden konnte ohne ein Wort zu sagen. Dorien war auch keine große Hilfe, da er es vorzog, sich auf der Tanzfläche mit diversen Avariel-Damen zu vergnügen, anstatt seinen Freunden bei ihren Ermittlungen zur Hand zu gehen. Sogar Grimwardt hatte eine Eroberung an Land gezogen. Amüsiert beobachtete Winter die steifen Tanzversuche ihres Bruders und die skeptisch-unbehagliche Miene, die er im Gespräch mit seiner geflügelten Tanzpartnerin an den Tag legte.
Dann wurde sie von Kalith abgelenkt, der ihr eine interessante Beobachtung mitteilte: Während des Auftritts des Rebellenführers hatte einer der Diener Elijas Avalior eine Nachricht zugesteckt. Ein Beweis dafür, dass der verschlossene Fürst mit den Rebellen im Bunde war? Winter wollte es genau wissen und stibitzte kurzerhand besagte Nachricht. Dank eines magischen Tricks, der es ihr erlaubte ihre Diebeskünste auch auf die Distanz anzuwenden, gelang es ihr sogar, den Zettel wieder unbemerkt in den Falten von Elijas’ Toga verschwinden zu lassen. Natürlich nicht, ohne dass sie sich von Nimoroth den Inhalt hätte übersetzen lassen.
Morgen Abend zur zehnten Stunde an der Alten Miene“, las Nimoroth vor. „Wenn das eine Falle ist, wirst du es bitter bereuen.
„Ich schätze, Elijas ist nicht der einzige, der morgen um zehn eine Verabredung hat“, sagte Winter nicht ohne eine Spur von Selbstgefälligkeit.
Der Abend hielt noch eine unangenehme Überraschung für Winter und ihre Freunde bereit, als sie bei der Rückkehr in Doriens Villa dieselbe von einer durchweg betrunkenen und größtenteils erotisierten Feiergesellschaft bevölkert vorfanden. Diverse Möbelstücke hatten unter den Auswirkungen der fatalen Mischung von Silberwein mit Aphrodisiakum zu leiden gehabt, sodass Doriens zehnköpfige Dienerschaft einem hätte leid tun können, hätte es sich bei dem Pulk eifriger Butler und Zofen nicht durchweg um magische Konstrukte gehandelt. Der Herr des Hauses, der Elijas’ Warnungen bezüglich der psychotischen Wirkung von Silberwein offenbar in den Wind geschlagen hatte, hatte sich mit zwei Avarieldamen in den Badethermen der Villa verschanzt.
Da der Hexenmeister an diesem Abend zu nichts mehr zu gebrauchen war, war es an Winter Nimoroth nach Myth Drannor zu begleiten, um Ilsevele Miritar von der möglichen Bedrohung des Elfenhofs und der geplanten einseitigen Öffnung des Portals zu unterrichten. Um den Mythal zu umgehen, wechselten sie zunächst von Doriens Villa aus die Ebene (was ihnen einen ungeplanten Aufenthalt im Mondsee bescherte) und teleportierten dann zur Stadt. Die Wachen am Tor verweigerten ihnen jedoch zu so später Stunde den Eintritt und zeigten sich recht unbeeindruckt von der Warnung - was nicht zuletzt an der wenig würdevollen Erscheinung ihrer pudelnassen Überbringer liegen mochte…

Nimoroth
Am nächsten Tag in der Arena
Ein traditioneller Klingensänger-Wettstreit bestand aus drei Runden. In der ersten Runde wurde allein mit Waffengewalt, in der zweiten nur mit Magie gekämpft. In der dritten Runde schließlich galt es, Kriegskunst und arkane Magie zu einem einheitlichen Kampfstil zu vereinen. Die Gefährten hatten sich mit dem Arenenmeister darauf geeinigt, dass sie einzeln gegen Silead antreten würden.
Grimwardt war als erster an der Reihe. Das Amphitheater, welches als Austragungsort diente, war bis auf die letzte Bank besetzt. Da der Kronrat Ausschreitungen zwischen Engelstränen und Sympathisanten der Rebellen befürchtete, waren auf den Tribünen Valendár-Wachen postiert. Weder Fürst Elijas noch die Mitglieder des Kronrats waren irgendwo zu sehen; offenbar wollte sich niemand der offiziell Neutralen am heutigen Tag auf diesem heißen politischen Pflaster sehen lassen. Wer hier war, der war entweder für oder gegen die Öffnung des Portals und die Forderungen der Rebellen. Dass die Gefährten als vermeintliche Gesandte Myth Drannors offiziell nichts mit den Rebellen verband, schien niemanden zu kümmern: Die Fremden traten gegen Silead Shantilea, den Anführer der Engelstränen, an und wandten sich damit gegen alles, was die Rebellen verabscheuten.
Trommelwirbel kündigte den Kampf an und die Gefährten wurden aus einer Versenkung im Boden in die Arena gezogen, während Silead mit ausgebreiteten Schwingen von der Decke herab schwebte. Nimoroth kam nicht umhin die verächtliche Symbolik in dieser Raumanordnung zu bemerken, beließ es aber bei einem stummen Kopfschütteln.
Der Kampf begann.
Wie ein Fels in der Brandung harrte Grimwardt, sein Turmschild erhoben und die Axt fest im Griff, der Angriffe seines Gegners, der im Sturzflug auf ihn hinab stürzte. Ein höhnisches Grinsen machte sich auf dem Gesicht des Avariel breit, als sein erster magisch verstärkter Schwerthieb Grimwardt bereits ins Wanken brachte. Der Tempuspriester schien weniger Glück zu haben – Sileads magische Spiegelbilder bereiteten ihm ernsthafte Schwierigkeiten. Dennoch bewegte er sich keinen Zentimeter vom Fleck. Der Hohn des Klingensängers, der Zauber um Zauber verprasste, um seine Angriffe zu verstärken, verwandelte sich schon bald in frustrierte Ungläubigkeit. Sein Gegner, den er nach dem ersten Angriff bereits abgeschrieben hatte, leistete erbitterten Widerstand. Dann ein letzter zorniger Angriff… und Grimwardt fiel.
„Schweinehund“, entfuhr es Winter. Sie half ihrem Bruder auf die Beine und stellte sich dem Klingensänger. Nimoroth hielt den Atem an. Es stand 1:0 für den Herausforderer. Winter durfte jetzt kein Fehler unterlaufen. Nimoroth fürchtete das launige Gemüt seiner Mitstreiterin. Umso größer war seine Verblüffung, als bereits Winters erster Zauber, ein Blitzgewitter sengender Strahlen, die sie in rasender Abfolge auf Silead abfeuerte, seine Niederlage besiegelte: Die Wucht des Aufpralls schleuderte den Avariel gegen die Bande und raubte ihm das Bewusstsein. Offenbar hatte Grimwardt ganze Arbeit geleistet: Der Avariel musste all seine Schutzzauber im Kampf gegen den zähen Priester verprasst haben. Winter brauchte einen Augenblick, um ihren schnellen Sieg zu begreifen, bevor sie sich vom Applaus der Menge berauschen ließ.
Nun war Nimoroth an der Reihe. Da das magische Feld, welches die Arena umgab, verhinderte, dass Arenenkämpfe tatsächlich blutig endeten, dauerte es nicht lange, bis Silead wieder auf den Beinen war. Die Erkenntnis von einer Menschenfrau besiegt worden zu sein, trieb den selbstgefälligen jungen Avariel zur Weißglut. Aller Hohn war von ihm abgefallen und nichts als blanker Hass starrte Nimoroth aus goldenen Augen entgegen. Silead preschte vor, doch Nimoroth war schneller. Mit irrsinniger Wucht stürmte er gegen seinen Gegner an und rang ihn zu Boden. Der Kampf war zu Ende noch ehe er so recht begonnen hatte. Nimoroth verkniff sich ein Grinsen, als er dem am Boden liegenden Silead die Hand reichte. Der Avariel warf ihm einen wutentbrannten Blick zu und spuckte vor ihm aus.
Doch gegen den aufbrausenden Applaus vermochte er nichts auszurichten.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 30. Oktober 2009, 00:02:57
Ja, das war schön... Nazis verdreschen :D
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 03. November 2009, 00:04:55
Kapitel V: Die verschwundene Magierin 

Grimwardt

Zwei Stunden später auf dem Ästhetenplateau
Grimwardt wartete vor der Zauberakademie auf seine Bekanntschaft vom letzten Abend. Immerhin schien sich das lächerliche Rumgehopse auf dem Ball gelohnt zu haben: Im Gespräch mit seiner Tanzpartnerin, einer jungen Adligen namens Iluvie, hatte Grimwardt erfahren, dass vor etwa sieben Jahren eine Magierin aus der Stadt verschwunden war, von der bekannt war, dass sie sich mit nekromantischen Studien beschäftigt hatte: der erste Hinweis auf die Todesklaue? Um mehr zu erfahren, hatte Grimwardt sich mit Iluvie vor der Kristallzitadelle verabredet. Sie wollte ihn mit dem Blinden Bibliothekar bekannt machen, den sie als das lebende Gedächtnis der Stadt beschrieben hatte. Als Chronist Immerschwinges war er einer der wenigen ungeflügelten Elfen, die sich den Respekt der Adelshäuser verdient hatten. Es hieß von ihm, dass er als Kind durch ein Portal aus dem besetzten Myth Drannor in die Stadt der gläsernen Gesänge geflohen sei.
Grimwardt musste nicht lange warten. Doch statt seiner Bekanntschaft vom letzten Abend trat eine junge Ungeflügelte - vermutlich eine Dienerin - an ihn heran und überreichte ihm zwei versiegelte Briefe. Auf dem einen stand sein Name, der andere war an Dorien gerichtet. In dem Brief an Grimwardt entschuldigte sich Iluvie für ihr Fernbleiben und erklärte, dass ihr Vater ihr und ihrer Schwester den Umgang mit den Fremden verboten hatte, nachdem ihm gewisse Gerüchte über unzüchtiges Treiben im Haus der Gesandten zu Ohren gekommen seien.
„Dorien mal wieder“, knurrte Grimwardt. Was hatte sich der Sune-Anhänger bloß dabei gedacht, ausgerechnet in einer Stadt über die Strenge zu schlagen, deren Heiratspolitik sogar Ehen zwischen Adligen und Ungeflügelten verbot?
Grimwardt blieb keine andere Wahl als die Magierschule allein zu erkunden. Die Kristallzitadelle bestand aus drei gläsernen Türmen, die wie bei einer Kristallformation auseinander wuchsen. Da es keine Türen gab, fragte Grimwardt einige Passanten und erfuhr, dass sich der Haupteingang auf dem Dach der Konstruktion befand. Zudem erhielt Grimwardt die eigenartige Auskunft, dass der Turm all jene wieder „ausspucke“, die keine Zugangsberechtigung hatten, was wohl vor allem den Ungeflügelten den Zugang zu magischen Schriften verwehren sollte. Grimwardt hatte Glück: Der Turm ließ ihn ein.
Die Bibliothek befand sich in einem inneren etagenlosen Turm, der den äußeren Turm in Form und Höhe nachahmte: Bücherregale bedeckten die Wände vom Boden bis unters Dach und geflügelte Avariel spazierten auf Brücken, die sich kreuz und quer durch den schier bodenlosen Bücherturm spannten. Grimwardt wurde allein vom Hingucken schwindelig.
Der Blinde Bibliothekar war gerade im Begriff einige schwere Folianten einzusortieren, als Grimwardt ihn entdeckte und sich beeilte ihm zur Hand zu gehen. Der Mondelf war so alt, dass er durchscheinend wirkte - geistergleich. Seine blicklosen Augen starrten ins Leere und auf seinen Schultern saß ein weißer Rabe. Als Grimwardt sich ihm näherte, wandte sich der Bibliothekar zu ihm um. Doch es waren die Blicke des Raben, die Grimwardt zu durchbohren schienen.
„Grimwardt Fedaykin“, erkannte der Bibliothekar noch ehe der Priester sich vorgestellt hatte. Seine Stimme knisterte wie zertretenes Laub. „Ein Gesandter Myth Drannors…  nach all den Jahren.“ Nachdem der Alte für eine Weile in Erinnerungen geschwelgt hatte, rückte Grimwardt mit seinen Fragen zu der verschwundenen Nekromantin heraus.
„Ja, ich entsinne mich“, sagte der Bibliothekar. „Anael Silbertau war eine der Elfen, die zusammen mit den Rückkehrern von Myth Drannor in die Stadt kamen.“ Als er Grimwardts fragenden Blick spürte, fügte er erklärend hinzu: „Der Kronrat sandte offiziell keine Truppen zur Unterstützung der Streitkräfte von Immerdar, doch einige junge Avariel zogen aus eigenem Entschluss aus, um sich dem Kreuzzug der Elfen anzuschließen. Als sie zurückkehrten, schlossen sich ihnen einige Mond- und Sonnenelfen an. Eine von ihnen war Anael Silbertau. Sie war in vielerlei Hinsicht… ungewöhnlich. Nicht viele Elfen studieren die Kunst der Nekromantie. In den meisten Elfenreichen ist die Todesmagie selbst in ihren erkenntnisbezogenen Ausrichtungen verboten, da der Gedanke der Manipulation lebender Materie nicht vereinbar ist mit dem Credo der Seldarine, dem Schutz allen Lebens. Ihr könnt Euch sicher denken, welch einen Eklat es auslöste, als Anael Silbertau bei der Kristallzitadelle um die Errichtung eines Lehrstuhls für Nekromantie bat. Der Meister der Mysterien forderte zunächst ihre Ausweisung. Doch zur gleichen Zeit sammelte Thanduin Aerdimon die ersten Rebellen um sich und da zu befürchten stand, dass sich Anael Silbertau aus Protest gegen die Politik der Kristallzitadelle den Rebellen anschloss, erklärte der Meister der Mysterien sich letztendlich bereit, ihre Forderungen zu erfüllen. Besser eine Nekromantin unter seiner Aufsicht als im Lager der Rebellen. Anael stand der neuen Disziplin vor, doch bereits nach zwei Wochen kehrte sie von einer ihrer Expeditionen in die umliegenden Berge nicht zurück. Der Meister der Mysterien ließ nach ihr suchen, doch ohne Erfolg. Damals vermuteten viele eine Verschwörung der Konformisten gegen die Nekromantin. Möglich, dass sie erpresst wurde die Stadt zu verlassen.“
„Wo verschwand sie?“, fragte Grimwardt.
„Das muss in einer der Ruinen gewesen sein“, erklärte der Blinde Bibliothekar. „Ihre Studien beschäftigten sich mit der Magie des alten Raumatar. Es gibt zwei größere Turmruinen in der näheren Umgebung, eine im westlichen und eine im östlichen Ausläufer des Gebirges.“
Grimwardt nickte. Er und seine Gefährten waren auf ihrem Weg durch die Berge auf Hinweise auf eine alte Menschenzivilisation gestoßen.
„Erzählt mit mehr über die Raumatar.“
„Ein Volk von Kriegsmagiern, doch sie sollen auch mit Nekromantie experimentiert haben. Die Zivilisation ging vor über 1000 Jahren unter und nichts als ein paar alte Ruinen sind geblieben.“
Grimwardt stellte noch ein paar Fragen zu der Nekromantin, zu den Studenten, die ihre Vorlesungen besucht hatten, und nach Namenslisten, doch hier konnte der Bibliothekar ihm nicht weiter helfen. Schließlich entschloss sich Grimwardt zu einem riskanten Schritt. Er erzählte dem alten Bibliothekar von der Todesklaue.
„Meine Gefährten und ich sind vom Hauptmann der Elfenritter von Myth Drannor mit dem Auftrag betraut worden, die gestohlene Klaue wiederzubeschaffen“, beendete Grimwardt seinen Bericht. Wie sie zu dieser Ehre gekommen waren, verschwieg er wohlweißlich.  „Unsere einzige Spur hat uns hierher geführt.“
„Die Todesklaue.“ Der Alte ließ die Worte im Raum schweben, als könne das seinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. „Nein“, erklärte er schließlich. „Der Name sagt mir nichts. Doch mir ist, als hätte ich schon einmal davon gehört. Allein der Name ist damals nicht gefallen.“
„Wer hat Euch damals danach gefragt?“   
„Das muss der Avalior-Junge gewesen sein.“
„Wer?“
„Verzeiht, ich lebe in der Vergangenheit. Fürst Elijas Avalior, meine ich. Er kam vor etwa acht Jahren zu mir und fragte nach Büchern zur Geschichte der Drow. Er suchte Informationen zu einem Artefakt, ganz wie jenes, das Ihr mir beschrieben habt. Doch ich konnte ihm so wenig weiterhelfen wie Euch heute.“
Grimwardt runzelte nachdenklich die Stirn. Offenbar war ihr Gastgeber nicht so neutral, wie er den Anschein erwecken wollte. Acht Jahre. Etwa zur gleichen Zeit war die Nekromantin verschwunden. Was auch immer damals geschehen war, der Schlüssel lag irgendwo in einer alten Bergruine.
„Eines noch“, Grimwardt räusperte sich. „Unsere kleine Unterhaltung bleibt doch unter uns, hm?“
Der Alte gluckste leise. „Grimwardt, was glaubt Ihr, weshalb die Adligen dieser Stadt mich, einen Mondlelf, in dieser Position akzeptieren? Ich gebe Informationen preis, das ist meine Aufgabe. Aber ich weiß auch, wann ich zu schweigen habe.“
Grimwardt nickte zufrieden. Er ließ sich einige Karten von der Umgebung zeigen, auf denen die Ruinen eingezeichnet waren, die der Alte erwähnt hatte, um sie zu kopieren. Beim Abzeichnen fiel ihm ein Ort auf, der auf der Karte als Drachenfriedhof ausgewiesen war. Der Name kam ihm bekannt vor. Delon Jadsat, der Bergführer, hatte ihn auf dem Hinweg erwähnt.
„Eine Eishöhle im östlichen Ausläufer des Gebirges“, erklärte der Bibliothekar, als Grimwardt ihn danach fragte. „So lange ich denken kann ist ein weißer Wyrm in einer Eiswand im Innern der Höhle eingeschlossen. Niemand weiß, wann oder woran er gestorben ist oder warum das Eis ihn eingeschlossen hat. Die Valendár-Patrouillen wagen sich nur selten in diese Gegend. Die Eishöhle gehört zum Gebiet der Frostriesen. Alle paar Jahrzehnte schickt Hochadmiralin Shelisale einen Erkundungstrupp aus, um sich zu vergewissern, dass der Drache noch dort ist und sich nicht der Drachenkult an seinen sterblichen Überresten vergriffen hat.“
Grimwardt bedankte sich und beieilte sich zu den anderen zurück zu kommen.
Es gab viel zu bereden.

Nimoroth
Zur gleichen Zeit in den Palastgärten
Während Grimwardt aufgebrochen war, um in der Zauberakademie dem Verschwinden der Magierin auf den Grund zu gehen, hatte sich Nimoroth mit Kalith und Winter auf die Suche nach Hochadmiral Shelisale Bareithior gemacht. Fürst Elijas hatte ihnen die Tochter des Coronal aus einer früheren Ehe als „die Einhornjungfrau“ vorgestellt. Nimoroth war bei diesem Titel aufmerksam geworden, da er sich an seine Vision erinnert fühlte. Sicher, das Einhorn war ein Symbol Mielikkis, doch die Göttin mochte ihm auch einen Hinweis gegeben haben, der ihm bei der Suche nach dem gestohlenen Artefakt dienlich sein konnte.
Im Hauptquartier der Valendár hatte eine Gruppe von Schülern, die sich an diesem Festtag einen Spaß erlaubt und die überlebensgroße Pappfigur eines verfassten Lehrers an der Fassade des Gebäudes aufgehängt hatten, den drei Besuchern weitergeholfen und sie in den Seldarinehain in den Palastgärten geschickt. Hier sei die Admiralin in ihrer Freizeit häufig anzutreffen.
Die Palastgärten waren ein ruhiger und beschaulicher Ort: ein wilder, blühender Garten, der dank seiner ungewöhnlichen Nähe zur Sonne und der magischen Bewässerungsmechanismen der Avariel eine beeindruckende Artenvielfalt zu bieten hatte. Sein größter Stolz war silye, die Silbertraube, die nur in Immerschwinge vorkam. Nach Glasstahl war Silberwein das bedeutendste Exportgut der Stadt der gläsernen Gesänge. Zwischen silye-Stauden und Schattenwipfeln befand sich ein kleiner Blaublatt-Hain. Seldarine-Schreine zwischen den bläulich glitzernden Stämmen der Blaublatte wiesen den Hain als einen heiligen Ort aus. Der größte Schrein war Aerdrie Faenya, der Hauptgöttin der Avariel, gewidmet. Die Einhornjungfrau jedoch kniete betend vor dem Schrein des Corellon. Nimoroth wollte auf sie zugehen, doch Winter hielt ihn zurück.
„Achte darauf, ob sie uns anlügt“, raunte sie ihm zu. 
„Das wird sie nicht“, flüsterte Nimoroth zurück. Er hatte gleich erkannt, dass die Einhornjungfrau nichts mit dem Verschwinden des Artefakts zu tun haben konnte: Die junge Avariel war von einer Aura der Güte und Rechtschaffenheit umgeben. Sie schien sich der Gegenwart der drei Fremden bewusst, sprach ihr Gebet jedoch zu Ende, ehe sie sich aufrichtete, um Nimoroth und seine Freunde zu begrüßen. Nach Austausch der üblichen Höflichkeiten begann Kalith damit, der Anführerin der Valendár Fragen zur geplanten Öffnung des Portals zu stellen.
„Hat dieser Rebellenführer die Wahrheit gesprochen?“
„Es ist noch nicht entschieden, ob das Portal nach Cormanthyr in beide Richtungen geöffnet werden wird.“, gab Shelisale zögernd zu und ihre ernsten grauen Augen waren unverwandt auf Kalith gerichtet. „Solange Ilsevele von Myth Drannor noch nicht der Zhentarim im Norden und der Drow des Waldes Herr geworden ist – ganz zu schweigen von der Unsaat, die sich noch immer in den Mauern der Stadt aufhält – solange würde durch eine beidseitige Portalöffnung für uns eine Gefahr bestehen. Doch ich will ehrlich zu Euch sein, Botschafter“, gestand sie Kalith: „Unsere größte Sorge gilt den Menschen und Halbelfen, denen wir dadurch die Tore der Stadt öffnen würden und deren Anwesenheit in Immerschwinge den Rebellen neuen Zündstoff liefern würde. Diese Stadt steht kurz vor einem Bürgerkrieg und diese Portalöffnung, so wünschenswert der Gedanke einer Annäherung auch sein mag, kommt zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Vergebt mir, doch ich kann diese Sache nicht gutheißen. Unsere einzige Waffe war seit jeher die Abgeschiedenheit. Wir sollten sie nicht so leichtfertig aufgeben.“
Nimoroth schätze die Ehrlichkeit der jungen Admiralin. Und doch kam er nicht umhin, den Funken von Überheblichkeit in ihren Worten zu bemerken. Kalith schien es ähnlich zu gehen.
„Ist die Frage nach der beidseitigen Öffnung des Portals nicht eine Sache, die auch Myth Drannor etwas angeht?“, fragte er.
„Es tut mir leid“, sagte Shelisale ein wenig steif. „Ich kann Euch und Eure Königin nur bitten, Verständnis für unsere Situation zu zeigen.“
Ihr Blick verlor sich in der Ferne und für eine Weile war es still. Als die Einhornjungfrau wieder sprach, hatte sich ein bitterer Zug um ihre Mundwinkel gebildet.
„Mein Vater hätte die Chance Fürstin Mathalaya zu entmachten ergreifen sollen als sie sich ihm bot“, sagte sie mit einer Härte, die Nimoroth der zarten Elfe gar nicht zugetraut hätte. Er begriff, dass sie über ein Thema sprach, was bei Hof tabu war. „Damals, als das verfluchte Kind geboren wurde, hätte er juristisch das Recht dazu gehabt, die Shantilea und ihre elenden Kinder aus der Stadt zu verbannen.“
„Welches Kind?“, fragte Nimoroth.
„Vanyas Kind. Der rechtmäßige Thronfolger. Es starb gleich nach der Geburt. Die Priesterin behauptete, es sei ohne Seele zur Welt gekommen. Wollt ihr wissen, weshalb die Seldarine ihm eine Seele verweigerten? Sie verdammten diese Missgeburt als ein Zeugnis der Unzucht zwischen der Hure Vanya Shantilea und ihrem degenerierten Bruder.“
Kalith und Winter waren zusammengezuckt; Nimoroth erstarrte.
„Ein Kind ohne Seele?“, wiederholte er. Sofort stand ihm alles wieder vor Augen. Ihre vergebliche Suche nach dem Seelenquell. Die jahrelangen Studien, in denen er das Geheimnis um die seelenlosen Geburten zu lüften versucht hatte.
„Ich denke nicht, dass die Götter dieses Kind verdammt haben“, sagte er mit belegter Stimme.
Ein weiteres Opfer.    
Wer wusste, wie viele es dort draußen noch gab?
Nimoroth erwachte aus seiner Starre, als ein leiser Windhauch seine Wange streifte. Die Zweige der Blaublatt-Bäume teilten sich und ein geflügeltes Einhorn tauchte aus dem Dickicht des Waldes. In seinen klugen schwarzen Augen leuchtete ein celestisches Licht. Als Nimoroth sich dem Tier näherte, schreckte es zurück.
„Sie lässt sich nur von Jungfrauen berühren“, erklärte Shelisale, während sie dem Einhorn sanft die Nüstern streichelte.

Winter
Kurz darauf in der Nähe der Drachenhöhle
„Ein Liebesbrief, hm?“, löcherte Winter einen verkaterten Dorien, während die Gefährten durch die Kälte stapften. Grimwardt hatte darauf bestanden den Ort, den der Blinde Bibliothekar ihm auf der Karte gezeigt hatte, genauer unter die Lupe zu nehmen. Winter musste sich jedoch eingestehen, dass sie keine Ahnung hatte, was sie hier eigentlich suchten. Während des Berichts ihres Bruders hatte ihre ganze Aufmerksamkeit dem Brief gegolten, den Grimwardt Dorien mit einem Grummeln auf die Brust gedrückt hatte und sie hatte keine Ruhe gegeben, ehe Nimoroth ihr den Inhalt übersetzt hatte. Als sie die Drachenhöhle erreichten, war sie noch nicht einmal annähernd mit ihm fertig, und erst, als Grimwardt sie zur Ordnung rief, weil ihre Stimme von den Wänden widerhallte, hielt sie für einen Augenblick die Luft an.
In diesem Moment setzte der Gesang ein. Ein grollender Singsang.
Kalith und Nimoroth tauschten einen Blick und der Druide wechselte lautlos die Gestalt. Ein Schneehase flitzte kurz darauf zwischen Winters Beinen hindurch. Winter konzentrierte sich auf ihre Mission und schloss, einen Zauber auf den Lippen, die Augen, um die Gedanken der mysteriösen Höhlenbesucher wahrzunehmen.
„Verfluchter Mist“, entfuhr es ihr.
„Was ist?“
„Sie haben mich bemerkt. Jetzt wissen sie, dass wir hier sind.“
Grimwardt war bereits vorausgeeilt. Winter, Dorien und Kalith folgten ihm und betraten kurz darauf eine Eishöhle von gigantischem Ausmaß. An einer Seite des Raumes waren große Stücke aus der Eiswand heraus gebrochen. Vor den weißen Trümmern kauerte ein Frostriesenschamane mit einem zähnefletschenden Winterwolf, flankiert von zwei bewaffneten Kriegern, die ihre Knüppel gegen die Eindringlinge erhoben hatten und mit blutgiereigen Blicken auf den Befehl zum Angriff warteten. Kaum hatte der Schamane seine Stimme erhoben, preschten sie auch schon vor. Der Schneehase, der als erster die Höhle erreichte, verwandelte sich im Sprung und hielt geradewegs auf den Schamanen zu. Der schleuderte ihm mit wütendem Gebrüll einen mannsgroßen Eiszapfen entgegen, den er mit bloßen Händen aus dem Boden riss, doch das Geschoss verfehlte Nimoroth um Haaresbreite. Als dieser den Schamanen erreichte, gab es längst nichts mehr zu tun: Ein Zauber Doriens hatte den Schamanen in einen Schmetterling verwandelt; Winters sengende Strahlen waren dem Winterwolf zum Verhängnis geworden und Kalith und Grimwardt hatten sich um die beiden Barbaren gekümmert.
„Ein Schmetterling?“ protestierte Winter und stemmte empört die Hände in die Hüften. „Dorien, er wird in der Kälte elendig zugrunde gehen! Etwas Brutaleres ist dir wohl nicht eingefallen, hm?“
Dorien erwiderte die Anschuldigung mit einem seiner säuerlichen schlechter-Tag-Blicke und wandte sich Grimwardt und Kalith zu, die einen der bewusstlosen Frostriesen mit ihren Waffen bedrohten.
„Verwandle ihn in irgendetwas Harmloses“, kommandierte Grimwardt. „Ich will ihn befragen.“
Dorien tat wie ihm geheißen und kurz darauf erwachte Gargantul der Fürchterliche als greiser Gnom.
„Na, der Name war wohl etwas hochgegriffen“, kommentierte Nimoroth trocken. Gargantul winselte beschämt und schielte nach seinem Knüppel. Offenbar verbot es ihm seine Frostriesenehre in der Gestalt von etwas zu leben, das weniger wog als seine rechte Faust.
„Wenn du jemals wieder in der Lage sein willst, diesen Knüppel auch nur anzuheben“, knurrte Grimwardt. „dann erzähl uns, warum ihr uns angegriffen habt und was ihr hier tut.“
Mit einem Stimmchen, das ihm die Schamesröte ins Gesicht trieb, begann der verwandelte Frostriese zu erzählen: Er und sein Volk hatten den weißen Wyrm, der hier bis vor acht Jahren im Eis eingeschlossen gewesen war, als ihre Göttin verehrt. Noch immer kamen sie oft her, um ihr Andenken zu bewahren und ihr Opfer darzubringen.
„Einmal im Jahr“, erklärte Gargantul, „kommt auferstandene Göttin ins Dorf. Nimmt die besten unserer Krieger mit, um sie zu ihren Dienern zu machen.“
„Auserwählte, so so“, grummelte Grimwardt. „Und wie genau funktioniert das: dass sie sie zu ihren Dienern macht?“
„Ein Opfertod“, erklärter Gargantul. „Ein guter Tod. Göttin nimmt die Toten mit wenn wir sie das nächste Mal sehen sind sie… verändert. Göttlicher.“
Grimwardt wandte sich mit viel sagendem Blick zu den anderen um. Nimoroth nickte besorgt.
„Untote“, sagte er. „Irgendwer hat vor acht Jahren den toten Drachen aufgeweckt und rekrutiert nun eine Armee.“
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 06. November 2009, 16:27:43
hatte der Bibliothekar eigentlich Stufen?
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 07. November 2009, 01:17:02
Nö, wenn ihr im Turm der Mysterien einen Kampf losgebrochen hättet, wäre der Bibliothekar noch eure geringste Sorge gewesen;)... Hätte er Stufen gehabt, wäre er wahrscheinlich episch gewesen, aber kein Hochmagier - das hätten die Avariel dann doch nicht zugelassen. Warum fragst du? 
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 07. November 2009, 02:13:27
Der machte einen so überlegenen Eindruck...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 12. November 2009, 23:11:43
Nimoroth
Abends an der alten Miene
Nimoroth hing kopfüber über dem Eingang der Höhle und wartete. Er mochte diese Gestalt. Seine Ohren nahmen selbst das leiseste Geräusch wahr und die Fähigkeit in völliger Dunkelheit sehen zu können, hatte ihm schon so manches Mal zum Vorteil gereicht. Außerdem waren Fledermäuse schnell und wendig und zu alltäglich, um Misstrauen zu erregen. Abgesehen davon war sein Versteck um einiges geräumiger als das seiner Freunde, die zu viert unter einer magischen Illusion zwischen den Felsen harrten. Sie warteten auf Elijas Avalior und seinen Kontaktmann. Winter hatte auf dem Tränenball eine Nachricht abgefangen, die ein geheimes Treffen zwischen dem Fürsten und den Rebellen vermuten ließ.
Plötzlich ein gleißendes Licht.
In Nimoroths schwarzen Augen spiegelte sich das Feuer, als ein sengender Strahl die Illusion durchbrach, unter der sich die anderen versteckt hielten. Abwartend starrte er in Richtung der Felsen, bereit in Windeseile seine Gestalt zu wechseln, falls es zum Kampf kommen sollte. Zwei Ungeflügelte traten mit gezogenen Waffen aus dem Nichts; ein Avariel landete mit ausgebreiteten Schwingen ein Stück von ihnen entfernt. Nimoroth erkannte ihn als den Rebellenführer Thanduin, dessen Auftritt auf dem Ball der Shantileas für einiges Aufsehen gesorgt hatte. Die Rebellen mussten sich unter einer magischen Aura der Unsichtbarkeit und Stille angeschlichen haben, denn Nimoroth hatte sie trotz seiner geschärften Sinne nicht kommen gehört.
Wenn das eine Falle ist, wirst du es bitter bereuen, erinnerte er sich an den Wortlaut der Nachricht. Offenbar hatten die Rebellen mit einem Hinterhalt gerechnet. Doch das hatten sie offenbar nicht erwartet.
„Halt!“, befahl Thanduin den anderen beiden auf Elfisch. „Es sind die Fremden.“
Seine beiden Begleiter traten zurück, ließen ihre Waffen jedoch gezückt.
„Ist das einer deiner Tricks, Elijas?“, fragte Thanduin argwöhnisch. Auf sein Zeichen hin wirkte einer der Ungeflügelten einen Erkenntniszauber. Einen Augenblick später gab er nickend Entwarnung. Keine Illusion. Nimoroth entspannte sich.
„Verzeiht die feurige Begrüßung“, entschuldigte sich der Rebellenführer und musterte die ertappten Spione mit einer Mischung aus Erheiterung und Achtsamkeit. Seine Flügel waren weiß mit schwarzen Schwungfedern und die dunklen Ringe unter seinen Augen zeugten ebenso wie seine verschmutze Elfenrüstung vom harten  Leben in den Bergen. „Ich glaube, ihr seid mir eine Erklärung schuldig.“
Von seinem Versteck aus beobachtete Nimoroth wie er die anderen in die Höhle führte, während die seine Begleiter vor dem Höhleneingang Wache hielten. Winter setzte zu einer weitschweifigen Lüge an, kaum dass sie die Miene betreten hatten. Doch Grimwardt winkte ab. Offenbar hielt er in diesem Fall die Wahrheit für angebrachter. Nachdem er seinen Bericht beendet hatte, blickte Thanduin eine zeitlang grüblerisch von einem zum anderen.
„Ein gestohlenes Drowartefakt, ein untoter Drache und eine verschwundene Nekromantin“, fasste er zusammen. „Und ihr glaubt, dass Elijas mit all dem etwas zu tun haben könnte?“
„Um das herauszufinden, sind wir hier“, erklärte Grimwardt. „Habt Ihr eine Ahnung, weshalb er mit Euch sprechen will?“
„Nein“, erklärte Thanduin. Ein düsterer Funke trat in seine heiteren Augen und er zögerte, ehe er fortfuhr. „Elijas und ich waren Freunde… Waffenbrüder. Damals in Myth Drannor. Der Elfenkreuzzug hat viele von uns verändert. Für viele war es das erste Mal, dass sie die Welt jenseits der Berge kennen lernten. Mit der neuen Welt kamen neue Ideen. Wir begannen die Gesellschaftsordnung unserer Väter in Frage zu stellen. Wenn alles Leben den gleichen Wert hat, wie der Kronrat und die Gueserim predigten, weshalb behandelten wir die Ungeflügelten wie Bürger zweiter Klasse? Wieso ließen wir die Welt im Stich, deren krönende Spitze wir angeblich waren? Fragen, denen wir uns stellen mussten.“ Er breitete selbstironisch die Arme aus. „Ihr wisst, wohin sie mich geführt haben. Elijas und ich riefen die Bewegung der Rebellen gemeinsam ins Leben. Doch Elijas ging die Sache zu weit, als wir anfingen, Patrouillen anzugreifen. Er sagte, wir steuerten auf einen Bürgerkrieg zu, den wir nicht gewinnen können.“ Thanduins Züge wurden hart. „Und dann verriet er mich an den Kronrat. Als Admiral der Valendár hatte ich heimlich angefangen, Ungeflügelte in den Kriegskünsten der Klingensänger auszubilden. Elijas verriet mich an seine Tante. Dadurch war ich gezwungen, aus der Stadt zu fliehen, um der Verhaftung zu entgehen.“
„Seine Tante?“, entfuhr es Winter.
Thanduin schnaubte düster. „Das hat er wohl vergessen zu erwähnen, wie? Seine Mutter war die Schwester der Fürstin Shantilea.“
„Dann steht er also jetzt auf deren Seite?“
„Unwahrscheinlich. Die Shantileas lassen niemanden in den engeren Kreis, der nicht reinen Blutes ist.“
„Vielleicht hat er versucht, in diesen Kreis hinein zu kommen.“
Thanduin zuckte mit den Schultern.
„Was ist mit der Nekromantin?“, bohrte Winter weiter. „Anael Silbertau, die verschwundene Magierin. Hat Elijas je von ihr gesprochen? Vielleicht hat er einige ihrer Vorlesungen besucht?“
„Gut möglich. Anael Silbertau war seine Geliebte.“
„Seine…? Oh.“
„Heimliche Geliebte, genauer gesagt. Sie war schließlich eine Ungeflügelte und er stammt aus einer hoch angesehenen Familie.“
„Und nun trefft ihr Euch hier mit ihm, obwohl er Euch verraten hat?“, wunderte sich Kalith. „Haltet ihr das nicht für…“
„…einen Fehler?“ Thanduin lächelte schief. „Vielleicht. Ich bin neugierig, das ist alles.“
In diesem Moment trat einer der beiden Rebellen, die vor der Höhle Wache hielten, an Thanduin heran, um Elijas’ Ankunft anzukündigen. Während seine Freunde sich in einem der Stollen versteckten, kroch Nimoroth an der Decke entlang nach draußen, wo Elijas gerade von dem zweiten Rebellen nach Waffen durchsucht wurde. Der Avariel zögerte, bevor er die Höhle betrat, und blieb schließlich unschlüssig im Höhleneingang stehen.
„Elijas.“ Thanduin trat aus dem Dunkel der Höhle auf ihn zu.
„Können wir nicht draußen reden?“ Elijas’ Blicke streiften unruhig das Höhleninnere. „Du weißt, was ich von geschlossenen Räumen halte.“
Klaustrophobie, dachte Nimoroth. Eine Schwäche, die zu kennen ihnen womöglich von Vorteil sein konnte.
„Rede.“ Argwöhnisch verschränkte der Rebellenführer die Arme vor der Brust.
„Komm morgen während der Portalöffnung in die Stadt.“
„Warum?“
„Die Bürger der Stadt sollen sehen, dass du die Portalöffnung unterstützt. Es ist ein Schritt in die richtige Richtung.“
„Die Wachen werden mich festnehmen, ehe ich die Festwiese erreiche.“
„Nein. Vertrau mir. Niemand wird dich aufhalten.“
„Dir vertrauen?“ Thanduin zog ironisch eine Augenbraue in die Höhe. „Klar. Sehr überzeugend.“
Für einen Augenblick maß Elijas Avalior seinen einstigen Freund mit kühlen Blicken.
„Welche Alternative hast du, Thanduin?“, fragte er schließlich mit leiser, schneidender Stimme. „Willst du die Revolution ausrufen und Mathalaya das perfekte Alibi liefern, endgültig mit dir und deinen Leuten abzurechnen? Komm morgen oder führe deine Freunde in den Untergang. Deine Entscheidung.“
Mit diesen Worten wandte er sich um und flog davon. Nimoroth folgte ihm. Doch schon nach kurzem hatte er den Avariel im Nebel verloren. Er war schnell. Verdammt schnell.
Als Nimoroth wieder am Treffpunkt an der Alten Miene eintraf, waren Thanduin und seine beiden Begleiter bereits im Aufbruch.
„Reine Zeitverschwendung“, knurrte der Rebellenführer, während er wütend aus der Höhle stapfte.
„Dann werdet Ihr also nicht darauf eingehen?“, fragte Winter, die ihm gefolgt war.
„Und geradewegs in die Falle tappen?“, schnaubte Thanduin. „Glaubt er, ich sei zu blöd oder dieser Hinterhalt zu offensichtlich?“ Doch seine Blicke glitten unruhig über die Landschaft und sein Zorn bezeugte, dass Elijas’ Warnung ihn an einem wunden Punkt getroffen hatte.
„Eines noch“, wollte Winter wissen. „Wenn Ihr nicht in die Stadt hinein könnt, wie erklärt sich dann Euer Auftritt auf dem Tränenball?“
Thanduin sah sie verdutzt an. Dann lachte er plötzlich auf und seine düstere Stimmung hellte sich ein wenig auf.
„Ein Bubenstreich“, sagte er zwinkernd. „Wie ich sagte: Ich war Admiral bei den Valendár. Schön zu wissen, dass sich der ein oder anderer meiner Schüler noch an mich erinnert.“
Nachdem Thanduin und die beiden Rebellen den Treffpunkt verlassen hatten, verwandelte sich Nimoroth zurück.
„Und?“, fragte Winter. „Was hältst du davon?“
„Ich bin nicht sicher“, sagte Nimoroth. „Aber irgendetwas wird morgen bei der Portalöffnung geschehen und Elijas Avalior scheint mehr darüber zu wissen. Wir sollten ihm einen Besuch abstatten.“
Winter nickte.

Kalith
Am nächsten Tag im Sonnenaufgangsgebirge
Ihnen blieb nicht viel Zeit, um die verschwundene Nekromantin zu finden. Die Portalöffnung sollte zur siebten Stunde stattfinden und selbst auf den Greifen, die sie geliehen hatten, dauerte der Flug bis zur Ruine mehr als vier Stunden.
Als sie am Abend zuvor nach Immerschwinge zurückgekehrt waren, hatten sie Elijas nicht in seinem Palast angetroffen. Kalith hatte daraufhin zusammen mit Nimoroth die Hochadmiralin der Valendár aufgesucht, um sie von der möglichen Bedrohung zu unterrichten und einen Haftbefehl für den Avarielfürst zu erwirken. Doch wie sie befürchtet hatten, waren der Einhornjungfrau die Hände gebunden, solange nichts Konkretes gegen Elijas Avalior vorlag. Sie hatte den Cousins lediglich zusichern können, dass sie die Wachen, die um die Festwiese placiert werden sollten, verstärken und auf einen möglichen Anschlag vorbereiten würde.
Während die Täler und Berge des Sonnenaufgangsgebirges unter ihnen dahin flogen, hing Kalith seinen Gedanken nach. Erster Leutnant unter Hauptmann Fflar Sternbraue und Botschafter von Myth Drannor. So war nun sein offizieller Titel. Er hatte es weit gebracht. Mit nicht einmal 100 Jahren hielt er die drittwichtigste Position am Elfenhof von Cormanthyr inne. Und doch blieb ein Funken Wermut. Kalith war sich bewusst, dass ihm ohne Aryvelahr Kerym keine dieser Ehren jemals zuteil geworden wäre. Was, wenn er es einfach hätte im Staub der Arena liegenlassen, jenes verrostete alte Schwert? Damals in jener Ruinenstadt im Unterreich? Was wenn Corellon ihn nicht als Träger einer Elfenklinge für würdig erachtet hätte? Man hätte ihn nie nach Myth Drannor eingeladen, hätte ihm nie einen Sitz im Elfenrat angeboten. Manchmal fragte er sich, was die Großen von Myth Drannor tatsächlich von ihm hielten. All die Mondelefen, die respektvoll den Kopf neigten, wenn er ihnen morgens auf dem Weg ins Hauptquartier der Elfenritter begegnete. Genau wie Fürstin Ilsevele war er ein Auserwählter Corellons; sie würden seinen Machtanspruch niemals öffentlich in Frage stellen. Und doch: Er war ein Waldelf, ein Unzivilisierter in den Augen vieler. Er würde niemals wirklich Teil ihrer Gesellschaft sein und manchmal fragte er sich, ob er das überhaupt gewollt hätte, wenn er eine Wahl gehabt hätte. Er war ein Krieger und Abenteurer; die Diplomatie lag ihm nicht. Nimoroth sollte Botschafter von Myth Drannor sein, nicht er.
„Das muss es sein“, übertönte in diesem Moment Winters Ausruf seine Gedanken.
Die Greifen kreisten über einer kleinen Flussinsel, die den Thaylambar westlich der Wasserfälle teilte. In ihrer Mitte erhoben sich die Ruinen eines ehemaligen Außenpostens der Raumatar. Die Gefährten ließen sich bei der Ruine absetzen. Nur ein paar überwucherte Mauern und Schutthaufen, längst von der Natur zurück erobert, waren von der Festung geblieben. Die Gefährten begannen sofort mit der Suche nach einem Zugang zu den unterirdischen Gängen des ehemaligen Gebäudekomplexes.
Kalith fand durch einen Erkenntniszauber heraus, dass es auf der anderen Flussseite einen Geheimgang gab. Wahrscheinlich ein Fluchtweg für Notfälle. Dort angekommen, fanden sie eine Bodenklappe, die eine Stufenleiter enthüllte, die in einem Gang endete, der unter dem Fluss hindurch in die Kellerräume der Festungsanlagen führte. Die Gefährten passierten Gänge, von denen ehemalige Vorratskammern abzweigen, und gelangten schließlich in einen alten Gefängnistrakt. Winter, die alle Türen nach Fallen untersuchte, führte die kleine Gruppe an; Kalith bildete das Schlusslicht. Als sie um eine Ecke in einen weiteren Gang einbogen, schrie Winter plötzlich auf. Im nächsten Moment senkte sich die Decke auf sie herab und…. verschlang sie.
Kalith erhaschte gerade noch einen Blick auf drei schleimige Tentakel, die aus dem gigantischen Schlund wuchsen, ehe sich vor ihm eine steinerne Barriere in die Höhe wand, die ihn von Winter und dem Höhlenmonster trennte.

Winter
„Versuch dich raus zu schneiden“, klang dumpf Grimwardts Stimme an Winters Ohren. Sie versuchte zu antworten, doch etwas quetschte ihren Brustkorb zusammen und raubte ihr den Atem. Der Gestank war unerträglich. Ein Schwall klebriger, säureartiger Substanz goss sich von oben auf sie herab und Winter begriff, dass dieses Ding gerade im Begriff war, sie zu verdauen.
Der Gedanke machte sie wütend.
Strampelnd griff sie nach ihrem Dolch und stieß ihn in das schwammige Fleisch, das sie von allen Seiten erdrückte. Das Ding, das sie auffraß, zuckte zusammen und für einen Augenblick ließ der Druck auf ihre Brust nach. Winter schnappte nach Luft. Kurz darauf durchzuckte sie ein sengender Schmerz, als elektrische Stöße ihren Körper erbeben ließen. Glücklicherweise war auch das Monster getroffen, was Winter einen weiteren Atemzug verschaffte. Weitere elektrische Stöße blieben aus. Die anderen mussten begriffen haben, dass ihre Zauber auch ihr schadeten. Winter hackte weiter auf ihren Peiniger ein und kämpfte darum nicht das Bewusstsein zu verlieren. Dann spürte sie Doriens Geist in ihrem Kopf.
Na endlich, das wurde aber auch Zeit.
Winter gab dem Drängen von Doriens Versetzungstrick-Zauber nach und lag im nächsten Moment schwer atmend dort, wo eben noch der Hexenmeister gestanden hatte. Grimwardt beugte sich über sie.
„Alles in Ordnung?“
Sie warf ihm einen säuerlichen Nach-was-siehts-denn-aus-Blick zu und taumelte auf die Beine.
„Kannst du mich da rein befördern?“, rief ihr Nimoroth von der Frontlinie aus zu. „Ich fetz’ das Vieh auseinander!“
Mit einem verwandten Versetzungszauber vertauschte Winter die Standorte von Dorien und Nimoroth. Der Elfendruide hatte nicht zu viel versprochen. Winter sah noch für den Bruchteil einer Sekunde einen Säbel aus dem Rücken des Monsters herausragen. Dann regnete es Eingeweide.
„Schnell, wir müssen weiter“, erklärte Winter, nachdem Grimwardt ihre gebrochenen Knochen geheilt hatte. „Die Zeit rennt uns davon.“
„Moment“, sagte Dorien. Mit soviel Würde, wie ein halbverdauter, mit Speichel und Galle überzogener Dandy aufzubringen im Stande ist, rappelte er sich auf und stellte das faustgroße Replikat seiner magischen Villa vor sich auf. Nachdem er die magische Formel gesprochen hatte, öffnete sich ein Eingang in das außerdimensionale Eigenheim.
„Dorien, was hast du vor?“
„Waschen!“ Dorien war bereits im Innern seiner Villa verschwunden. „Solltest du auch tun.“
Winter schloss ergeben die Augen.
„Kommt“, sagte sie seufzend an die anderen gewandt, und schritt den Gang entlang.
Kurz darauf betraten sie einen Raum, der einmal eine Gebetshalle gewesen sein mochte.

Nimoroth
Sie hatten jeden Winkel der Gebetskammer durchforstet. Das Bodenmosaik, die Wände, den ehemaligen Altar. Nichts. Keinen Hinweis auf einen Geheimgang oder ein außerdimensionales Versteck. Da er sonst bereits alles untersucht hatte, konzentrierte Nimoroth sich auf die zertrümmerten Skulpturen. Eine Steinsstatue, die bis auf eine abgebrochene Hand noch vollständig erhalten war, erregte seine Aufmerksamkeit. Die Statue zeigte eine Elfe, was an diesem Ort ungewöhnlich genug war. Doch noch ungewöhnlicher war es, dass Nimoroth glaubte, ihr Gesicht schon einmal gesehen zu haben.
„Die Drow-Priesterin“, durchfuhr es ihn. Kalith sah auf.
„Bei Corellon“, murmelte er, als er einen Blick auf die Statue geworfen hatte. „Du hast Recht!“
Irae T’sarran.
Das war der Name der Drow-Priesterin, die Nimoroth und Kalith im Unterreich im Augenblick ihres Todes entwicht war. Die Trägerin der zweiten Klaue, die mit einer mächtigen Zauberformel Tod und Verwüstung über die Talländer hatte bringen wollen. Jemand musste sie versteinert und sich das Artefakt unter den Nagel gerissen haben.
„Das heißt, wer immer unsere Klaue hat, ist vermutlich auch im Besitz der Zwillingsklaue?“, fragte Winter, nachdem Nimoroth sie aufgeklärt hatte. „Was hat das zu bedeuten? Und wie kommt sie überhaupt hierher?“
„Das sollten wir sie fragen“, sagte Nimoroth. „Aber gebt Acht. Sie ist gefährlich.“
Während Kalith und Grimwardt die Steinstatue an den Armen festhielten und Dorien den Zauber vorbereitete, der Irae zurückverwandeln sollte, baute sich Nimoroth vor ihr auf, bereit die klaffende Wunde an ihrem verstümmelten Arm zu heilen, sobald sie wieder sie selbst war. Oder zuzuschlagen, falls sie zu sehr sie selbst sein sollte.
Der Zauber hüllte die Steinstatue in ein gleißendes Licht.
Irae schnappte nach Luft. Sich der Zeit ihrer Versteinerung nicht bewusst, vollendete sie zischend einen Schwall elfischer Verwünschungen, den sie vor acht Jahren begonnen hatte. Abrupt brach sie ab, als sie sich der Gegenwart der anderen bewusst wurde.
„Was…?“
Begreifen dämmerte in den blassroten Augen der Albino-Drow. Als Nimoroth sie zuletzt gesehen hatte, war ihr Kopf kahl rasiert gewesen, doch nun fiel silberweißes Haar ihr in langen Strähnen über die Schultern. Iraes schmales, bleiches Gesicht hätte schön sein können, hätte ihr nagender Hass es nicht zu einer Grimasse der Niedertracht verzerrt.
„Ich kenne euch“, zischte sie mit zusammen gekniffenen Augen. „Nimoroth… und Kalith, das waren eure Namen! Ihr habt mich vernichtet!“ Sie machte eine plötzliche Bewegung und versuchte sich loszureißen.
„Offenbar nicht sehr erfolgreich“, bemerkte Nimoroth.  
„Hat Elijas euch geschickt?“
Elijas. Wieder einmal.
„Nein. Was hat er Euch angetan?“
Irae musterte Nimoroth lauernd. Dann stahl sich ein finsteres Lächeln auf ihr Gesicht.
„Meine Informationen gegen meine Freiheit“, zischte sie. „Das oder ich nehme mindestens einen von euch mit ins Grab.“
Nimoroth betrachtete sie kühl. „Nein“, sagte er. „Was werdet Ihr tun, wenn wir Euch freilassen? Wie oft soll die Welt noch unter Eurem Irrsinn zu leiden haben?“
„Was glaubt Ihr?“, knurrte Irae bitter. „Zweimal habe ich meine Göttin bereits enttäuscht. Was glaubt Ihr, wie viele Chancen Kiaransalee mir noch gewährt?“
Nimoroth sah die anderen an.
„Die Zeit läuft uns davon“, erinnerte ihn Winter.
Er nickte: „Also schön. Rede.“
„Was?“, spottete die Drow. „Habe ich etwa Euer Wort? Das reicht mir nicht. Schwört bei Euren Göttern, dass ihr mich unversehrt gehen lasst, wenn ich geredet habe. Ihr alle.“
Sie schworen. Alle bis auf Grimwardt.
„Nichts da“, knurrte der Tempuspriester, dem die Drow des Unterreichs seit dem Überfall auf die Abtei ein ständiger Dorn im Auge waren. „Ich werde einen Teufel tun, der da mein Wort zu geben.“
Irae warf ihm einen hasserfüllten Blick zu, gab jedoch nach. Ihr Drang mit dem Leben davon zu kommen schien übermächtig. Schon früher war Nimoroth diese Eigenschaft an ihr aufgefallen. Ein eigenartiger Zug für eine Nekromantin.
„Es begann vor… wie lange war ich versteinert?“
„Acht Jahre.“
„Dann vor etwa neun Jahren.“ Ihr Blick schweifte zwischen Nimoroth und Kalith hin und her. „Ihr hattet meinen Tempel zerstört und meine Pläne zur Invasion der Talländer zu Nichte gemacht. Doch töten konntet ihr mich nicht“, erklärte sie mit einem Glitzern des Triumphs in den Augen. „Als ich das Bewusstsein verlor, wurde ein Zauber aktiviert, der mich vor dem Tod bewahrte und mich in ein außerdimensionales Versteck transportierte. Meine untoten Diener pflegten mich gesund und ich kehrte zurück in meine Heimatstadt Maerimydra im Unterreich. Doch die Stadt war nicht mehr wiederzuerkennen. Inzwischen hatte die alte Hure Lolth ihr Schweigen gebrochen und war als eine noch mächtigere Göttin wiederauferstanden. Überall im Unterreich hatten ihre Priesterinnen die Macht wieder an sich gerissen. Jene, die wie ich der Göttin der Untoten gefolgt waren, wurden gefoltert, gepfählt und der widerlichen alten Spinne zum Fraß vorgeworfen. Zahlreiche Feiglinge konvertierten. Doch nicht ich. Ich hatte mich Kiaransalee mit Leib und Seele verpfändet – es gab keine Kompromisse. Lolths Häscher waren mir dicht auf den Fersen. Ich floh an die Oberfläche. Irgendwo in den Wäldern muss ich vor Erschöpfung das Bewusstsein verloren haben. Elfen fanden mich und brachten mich in ihr Dorf. Meiner hellen Haut wegen glaubten diese Narren ich wäre eine von ihnen. Es war das perfekte Versteck. Wer vermutet eine Drow in einem Elfendorf? Ich blieb länger als ein Jahr. In dieser Zeit schmiedete ich Pläne, wie ich Kiaransalees Ansehen unter meinem Volk wieder herstellen konnte. Während der Invasion der Fey’ri wurde mein Dorf erobert, doch der Elfenhof sandte Truppen zur Befreiung. Unter dem Bataillon, das uns ‚befreite’, waren zwei geflügelte Elfen; einer von ihnen war Elijas Avalior.“ Sie schnaubte verächtlich. „Es war so einfach ihn zu verführen. Nach der Befreiung von Myth Drannor kehrte er zurück in seine Heimat. Mich ließ er nachkommen. Mein Plan schien aufzugehen. Immerhin hatte ich noch immer die Klaue des Widergängers. Ich würde eine Armee aus Untoten zusammenstellen, Drachen, Frostriesen, Avariel, was auch immer das Gebirge zu bieten hatte. Dann würde ich die Wolkenstadt dem Erdboden gleichmachen. Welchen Ruhm hätte das für meine Göttin bedeutet! Welche Schande für die Spinnenkönigin, wenn sie erkennen sollte, dass Kiaransalee, ihrer Vasallin, das gelungen war, woran sie in Ewigkeiten gescheitert war. Doch Elijas vereitelte meinen Plan. Ich war hierher gekommen, weil ich hoffte in der Ruine alte, mächtige Magie zu finden, die mir bei der Invasion der Stadt von Vorteil sein konnte. Er war mir gefolgt und stellte mich zur Rede. Es kam zum Kampf und diesmal verlor ich alles.“
„Dann seid Ihr Anael Silbertau, die verschwundene Nekromantin“, erkannte Winter.
„Eine Maske.“ Irae zuckte verächtlich mit den Schultern. „Und nun lasst mich gehen“, forderte sie. „Ich habe alles erzählt, was ich weiß.“
Grimwardt schien die Idee, die Priesterin gehen zu lassen, wenig zuzusagen, doch der Zeitdruck ließ ihnen keine andere Wahl. Ein Kampf würde sie nur länger aufhalten.
Während des Rückflugs versuchte Nimoroth das Gehörte in einen Zusammenhang zu bringen. Elijas musste die Klaue des Widergängers an sich genommen haben, doch zu welchem Zweck? Wollte er Iraes Plan zu Ende führen und allen Ruhm für sich beanspruchen? Oder war er den Einflüsterungen der Klaue erlegen und handelte wider seinen Willen so wie der Baelnorn, dem sie in Myth Drannor begegnet waren? Hatte Irae ihn tatsächlich verführt oder hatte er sie das nur glauben gemacht? Wer spielte hier mit wem? Und wer war im Besitz der zweiten Klaue? Es gab nur einen, der ihnen diese Fragen beantworten konnte. Sie mussten Elijas Avalior finden, bevor das Portal nach Myth Drannor geöffnet wurde.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 13. November 2009, 01:20:09
Ah... ich schnupper da ein Finale ...
Bin gespannt! :thumbup:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 07. Dezember 2009, 19:09:57
Wie schön, ich freu mich immer wieder von uns zu lesen.
Ich liebe dein Talent!!!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 08. Dezember 2009, 01:58:12
Winter! du hier!  :D
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 08. Dezember 2009, 02:12:30
Na dann alles liebe zum Geburtstag, Winter.  :)

Kapitel VI: Das Portal 

Nimoroth
Vier Stunden später vor dem Anwesen der Avaliors
Die Tür war unverschlossen und in der Eingangshalle fanden die Gefährten blutige Fußabdrücke. Alarmiert folgten sie der Spur in die Küche, wo sich ihnen ein schrecklicher Anblick bot: Lana, die Köchin des Hausherrn, lag bewusstlos auf dem Küchentisch. Ihre Arme waren im Blut gebadet: Jemand hatte der jungen Avariel die Fingernägel ausgerissen. Nimoroth eilte ihr zur Hilfe.
„Was ist passiert?“, fragte er, nachdem er ihre Wunden geheilt und die verängstigte Elfe mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt hatte. „Wer hat Euch das angetan?“
Lanas Pupillen weiterten sich, als die Erinnerung sie einholte.
Sie“, flüsterte sie. „Sie wird ihn töten.“
„Sie?“, Nimoroth nahm ihren Kopf in seine Hände, um ihren Blick zu fokussieren.
„Anael.“ Lanas Lider flackerten. „Sie ist zurückgekehrt. Sie wollte wissen, wo mein Herr ist. Er weiß nicht, dass ich ihn nachts beobachte, wenn er sich aus dem Haus schleicht. Ich wollte schweigen, aber sie….“ Ein trockener Schluchzer entrang sich ihrer Brust.
„Schon gut. Wohin ist er gegangen? Lana“, drängte Nimoroth, „du musst es uns sagen, wenn wir deinem Herrn helfen sollen.“
„Zu den Shantileas“, wisperte Lana.

Kalith
Kurz darauf im Palast der Shantileas
Sie hatten die Eingangstür aufgebrochen und standen in der Großen Halle. Vor der Flügeltür, die in den Saal der Tränen führte, waren zwei untote Frostriesen postiert. Die Haut hing ihnen in Fetzen vom Leib und in ihren Augen glommen tote, rötliche Funken. Aus dem Saal drangen laute Stimmen und Kampfgeräusche.
Die Gefährten zogen ihre Waffen.
Der Kampf dauerte länger als erwartet. Die Frostriesen waren zäh und ihre Hiebe kraftvoll und verbissen. Kalith hatte diese Art von Untoten schon einmal bekämpft – damals im Unterreich. Es waren Widergänger, Schergen Kiaransalees. Endlich, nachdem beide Kreaturen am Boden lagen, stieß Kalith die Tür zum Saal auf.
Helles Mondlicht flutete durch die Kuppel in den Saal und verfing sich glitzernd in den herabhängenden Ästen der Gläsernen Weide, die sich in der Mitte des Raums erhob. Elijas Avalior kauerte in Angriffsposition vor dem riesigen Monument. Sein blutiges Schwert war zum Boden geneigt und wies auf den leblosen Körper Iraes, der enthauptet zu seinen Füßen lag.
„Geht.“ Seine Stimme klang hohl von den gläsernen Wänden wieder. „Ihr könnt es nicht aufhalten.“
„Wir wollen mit Euch reden“, rief Nimoroth ihm zu. „Arbeitet Ihr für die Fürstin?“
Elijas’ maß die Gefährten mit ausdruckslosen Blicken. Dann breitete er seine Schwingen aus und murmelte einen Zauber. Schneller als Kaliths Augen ihm zu folgen vermochten, hatte er sich vom Boden abgestoßen und schwebte nun unter der Kristallkuppel.
„Ich habe euch gewarnt“, flüsterte er und richtete seine ausgestreckte Hand in Richtung der Gefährten. Ein Finger wies auf Winter, ein anderer auf Dorien. Zwei grüne Strahlen schossen aus den Fingerspitzen des Avariel. Doch schneller noch als die beiden Strahlen war Elijas selbst bei seinen Opfern eingetroffen. Seine schmale Klinge durchschnitt die Luft wie Pergament und beide fielen ohne einen Laut, gleichermaßen von Zauber und Schwert durchbohrt.
Dann wandte sich der Klingensänger den drei Kämpfern der Gruppe zu.
Er bewegte sich so schnell, dass er jedem Angriff auszuweichen schien. Kalith war es unmöglich zu erkennen, ob seine Schwerthiebe trafen oder nicht. Dafür war er sich umso schmerzlicher eines jeden Treffers bewusst, den sein Gegner erzielte. Mit einer furiosen Choreographie aus magisch verstärkten Schwerthieben, Zaubern und nekromantischen Angriffen, die dem anderen die Kraft raubten und ihn selbst stärkten, behauptete sich der Avariel gegen seine Gegner. Kalith erkannte, dass er nicht mehr lange durchhalten würde und ein Blick auf seine Mitstreiter sagte ihm, dass es ihnen nicht anders erging.
Und dann war es vorbei.
Elijas keuchte auf, als er unter einem von Nimoroths gefürchteten Sturmangriffen zu Boden ging. Die Hand auf die klaffenden Wunde an seiner Brust gepresst, harrte der Avariel zu Füßen seines Bezwingers. Nimoroth zögerte… und schlug zur Sicherheit noch einmal zu. Elijas kippte um.
Totenstille.
Nur das Rasseln ihres Atems war zu hören, als Grimwardt und Nimoroth sich um die Verletzten kümmerten. Wo waren die Bewohner des Palasts? Wo all die Bediensteten?
„Was nun?“, fragte Kalith schließlich in die Stille hinein.
„Er scheint keine der Klauen bei sich zu haben und wir haben keine Zeit ihn auszuquetschen“, sagte Nimoroth. „In wenigen Minuten wird das Portal geöffnet.“
„Keine Klaue“, meldete sich Winter zu Wort, die begonnen hatte, ihren Gegner zu plündern, kaum dass sie wieder auf den Beinen war. „Aber das hier!“
Sie hielt eine faustgroße verzierte Truhe in den Händen: eine exakte Kopie der Truhe, in welche sie das Artefakt gelegt hatten, nachdem sie es aus der Krypta des Baelnorn gestohlen hatten.

Nimoroth
Auf der Festwiese vor dem Orchideen-Palast
Die ganze Stadt hatte sich auf dem Platz versammelt. Geflügelte wie Ungeflügelte saßen auf der Wiese und in den Bäumen und lauschten mehr oder weniger aufmerksam der Rede des Coronal, der von einem der Balkone des Palasts zu ihnen sprach. In der Mitte der Festwiese erhob sich ein bogenartiges Gebilde, verhüllt von seidenen Tüchern: das Portal nach Cormanthyr. Hochadmiralin Shelisale Bareithion hatte wie angekündigt die Festwiese mit Wachen umstellen lassen. Jedem Krieger hatte sie einen Magier oder Klingensänger sowie einen Heiler zur Seite gestellt. Nimoroth ließ seinen Blick über die Menge schweifen.
„Da ist sie.“ Winter entdeckte die Admiralin als erste.
Nimoroth und seine Freunde bahnten sich einen Weg durch die Menge. Großer Anstrengung bedurfte es dazu nicht. Ihr ramponiertes Aussehen und der Gestank, der Winter und Nimoroth noch von ihrer Begegnung mit dem Höhlenmonster anhaftete, taten das ihrige, um ihnen den Weg zu ebnen.
„Da seid Ihr ja.“ Hochadmiralin Shelisale kam nicht umhin ein wenig die Nase zu rümpfen. „Kalith, man hat überall nach Euch gesucht. Wieso wohnt Ihr der Portalöffnung nicht an der Seite des Coronal bei wie abgesprochen? Was ist passiert?“
Kalith setzte zu einer Erklärung an, doch in diesem Moment explodierte der Himmel in einem Meer von Farben und seine Worte gingen im Zischen und Knallen der Raketen unter. Zeitgleich mit dem Feuerwerk enthüllten zwei Wächter das Portal.
Und dann zog sich der Himmel zusammen und ein Blitz krachte aus der Wolkendecke.
Wolken?“, übertönte Nimoroth den aufkommenden Regen. „In dieser Höhe?“ Dann erinnerte er sich an seine Vision: Plötzlich zuckt ein Blitz vom Himmel und die Stadt über den Wolken versinkt in Dunkelheit.
„Es fängt an“, murmelte er. „Macht euch bereit.“
Die Gefährten zogen ihre Waffen und schützten sich mit Defensivzaubern.
Kaum enthüllt, begann die Holzkonstruktion in der Mitte des Platzes sich aufzublähen und zu wachsen. Plötzlich ein lautes Bersten. Holz splitterte und schwarzer Nebel flutete aus dem Portal in die Palastgärten. Die Totenstille, die sich über den Platz gesenkt hatte, begann sich langsam in Panik zu verwandeln, als jene Avariel, die dem Portal am nächsten standen, erkannten, was dort mit dem Nebel aus dem Höllentor geschwemmt kam: Ein Heer untoter Frostriesen strömte auf die Festwiese und überzog all jene mit seinen Angriffen, die nicht fliegen konnten oder nicht schnell genug in die Lüfte entflohen, gelähmt vom Anblick dessen, was sie über sich erblickten: Über dem Untotenheer schwebte, grausam und majestätisch, ein weißer Drache. Die Haut klebte ihm in Fetzen am Leib und seine Flügel wirkten wie von Motten zerfressene Leinen. Seine Augen waren schwarze, blicklose  Höhlen, in denen List und Scharfsinn schon vor Jahrhunderten erloschen waren. Dennoch ließ die pure Anwesenheit des Wyrms die Wesen unter ihm vor Furcht erstarren. Auf dem Rücken der mächtigen Kreatur thronte Fürstin Mathalaya Shantilea. Ihre goldenen Augen waren von dem gleichen toten Feuer erfüllt wie die des Drachen, ihr Gesicht ohne jeden Ausdruck. Flankiert wurden die schwer gerüstete Fürstin und ihr Reittier von Mathalayas Sohn Silead und der geisterhaften Reflektion von… Irae T’sarran! Kurz nachdem die Gefährten den Palast verlassen hatten, musste die Fürstin noch einmal zurückgekehrt sein, um die Drow zu verwandeln. Mathalayas ausgestreckter Arm, um den sich eine schwarze, dornenbesetzte Klaue wand, war auf den Coronal gerichtet.
Die Gefährten hoben vom Boden ab, um ihr im Kampf zu begegnen, doch die Fürstin schien sie kaum zu beachten. Ein schwarzer Strahl schoss aus ihren Fingern. Coronal Yorah Bareithior fasste sich nach Atem schnappend ans Herz, als sich das schwarze Gift in seine Brust fraß und seinen Körper von innen zu zersetzen begann. Dann kippte er kopfüber über den Balkon. Als sein Körper auf dem Boden aufschlug, war nichts mehr von ihm übrig als Staub und Asche.
Undeutlich nahm Nimoroth wahr, was um ihn herum geschah: Aus dem Hinterhalt feuerte Winter in rasender Abfolge eine Salve sengender Strahlen auf die Fürstin ab, doch die Zauber prallten an deren magischem Schutzschild ab und wurden auf Winter zurück geschleudert. Dorien wurde von einem schwarzen Strahl getroffen, der jenem glich, der dem Coronal zum Verhängnis geworden war. Seine Schutzzauber vermochten ihn vor dem Schlimmsten zu bewahren, doch die Wucht des Angriffs schleuderte ihn zu Boden. Kalith und die Admiralin hatten Silead Shantilea in die Zange genommen und Grimwardt versuchte der Geisterdrow mit seiner priesterlichen Macht beizukommen. Nimoroth selbst flog in die Höhe, um die Trägerin der Klaue im Sturzflug anzugreifen. Im selben Moment jedoch vollführte der Drache eine Luftrolle, sodass Nimoroth herumgewirbelt und in den Schatten des gigantischen Untoten gedrängt wurde. Kurz darauf wurde er vom wirbelnden Eisodem des Wyrm erfasst, der ihn weiter nach unten abzutreiben drohte.
Seine Waffe senkrecht nach oben gerichtet stemmte sich der Elf gegen den Sog der Odemwaffe und stürmte vorwärts. Fünf Säbelhiebe fraßen ein klaffendes Loch in den knöchernen Unterleib des Untoten. Der verwundete Drache reagierte mit einem Schwanzstreich, dem Nimoroth nur mit Mühe ausweichen konnte. Winter war indessen dazu übergegangen, den Wyrm mit Feuerbällen einzudecken und gemeinsam gelang es den Gefährten endlich das Monstrum zu besiegen. Wirbelnde Kreise schlagend segelte der erlöste Drachenleichnam zu Boden. Schlagartig löste sich die Wolkendecke auf und Mondstrahlen tasteten sich über das Schlachtfeld. Der Drache musste das Wetter kontrolliert haben. Nimoroth sah nach unten: Die Fürstin hatte sich im Augenblick seines Falls vom Rücken des Drachen gelöst und schwebte nun mit ausgebreiteten Schwingen im silbrigen Sternenlicht. Ihr Blick aus starren Goldaugen war auf Nimoroth gerichtet.
Er nahm die Herausforderung an.
Religiöse Besessenheit verlieh den Schwerthieben der Verräterin eine tödliche Wucht. Ihr Gesicht, obgleich das Gesicht einer Sterblichen, war totenbleich und die Verbissenheit, mit der sie ihr Ziel verfolgte, legte ihre Wangen in tiefe Schatten. Was auch immer ihr ursprüngliches Motiv für den Verrat an ihrem Volk gewesen war, in diesem Moment diente sie nur noch der Herrin der Klaue. Doch auch Nimoroth war inspiriert von göttlicher Energie. Mielikki ließ seine Muskeln anschwellen und seine Knochen wachsen. Und dann ein letzter Angriff. Die Welt verschwamm zu einem Meer aus Farben und Schreien, als Nimoroth im Sturzflug auf seine Gegnerin zuschnellte, sie mit sich riss, und dem Boden entgegen stürzte. Als er kurz vor dem Aufprall seinen Flug abbremste, war die Fürstin bereits tot. In ihren Augen stand ein eigenartiger Ausdruck. Furcht? Entsetzen? Hatte sie im Augeblick ihres Todes etwa Reue empfunden?
Nimoroth machte sich an die blutige Aufgabe, die Klaue der Kiaransalee von der Hand der Toten zu schneiden. Auf einmal spürte er einen Luftzug. Er sah auf und erblickte Thanduin, der mit einem Trupp seiner Rebellen in Nimoroths Nähe landete.
„Was ist hier passiert?“, fragte der Rebellenführer mit aufgerissenen Augen.

Grimwardt
Der Todesalb erstarrte unter Grimwardts Blicken und beugte sich der Autorität des Feindhammers. Irae T’sarran stieß ein irres Kreischen aus, ehe sie die Arme ausbreitete und sich vom Wind davontragen ließ. Vom Schlachtfeld fliehend und aus der Stadt hinaus. Grimwardt erwog für einen Augenblick ihr nachzusetzen, entschied jedoch schließlich, dass es Wichtigeres zu tun gab. 
Langsam, mit erhobenen Händen und geschlossenen Augen, ließ er sich zu Boden gleiten. Tempus, der sein Gebet erhörte, sandte Schauer heilender Energie durch Grimwardts Körper, die sich in Wellen über das gesamte Schlachtfeld ausbreiteten. Verwundete genasen in Windeseile, während die letzten Untoten unter der Einwirkung der göttlichen Energie zu Staub zerfielen. Ehrfurchtsvolles Raunen erfasste die Menge.
Unglücklicherweise hatten die heilenden Schauer auch vor dem am Boden liegenden Silead Shantilea nicht Halt gemacht. Der Sohn der Verräterin spuckte Grimwardt hasserfüllt ins Gesicht, als dieser neben ihm landete. Für die Dauer eines Augenblicks war Grimwardt von so viel Dummheit wie gelähmt. Dann zertrümmerte er dem Anführer der Engelstränen mit einem beherzten Fausthieb sein Engelsgesicht, bevor er ihn mit einem gezielten Fußtritt in die Magengegend in den Schlaf sang. 
„So ein Hundskerl“, grummelte er kopfschüttelnd.

Nimoroth
Kurz darauf in der Eingangshalle von Doriens Villa
Grimwardt hatte Elijas Avalior an einen Stuhl gefesselt, den einer von Doriens Dienern herbei geschafft hatte. Nimoroth spritzte dem Bewusstlosen ein Glas Wasser ins Gesicht. Die Lider des Avariel flackerten, als er aus seiner Ohnmacht erwachte.
„Wo ist die Klaue der Lolth?“, fragte Nimoroth und hielt ihm das Replikat der Truhe unter die Nase, das Winter bei Elijas’ Sachen entdeckt hatte. „Wie gelangen wir an die Truhe?“
Die Blicke des Klingensängers glitten fahrig über die Gesichter der Gefährten.
„Ist sie tot?“, fragte er angespannt.
„Eure Fürstin?“, erwiderte Grimwardt grob und warf ihm die Klaue der Kiaransalee vor die Füße, in der noch Mathalayas abgetrennte Hand steckte. „Allerdings.“
Die Augen des Avariel blieben wie erstarrt an dem blutigen Ding haften. Dann stahl sich ein seltsames Lächeln auf seine Lippen.
„Gut“, murmelte er.
Nimoroth runzelte die Stirn und trat näher an ihn heran.
„Was soll das heißen? Wieso ‚gut’?“
Elijas zögerte.
„Wenn ich rede, dann nur unter der Bedingung, dass kein Avariel es je aus Eurem Munde erfährt“, sagte er. „Was mit mir passiert, ist mir gleich. Tötet mich. Liefert mich aus. Was auch immer. Aber keine Aussagen zu meinen Motiven.“
„Schön, mein Wort darauf.“
Elijas nickte.
„Ich glaube nicht an die Methoden der Rebellen“, begann er. „Aber ich glaube an ihre Grundsätze. Wenn mich der Elfenkreuzzug eines gelehrt hat, dann dass wir Elfen den Kampf gegen das Böse brauchen, um die Dinge zu ändern. Das einzige, was diese Stadt vor einem Bürgerkrieg retten konnte, war ein Monster, das sie wieder zusammenschweißt. Ich habe dieses Monster erschaffen. Durch Iraes Klaue hatte ich die Macht dazu. Um die Fürstin Glauben zu machen, dass ich auf ihrer Seite stünde, verriet ich den Rebellenführer an den Kronrat. Ich überzeugte sie davon, dass ein Sturz des Coronal die einzige Möglichkeit sei, die Reformen zu verhindern, die sie so fürchtete. Auf diese Weise brachte ich Mathalaya dazu, die Klaue anzulegen. Hätte die Fürstin gewusst, dass sie sich damit dem Willen einer dunkelelfischen Göttin unterwirft, hätte sie natürlich abgelehnt. Aber so wurde sie zu eben jenem Monster, das Immerschwinge brauchte. Ein Monster, das die Stadt mit einem Krieg überziehen würde, der Rebellen und Adlige einte.“
Nimoroth sah ihn ungläubig an.
„Und wenn sie gesiegt hätte?“, fragte er. „Besser eine korrupte Regierung als eine besessene Tyrannin.“
„Die zweite Klaue“, erklärte Elijas. „Wer beide Klauen trägt, vermag sie beide zu vernichten.“ Verständnislose Blicke.
„Kiaransalee ist eine noch junge Göttin“, klärte er sie auf. „Nachdem sie den Erzdämon Orcus bezwungen hatte, bat sie um Aufnahme ins Pantheon der Drow. Lolth stellte ihr eine Bewährungsaufgabe: Wenn es ihr gelänge ein Artefakt des Untodes zu erstellen, dass ihrer eigenen Todesklaue gleichkäme, würde sie Kiaransalee das Portfolio des Untodes überlassen und sie in den Rang eines Gottes erheben. Ihre Konkurrentin schuf also durch einen ihrer sterblichen Diener die Zwillingsklaue. Die beiden Artefakte sind einander in allen Belangen gleich. Kiaransalee hatte erreicht, was sie wollte. Wenn jedoch ein und derselbe Träger beide Klauen trägt, so heißt es in einem Dokument, das ich ausfindig machen konnte, würden die göttlichen Energien der beiden verfeindeten Göttinnen aufeinander treffen und die Klauen würden zerstört.“
 „Also wart Ihr es, der uns Drake auf den Hals gehetzt hat“, murmelte Winter. „Um an die zweite Klaue zu gelangen.“
„Ja“, gab Elijas zu. „Ich beauftragte den Assassinen damit, die Klaue zu finden, alles andere – eure Einspannung, die Entführungen – war sein Tun.“
Winter kniff die Augen zusammen. „Was hat er als Bezahlung verlangt?“
„Eine Art magisches Glasauge, das jede Illusion zu durchdringen vermag.“
„Ich verstehe immer noch nicht, wie Euer Plan aussah“, lenkte Nimoroth das Verhör auf den Anschlag zurück. „Ihr wolltet also in den Besitz der zweiten Klaue gelangen, um beide zu zerstören. Aber…“
„Nicht ich wollte sie zerstören“, berichtigte ihn der Avariel und blickte in Kaliths Richtung.

Kalith
Kalith, der sich bis jetzt im Hintergrund gehalten hatte, schlucke, als sich alle Blicke auf ihn richteten. Seine Befürchtungen der letzten Tage holten ihn ein. Irgendwie hatte er die ganze Zeit gespürt, dass so etwas kommen musste.
Nicht schon wieder, dachte er in der Erwartung gleich irgendetwas Dummes zu tun, weil eine Stimme in seinem Kopf ihm befahl, seine Freunde anzugreifen oder diese verdammte Klaue überzustreifen und der hörige Diener einer Drowgöttin zu werden. So wie schon so oft. Wenn Corellon ihm so gewogen war, wieso hatte er seinen Geist dann nicht etwas widerstandsfähiger gemacht gegen die Einflüsterungen wahnsinniger Magier?
Kaliths Erinnerung an seine Begegnung mit Elijas Avalior auf der Schattenebene vor zehn Jahren war verschwommen. Er war tot gewesen, verschlungen von einem Nachtkriecher. Das hatte er zumindest geglaubt. Doch Sklavenfänger mussten ihn aus dem Bauch der Bestie herausgeschnitten haben. Als er aufwachte, erschöpft und verwundet, hatte er sich in den Kerkern einer mysteriösen Schattenstadt wiedergefunden, die von einem sadistischen Leichnam regiert wurde. Mit seinen weißen Schwingen war Elijas Avalior ihm damals wie ein Engel vorgekommen, von den Seldarine gesandt, um ihn, Kalith Lysan, den Träger der Kriegsklinge, zu befreien. Und doch war da, irgendwo tief vergraben in seinem Geist, die Erinnerung an einen Pakt, eine Vereinbarung.
Was hatte er Elijas damals versprochen?
„Die Klaue hätte mich zu einem willenlosen Diener gemacht, genau wie Mathalaya“, fuhr Elijas fort, während sein Blick unverwandt auf Kalith ruhte. „Die einzige Möglichkeit diesem Effekt zu entgehen ist der Besitz eines gleichwertigen Artefakts, das die Wirkung der Klaue zu neutralisieren vermag. Während meiner Nachforschungen zur Geschichte Irae T’sarrans stieß ich auch auf den Namen von Kalith Lysan, dem Träger der Kriegsklinge. Dass ich Euch damals von der Schattebene befreite, war kein Zufall, Kalith“, sprach er den Elfen direkt an. „Ich wollte, dass Ihr mir einen Ehrenschwur leistet. Den Schwur, mir eines Tages zur Seite zu stehen, wenn ich Eure Hilfe bräuchte.“
Ich sollte die Klaue anlegen“, erkannte Kalith.
„Um Mathalaya zu besiegen und nach ihrem Tod beide Klauen zu zerstören, ja“, erklärte Elijas und in seine sonst so emotionslosen Augen trat ein aufgeregtes Funkeln. „Versteht doch! Ein Waldelf – ein Ungeflügelter - rettet Immerschwinge vor dem Untergang. Welch bessere Werbung könnten die Rebellen für ihre Forderungen finden? Und durch Eure Freunde kam es sogar noch besser!“
„Nur dass Ihr uns beinahe getötet hättet, ehe das ganze Spektakel begonnen hatte“, erinnerte ihn Nimoroth.
„Eine Ablenkung. Ich konnte nicht zulassen, dass ihr den Zugang zum Versteck der Fürstin findet und den Angriff im letzten Moment verhindert. Die Wirkung wäre nicht die gleiche gewesen. Blut schreibt Geschichte.“
„Das reicht.“ Nimoroth packte den Avariel bei seinen Fesseln und zerrte ihn in die Höhe.
„Was hast du vor?“, fragte Kalith.
Nimoroths Stirn war düster umwölkt. „Ich überstelle ihn der Justiz der Stadt. Aber vorher führe ich ihn über das Schlachtfeld, damit er mit eigenen Augen sieht, was er angerichtet hat. All die Unschuldigen, die er auf dem Gewissen hat.“
Elijas zuckte zusammen und für einen Augenblick schien es, als falle seine Maske der Gleichgültigkeit in sich zusammen. Dann besann er sich und seine Gesichtsmuskeln entspannten sich.
„Ich habe nicht erwartet, dass ihr das verstehen würdet“, murmelte er.

Winter
Am nächsten Morgen im Gefängnis von Immerschwinge
„Willst du mir nun endlich verraten, was wir hier tun?“, flüsterte Dorien, während er den Wachtposten im Auge behielt. Sie standen nur wenige Schritte entfernt von Silead Shantileas Zelle im Gefängnistrakt des Valendár-Hauptquartiers. Ein Unsichtbarkeitszauber hatte sie an den Wachen vorbeigeschleust. Winter musterte Silead, der sie noch nicht entdeckt hatte, mit eisigen Blicken.
„Kastrier’ ihn“, sagte sie düster.
„WAS?“
„Mit einem Verwandlungszauber.“
Dorien packte Winter beim Arm und zog sie mit sich. Als sie außer Hörweite des Wachtpostens waren, fuhr er herum.
„Bist du irre?“, fragte er. „Ja, der Typ ist ein Mistkerl, aber das…“
„Sieh dir das an.“
Winter hielt einen kleinen Kristall zwischen ihren Fingern, den sie bei den Habseligkeiten von Elijas Avalior gefunden hatte. Als sie erkannt hatte, dass er magisch war, hatte sie ihn vor den anderen verborgen und in ihrem nimmervollen Beutel verschwinden lassen.
„Was ist das?“
„Eine gestohlene Erinnerung“, erklärte Winter. „Ich hab sie bei Elijas’ Sachen gefunden. Er muss sie Silead abgenommen haben, um ihn zu erpressen. Offenbar hatte der Sohn der Fürstin Verdacht gegen ihn geschöpft.“
Der Erinnerungskristall enthielt eine Szene aus Sileads Vergangenheit: Um ein Kind reinen Blutes zu zeugen, hatte er seine Schwester, die Gemahlin des Coronal, vergewaltigt. Das Kind, das ohne Seele geboren worden war. Die Valendár-Admiralin hatte sich geirrt: Silead hatte Hochverrat begangen, doch ohne das Wissen seiner Mutter. Und ohne die Zustimmung seiner unglücklichen Schwester. Winter überkam die blanke Wut, wenn sie sich a, wie das Leben der Königin am Hof von Immerschwinge ausgesehen haben musste: vermählt mit einem Mann, der ihr Urgroßvater sein könnte, unterdrückt von einer herrschsüchtigen Mutter und vergewaltigt von ihrem eigenen Bruder.
Dorien ließ den Stein sinken, als er sich die Erinnerung angesehen hatte, und sagte nichts.
„Weißt du, was mit ihm geschieht?“ Winter musste die Zähne zusammenbeißen, um es nicht herauszuschreien. „Elfen verhängen keine Todesstrafe, sagt Nimoroth. Respekt vor dem Leben und dieser ganze Schwachsinn. Sie werden ihn freilassen: Nach Avariel-Recht ist die höchste Strafe die Verbannung in die Welt der Menschen. Sehr schmeichelhaft, ich weiß. Aber der Punkt ist: Sie lassen ihn auf unsere Welt los!“
Dorien sah sie stumm an.
„Behalte den Wachtposten im Auge“, sagte er.
Ein finsteres Lächeln stahl sich auf Winters Lippen, als die akustische Manifestation von Sileads Tobsuchtsanfall die Mauern aus Glasstahl erzittern ließ.


Kapitel VII: Aufbrüche


Nimoroth
Elf Tage später auf dem Weg zum Hochpalast von Myth Drannor
Einen Zehntag nach der Trauerfeier für Coronal Yorah Bareithior und drei Tage, nachdem seine Tochter Shelisale zur Königin gekrönt worden war, war das Portal nach Cormanthyr doch noch geöffnet worden. Zur Einweihung hatte es ein großes Fest gegeben. Die „Helden von Immerschwinge“, wie sie hier in Myth Drannor nun hießen, waren reich beschenkt worden und Nimoroth und Winter hatten ihre Kinder in die Stadt bringen dürfen. Laguna und Scarlet hatten den schönsten Tag ihres Lebens verlebt, woran die Flugringe, die ihre Eltern ihnen geliehen hatten, sicher nicht unschuldig waren. Die beiden schienen sich gut zu verstehen. Die junge Scarlet, die schon an mehr Orten gelebt hatte als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben zu Gesicht bekamen, spielte sich vor Laguna gern als die welterfahrene ältere Schwester auf. Und sie kam damit durch: Laguna schien sie grenzenlos zu bewundern, auch wenn ihre Sturheit und seine Hitzköpfigkeit nicht selten für einigen Zündstoff sorgten. Nimoroth freute sich für seinen Sohn. Er sah ein, dass er Laguna nicht länger vor der Welt außerhalb des Waldes fernhalten konnte. Er hatte ihre schönen Seiten erlebt, die finsteren würden folgen. Doch es war nicht an seinem Vater, ihm diese Erfahrungen zu verweigern.
Aus diesem Grund hatte Nimoroth beschlossen, mit seinem Sohn nach Myth Drannor zu ziehen. Eigentlich hatte er gehofft, Lagunas Mutter dazu überreden zu können, ihren Lebensbaum zu verpflanzen und mit ihm zu kommen. Doch Nyrael hatte abgelehnt: Dryaden waren an den Ort ihrer Geburt gebunden. Nimoroth wusste, dass Nyrael ihn und ihren Sohn über alles in der Welt liebte, und doch schien es ihr nicht schwer zu fallen, sie gehen zu lassen. In ihren gütigen dunklen Augen hatte er Melancholie gelesen, aber keine Trauer, als er ihr seinen Entschluss mitgeteilt hatte. Und schließlich waren er und Laguna nicht aus der Welt.
Nimoroth plante, sich zur Ruhe setzten und eine Mielikki geweihte Tempelschule zu errichten, in der Kinder sowohl der elfische Glaube als auch die guten Religion des Menschentums näher gebracht werden sollten. Die traurige Geschichte Immerschwinges hatte ihm einmal mehr gezeigt, wie wichtig es war, die Völker zu lehren friedlich miteinander zu leben und Myth Drannor schien ihm der richtige Ort dafür. Die Stadt hatte schon einmal bewiesen, dass sie sich von der Vergangenheit nicht unterkriegen ließ.
Doch Nimoroths Zukunftspläne waren nicht der einzige Grund, weshalb er und seine Freunde beschlossen hatten, Fürstin Ilsevele Miritar von Myth Drannor einen Besuch abzustatten…

Kalith
Kurz darauf im Thronsaal des Hochpalasts
Für einen Coronal war Fürstin Ilsevele Miritar ungewöhnlich jung. Mit dem langen rotblonden Haar, das offen über ihre schmalen Schultern flutete, und den großen Augen, die von hellen Wimpern umrahmt waren, wirkte die kleine Sonnenelfe erstaunlich zerbrechlich und puppenhaft. Kalith fühlte oft einen seltsamen Stich in der Magengegend, wenn er sie mit ihrem ernsten Gesichtsausdruck auf dem Thron sitzen sah. So, als wünsche er ihr im Geheimen, dass sie wie früher als Mitglied der Ehrengarde von Fürstin Amladruil von Immerdar durch die sonnendurchfluteten Wälder ihrer Heimat spazieren und sich an der Schönheit ihrer Umgebung laben konnte. Der Kontrast zwischen ihr und Hauptmann Fflar, dessen kühle graue Augen schon alles gesehen, alles erlebt zu haben schienen, hätte nicht größer sein können. Selbst Taube Falkenhand wirkte im Vergleich zu der jungen Königin robust. Die Auserwählte Mystras, die mit dem Rücken gegen den Thron gelehnt dasaß, spielte gedankenverloren mit einer Strähne ihres silberweißen Haares, während sie dem Bericht der fünf Gefährten lauschte.
Nachdem Kalith und seine Freunde alle Fragen beantwortet hatten, nahm Hauptmann Fflar die Klaue der Kiaransalee in die Hand und betrachtete sie aufmerksam von allen Seiten.
„So viel Leid“, murmelte er nachdenklich. 
In diesem Moment traf ein Diener mit der Schriftrolle ein, die Fürstin Ilsevele angefordert hatte. Mit ihren zarten Fingern nahm sie das Schriftstück entgegen, überflog es flüchtig und reichte es dann an Dorien weiter.
Während er den Zauber von der Schriftrolle ablas, ließ der Hexenmeister das kleine Truhenreplikat in seiner Handfläche rotieren. Einen Augenblick später materialisierte sich die echte Truhe auf dem Marmorboden zu seinen Füßen. Während die Gefährten noch zauderten, trat Hauptmann Fflar vor, hob den Deckel an und nahm die zweite Klaue aus der Truhe.
„Sie lassen sich also zerstören, indem ein und derselbe Träger sie beide zur gleichen Zeit anlegt?“, wiederholte der Paladin, was Nimoroth ihm zuvor erklärt hatte. „Habt ihr das nachprüfen lassen?“
„Wir haben das Dokument gefunden, von dem der Avariel sprach und es von dem Weisen Belivimir prüfen lassen“, erklärte Nimoroth. „Es schien echt zu sein.“
„Soll ich das Wagnis eingehen, Herr?“, fragte Kalith.
Der Hauptmann bedachte seinen Ersten Leutnant mit einem knappen Blick, antwortete jedoch nicht. Stattdessen zog er sein Schwert Keryvian, stützte sich auf den Heft und begann ein kurzes Gebet zu sprechen. Kalith stockte der Atem, als er erkannte, was Fflar vorhatte. Es hieß Keryvian sei eine der Fluchklingen des Demron. Ein elfisches Artefakt.
„Nicht!“, flüsterte Kalith.
Doch der Hauptmann ignorierte ihn. Mit festen Handgriffen streifte er den ersten Panzerhandschuh, die Klaue der Lolth, über sein Armgelenk. Nichts geschah. Dann das zweite Artefakt, die Kiaransalee-Klaue.
Fflar keuchte auf, als die Klauen an seinen Armen lebendig wurden. Wie schwarze Schlangen begannen die Ringe, aus denen die Artefakte gefertigt waren, sich auseinander zu winden und seine Schultern empor zu kriechen. Wo sie seine Haut berührten, fraßen sich dunkle Löcher der Verwesung in sein Fleisch. Kreischende Stimmen hallten von den Wänden wieder und es klang, als stritten zwei Todesfeen miteinander. Der Hauptmann schrie auf und ging zu Boden.
„Fflar!“ Fürstin Ilsevele war aufgesprungen, ihr Gesicht kreidebleich. Die Königin wollte vor dem Hauptmann in die Knie gehen, doch Taube Falkenhand hielt sie zurück. In all dem Tumult, der nun losbrach, war sie die einzige, die weder Furcht noch Sorge zeigte. Die anderen schrieen wild durcheinander und aus der Vorhalle drangen schnelle Schritte und das klirrende Geräusch von Stahl. Kalith stand da wie versteinert.
Und dann kam das Licht.
Plötzlich war es so hell, dass alles in weißem Nichts verschwamm. Kalith konnte nicht einmal erkennen, wo es herkam, jenes Licht, das mit ungeheurer Kraft alles um sich herum zu durchdringen schien. Es war kein äußerliches, es war ein innerliches Licht. Es brannte wie Feuer in seinen Gliedern, seinen Eingeweiden, seinen Gedanken, doch es war ein heilendes, ein reinigendes Feuer. Und Kalith erkannte, dass in diesem Feuer nichts bestehen konnte, das aus Dunkelheit geschmiedet war.
Allmählich begann die Welt um ihn herum wieder Gestalt anzunehmen. Die Königin saß neben Fflar Sternbraue am Boden und half ihm vorsichtig sich aufzurichten. Der Hauptmann war unversehrt und betrachtete verwundert seine blanken Armgelenke. Die Zwillingsklauen waren verschwunden.
Kein Staub, keine Asche.

Winter
Später
Winter fand Dorien an Glyrryls Weiher, wo viele Elfen in den frühen Abendstunden im Schatten der alten Linden flanierten, um sich von ihrem Tagwerk zu erholen. Dorien saß an einen der mächtigen Stämme gelehnt und nutzte die letzten Strahlen der Sonne, um einen Brief zu verfassen. Er sah auf, als er Winters Schatten über sich gewahrte.
„Ich wollte mit dir sprechen“, begann Winter. „Es geht um Scarlet. Nimoroth möchte eine Schule errichten und ich finde, dass wir Scarlet zu ihm schicken sollten. Mit Laguna hätte sie in Myth Drannor bereits einen Freund und außerdem wäre die hier gegen Ausspähung geschützt. Ich dachte nur, ich sollte dich darüber informieren“, sagte sie in einem Tonfall, der ihm klarmachen sollte, dass ihr Entschluss bereits gefasst war.
„Hm“, machte Dorien. „Was sagt denn Scarlet dazu?“
Winter seufzte. „Du weißt doch, sie hat es sich in den Kopf gesetzt eine Kriegerin zu werden wie ihr Onkel Grimwardt. Sie wünscht sich eine Axt zum Geburtstag.“
„Vielleicht sollten wir ihr ihren Willen lassen und sie bei deinem Bruder in die Ausbildung schicken.“
Winter sah verblüfft auf ihn herab. Sie hatte erwartet, dass Dorien ihr widersprechen würde, aber dass der Sune-Anhänger so weit gehen würde, seine Tochter dafür in Grimwardts Metzelschule zu schicken, hatte sie nicht erwartet.
„Soll das heißen, du unterstützt sie in diesem absurden Wunsch?“
Dorien zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder seinem Brief zu. „Scarlet ist unsere Tochter, Winter. Sie wird schon noch früh genug erkennen, dass sie nicht zur Axtkämpferin geboren ist. Aber wenn du sie diese Erfahrung nicht selbst machen lässt, wird sie es dir auf ewig übel nehmen.“
„Hm.“
„Außerdem ist Myth Drannor kein sicherer Ort, solange der Mythal noch nicht wieder hergestellt ist.“
Winter wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie musste zugeben, dass Doriens Argumente nicht aus der Luft gegriffen waren.
„Ich habe gerade einen Brief an meine Mutter verfasst“, wechselte Dorien nonchalant das Thema. „Sie möchte ihre Enkeltochter sehen. Ich habe zugesagt. Du bist natürlich eingeladen uns nach Silbrigmond zu begleiten.“
„Schön“, sagte Winter. Sie hatte ihn schon früher dazu zu überreden versucht, ihr seine Familie vorzustellen, doch Dorien hatte stets abgelockt und ein Geheimnis aus seiner Herkunft gemacht. Doch sie wollte ihr Glück nicht überreizen, indem sie ihn nach dem Grund für seinen plötzlichen Sinneswandel fragte.
„Würdest du mich heiraten?“
Die Frage traf Winter wie ein Blitz aus heiterem Himmel.
„Wie bitte?“
Ein verschmitztes Funkeln stand in Doriens saphirblauen Augen, als er ihre Reaktion beobachtete. 
„Für einen Tag“, erklärte er. Ein wenig verlegen fügte er hinzu: „Meine Mutter... Sie wünscht sich, was sich alle Mütter für ihre Söhne wünschen: eine glückliche Ehe, Kinder, ein geordnetes Leben. Es würde sie glücklich machen, uns verheiratet zu sehen.“ Er richtete sich auf und griff im Aufstehen nach einem Kieselstein. Dann kniete er vor Winter nieder und wisperte einen Zauberspruch. Als er die Faust  wieder öffnete, lag ein goldener Ring in seiner Hand.
„Winter Fedaykin“, sagte er, sie bei ihrem Mädchennamen nennend. „Willst du meine Frau für einen Tag werden?“
Winter lachte und strich sich eine Strähne ihres feuerroten Haares aus der Stirn.
„Ja, ich will.“
Von den Umstehenden, die den Zusatz „für einen Tag“ offenbar der menschlichen Kurzlebigkeit zuschrieben, ernteten die beiden frisch Verlobten laute Jubelrufe.

Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 09. Dezember 2009, 00:04:04
Ohhh, sehr schön!

...herzlichen Glückwunsch, Winter!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 13. Dezember 2009, 21:54:28
Was für ein Abschluss!
Wie immer toll geschrieben, ich freue mich auf mehr! Obwohl ja nicht mehr allzuviel bleibt - wird Zeit, dass wir diese Kampagne weiterführen.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 14. Dezember 2009, 02:22:20
Oh ja! Ich glaube die Zukunft hält da noch einiges für uns bereit...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 21. Dezember 2009, 20:06:18
ZWEITES BUCH
SCHATTEN ÜBER DEN SILBERMARKEN


Prolog

Drake
Silbrigmond, abends
Die Ladenglöckchen bimmelten, als Drake die Tür der Schimmernden Schriftrolle öffnete. Das Abendlicht, das nur durch einige Ritzen in den Fensterläden drang, hüllte den Laden in dämmriges Zwielicht. Der Assassine schritt durch einen länglichen Raum, der von Regalen gesäumt wurde, die mit Zauberkomponenten und allerlei Krempel gefüllt waren. Auch einige mindere magische Gegenstände waren darunter. Drake wusste jedoch, dass die Inhaberin exklusivere Waren nicht im Ladenraum ausstellte.
Xara Tantlor saß über eine neue Schriftrolle gebeugt am Ladentisch. Ihr goldbraunes Haar schimmerte rötlich im Licht der Kerzen und sie trug ein violettes Korsagenkleid, das gerade genug Haut verdeckte, um nicht ordinär zu wirken.
„Drake“, sagte sie ohne aufzublicken.
„Hast du die Informationen?“ Er war vor einem Regal stehen geblieben und ließ seine schmalen Finger gedankenverloren über den Schädel eines grinsenden Totenkopfs gleiten.
Sie schenkte ihm ein Lächeln aus halb gesenkten Lidern und verschwand in einem Nebenraum. Kurz darauf kehrte sie mit einigen Schriftrollen und einem dicken Folianten zurück, den sie nun auf den Ladentisch wuchtete und auf einer Seite aufschlug, die sie mit einem Lesezeichen markiert hatte.
„Fürst Emmet Oleander“, referierte sie, während sie die Seite überflog. „48 Jahre, verheiratet, keine Kinder. Ein Philanthrop, wie es scheint. Und verteufelt reich. Die Liste seiner Donationen an wohltätige Organisationen der Stadt ist endlos: Tempel, Waisenhäuser, Bibliotheken. Beziehungen zu den Harfnern sind wahrscheinlich, aber Aufzeichnungen darüber gibt es natürlich nicht.“
„Nennenswerte Freunde oder Bekannte?“
Xara durchsuchte ihre Aufzeichnungen. Drake hörte halbherzig zu, als sie begann einige Namenslisten durchzugehen. Ein Großteil der Namen war für ihn nicht von Bedeutung. Er wollte lediglich sicherstellen, dass das Ziel nicht von Freunden geschützt wurde, die mächtiger waren als er selbst. Den Fehler hatte er einmal begangen. Unbewusst fuhr er sich mit der Hand über die Narbe über seinem rechten Augenlid, die beim Einsetzen des magischen Glasauges zurückgeblieben war. Als er sich der Geste bewusst wurde, runzelte er selbstkritisch die Stirn.
Die Dinge standen nicht gut. Er hatte Unsummen für magische Nachforschungen ausgegeben. Bisher ohne Erfolg. Seine Peinigerin schien unauffindbar. Und selbst, wenn es ihm gelänge sie ausfindig zu machen, war nicht sichergestellt, dass er sie auch besiegen konnte.
Plötzlich ließ einer der Namen auf Xaras Liste ihn aufhorchen.
„Wiederhol’ das noch mal.“
„Dorien Dantés.“ Papiere raschelten, als die Magierin nach weiteren Informationen suchte. „Muss ein Schüler von Oleander gewesen sein. Das ist aber schon gut zwanzig Jahre her.“
Ein hauchdünnes Lächeln streifte flüchtig Drakes Gesicht, als ein Plan in seinem Geist Gestalt anzunehmen begann.
Xara berührte seinen Arm.
Für einen Augenblick hielten Drakes kühle blau-graue Augen ihren Blick gefangen. Dann entzog er sich der Berührung und wandte sich um. Auf dem Weg zum Ausgang des Ladens warf er ihr über die Schulter einen kleinen Münzbeutel zu.
„Für deine Bemühungen“, sagte er trocken.


Kapitel I: Ratten

Winter

Am nächsten Morgen im Hafenviertel von Hlondeth
Scarlet schnitt eine Grimasse, als ihre Eltern sich zum Abschied küssten. Winter konnte es ihrer Tochter kaum verdenken. Dorien schien sich vorgenommen zu haben, die Wir-sind-eine-glückliche-Familie-Nummer gnadenlos durchzuziehen. Kein Wunder, dass Scarlet ihnen das Familienglück nicht abnahm, wo sie ihren Vater gerade einmal seit drei Monaten kannte.
Winter küsste ihre Tochter auf die Wange.
„Ihr werdet sicher viel Spaß zusammen haben.“ Sogar Winter selbst kam ihr mütterlicher Enthusiasmus überzogen vor. „Du zeigst Dorien den Extaminos-Vogelgarten, während ich mich um meine Geschäfte kümmere, und danach besuchen wir alle zusammen deine Großeltern in Silbrigmond.“
Scarlet starrte ihre Mutter befremdet an, wehrte sich jedoch nicht, als Dorien sie bei der Hand nahm. Winter sah den beiden nach, als sie die Straße entlang schritten. Dann wandte sie sich um und lief hastig zurück zum Hafen. Schon von weitem hatte sie sehen können, dass etwas nicht stimmte: Ihr Hausboot, das zugleich Hauptquartier der Schwarzen Dahlie war, lag schräg im Wasser.
Bregan, der Experte für Gerüchte und Tratsch, und Brutus, der Mann fürs Grobe, kamen ihr entgegen geeilt.
„Was ist denn hier passiert?“, ereiferte sich die Bootsherrin. „Da lässt man euch für ein paar Wochen allein und ihr versenkt das verdammte Schiff?“
„Öhm“, machte Bregan. „Wir hatten da einen kleinen Disput mit dem Hafenmeister über ein…“
Doch Winter war bereits an Bord geeilt, um sich selbst ein Bild zu machen. Als sie, mehr schlitternd als laufend, den Salon betrat, traf sie beinahe der Schlag: In der Mitte des Raumes erhob sich, unbedarft vor sich hinplätschernd, ein dreistöckiger Steinbrunnen, der mit allerlei unsittlichen Schäfermotiven verziert war. Das Boot, das mit der Traglast des steinernen Monuments spritziger Geschmacklosigkeit ganz offensichtlich überfordert war, knarrte bedrohlich.
Steif wandte Winter sich um.
„Was ist das?“
„Ein Brunnen, Herrin“, erklärte Brutus hilfsbereit.
„Das sehe ich auch! Wie kommt er hierher?“
„Ein Geschenk Eures Verlobten, CaptainJoe Blackbirds von der Sturmhexe“, sagte Bregan. „Der Hafenmeister hat Stunk gemacht, weil das Ding den Steg fast zum Einbrechen gebracht hätte, darum haben wir es in den Salon verfrachtet.“
Noch immer halb versteinert machte Winter einen Schritt nach vorne.
„Sind das etwa meine Initialen dort auf dem Brunnenrand?“
„Eine Widmung, ganz recht.“ Bregan schnitt eine Grimasse, um sich ein Grinsen zu verkneifen.
Betäubt sank Winter auf ein Sitzkissen. Was sollte sie mit dem Ding bloß anstellen? Versenken war ihr erster Gedanke. Aber nein, das ging nicht. Verkaufen? Es schien immerhin magisch zu sein. Aber Joe würde es nicht gefallen, wenn sie seinen monströsen Liebesbeweis verhökerte. Eine Donation an Nimoroths Tempelschule? Nein, dummer Gedanke. Vielleicht sollte sie es Madame Moaba vom Haus der Tausend Freuden als Leihgabe anbieten? Doch das würde bedeuten, dass sie das Monstrum durch die halbe Stadt befördern musste. Nein, sie würde sich etwas anderes ausdenken müssen…
„Wann war Joe hier?“, fragte sie.
„Vor etwa zwei Wochen“, erklärte Bregan. „Der Captain hätte Euch gerne seine Aufwartung gemacht, Herrin, doch die Hafenpolizei war ihm auf den Fersen, darum musste er gleich wieder ablegen. In zwei Monaten will er zurückkommen, um Euch vor den Altar zu führen.“
„Tatsächlich. Hat er noch etwas dagelassen?“ Bei ihrem letzten Treffen hatte die gewiefte Heiratsschwindlerin beiläufig erwähnt, dass die Gildenkasse der Schwarzen Dahlie an chronischer Schwindsucht litt. Sie hatte gehofft den Pirat auf diese Weise in Spendierlaune zu versetzen. An einen überdimensionalen Lustbrunnen hatte sie dabei nicht gedacht.
„Er… hat auch noch etwas Gold für die Gildenkasse dagelassen.“ Bregans Zögern war der Gildenanführerin nicht entgangen. Argwöhnisch kniff sie die Augen zusammen.
„Wie viel?“
„Etwa zweitausend, Herrin.“
Unangenehme Stille.
„Bregan, mitkommen.“
Winter beorderte den ehemaligen Landstreicher in die Kapitänskajüte, wo Captain Folocer sie mit hochrotem Kopf und schweißnasser Stirn empfing. Der alte Seebär, der dieser Tage öfter dem Wein als den Wellen zu trotzen hatte, war für Winter nicht aufgrund seiner seemännischen Erfahrung unentbehrlich. Ein Blick auf den Kapitän, der nervös seine Mütze in die Mangel nahm, sagte ihr, dass ihr Verdacht gegen Bregan nicht unbegründet war.
„Wie viel Gold hat Käpt’n Blackbird wirklich dagelassen?“, fragte sie mit vor der Brust verschränkten Armen.  
„Zweitausend“, erwiderte Bregan aalglatt.
„Viertausend“, platzte es dagegen aus dem Kapitän heraus.
„Viert…!“ Winter blieb die Spucke weg. „Und wie viel davon ist noch übrig?“
„Zweitausend“, gestand Captain Folocer kleinlaut.
Winters Blick hätte dem eines Basilisken Konkurrenz machen können.
„Es waren Tigil und Brutus.“ Bregan schien einzusehen, dass Leugnen zwecklos war. „Die haben das Geld genommen.“
Der Halbling und sein halb-orkischer Freund. Wer sonst.
„Und du hattest natürlich nichts damit zu tun?“
„Nein, Herrin.“
„Wem hatte ich die Aufsicht über die Gildenkasse anvertraut?“
“Mir, Herrin.“
„Aha!“
„Tigil hat den Schlüssel geklaut.“
„Welchen Schlüssel?“
„Zum Lagerraum, Herrin. Und Brutus hat die Truhe aufgebrochen. Ich glaube allerdings nicht, dass er wusste, was der Halbling vorhatte. Er hat nur getan, was Tigil ihm befahl.“
„Brutus tut immer nur, was Tigil ihm befiehlt!“, schnaubte Winter. „Wo ist Tigil jetzt?“
„Keine Ahnung“, sagte Bregan. „Eben war er noch hier. Muss Lunte gerochen haben, als er Euch kommen hörte.“
„Bregan.“ Winter holte tief Luft: „Muss ich dich daran erinnern, dass ich es bin, der du deine jetzige Arbeit verdankst?“
„Verzeiht, Herrin.“ Der ehemalige Bettler senkte den Blick, was es Winter unmöglich machte zu erkennen, ob seine Zerknirschung nur gespielt war. „Bei meinem Leben, ich habe Euch nie hintergangen. Ich hätte auch gar keinen Grund dazu. Schließlich habe ich das Geld, das ihr mir zahlt, immer gut angelegt.“
Winter biss sich grübelnd auf die Lippe.
„Dieses eine Mal will ich dir das durchgehen lassen“, entschied sie schließlich.
„Und Captain!“ Folocer fuhr zusammen, als sich Winters Aufmerksamkeit auf ihn richtete. „Das nächste Mal will ich sofort über alles unterrichtet werden!“
Winter warf einen letzten, drohenden Blick in die Runde, bevor sie die Kajüte verließ.  
Und jetzt zu dir, Tigil.
Ein Erkenntniszauber enthüllte den Aufenthaltsort des Halblings: Auf seiner übereilten Flucht musste er vom Boot gesprungen sein, um den Hafen schwimmend zu umrunden. Gerade befand er sich auf einer der Yachten, die der Yuan-Ti-Adel im östlichen Teil des Hafens unterhielt. Ein Teleportationszauber beförderte Winter auf das fremde Schiff.
„Tigil!“
Hastige Schritte im Bug des Schiffes. Dann ein Platschen. Winter rannte an die Reling.
„Komm da raus, Tigil“, befahl sie, nachdem der Halbling prustend ein Stück von der Yacht entfernt aus dem Wasser aufgetaucht war.
„Werdet Ihr mich töten?“, rief er zurück.
„Wenn du da nicht sofort herauskommst, werde ich dich als Galionsfigur an den Bug der Serenity fesseln und verrotten lassen, bis du dir wünschst, du wärst tot.“
Kurz darauf sah ein patschnasser Halbling mit reumütiger Miene zu ihr auf.
„Tut mir leid“, murmelte er.
„’Tut mir leid’?“, schnaubte Winter. „Ist das alles, was dir dazu einfällt? Du hast mich bestohlen, Tigil!  Du hast die Gilde bestohlen! Weißt du, welche Strafe dir droht?“
„Der… Tod?“, riet Tigil.
„Aber so was von!“
„Tja, das ist schade“, jammerte der Halbling mit einem zerknirschten Augenaufschlag. „Auf diese Weise ist das Geld nämlich futsch und ich werde keine Chance erhalten, die Sache wieder ins Reine zu bringen.“
Winter kniff die Augen zusammen.
„Und wie würdest du das anstellen, rein hypothetisch?“
„Naja, ich weiß, rein hypothetisch, dass in zwei Monaten ein Handelsschiff aus Aglarond mit magischen Waren am Vilhongriff vorbeisegeln soll und dass zur gleichen Zeit Euer Piratenfreund mit seiner Crew in der Gegend sein wird. Einen Tipp würde er sich bei einer solch lukrativen Gelegenheit sicher einiges kosten lassen. Vielleicht Halbe-Halbe… als Hochzeitsgeschenk?“
Winter starrte den Halbling mit einer Mischung aus loderndem Zorn und aufkeimender Geschäftstüchtigkeit an.
„Höh!“, machte sie. „Du kleiner, gerissener Dreckskerl!“
Tigil grinste entwaffnend.

Grimwardt
Etwa zur gleichen Zeit in der Abtei des Schwertes
Da Grimwardt den Obersten Schwertführer Jareth Burlisk nicht finden konnte, machte er sich auf die Suche nach Waffenmeister Borgo. Er fand den Schildzwerg auf einem der Übungsplätze, wo er im strömenden Regen die Schwertübungen einer Gruppe von Rekruten überwachte.
„Wieder da?“, raunzte Borgo ohne aufzusehen. Aus Respekt für die zwergische Mentalität ließ Grimwardt ihm die saloppe Begrüßung durchgehen.
„…und nicht mit leeren Händen.“ Der Abteileiter schnürte seinen Proviantsack auf und beförderte einen funkelnden blauen Edelstein zu Tage. Jeder der Gefährten war für die Rettung Immerschwinges von der neuen Königin mit einem solchen Stein geehrt worden. „Was haltet Ihr davon?“
Mit gewichtiger Miene examinierte der Zwerg den achteckigen Stein.
„Elfische Schleifarbeit“, erkannte er schon nach wenigen Augenblicken. „Blauer Sternsaphir, wenn ich mich nicht täusche.“
„Was meint Ihr, wie viel ist der wert?“
„Fünfundzwanzigtausend? Vielleicht dreißig.“
Grimwardt pfiff durch die Zähne. Noch nicht genug, um die ganze Abtei mit einem Dimensionsschloss zu überziehen, um feindliche Teleportationen zu verhindern, aber immerhin ein Anfang. Mit dem Rücken gegen die Umzäumung des Übungsplatzes gelehnt, ließ er sich von Borgo über die neusten Entwicklungen in der Abtei aufklären und erfuhr, dass Jareth mit den Rekruten des Dritten Jahrgangs ins Grenzgebiet zum Misteltal aufgebrochen war, da sich Berichte über marodierende Orkbanden in dieser Region gehäuft hatten.  
„Und dann ist da noch die Sache mit dem Spitzel.“
„Ein Spitzel?“ Grimwardt horchte auf.
„Einer der Rekruten hat Kopien von Wachtplänen und Inventarlisten der Waffenkammern angefertigt und weiterverkauft.“ Der Zwerg schnalzte mit der Zunge. „Seine Zimmergenossen fanden vor zwei Tagen Dokumente, die er in sein Kissen eingenäht hatte, und verpfiffen den Wicht. Hab’ ihn bereits befragt, aber vielleicht bekommt Ihr mit Euren Zaubern ja mehr aus ihm heraus. Der Kerl heißt Engart und sitzt im Kerker ein.“
Grimwardt runzelte die Stirn und warf dem Zwerg einen vorwurfsvollen Blick zu: Warum erfahre ich erst jetzt davon? Doch um keine Zeit zu verlieren, beließ er es bei der stummen Rüge und machte sich gleich auf den Weg zum Gefängnistrakt in den Katakomben der Abtei. Borgo entließ seine Rekruten, um ihn zu begleiten.
„Rekrut!“
Der Junge – er mochte gerade einmal sechzehn sein – sprang auf und nahm Haltung an, als die barsche Stimme des Abteileiters durch den Zellentrakt dröhnte. Unter Grimwardts herrischem Blick fing Engart, der mehr Pickel als Mumm zu haben schien, an zu schwitzen wie ein Schwein auf der Schlachtbank. Ehe er sich vor Angst in die Hose pinkeln konnte, wirkte der Tempuspriester eine Zone der Wahrheit.
„Wie lange schon?“, fragte er ruhig.
„S…seit Beginn des Lehrjahres, Herr.“
„Haltung!“
Der Junge fuhr zusammen und versteifte sich.
„Was für Dokumente waren das, die du aus der Abtei geschmuggelt hast?“
„Karten, Herr“, bellte Engart als reagiere er auf einen Befehl. „Skizzen der Abtei. Informationen zu magischen Abwehrsystemen und Wachtpläne.“
„Und an wen hast du sie verkauft?“
„Weiß nicht genau.“ Engart wechselte unruhig die Position. „Während der Winterferien wurde ich von jemandem in meinem Heimatort im Schattental angesprochen. Er war mittelgroß. Mehr konnte ich nicht erkennen, er trug einen Kapuzenmantel. Er bot mir hundert Gold pro Information.“
„Wofür brauchtest du so viel Geld?“
Der Junge sah beschämt auf seine Füße. „Ich… ich will heiraten, Herr. Aber die Eltern des Mädchens wollten sie nur einem Mann zur Frau geben, der sie auch ernähren kann…“
Grimwardt schnaubte verächtlich und grummelte etwas Unverständliches. Ein weiterer Fall, der seine These stützte: Frauen machten nur Ärger. Er selbst hatte sich schon vor Jahrzehnten fürs Zölibat entschieden.
„Wie trittst du mit diesem Auftraggeber in Verbindung?“
„Er hat einen Raben, Herr“, erklärte Engart. „Einmal im Monat gebe ich während meiner Nachtwache die Informationen an den Vogel weiter.“
„Und wann wäre deine nächste Nachtwache?“
„Heute Nacht, Herr.“
Grimwardt wandte sich ab und nahm den Zwergen Borgo beiseite. Sie kamen schnell überein, dass sie den ominösen Vogel – die einzige Verbindung zum Auftraggeber des Jungen – noch in dieser Nacht verfolgen mussten. Dazu wollten sie Engart als Lockvogel benutzen. Grimwardt versprach sich von der ganzen Aktion jedoch nur wenig: Er war Kriegspriester, kein Magier. Ohne Flug- und Unsichtbarkeitszauber würde sich die Verfolgung des Vogels als schwierig gestalten. Doch den Versuch war es immerhin wert. Dringlicher jedoch war die Vorbereitung auf einen möglichen Angriff. Grimwardt wusste nicht, um wen es sich bei den Angreifern handeln mochte, doch eine Racheaktion der Drow, die die Abtei vor fünf Jahren in die Flucht geschlagen hatten, war nicht auszuschließen. Zudem fungierte die Abtei als Bollwerk gegen die Horden des Nordens. Wer immer die Talländer angreifen wollte, musste zuerst an Grimwardt Fedaykin und seinen Mannen vorbei.
„Ruf Jareth und seine Rekruten zurück, verdoppele die Wachen, lass Pech aufkochen und stell’ die Versorgung auf Kriegszeit um“, befahl Grimwardt dem Waffenmeister. Er selbst würde Boten nach Myth Drannor und Essembra entsenden und einige Erkenntniszauber wirken, um nähere Informationen über den zu befürchtenden Angriff zu erhalten.
„Herr, werdet Ihr mich hinrichten lassen?“
Grimwardt und Borgo hatten schon die Treppe erreicht, als Engarts klägliche Frage den Tempelvorsteher daran erinnerte, dass er noch kein Urteil über den Verräter gefällt hatte. Er warf einen düsteren Blick zurück ins Halbdunkel der Zellen.
„Wir werden sehen“, knurrte er, wohl wissend, dass die Ungewissheit den Jungen in seiner Einsamkeit martern würde. Er hatte es verdient.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 22. Dezember 2009, 16:28:35
immer wieder eine Freude zu lesen... :)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Zophael am 24. Dezember 2009, 10:07:43
Hab ich den Jungen echt nicht verurteilt?  :huh: Dann gibt's ja noch einen Grund um zur Abtei zurück zu reisen!  :D
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 24. Dezember 2009, 14:53:38
Ich habs mir gestern abend vorlesen lassen.
Wie immer, sooooo schööööööööööön!
Und schön auf diese Weise mal zu erfahren, was dieser Mistkerl Drake so getrieben hat  ::)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 26. Dezember 2009, 02:37:30
Ja, ne? So ein kleines "Ach übrigens, Drake hat das damals so und so angestellt..."
...Freu mich auf den 2.  :D
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 08. Januar 2010, 22:54:02
Kapitel II: Mord in Silbrigmond

Winter
Silbrigmond am selben Abend
Winter war es ein Rätsel, weshalb sich Dorien jahrelang gegen einen Besuch in seiner Heimatstadt gesträubt hatte: Silbrigmond mit seinen malerischen Gassen und schneeweißen Türmen wurde seinem Ruf als Juwel des Nordens in jeder Hinsicht gerecht. Und ihre Schwiegereltern für einen Tag gehörten auch nicht gerade zu der Sorte, deren Tage man insgeheim zählte. Doriens Mutter, eine quirlige Zauberkundige, unterhielt im Künstlerviertel der Stadt einen kleinen Maskenladen, in dem sie ihre kunstvollen Eigenkreationen feilbot. Sein Vater, seines Zeichens Hofmaler am Hofe von Fürstin Alustriel, hatte ein kleines Atelier auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Scarlet hatte sich gleich mit Marlas Katzenvertrauter und deren Nachwuchs angefreundet und schien sich hier auf Anhieb heimisch zu fühlen. Und auch Winter genoss den Tag. Als „Hochzeitsgeschenk“ hatte Dorien ihr - natürlich nicht ohne die ein oder andere spitze Bemerkung fallen zu lassen – bei der Bewältigung ihres Brunnenproblems geholfen. Als Gegenleistung mimte Winter nun die glückliche Ehefrau. Nach zwanzig Jahren Erfahrung als Heiratsschwindlerin fiel ihr diese Rolle nicht sonderlich schwer. Und bei so manchem Blick, den ihr Ehemann ihr über die Gespräche bei Tisch zuwarf, ertappte sie sich sogar dabei, wie sie die Rolle zu genießen begann.
Am Abend luden Doriens Eltern die beiden frisch Verheirateten in die Tanzende Ziege ein. Je später es wurde, desto schneller füllte sich die beliebte Tanztaverne. Winter verlor Dorien, der einige alte Bekannte getroffen hatte, schon bald aus den Augen. Meister Dantés war über einem Glas Wein eingedöst und so fand sich die Diebesmeisterin den Fragen ihrer neugierigen Schwiegermutter mit einem Mal ganz schutzlos ausgeliefert.
„Winter, Schätzchen, du musst mir alles erzählen!“, forderte Marla Dantés gerade in einem Anflug von schwiegermütterlichem Hochzeitsfieber. „Wie habt ihr euch beide kennen gelernt?“
„Och, das ist schon eine Ewigkeit her, bestimmt fünfzehn Jahre.“ Winter blieb ihren eigenen Regeln treu: Bleibe so nah an der Wahrheit wie möglich. „Wir sind lange zusammen auf Abenteuer ausgezogen.“
Nachdem Grimwardt seine Ausbildung zum Tempuskleriker abgeschlossen und Winter sich ihres ersten Ehemanns entledigt hatte, hatten die Geschwister ihre erste Abenteuergruppe, die Glückssegler, gegründet, um die See des Sternregens unsicher zu machen.  Dorien hatte niemals erzählt, was ihn dazu bewogen hatte aus seiner Heimat fortzuziehen und sich ihnen anzuschließen, doch es gehörte nicht viel Fantasie dazu, seine Beweggründe in irgendeiner unglücklichen Romanze zu vermuten.
„Und wann habt ihr geheiratet?“
Winter rechnete eilig neun Monate von Scarlets Geburt zurück.
„Das war im August vor acht Jahren.“
„August, ah, ein guter Hochzeitsmonat“, sinnierte Marla. „Wo fand die Hochzeit denn statt?“
„In Myth Drannor.“
„Myth Drannor?“ Doriens Mutter schien verwirrt. „Aber… vor acht Jahren war Myth Drannor eine Ruinenstadt, oder nicht?“
Verfluchter Mist, dieser verdammte Wein.  
„Ich meine natürlich, in der Nähe von Myth Drannor“, korrigierte sich Winter eilig. „An einem kleinen Weiher in den Cormanthorischen Wäldern.“
Winter hatte Glück: Zu beschäftigt damit, ihrem Sohn das Beste zu wünschen, kam es Doriens Mutter nicht in den Sinn Verdacht gegen ihre Schwiegertochter zu schöpfen.

Hades
Die Tanzende Ziege wäre nicht seine erste Wahl gewesen. Doch die Silbernen Ritter am Osttor hatten Hades an die kleine Künstlertaverne am Rauvin-Fluss verwiesen, als er ihnen sein Anliegen vorgetragen hatte.
Es war brechend voll und Hades konnte nur mit Mühe noch einen Sitzplatz ergattern. An jedem anderen Ort hätte der hünenhafte Streiter des Kelemvor mit den pupillenlosen Augen, die bleich aus seinem nachtschwarzen Gesicht stachen, für Aufsehen gesorgt. Doch hier, wo sich alles Volk von diebischen Halblingen bis zu anmutigen Elfenfrauen tummelte, schien der Richter von Rabenklippe nur in die Kategorie mindere Attraktion zu fallen. Dennoch kam er sich reichlich fehl am Platze vor, eingezwängt zwischen einer lautstarken zwergischen Knobelgesellschaft und einer älteren Dame, die in ein angeregtes Gespräch mit einer jüngeren Rothaarigen vertieft war, während ihr Mann das Kunststück gemeistert hatte, in all dem Trubel einzudösen. Ein paar Mal hatte Hades sich mit seinen Fragen bereits an einen der umherwuselnden Barden gewandt, doch ohne Erfolg.
Seit Jahren durchwanderte er nun den Kontinent auf der Suche nach dem Flüchtigen und seinem Verfolger. Doch niemand hatte Faust oder Tyrael gesehen oder auch nur von ihnen gehört. Was war geschehen? Hatte der Elf den Missetäter aufgespürt? Hatte Faust für seine Tat zahlen müssen? Hatten sich die beiden ewigen Kontrahenten gegenseitig im Duell getötet? Vielleicht war es an der Zeit, die Suche aufzugeben und Ersatz zu finden für die beiden verlorenen Schwerter. Doch Adepten der Schwertkunst waren rar in diesen Landen. Wahrscheinlich würde er seine Suche auf die Länder östlich des Sonnenaufgangsgebirges ausdehnen müssen, wo die Kunst der Schwertmagie ihren Ursprung hatte…
Während Hades seinen Gedanken nachhing, fing er mit halbem Ohr Gesprächsfetzen von den Nachbartischen auf. Die Knobler zu seiner Linken stritten sich in einem zwergisch-itruskischen Kauderwelsch um den Ausgang eines Spiels, während zu seiner Rechten die kraushaarige alte Dame die hübsche Rothaarige zu einer acht Jahre zurückliegenden Hochzeit befragte. Hades schloss aus der Art ihrer Unterhaltung, dass die beiden verschwägert waren.
„Wo fand die Hochzeit denn statt?“
„In Myth Drannor.“
„Myth Drannor? Aber… vor acht Jahren war Myth Drannor eine Ruinenstadt, oder nicht?“
Hades horchte auf. Als Inquisitor hatte er einen siebten Sinn für Unrechtmäßigkeiten. Und so entging ihm nicht, dass die vermeintliche Schwiegertochter plötzlich gehörig ins Schwitzen geriet.
„Ich meine natürlich, in der Nähe von Myth Drannor“, versuchte sie sich aus der Affäre zu ziehen. „An einem kleinen Weiher in den Cormanthorischen Wäldern.“
Sie log wie gedruckt.
Eine Heiratsschwindlerin, erkannte Hades. Offenbar gaukelte sie der Dame gerade eine Ehe mit deren Sohn vor, um Anspruch auf dessen Erbe erheben zu können. Womöglich war die ganze Familie ihres Opfers in größter Gefahr. Jemand musste eingreifen.
In diesem Moment wurde die Tavernentür aufgerissen und ein Botenjunge stolperte herein.
„Mord im Adelsviertel“, verkündete er atemlos. „Lord Oleander ist tot.“
Ein Raunen erfasste die Menge und der Junge wurde von einem Pulk neugieriger Tavernengäste umringt, die ihn mit Fragen bombardierten.
„Mord muss gerade erst passiert sein… viele Schaulustige…. Ja, es gibt bereits einen Verdächtigen… Die Silbernen Ritter haben am Tatort einen Mann festgenommen…“
Hades erhob sich.
„Wie sieht der Mann aus, der festgenommen wurde?“, dröhnte er mit tiefer autoritärer Stimme. Es wurde still und alle Gäste wandten sich ihm zu. Eine Menschenschneise bildete sich zwischen dem hünenhaften Kelemvor-Priester und dem Boten.
„Hab nicht viel sehen können“, erklärte der Junge eingeschüchtert. Dann stutzte er, als sein Blick auf den Tisch neben Hades fiel, wo der Ehemann der alten Dame gerade aus seinem Nickerchen erwachte. „Er… er sah so ähnlich aus wie er!“ Der Bote wies auf den hellhaarigen Fremden. „Aber jünger.“
Die kraushaarige alte Dame wurde kreidebleich, als sich alle Blicke in ihre Richtung wandten. Die falsche Schwiegertochter sprang auf.
„Ich regle das“, sagte sie leise und verließ, ohne die Schaulustigen eines Blickes zu würdigen, die Taverne.
Hades folgte ihr.

Winter
Sie wurde von einem großen schwarzen Mann verfolgt.
Der Fremde hatte gespenstige weiße Augen und unter seinem Umhang, den eine aufgestickte Skeletthand mit einer goldenen Waage zierte, blitzte eine Sonnenklinge. Nicht gerade der Typ von Mann, den man nachts in dunklen Gassen gerne hinter sich wusste. Winter beschleunigte ihre Schritte, doch es gelang ihr nicht, den Fremden abzuschütteln.
Schließlich gab sie auf. Abrupt blieb sie stehen und wandte sich um.
„Weshalb verfolgt Ihr mich?“, zischte sie, bereit ihm einen Zauber entgegen zu schleudern, sollte der Kerl es wagen irgendetwas zu versuchen. Stattdessen begegnete er ihr mit unterkühlter Höflichkeit.
„Gestatten.“ Der Hüne senkte, eine Verbeugung andeutend, den Kopf. „Hades mein Name. Ich habe Euch in der Taverne beobachtet. Ihr kennt den Mann, der des Mordes an dem Fürsten bezichtigt wird?“
„Ich weiß wirklich nicht, was Euch das angeht“, erklärte Winter gereizt. Ein übereifriger Möchtegern-Detektiv war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Was auch immer Dorien dieses Mal schon wieder ausgefressen hatte, es klang nach einer gehörigen Portion Ärger. „Aber ja, dieser Mann ist zufällig mein Ehemann.“
Mit diesen Worten wandte sie sich um und ließ ihren Verfolger stehen.
Das städtische Gefängnis befand sich in den Kellern des Hochpalasts. Das strahlende Märchenschloss mit den vier filigranen Türmen überblickte die Stadt von einem Hügel aus. Einhornmotive zierten die kunstvolle Stuckfassade. Das Hauptquartier der Silbernen Ritter, Silbrigmonds Stadtwache, war im Nordturm des Palasts gelegen. Dort angekommen verwies man Winter an den Hauptmann. Da dieser im Moment nicht zu sprechen war, blieb ihr nichts weiter übrig, als im Vorraum zu seinem Arbeitszimmer zu warten. Dort stellte sie fest, dass der Fremde ihr hierher gefolgt war. Sie beließ es jedoch bei einem verärgerten Schnauben, als Hades es sich auf der Wartebank bequem machte, während sie ruhelos auf und ab lief.
„Habt Ihr vor ihn um sein Geld zu betrügen?“
„Wie bitte?“
„Euren Ehemann“, sagte Hades. „Ihr habt seine Mutter belogen, was die Hochzeit in Myth Drannor anging. Habt Ihr etwas mit seiner Festnahme zu tun?“
Winter blieb jäh stehen.
„Was maßt Ihr Euch an!“,  empörte sie sich. Doch ihre Erzürnung schien den selbsternannten Detektiv nicht im Mindesten zu beeindrucken.
„Habt Ihr diesen Lord Oleander ermorden lassen?“, fragte er mit sachlicher Miene.
„Natürlich nicht!“
Winter war heilfroh, dass in diesem Moment Hauptmann Alathar in der Tür erschien. Es mochte keinen allzu guten Eindruck machen, wenn die Ehefrau eines Mordverdächtigen im Hauptquartier der Wache auf einen Fremden losging. Der Hauptmann ließ die beiden eintreten. Mit unbewegter Miene ließ er Winters Beteuerungen über sich ergehen, die ihn von der Unschuld ihres „guten Gatten“ zu überzeugen versuchte. Auf Hades’ Drängen schilderte er ihnen schließlich,  was in der Nacht geschehen war: Etwa zur zwölften Stunde hatten zwei Wachen auf Nachtpatrouille im Adelsviertel Schreie gehört, die sie zur Villa der Oleanders geführt hatten, wo ihnen ein verstörter Butler entgegen geeilt war. Im Schlafgemach hatten sie den Hausherrn mit aufgeschnittener Kehle in seinem Bett aufgefunden. Dorien war mit der Tatwaffe in der Hand ertappt worden. Zudem hatte ein Mitglied der Zaubergarde, das kurz darauf zum Tatort gerufen wurde, entdeckt, dass die Hausherrin und Gemahlin des Opfers, Lady Lucinda Oleander, unter Doriens magischer Kontrolle stand. Für den Hauptmann musste es so aussehen, als habe der Mörder versucht, eine Augenzeugin zum Schweigen zu bringen.
„Durch den Butler erfuhren wir, dass der Tatverdächtige vor zwanzig Jahren ein Verhältnis mit der Fürstin gehabt haben soll“, schloss Alathar seinen Bericht. „Der Butler sagte zudem aus, dass er den Mord beobachtet haben will. “
„Was?“ Erzürnt blickte Winter auf. „Der Mann ist doch gekauft!“
„Das denke ich nicht“, erklärte der Hauptmann ungerührt. „Er stand unter dem Einfluss einer Zone der Wahrheit, als er seine Aussage machte.“
„Was sagt der Tatverdächtige selbst zu den Vorwürfen?“, wollte Hades wissen.
„Der Tatverdächtige“, äffte Winter ihn nach.
„Er bestreitet sie.“
„Und stand er dabei auch unter magischem Einfluss?“
„Ja.“
„Was ist dann das Problem?“, wollte Winter wissen. „Er kann die Tat nicht begangen haben.“
„So einfach ist das nicht“, erklärte der Hauptmann. „Magische Verhöre können manipuliert werden. Bisher haben wir nur zwei widersprüchliche Aussagen. Doch es sei Euch versichert, dass wir alles tun werden, um den Fall aufzuklären. Lord Emmet Oleander war äußerst beliebt bei den Bürgern von Silbrigmond. Sein Mörder wird seiner gerechten Strafe nicht entgehen.“
„Und die wäre?“
„Tod durch Erhängen.“
Stille.
„Kann ich mit meinem Ehemann sprechen?“, fragte Winter.

Hades
Kurz darauf im Kerker
Der Tatverdächtige Dorien Dantés wirkte in der tristen Umgebung der Kerkerzelle wie ein Paradiesvogel im Pappkarton. Sein geschniegeltes Äußeres ließ vermuten, dass Kerkerzellen nicht eben seinen natürlichen Lebensraum darstellten und sein Gesichtsausdruck schwankte zwischen nagender Sorge und düsterer Selbstironie. Doch seine Miene hellte sich auf, als er Hades’ Begleiterin erblickte.
„Winter! Den Göttern sei Dank.“ Er sprang von der Pritsche und umklammerte die Gitterstäbe der Zelle. Dann schien er sich zu besinnen, dass Kerkerstäbe rostig und eklig waren, und ließ sie hastig wieder los. Winter schob Hades beiseite und eilte auf ihn zu.
„Was ist passiert, Dorien?“, flüsterte sie ernst. „Hast du diesen Mann getötet?“
„Was glaubst du? Natürlich nicht“, erwiderte der Eingekerkerte gekränkt. „Emmet war früher mein Mentor. Ich denke, es war Drake.“
„Drake?“
„Wer sonst hätte ein Interesse daran, mich in die Falle zu locken?“
„Erzähl mir, was passiert ist.“
„Ein Straßenjunge in der Tanzenden Ziege steckte mir eine Nachricht zu. Darin bat mich Emmets Frau um Hilfe. Nun ja, zumindest glaubte ich, dass die Nachricht von Lucinda stammte. Ich rief sofort eine Kutsche und fuhr zum Anwesen der Oleanders. Die Tür stand offen, darum trat ich ein. Und dann hörte ich den Schrei. Ich rannte hoch ins Schlafzimmer und fand Lucinda, in Blut gebadet, mit einem Dolch über den leblosen Körper ihres Mannes gebeugt. Die Arme musste annehmen, sie selbst habe Emmet im Schlaf getötet. Sie war so außer sich, dass ich befürchtete, sie könnte sich selbst etwas antun, darum entwand ich ihr den Dolch und bezauberte sie, um sie zu beruhigen.“
„… und in diesem Moment kamen die Wachen ins Zimmer“, vollendete Winter lakonisch den Bericht, „und ertappten den alten Liebhaber der Fürstin dabei, wie er seine Zeugin ruhig zu stellen versuchte. Dorien, du verdammter Narr!“ Dann seufzte sie. „Du hast Recht, das klingt ganz nach Drake. Er muss den Butler bezaubert haben, weil er wusste, dass die Ritter ihn einem magischen Verhör unterziehen würden.“
Hades hatte den Gefangenen während seines Berichts beobachtet und keine Anzeichen für Unaufrichtigkeit gefunden. Doch der Richter wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen.
Er räusperte sich vernehmlich.
„Darf man fragen, wer dieser Drake ist?“, versuchte er die beiden Eheleute auf seine Anwesenheit aufmerksam zu machen. Der Gefangene warf ihm einen irritierten Blick zu.
„Ignorier’ ihn einfach“, riet seine Anvertraute ihm säuerlich.
Hades runzelte die Stirn. So einfach ließ er sich nicht übergehen.
„Wusstet Ihr, dass Eure Frau eine Heiratsschwindlerin ist?“, schlug er zurück. Zu seinem Erstaunen schien die Frage den Eingekerkerten zu amüsieren.
„Ja, ist mir bekannt“, sagte er ungerührt. „Aber woher wisst Ihr das? Winter, ist er etwa einer deiner…?“
“Nein!“, schnappte Winter. „Sein Name ist Hades. Er verfolgt mich schon den ganzen Abend.“
Dorien rückte so nahe an Winter heran, dass die Wache misstrauisch einen Schritt nach vorne machte.
„Vertraust du ihm?“, flüsterte er, doch Hades hatte gute Ohren.
Winter zuckte mit den Schultern. „Ich denke jedenfalls nicht, dass er für Drake arbeitet. Dazu ist er zu… direkt.“
Der Eingekerkerter nickte unschlüssig.
„Hilf mir“, bat er sie ernst. „Finde heraus, warum Emmet sterben musste. Er war ein Harfneragent. Er hatte viele Feinde und einer davon hat ihm Drake auf den Hals gehetzt. Ich würde diesem Halunken nur ungern die Genugtuung verschaffen, mich für den Mord an einem Freund hängen zu sehen.“
„Ich hol’ dich hier raus“, versprach Winter.
„Und noch etwas.“ Der Blick des Gefangenen glitt besorgt über Winters Gesicht. „Scarlet… Ich weiß sie nur ungern in der Stadt, solange Drake hier ist. Dasselbe gilt für meine Eltern. Du weißt ja, was er Kaliths Familie angetan hat.“
„Ich bringe alle zu Grimwardt in die Abtei.“
„Danke.“ Dorien lächelte. „Abgesehen von der Tatsache, dass ich unsere Hochzeitsnacht im Kerker verbracht habe, war das, wie ich finde, ein durchaus gelungener Hochzeitstag.“
Winter erwiderte sein Lächeln und drückte seine Hand fester.
„Aha“, beobachtete Hades mit detektivischer Nüchternheit. „Also liebt ihr euch tatsächlich.“
Das Lächeln auf den Gesichtern der beiden gefror synchron, als sie sich umwandten, um Hades auf die Unangebrachtheit seiner Bemerkung hinzuweisen.

Grimwardt
Abtei des Schwertes, im Morgengrauen
Es war soweit. Sie griffen an.
Die nächtliche Verfolgung des Raben war wie erwartet erfolglos geblieben. Nach nur ein paar Stunden Schlaf war Grimwardt zum Morgengebet erwacht. Er hatte sich gerade vor den kleinen Schrein in seinem Zimmer gekniet, als eine Wache herein gestürzt kam, um eine feindliche Teleportation in den Innenhof der Abtei zu melden. Der Kriegspriester ließ sich hastig Rüstung und Wehrgehänge anlegen und eilte durch eine Seitentür auf den Wehrgang. Das Bild, das sich ihm bot, ließ ihn so abrupt abbremsen, dass der Bote, der ihm gefolgt war, mit seinem Rücken kollidierte.
Eine Gruppe von fünf Leuten harrte, umringt von einem Trupp Speerkämpfer, im Hof der Abtei. Winters rote Mähne leuchtete im Licht der aufgehenden Sonne. An der Hand hielt sie ihre schlaftrunkene Tochter, die verunsichert zu einem breitschultrigen Riesen von Kelemvor-Priester aufblickte, der schützend sein Schwert erhoben hatte. Eine kleine, alte Dame mit krausem braun-grauem Haar und ein hoch gewachsener Nordmann standen eng umschlungen beieinander. Sie alle waren mit Taschen und Beuteln beladen. Die Krönung aber bildete ein Wurf kleiner Katzen, die miauend umhertapsten und neugierig die Spitzen der auf sie gerichteten Speere beschnupperten.
Eine Zornesader drohte Grimwardts Stirn zu sprengen.
„WINTER FEDAYKIN!“
Polternd stapfte der Abteileiter einen Wehrturm hinunter. Nachdem er den Speerwerfern Entwarnung gegeben und die skurrile Flüchtlingsfamilie der Obhut des Quartiermeisters überantwortet hatte, zerrte er Winter wutentbrannt in sein Arbeitszimmer. Der fremde Priester folgte ihnen unaufgefordert.
„Grimwardt, ist alles in Ordnung?“, fragte Winter beunruhigt.
„OB ALLES IN ORDNUNG IST?!“, donnerte Grimwardt. „Uns steht ein Angriff bevor! Was, bei allen neun Höllen, hast du dir dabei gedacht, unangekündigt hier aufzukreuzen? Die hätten dich und deine Katzenfreunde da draußen fast aufgespießt!“
Winter sah ihn verständnislos an.
„Worüber regst du dich denn auf?“, fragte sie. „Hier wirkt doch alles recht friedlich.“
Grimwardt lief so rot an, dass sein Bart dagegen blass wirkte. Winter nutzte die momentane Sprachlosigkeit ihres Bruders, um die Situation aufzuklären und ihn mit dem Fremden bekanntzumachen.
„Kurz gesagt: Dorien braucht unsere Hilfe“, schloss sie knapp. „Du musst mit nach Silbrigmond kommen.“
„Einen Teufel werde ich tun“, schnaubte Grimwardt. „Hast du mich nicht verstanden? DIE ABTEI WIRD ANGEGRIFFEN! Ich werde hier gebraucht!“
„Willst du Dorien etwa einfach so hängen lassen?“ Erbost sah Winter ihn an.
„Scheint, als ob er das auch ganz von allein hinbekommt!“, grunzte ihr Bruder.
Es folgte ein lautstarker Disput à la Fedaykin: Winter schmollte, tobte und wand sich, während ihr Bruder stur auf seinem Standpunkt beharrte. Hades fiel die zermürbende Aufgabe zu, zwischen den Geschwistern zu vermitteln. Letztendlich verständigten sie sich darauf, dass Winter Scarlet und ihre Schwiegereltern zu ihren Eltern nach Ashabafurt bringen würde, während Grimwardt sich auf die Abreise nach Silbrigmond vorbereitete. Während ihres letzten Abenteuers waren die Geschwister in den Besitz von zwei magischen Liebesbroschen gekommen, die dem Träger an jedem Ort Aufschluss über die Gefühlslage des jeweils anderen gaben. Grimwardt entschied seinem Waffenmeister Borgo eine der Broschen zu überlassen, um im Ernstfall gewarnt zu sein.
„Sobald ich auch nur den Verdacht hege, dass der Angriff beginnt, wirst du mich augenblicklich zurück teleportieren, hast du verstanden?“, forderte Grimwardt.
„Ja, verstanden“, murrte Winter.
„Und wenn ich nur zurückkomme, weil Borgo sich darüber aufregt, dass ein Vogel auf seinen Turnierhelm gekackt hat, will ich keine dummen Sprüche von dir hören, ist das klar?“
Winter verdrehte die Augen.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 09. Januar 2010, 03:14:56
...Wir sollten echt ne Serie draus machen... wie LOST... und Hades ist Mr. Eko  :D
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 09. Januar 2010, 17:59:27
Das ist so richtig spannend! Auch wenn ich eigentlich weiß wie es weitergeht...
Und ich wüsste wirklich nicht, worin du einem professionellen Romanautor noch nachstehst.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 09. Januar 2010, 18:06:29
Ja, ich finds auch toll!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Zophael am 12. Januar 2010, 12:47:53
@Nightmoon

Und wer sind die anderen? Gibt's bei LOST jemanden der sich pérmanent besäuft? Ich kenne nur jemanden der permanent was zu Essen haben will...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 13. Januar 2010, 01:13:24
Nee, aber Charlie ist am Anfang immerhin Drogenabhängig...

hmm...
Hades ist also Eko... der schwarze Kriegspriester mit Gastauftritt ;)
und demnach Charlie
Kalyd wäre wohl am ehesten Desmond
Nimoroth ist Hurley, oder später Richard
Winter ist ne Mischung aus Kate und Shannon, vor allem aber Kate
Grimwardt ... am ehesten John Lock
Dorien ist auch Shannon
Drake ist ne Mischung aus Ben und Sawyer
und Faust nur Sawyer ;)

...fehlt noch wer? :)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 13. Januar 2010, 08:53:44
Hey, lustig, das funktioniert nicht nur mit LOST

Firefly Cast
Hades - Shepherd
Winter - Saffron
Drake - Early
Grimwardt - auch Shepherd
Faust - Mal
Dorien - Inara
Nimoroth - Simon Tam

:-)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 14. Januar 2010, 01:37:59
...Oder Heroes:

Hades ist der Haitianer
Boltor ist... Hiro?
Kalyd als Peter Petrelli
Nimoroth ist Mohinder (vor Staffel 3)
Winter ist Jessica
Grimwardt ist Hiros Vater
Dorien ist Claire
Drake ist Takezo Kensai (also Adam)
und Faust ist Nathan Petrelli
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 18. Januar 2010, 02:36:54
Wow, war die letzte Runde wieder super! Respekt! Freue mich schon auf all die filmreifen Ereignisse, die jetzt folgen...
...Oh, und Faust hat glaube ich diesmal eher gezeigt, dass er auch ein ziemlicher Jane wäre, wäre er auf der Firefly... etwas Irre halt  :suspious:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Thalas am 18. Januar 2010, 18:09:08
Sehr spanned :-) Bin ebenfalls gespannt wie es weiter geht :-)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 22. Januar 2010, 03:56:44
Hey, noch ein Leser.... freut mich, dass du auch mal vorbeischaust :-)

Kapitel III: Die Jagdhütte

Hades
Am nächsten Tag in Silbrigmond
Als sie die Villa der Oleanders erreichten, fuhr gerade die Leichenkutsche vor. Zwei Silberne Ritter bewachten den Eingang. Doch die Witwe des Fürsten musste den Wächtern die Anweisung erteilt haben, die Gefährten einzulassen, denn niemand versuchte die schwer bewaffnete Gruppe aufzuhalten. Von Grimwardt erfuhr Hades, dass er und seine Schwester unter anderen Umständen bereits die Bekanntschaft der Fürstin gemacht hatten.
Im Salon standen Kondolenzbesucher in kleinen Grüppchen beisammen. Nachdem Lady Lucinda die Gruppe zum Leichenschmaus in den Salon gebeten hatte, kam die Witwe auf die Ereignisse des letzten Abends zu sprechen.
„Mir ist bewusst, dass sich Euer Freund keines Verbrechens schuldig gemacht hat“, sagte sie steif. Ihre kühle, distanzierte Wortwahl stand in seltsamen Kontrast zu der schmerzlichen Verletzlichkeit, die ihre kleinen nervösen Gesten– ein fahriges durch-die-Haare-Streichen, ein überspanntes Händekneten - preisgaben. „Ich werde natürlich für die Gerichtskosten aufkommen und wenn ich noch in anderer Hinsicht von Nutzen sein kann, so lasst es mich wissen.“
„Das könnt Ihr“, erklärte Hades geradeaus. „Wir würden diesen Fall gerne untersuchen. Natürlich sind wir dazu auf Eure Beobachtungen angewiesen. Was könnt Ihr uns über den Verstorbenen sagen?“
„Nun ja“, erklärte die Witwe und ihr Blick flackerte, als sie in Gedanken die Ereignisse der letzen Tage rekapitulierte. „Mein Mann arbeitete hin und wieder für die Harfner… Während seiner Missionen haben wir nur selten Kontakt, darum hatte ich schon seit einigen Wochen nichts von ihm gehört. Vor einigen Tagen stand er dann plötzlich vor der Tür: Er hatte zahlreiche Brandwunden und keuchte, als sei er gerade erst einem tödlichen Kampf entronnen. Dann stammelte er etwas davon, dass die Silbermarken in Gefahr seien. Emmet…“ Ihre Stimme brach, als sie seinen Namen aussprach und sie schloss für einen Moment die Augen. „Es war nicht das erste Mal, das Emmet verwundet und voller Sorge von einem Auftrag zurückkehrte; ich habe damit zu leben gelernt. Seine Erschöpfung und die Verletzungen raubten ihm das Bewusstsein, ehe er sich mir erklären konnte, und mir schien seine Genesung wichtiger als seine Warnung. Für einen halben Zehntag pflegte ich ihn gesund. Er hatte Fieberträume und war oft nicht ansprechbar. Doch er war bereits auf dem Weg der Besserung, als… als es geschah.“ 
Ihr Blick wurde hart und kalt, doch ihre Hände zitterten.
„Da ist noch etwas“, fügte die Fürstin nach einigem Zögern hinzu. „Bitte haltet mich jetzt nicht für verrückt, aber… Als ich heute Morgen zum ersten Mal wieder das Schlafgemach betrat, fand ich auf dem Boden einen Hut. Es war eine einfache schwarze Jägermütze, nicht die Art von Federbarret, die Emmet zu tragen pflegte. Als ich ihn aufhob, erzitterte der Hut in meiner Hand und… und es schien als lache er. Dann zerfiel er zu Staub. Allein ein Filzemblem, das auf der Seite aufgenäht war, blieb in meiner Hand zurück.“
„Die Lachenden Hüte“, murmelte Winter. Sie und ihr Bruder tauschten einen Blick.
„Drake“, sagten sie einstimmig.
Drake. Schon wieder dieser Name.
Hades ließ sich aufklären: Drake war ein alter Widersacher der Geschwister, der sich hier in den Silbermarken und an der nördlichen Schwertküste einen zweifelhaften Ruf als Meuchelmörder gemacht hatte. Über die Lachenden Hüte waren die Geschwister bereits bei ihrer letzten Begegnung mit dem Schurken gestolpert. Winter glaubte, dass es sich dabei um eine lokale Diebesorganisation handelte, mit der Drake hin und wieder zusammenarbeitete. Die Mitglieder pflegten an jedem Tatort magische Hüte zu hinterlassen, um Nachrichten zu übermitteln. Waren diese überbracht, so zerfielen sie zu Staub, um nicht zu viel über die Täter zu verraten.
Hades ließ sich von Lucinda das Filzabzeichen zeigen, das der Täter ihr hatte zukommen lassen: ein grauer Turm im Ring einer schlafenden Schlange vor schwarzem Grund.
„Was hat das zu bedeuten?“, wollte er wissen.
„Ich kenne dieses Emblem“, erklärte die Witwe. „Es ist das alte Familienwappen der Familie. Emmet ließ vor etwa zehn Jahren seinen Familiennamen und das Wappen ändern. Er entstammt einem sehr alten Silbrigmonder Adelsgeschlecht.“
„Warum ließ er den Namen ändern?“
„Das weiß ich nicht. Emmet sprach nicht gern über seine Familie und zu der Zeit, da ich ihn heiratete, war er bereits der letzte seines Geschlechts.“
„Wie war der alte Name der Familie?“
Lucinda schüttelte traurig den Kopf und verzog schmerzlich die Mundwinkel, als ihr bewusst wurde, wie wenig sie über ihren verstorbenen Ehemann wusste. „Vielleicht solltet ihr die Bibliothek aufsuchen, wenn Euch das weiterhilft.“ Sie überlegte einen Augenblick „Oder besser noch: Fragt nach Xara Tantlors Magierladen. Die Gelehrten können mit fast jeder Art von Wissen dienen, aber sie lassen sich ihre Dienste teuer bezahlen. Wenn es um Stadtgeschichte geht, so ist die Schimmernde Schriftrolle die erste Anlaufstelle. Xaras Onkel verwaltet die Stadtarchive und seine Nichte bewahrt im Keller ihrer Magierstube einige Abschriften der wichtigsten Dokumente auf. Für ein nettes Schwätzchen und eine Weiterempfehlung kann sie euch sicher etwas zu Emmets Familie erzählen.“
„Da wäre noch etwas“, sagte Winter. „Euer Butler…“
„Marlow?“
„Seiner Aussage zufolge will er beobachtet haben, wie Dorien Euren Mann tötete. Wir glauben, dass der wahre Mörder sein Gedächtnis manipuliert haben könnte, um ihn das glauben zu machen. Könnten  wir uns Marlow wohl für eine Weile ausborgen, um der Sache auf den Grund zu gehen?“
Lucinda nickte und rief nach dem Butler, der augenblicklich auf der Türschwelle erschien.
Marlow gehörte offenbar zu der Art von Dienern, die sich blaublütiger geben als ihre Herren.
„Ich lüge nicht“, erklärte er Nase rümpfend, nachdem Winter ihm ihre Vermutungen offenbart hatte und blickte dünkelhaft von oben auf sie herab. „Und ich denke auch nicht, dass ich manipuliert wurde. Ich bin nicht käuflich und meine Aussage wurde bereits magisch überprüft. Ich habe diesen Mann dabei beobachtet, wie er meinem Herrn die Kehle aufschnitt und ich bin nicht gewillt, diese Aussage zu widerrufen.“ 
„Wenn Ihr Euch Eurer Sache so sicher seid, würde es Euch sicher nichts ausmachen, wenn wir Eure Behauptung noch einmal überprüfen würden, nicht wahr?“, manövrierte Winter ihn eilfertig dorthin, wo sie ihn haben wollte.
„Was immer meine Herrin befiehlt“, erwiderte der Butler steif.

Winter
Ein paar Stunden später in der Schimmernden Schriftrolle
Die Silbernen Ritter hatten sich bei dem Versuch die Aussage des Butlers zu entkräften als äußerst unkooperativ erwiesen. Zwar war die Adjutantin des Hauptmanns gewillt gewesen, Winter unter Aufsicht einen Aufklärungszauber wirken zu lassen, der eindeutig bewies, dass der Butler zum Zeitpunkt seiner Aussage unter dem Einfluss eines Zaubers gestanden hatte, der seine Erinnerungen manipulierte, doch Doriens Unschuld bewies das in den Augen der Wache noch nicht. Hades vermutete, dass die Ritter sich aus sicherheitspolitischen Gründen scheuten, ihren einzigen Tatverdächtigen zu entlasten. Lord Oleanders Tod hatte bis über die Stadtgrenzen hinaus für Aufsehen gesorgt. Ein Mörder, der bereits in ihrer Gewalt war, erlaubte es der Stadtwache, das Gefühl der Sicherheit bei den Bürgern aufrechtzuerhalten. Ein Mörder, der noch frei herumlief, war dagegen ein gefundenes Fressen für böse Zungen. Ein unaufgeklärter Mord an einem lokalen Helden war eine Pleite, die sich die Wächter der Silbermarken nicht leisten konnten, denn Silbrigmond und die Marken waren umgeben von Feinden, die danach trachteten von innen zu zerstören, was bisher jedem Eroberungsversuch standgehalten hatte, und nur darauf warteten, dass sich Risse bildeten im Panzer des Vertrauens, den Fürstin Alustriel und die Zwergenfürsten trotz aller kultureller Unterschiede und politischer Uneinigkeiten über all die Jahre um die vielschichtige Bevölkerung der Region aufgebaut hatten. Wenn es den Gefährten also gelingen wollte, Dorien bei der Gerichtsanhörung in zwei Tagen vor dem Strick zu bewahren, dann würden sie dem Gericht den wahren Mörder wohl auf einem Silbertablett präsentieren müssen.
Ihre einzige Spur war derzeit das Wappenemblem, das Drake am Tatort zurück gelassen hatte. Was hatte das zu bedeuten? Eine Falle? Wollte er gefunden werden? Oder legte er es lediglich darauf an, sie in die Irre zu führen wie bereits in Myth Drannor?
Da die Gefährten keine andere Wahl hatten als sich auf das Spiel des Schurken einzulassen, hatten sie sich auf den Weg zu dem Magierladen gemacht, den Lady Lucinda ihnen genannt hatte. Die Schimmernde Schriftrolle war ein kleiner Eckladen nicht unweit der Mondscheinbrücke. Xara Tantlor, eine hübsche junge Magierin mit lebhaften grünen Augen und goldbraunem Haar, hieß sie freundlich willkommen. Während sie die magischen Gegenstände in Augenschein nahm, die die Gefährten ihr zum Ankauf darboten, kam Winter auf ihr eigentliches Anliegen zu sprechen.
„Oleander“, überlegte Xara. „Ja, es stimmt, der Fürst ließ vor ein paar Jahren seinen Namen ändern…Ich war noch sehr jung, doch ich erinnere mich daran, dass mein Vater davon sprach.“
„Wisst Ihr, was es mit diesem Wappen auf sich hat?“ Winter schob der Ladenbesitzerin das Filzabzeichen über den Ladentisch. Xara warf einen kurzen Blick darauf und schüttelte den Kopf.
„Nein. Aber wenn Ihr einen Augenblick Zeit habt, könnte ich im Keller nachsehen, ob ich etwas darüber finde. Wartet hier.“ Bevor sie in einer Nebentür verschwand, drehte sie sich noch einmal um und erhob mit einem schalkhaften Zwinkern den Zeigefinger. „Und dass Ihr mir nichts mitgehen lasst! Villynk hat schon so manchem Langfinger die Augen ausgestochen!“
Erst jetzt bemerkte Winter den Raben, der unbeweglich wie ein böses Omen auf dem Schriftrollenständer hinter dem Ladentisch harrte und sie aus schwarzen, penetranten Augen anstierte. Winter lief ein Schauer über den Rücken. Sie würde niemals verstehen, was „echte“ Magier dazu bewog, sich Ratten, Wiesel und anderes Getier als Vertraute zu halten. In ihren Augen hatte dieser grässliche Vogel nichts magisches, allenfalls etwas voyeuristisches.
Xara kam mit einem dicken Folianten zurück – offenbar ein Verzeichnis von Stadtgenealogien. 
„Hier“, sagte sie und schob Winter den Wälzer entgegen. Unter einem Stammbaum erkannte die Diebesmeisterin das alte Wappen der Oleanders. „Emmet Oleander war der letzte Nachkomme einer alten itruskischen Familie mit nesserischen Wurzeln; den Hadruinen. Der Name erinnert stark an Prinz Hadhrune, den jüngsten Sohn des Hochprinzen von Umbra. Möglich, dass die Umbranten und Oleander derselben Blutlinie entstammen. Mit dem Fall Nesserils ist die Herkunft des Familiennamens vermutlich in Vergessenheit geraten, denn in den Genealogien findet sich nichts darüber. Doch als die fliegende Stadt Umbra vor zehn Jahren über dem See der Schatten in der Wüste Anauroch auftauchte, muss die verlorene Verbindung wiederaufgetaucht sein.“
„Und Lord Oleander ließ seinen Namen ändern, um nicht mit diesen… Umbranten in Verbindung gebracht zu werden?“, riet Winter. Sie wusste nur wenig über die mysteriösen Nachfahren des legendären Nesseril, die sich in der Anauroch niedergelassen hatten. Woher kamen sie und wie hatte ihre Stadt den Niedergang des Imperiums überstehen können? Aber soweit ihr bekannt, waren die Schattenwesen noch niemals öffentlich in Erscheinung getreten, doch es wurde allgemein vermutet, dass sie imperialistische Ziele verfolgten. Immerhin entstammten sie einem Volk mächtiger Magier, das von seinen fliegenden Städten einst über ganz Faerûn geherrscht hatte.
Xara zuckte mit den Schultern.
„Möglich“, sagte sie. „Vielleicht war die Namensänderung eine offizielle Distanzierung von seinen zwielichtigen Verwandten. Oder auch eine Botschaft an die Umbranten. Es wird gemunkelt, dass Hadhrune seine Informanten in allen großen Städten um die Anauroch hat. Oleander könnte auf diese Weise einem Rekrutierungsversuch vorgebeugt haben.“
„Oder ein solches Gesuch abgelehnt haben“, ergänzte Hades. „Vielleicht hat ihn das das Leben gekostet.“
„Da ist noch etwas.“ Xara wies auf die Zeichnung in dem Buch. „Die Fußnoten besagen, dass das Wappen von einem Bodenmoasaik in einer Jagdhütte im Hochwald abgezeichnet wurde.“
„Eine Jagdhütte?“
„Oleanders Familie ist im Besitz zahlreicher Anwesen in Silbrigmond und Umgebung.“
Grimwardt und Winter tauschten einen viel sagenden Blick.
Sie beeilten sich, den Handel mit der Magierin zu besiegeln und ihre Ausrüstung ein wenig aufzubessern. Dann verließen sie den Laden.
„Das ist eine Falle“, erklärte Grimwardt, kaum dass sie vor der Tür standen. „Er will, dass wir zu dieser Jagdhütte kommen.“
Winter zuckte mit den Schultern. „Wenn das die einzige Möglichkeit ist, an Drake heranzukommen, sollten wir uns darauf einlassen.“ Der Versuch den Assassinen auf magische Weise zu orten hatte sie schon einmal in die Irre geführt.
Grimwardt grummelte etwas Unverständliches, das wohl so viel heißen sollte wie: „Die Sache gefällt mir nicht, aber ich habe auch keinen besseren Vorschlag.“ 

Grimwardt

Irgendwo im Hochwald.
Die Jagdhütte hatte vermutlich schon bessere Tage erlebt. Die Westwand des Steingebäudes hatte sich der Eroberungswut zweier mächtiger Schattenkronen gebeugt, die mit der Zeit mit dem Gebäude  verwachsen waren. Das Dach war an einigen Stellen eingebrochen und die übrigen Wände wiesen teils große Löcher auf. Eine moosbedeckte Holztür schien der einzige Eingang zu sein. Die Fensterläden waren von innen verriegelt, was ihnen jeden Blick ins Innere der Hütte verwehrte. All das ließ darauf schließen, dass Lord Oleander diesen Ort schon seit Jahren nicht mehr aufgesucht hatte. Grimwardt sah, wie Winters Augen blau aufleuchteten, ein Zeichen dafür, dass sie ihren magischen Blick einsetzte, um die Umgebung auf magische Aktivität zu untersuchen.
„Wir sind innerhalb eines Alarmzaubers aufgetaucht“, erkannte sie Stirn runzelnd. „Wer oder was auch immer da drin auf uns wartet, wird nun wissen, dass wir hier sind.“
Vorsichtig näherte sich Winter der Tür, um sie nach Fallen zu untersuchen. Grimwardt wirkte derweil einen mächtigen Erkenntniszauber, um nicht wie in Myth Drannor auf Drakes Illusionen hereinzufallen. Dieses heimliche Getue passte ihm ganz und gar nicht in den Kram. Wenn es nach dem Kriegspriester ging, würden sie die Bruchbude mit Pauken und Trompeten stürmen und diesen elenden Spitzbuben vor die Tür prügeln, dass ihm Hören und Sehen verging. Ein Blick auf Hades verriet ihm, dass auch der Todesrichter eine direktere Methode vorziehen würde.
Die Tür öffnete sich mit einem Knarren und gab den Blick in einen kleinen Gemeinschaftsraum frei, der nur spärlich vom Licht der wenigen Sonnenstrahlen erhellt wurde, die sich einen Weg durch die Löcher in der Wand bahnten. Das Bodenmoasik mit dem Wappen der Hadruinen war bis auf einige jüngere Fußabdrücke vollständig mit Staub bedeckt, ebenso wie vier der sechs ausgestopften Wolfstrophäen an den Wänden. Die anderen beiden jedoch…
„Winter!“
Doch es war zu spät. Kaum war Winter in den Raum gehuscht, wurden zwei der Wolfsköpfe lebendig. Knurrend sprangen die beiden Werwölfe, die sich in der eingestürzten Wand versteckt und ihre Köpfe durch die Löcher im Gestein gesteckt hatten, aus den Wänden und erhoben ihre Äxte gegen Grimwardt und Hades. Der Kriegspriester sah noch, wie etwas Dunkles in den Raum huschte und hörte Winters überraschten Schrei. Dann versperrten ihm die haarigen Oberkörper der beiden Wolfsmenschen die Sicht. Grimwardt erwiderte den Angriff mit einem donnernden Axthieb seinerseits, der den Werwolf in die Knie zwang, während Hades hinter ihm vergeblich versuchte, eine bessere Position zu erlangen, um den zweiten Werwolf anzugreifen.
„Genug“, befahl eine bekannte Stimme noch ehe der Kampf richtig begonnen hatte. Der verletzte Werwolf bleckte widerwillig die Zähne, trat jedoch mit gesträubtem Rückenhaar den Rückzug an.
Drake stand reglos in der Mitte des Raumes, die Spitze seines Dolches unmissverständlich auf Winters entblößte Kehle gerichtet, die bewusstlos in seinen Armen lag. 
„So sieht man sich wieder“, sprach der Albino mit jenem spöttischen Unterton, der nie ganz aus seiner Stimme wich. „Steckt die Waffen weg. Ich hoffe, du nimmst das nicht persönlich, Grimwardt. Ich wollte lediglich meine Verhandlungsposition ein wenig verbessern.“
Mit einem düsteren Grummeln ließ der Kriegspriester seine Waffe sinken. Nachdem Drake die beiden Werwolfsöldner entlohnt hatte, wies er Grimwardt und Hades an, am Tisch ihm gegenüber Platz zu nehmen. Während er die bewusstlose Geisel mit dem Kopf auf den Tisch bettete, wich sein Dolch nicht von ihrer Kehle.
„Was willst du diesmal?“, knurrte Grimwardt.
„Ich?“ Drake hob mit gekünsteltem Erstaunen eine Augenbraue. „Ich dachte, Ihr hättet nach mir gesucht.“
„Habt Ihr Lord Emmet Oleander ermordet?“, meldete sich Hades zu Wort. Drake maß den Kelemvorpriester mit argwöhnischen Blicken. Hades war ein Unsicherheitsfaktor, den der Assassine in seinem Plan nicht bedacht hatte und Grimwardt wusste, wie Drake Überraschungen hasste.
„Natürlich habe ich den Mann ermordet“, sagte er kalt. „Aber das wusstet ihr, bevor ihr herkamt.“
„Und ihr habt auch den Butler bezaubert, um den Mord dem Abenteurer Dorien Dantés in die Schuhe zu schieben?“ Hocherhobenen Hauptes nahm der Inquisitor den Schurken ins Verhör, so als säße Drake auf der Anklagebank und nicht mit einer Geisel unter seiner Fuchtel am anderen Ende eines Verhandlungstisches.
Drake lachte verächtlich.
„Goldlöckchen war der ideale Sündenbock.“
Hades erhob sich mit förmlicher Würde.
„In diesem Fall muss ich darauf bestehen, dass Ihr uns nach Silbrigmond begleitet, um Eure gerechte Strafe zu erhalten“, erklärte der Richter mit Nachdruck.
Drake verstärkte den Griff um seinen Dolch.
„Grimwardt“, zischte er angespannt. „Wärst du wohl so freundlich, deinem nekrophilen Freund die Lage zu erklären.“
Der Tempuspriester ergriff beschwichtigend Hades’ Arm und bedeutete ihm, sich wieder zu setzen.
„Ich bezweifle, dass du mit uns kommen und dich dem Sterngericht stellen wirst“, sagte Grimwardt ruhig. „Also was hast du uns anzubieten, das uns dabei helfen könnte, Doriens Unschuld zu beweisen?“
Drake griff mit seiner freien Hand unter den Tisch und beförderte ein kleines in Leder gebundenes Buch zu Tage.
„Oleander hat über seine Aufträge Tagebuch geführt“, sagte Drake. „Ich bin darin zwar nicht namentlich erwähnt, aber seine Schilderungen dürften zumindest das Motiv der Anklage widerlegen, die auf Mord aus Eifersucht plädiert. Außerdem habt ihr bereits mein Geständnis.“
„Und was verlangst du als Gegenleistung?“
Drake lächelte bitter und zog die Kerze, die auf dem Tisch stand, näher zu sich heran. Das veränderte Licht malte tiefe Schatten unter die Wangenknochen des Albinos. Nur im Licht war zu erkennen, dass sein rechtes Auge aus Glas war, denn die Helligkeit ließ sein echtes Auge tränen und verlieh ihm einen rötlichen Schimmer. Grimwardt entsann sich, dass Drake sich das magische Auge als Gegenleistung für die Beschaffung eines Artefakts hatte anfertigen lassen.
„Vor einiger Zeit“, erklärte Drake, während die Flamme über sein Gesicht tanzte, „machte ich mir eine junge Magierin zum Feind, die zusammen mit Kalith und seiner Abenteuergruppe umherreiste. Bedauerlicherweise ist aus der kleinen unschuldigen Feyleen vom Eggental inzwischen eine rachsüchtige Dämonenfürstin geworden, die mich verfolgt wie eine besessene alte Vettel. Sie muss irgendeinen Weg gefunden haben, meinen magischen Ortungsschutz zu umgehen. Bei ihrem ersten… Besuch verlor ich meinen linken Daumen. Vor etwa einem Monat erschien sie zum zweiten Mal, um mich meines rechten Auges zu entledigen und mir das Versprechen zu geben, dass beim nächsten Mal mein Kopf dran glauben wird.  Ich muss gestehen, dass ich wenig erpicht darauf bin, darauf zu warten, bis diese sadistische Irre zum dritten Mal auftaucht, um ihr Versprechen in die Tat umzusetzen.“
Grimwardt runzelte die Stirn.
„Erwartest du jetzt, dass ich dich bedaure?“, grunzte er rau. „Was hat das ganze mit uns zu tun?“
„Ich beabsichtige, eine Fürstin des Abgrunds herauszufordern.“ Drake kniff die Augen zusammen und spannte seinen Unterkiefer an. „Glaubst du, ich bin so lebensmüde, das alleine durchzuziehen?“
„Du brauchst unsere Hilfe.“
War das zu fassen? Nachdem Drake erst Winters Tochter entführt hatte, um die Geschwister zu erpressen, das Artefakt zu beschaffen, das ihm sein magisches Auge eingebracht hatte, besaß dieser Wicht nun die Frechheit, sie zu einem Ausflug in den Abgrund zu zwingen, damit sie seine Haut vor einer rachsüchtigen Dämonin retteten? Und das alles, wo sie ihrem ehemaligen Mitstreiter sogar freiwillig zur Seite gestanden hätten, wenn er wie jeder vernünftige Mensch um ihre Hilfe gebeten hätte statt sie zu erzwingen? In diesem Moment begriff Grimwardt, dass Drake, bei all seinen ausgeklügelten Plänen und durchdachten Schachzügen, unfähig war, ein so einfaches Konzept wie Freundschaft zu durchschauen. Nun, wenn er ein Zwecksbündnis haben wollte, sollte er es bekommen! Früher oder später würde er unachtsam werden, und dann würden sie mit ihm abrechnen.
„Schön“, stimmte Grimwardt dem Handel zu. „Oleanders Tagebuch gegen unsere Hilfe.“
Drake lachte leise.
„Nicht so schnell“, wehrte er ab. „Du wirst verstehen, dass ich eine Absicherung brauche.“ Er schnippte mit dem Finger und auf sein Zeichen trat eine Magierin, die sich bisher im Schatten verborgen hatte, an seine Seite.
Es war die Besitzerin der Schimmernden Schriftrolle.
Sie hatte magisch ihr Aussehen verändert, sodass sie den Werwölfen in ihrer menschlichen Gestalt glich. Doch der Erkenntniszauber, den Grimwardt vor dem Eintritt in die Hütte gewirkt hatte, enthüllte ihre wahre Identität.
„Xara Tantlor.“
Die Magierin erstarrte, als er sie bei ihrem Namen nannte, und wandte sich Hilfe suchend nach Drake um. Offenbar hatte der Schurke seine junge Komplizin über die magischen Fähigkeiten seiner Gegner im Unklaren gelassen. Erst jetzt schien Xara klar zu werden, dass sie  womöglich einen folgenreichen Fehler begangen hatte, als sie sich auf den Assassinen eingelassen hatte.
Verunsichert trat sie auf Grimwardt zu.
„Grimwardt Fedaykin“, sagte Drake, der sich keinen Deut um Xaras Unbehagen zu scheren schien. „Schwörst du, dass du mir als Gegenleistung für die Aushändigung des Tagebuchs zusammen mit deiner Schwester Winter dabei helfen wirst, die Dämonenfürstin Feyleen zu besiegen, wenn ich dich darum ersuche, und dass unser Bündnis erst mit ihrem Tod endet.“
„Ich schwöre.“
Drake gab Xara ein Zeichen, woraufhin sie einen Zauber wirkte. Ein rotes Mal erschien auf Grimwardts Stirn.
„Was hat das zu bedeuten, Drake?“
„Brichst du dein Wort, wird deine Nichte Scarlet darunter leiden“, erklärte Drake kalt.
Grimwardt kniff die Augen zusammen.
Dieser elende Mistkerl! Und wieder machte er ein hilfloses Kind zum Werkzeug seiner düsteren Pläne. In diesem Moment schwor sich Grimwardt, dass sie einen Weg finden würden, Drake seine Taten heimzuzahlen. Und wenn sie sich dafür mit dieser Dämonenfürstin verbünden mussten!
„Auf gute Zusammenarbeit“, sagte Drake sarkastisch und schob Grimwardt das Tagebuch über den Tisch. „Ich melde mich wieder, sobald ich einen Plan entwickelt habe.“
Mit diesen Worten gab er Xara ein Zeichen und die Magierin begann, eine Teleportationsformel zu sprechen.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Abracadaver am 22. Januar 2010, 04:11:45
Ich muss auchmal ein Lob aussprechen, sehr spannende Geschichten und auch sehr schön ausgeschrieben!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 22. Januar 2010, 16:59:03
...Susi... irgendwie kippen deine Charaktere immer zu schnell um... da müssen wir was tun  :D
...und es bleibt spannend!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 22. Januar 2010, 18:06:04
Ja, verdammt...irgendwas mach ich da grundlegend falsch ;-)
Da wissen wir schon, dass es eine Falle ist, und laufen dennoch blind wie Frischlinge hinein.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Thalas am 01. Februar 2010, 00:29:13
Hey, noch ein Leser.... freut mich, dass du auch mal vorbeischaust :-)

Immer wieder mal^^ Hört sich aber alles sehr gut an. Hab dem Mischel schon gesagt, dass ich vermutlich nach Ostern irgendwann auch mal wieder als "Gaststar" auftauchen werde  :D Du bist ja bald eh erstmal weg...oder? Weiter so!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 07. Februar 2010, 18:45:46
Ich warte schon ungeduldig auf Neuigkeiten :-)
Hoffe der Job lässt noch ein bisschen Zeit für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens  :wink:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 11. Februar 2010, 17:48:39
Kapitel IV: Das Immerfeuer von Sundabar

Winter
Die Gewölbekammern von Silbrigmond, am nächsten Morgen.
Als die Gefährten das Foyer der Bibliothek betraten, gerieten sie in einen Strudel von Gelehrten, Studenten und Deneir-Bibliothekaren, die sich aufgeregt lamentierend um ein Nachrichtenportal auf der Galerie scharrten.
„Was ist denn passiert?“, wandte sich Winter an einen der Herumstehenden.
„Ihr wisst es noch nicht?“, entgegnete der Angesprochene. „Gestern Abend tauchte am See der Schatten eine antimagische Zone auf, die sich inzwischen über ganz Anauroch verbreitet hat. Eine zweite entstand heute Morgen im Schattental. Niemand weiß, wer dahinter steckt oder wie so etwas möglich ist… eine magietote Zone von solchen Ausmaßen!“
Winter stutzte. Eine magietote Zone in der Wüste von Anauroch? Das ließ die Tagebucheinträge des Lord Oleander in einem ganz neuen Licht erscheinen. Doch darum würden sie sich später kümmern. Zunächst galt es, Doriens Anwalt, der, wie sie von seiner Haushälterin erfahren hatten, um diese Zeit im Foyer seinen allmorgendlichen Tee einzunehmen pflegte, über die neuen Entwicklungen zu informieren und ihm eine Abschrift des Tagebuchs zukommen zu lassen, um für die morgige Verhandlung gerüstet zu sein.
Der Anwalt entpuppte sich als achtbarer älterer Herr, der nichts in der Welt so sehr schätzte wie eine Tasse guten Tees. Ihm schien zwar weniger Doriens Kopf als Lucindas Gold am Herzen zu liegen, doch nachdem er die Aufzeichnungen des Fürsten gelesen und sich den Bericht der Gefährten angehört hatte, schien er immerhin in Erwägung zu ziehen, dass sein Mandant tatsächlich unschuldig war. Winter konnte nur hoffen, dass ihn dieser Gedanke bei der Verhandlung am nächsten Tag ein wenig aus seiner schläfrigen Geruhsamkeit reißen würde.
 „Was steht als nächstes an?“, fragte Hades, nachdem der Anwalt gegangen war.
Im selben Moment fuhr Grimwardt zusammen.
„Grim, was hast du?“
„Die Brosche.“
„Welche Brosche?“
„Sie ist erloschen! Die Abtei ist in Gefahr.“ Der Abteivogt erhob sich so abrupt, dass er beinahe seinen Stuhl umgerissen hätte. „Winter, du musst mich auf der Stelle…“
„Grimwardt, ich kann dich nicht zurück teleportieren“, sagte Winter und ergriff beschwichtigend seinen Arm. „Es muss an der magietoten Zone liegen. Wahrscheinlich hat sie sich inzwischen auf das Schlachtental ausgeweitet, sodass…“
Winter erschrak. Wenn sie die Abtei bereits erreicht hatte, so musste die magielose Zone auch die Kleinstadt Ashabenfurt im Misteltal bereits überzogen haben. Ashabenfurt, wo ihre Eltern ein kleines Gasthaus und einen Mietstall unterhielten und wohin sie Scarlet und ihre Großeltern gebracht hatte, um sie vor Drake zu schützen…. Winter schluckte. Der Wegfall der Magie würde unweigerlich Plünderer und Banditen auf den Plan rufen, die die Gelegenheit beim Schopfe packen und sich die Schutzlosigkeit der Talländer zu Nutze machen würden.
„Was sollen wir tun?“, fragte sie mit belegter Stimme.
„Beginnen wir mit den Tagebuchaufzeichnungen“, schlug Hades vor, um die Geschwister von ihren Sorgen abzulenken.
Zumindest was Oleanders Aufzeichnungen anging, hatte Drake sie nicht getäuscht. In seinem Tagebuch schilderte der Fürst den Verlauf seiner letzten Harfner-Mission, die ihn auf die Spur einer Elfe gebracht hatte, die Silbrigmonds Adelskreise für einen Halbdämon namens Lord Volumvax Sciagraph ausspioniert hatte. Als sie herausgefunden hatte, dass Oleander ihr auf die Schliche gekommen war, hatte sie ihm einen Meuchelmörder auf den Hals gehetzt, doch der Fürst war dem Anschlag entkommen. Aus Aufzeichnungen, die die Elfe bei sich trug, war hervorgegangen, dass ihr Auftraggeber mit dem Prinzen Hadhrune von Umbra in Verbindung stand. Ein weiterer Hinweis hatte Oleander schließlich in die Nachbarstadt Sundabar geführt. Sein letzter Eintrag lag etwa einen Zehntag zurück:

Sundabar, 13. Tag des Tarsakh
Meine schlimmsten Befürchtungen scheinen sich zu bewahrheiten. Die Zwerge des Unterheims erzählen, dass der Vulkansee in letzter Zeit angestiegen ist. Gleich morgen früh werde ich zum Immerfeuer hinunter gehen, um der Sache auf den Grund zu gehen.


Was immer der Fürst dort, am Vulkansee von Sundabar, gefunden hatte, es hätte ihn beinahe das Leben gekostet. Irgendwie musste er es ihm gelungen sein, sich verwundet zurück nach Silbrigmond zu schleppen, wo ihn seine Gemahlin gesund gepflegt hatte… bis zu jener Nacht vor zwei Tagen, als Drake das Ehepaar aufgespürt hatte…
Bestand ein Zusammenhang zwischen dem, was mit dem Immerfeuer von Sundabar geschah, und den magietoten Zonen im Osten? Immerhin schienen alle Wege zu Hadhrune zu führen, dem jüngsten Sohn des Hochprinzen von Umbra. Doch was war es, wonach die Umbranten der Anauroch trachteten? Und welche Rolle spielte der Halbdämon?
Ihnen würde keine andere Wahl bleiben als nach Sundabar zu reisen, um diesen Fragen auf den Grund zu gehen und herauszufinden, was ihre Freunde in den Talländern bedrohte.
Doch zunächst galt es ein weiteres Gruppenmitglied zu rekrutieren…


Kalith
Myth Drannor, kurz darauf.

Nichts als schwarze Leere und ein Spinnennetz aus silbernen Fäden. Doch da ist noch etwas. Etwas, das im Schatten lauert. Körperlos, fast unsichtbar. Schwarzer Nebel, der wabernd aus dem Nichts kriecht. Schleichend legt er sich um das silberne Gewebe und frisst sich durch die Knoten. Die Silberfäden reißen. Dann ein zweites Spinnennetz, das hinter dem ersten zum Vorschein kommt. Aber dieses ist schwarz. Schwärzer als die Nacht, die es umgibt.
Für den Bruchteil einer Sekunde sieht er ihr Gesicht.
„Hilf uns, Kalith“, sagt sie. „Finde die Adumbral Calyx und befreie uns aus den Fängen des Halbgotts.“


Kalith schrak auf und taumelte gegen einen Baumstamm.
Razeema? Was…?
Der Elfenritter rieb sich die Schläfen, um die Vision abzuschütteln, die ihn auf dem Rückweg von seinem Treffen mit Hauptmann Fflar ereilt hatte. Dann machte er sich eilig auf den Rückweg zu Nimoroth. Der Druide hatte mit der Renovierung eines alten Baumhauskomplexes vor den Stadttoren begonnen, der wie geschaffen schien für seine Tempelschule. Als Kalith an der Baustelle ankam, war sein Cousin gerade in ein Gespräch mit den Neuankömmlingen vertieft. Die Fedaykin-Geschwister und ihr neuer Gefährte hatten Kalith am Vormittag überrascht, als er von einer Außenmission im Auftrag der Königin zurückgekehrt war.
„Und? Hat er dir den Tag freigegeben?“, erkundigte sich Winter nach dem Ausgang seines Treffens mit dem Hauptmann. Kalith nickte kurz in ihre Richtung.  
„Auf dem Weg hierher hatte ich eine Vision“, kam er eilig auf das Wesentliche zu sprechen. „Razeema, eine alte Mitstreiterin, muss sie mir gesandt haben.“
Als er von dem Spinnennetz berichtete, runzelte Nimoroth die Stirn.
„Ich denke, ich weiß, was das zu bedeuten hat“, sagte er. „Erinnerst du dich? Razeema wirkte ihre Zauber über Shars Schattengewebe. Wenn ich deine Vision richtig deute, dann steht das silberne Spinnennetz für Mystras magisches Gewebe…“
„ Und das schwarze für Shars Schattengewebe“, ergänzte der Elfenritter.
Kalith, der wie die meisten Elfen in den Grundlangen der Magie ausgebildet war, wusste, dass Mystras Gewebe das Medium darstellte, über das Magier und Priester ihre Zauber wirkten. Shar, die Göttin der Dunkelheit und Mystras erbitterte Rivalin, hatte eine schattenhafte Kopie des magischen Gewebes erschaffen, um Zugriff auf das Portfolio der Magie zu erhalten und ihre Anhänger dem Einflussgebiet ihrer Konkurrentin zu entziehen. Es war möglich, das Schattengewebe auch ohne Shars Führung anzuzapfen, doch das erforderte einen starken Willen und große magische Begabung.
Kalith runzelte die Stirn.
„Das würde bedeuten, dass jemand versucht, das magische Gewebe zu zerstören...“, deutete er Razeemas Vision.
„Shar wäre die einzige, die daraus einen Vorteil ziehen würde“, erkannte Hades. „Wenn alle Zauberwirker ihrer magischen Kräfte entledigt würden, so hätten Shars Schergen gegenüber ihren Feinden einen entscheidenden Vorteil.“
„Vielleicht ist es Shar schon gelungen, das Gewebe anzugreifen“, warf Winter ein. „Denkt an die magietoten Zonen in der Anauroch und den Talländern.“
„Da ist noch etwas“, gab Kalith mit sorgenvollem Blick zu bedenken. „Mit der Vision sandte mir Razeema eine Art Hilferuf: Finde die Adumbral Calyx und befreie uns aus den Fängen des Halbgotts.“
„Ein Halbgott?“ Die anderen tauschten alarmierte Blicke.
„Nimoroth hat eine Theorie dazu, wer dieser Auftraggeber sein könnte, von dem in Oleanders Aufzeichnungen die Rede ist“, klärte Winter Kalith auf, der den ersten Teil ihrer Unterhaltung verpasst hatte.
„Ich meine irgendwo davon gelesen zu haben“, bestätigte Nimoroth. Seine Bemühungen, den Seelenquell zu finden, an dessen Rettung die Gruppe vor vielen Jahren gescheitert war, hatten sich zu einer regelrechten Manie entwickelt, die ihn in Kontakt mit allerlei obskurem planetarem Wissen brachte.  „Demnach ist Lord Volumvax Sciagraph ein Halbgott, der von Shar in eine Taschendimension zwischen Schattenebene und materieller Ebene verbannt wurde: eben jene Adumbral Calyx“,
„Wir nehmen an, dass Lord Oleander in Sundabar einen Zugang zu dieser Zwischenebene gefunden hat“, ergriff Grimwardt das Wort. „Und dass ihn dieses Wissen das Leben gekostet hat.“
„Dann heißt unser nächstes Ziel wohl Sundabar“, seufzte Kalith.
Das bedeutete vor allem eines: jede Menge Zwerge.

Boltor
Kurz darauf vor den Stadttoren von Sundabar, Silbermarken.  
Boltor kratzte sich den kahlen Schädel und fuhr sich durch den langen, zotteligen Bart, als er sich daran zu erinnern versuchte, was, beim Barte des Moradin, er eigentlich hier tat. Wie war er hierher gekommen? Und was wollte er hier? Der Zwerg tat, was er in Augenblicken des Gedächtnisverlusts immer zu tun pflegte: Er legte eine Pause ein und nahm einen kräftigen Zug aus seinem nimmerleeren Humpen, jenem magischen Füllhorn, das jedes alkoholische Getränk zu erschaffen vermochte, das Boltor ersann, und ihm schon bei so mancher Trinkwette einen Geldsegen beschert hatte.
Der Gedankenfluss des Zwergs wurde jäh unterbrochen, als neben ihm ein weißäugiger Riese aus dem Nichts tauchte. Der dunkelhäutige Gigant, der bequem über die Stadtmauer hätte spucken können, maß gut sechzehn Humpen (und war damit mehr als doppelt so groß wie ein durchschnittlich gebauter Mensch). Ein rotbärtiger Menschenkrieger (in Anbetracht der veränderten Größenverhältnisse mochte es sich auch um einen Riesenzwergen handeln), eine normalgroße Menschenfrau und ein Spitzohr tauchten ebenso unverhofft auf.
Boltor betrachtete stirnrunzelnd seinen Humpen. Hatte er die Stelle mit dem Kaninchenloch verpasst oder war das Zeug stärker als es schmeckte?
Immerhin schien er nicht der einzige zu sein, der nicht alle Tage von einem Trupp Titanen belagert wurde: Pfeilsalven prassten aus Richtung der Stadtmauer auf die Fremden ein und Torwächter begannen die Wehrbrücke hochzuziehen, um dem Sturmkommando den Zugang zur Stadt zu verwehren.
„Lass die Geisel frei, Riese!“, tönte es von der Stadtmauer.
„Welche Geisel?“, fragte der Riese verdutzt. „Und welcher Riese?“  
„Na du, Ameisenhirn“, knurrte Boltor. „Und die Geisel bin dann wohl ich. Du hast es gehört. Schwirr ab oder es hackt was!“
„Auf mir liegt ein Schutzgebet, das mich so groß macht“, dröhnte Bleichauge und erhob beschwichtigend die Hände. „Und wir hegen nicht die Absicht, jemanden zu entführen. Im Gegenteil: Wir sind hier, um diese Stadt vor Unheil zu bewahren.“
„Das einzige Unheil, das ich hier sehe, misst sechzehn Humpen und glotzt mich aus blinden weißen Augen an“, keifte der Zwerg.
„Ich bin nicht blind“, erwiderte der Riese in einem leicht arroganten Tonfall, der überhaupt nicht nach Riese klang. „Nicht mehr. Die Augen verdanke ich einer denkwürdigen Begegnung mit einem Untoten.“
Nach einer Weile wurde die Wehrbrücke heruntergelassen und eine Menschenfrau mit harten, humorlosen Gesichtszügen ritt, eskortiert von einem Trupp zwergischer Eberreiter, aus den Stadttoren. An der Spitze der Eskorte erkannte Boltor …. seine Cousine Erdmute! Die Zwergin mit den feuerroten Rastazöpfen war  Schildherrin der Steinschilde, Sundabars Zwergenwache, die in ständigem Streit mit dem menschlichen Ritterorden der Schildsar lag. Wenn es nach Erdmute gegangen wäre, so hätten sich die Zwerge des Unterheims wohl niemals mit den Menschen der Oberstadt verbündet, um Sundabar gegen die Teufelssaat vom Grat der Welt zu verteidigen. Nun, da er sie sah, erinnerte sich Boltor auch wieder, weshalb er hier war. Erdmute hatte ihn – das schwarze Schaf der Familie – doch tatsächlich eingeladen, sie zu besuchen!
Die Menschenfrau – ihr Glaubensamulett wies sie als Tyrpriesterin aus – unterzog den falschen Riesen und seine Begleiter einem magischen Verhör. Mit einem Nicken gab sie schließlich Entwarnung und bedeutete Erdmute, den Trupp in die Stadt zu geleiten.
„Was hast du dieses Mal ausgefressen?“, raunte die Kommandantin ihm zu, als sie an Boltor vorbei ritt. „Wieso bist du hier? Willst du mich wieder einmal blamieren?“
„Häh?“ Baltor sah aus seinen kleinen rotgeränderten Augen zu ihr auf. „Du hast mich doch eingeladen!“
„Das war vor drei Wochen!“, schalt ihn seine Cousine. „Zum Clanstreffen. Hast wohl wieder zu tief in deinen Humpen geschaut, du elender Trunkenbold!“
„Hau rein!“, erinnerte Boltor sie an das alte Clanmotto.
„Geh fott!“, konterte Erdmute mit einem Leitsatz der Steinschilde.
Vier verständnislose Augenpaare waren auf die beiden Zwerge gerichtet.

Winter
Kurz darauf in Sundabar.
Auf dem Weg ins Unterheim führte Schildherrin Erdmute die Gruppe in die Taverne Zur Trompete. Kaum hatten sie die Tür geöffnet, empfing sie ein ohrenbetäubender Krach, der von einer Gruppe zwergischer Trommler herrührte. Die Kommandantin, die erklärte, dass es sich um eine „Thur-desk“-Aufführung handele, schien den Lärm für eine Art musikalische Kunstform zu halten. Zu Winters Leidwesen ließen sie und ihr Cousin, der ohnehin bereits hackedicht zu sein schien, es sich nicht nehmen, auf einen Schluck Zwergenschnaps zu bleiben.
„Hau rein!“, sagte Boltor schon wieder und erhob seinen Zauberhumpen.
„Geh fott!“, erwiderte die Schildherrin und die beiden stießen an.
Kaliths gequältem Gesichtsausdruck und Hades’ steifer Unbewegtheit entnahm Winter, dass sie nicht die einzige war, die ihre erste Begegnung mit der zwergischen Kultur als ein traumatisches Ereignis in Erinnerung behalten würde. Allein Grimwardt war fast enttäuscht, als Erdmute dem Wirt ein paar Münzen zuwarf und sie durch den zweiten Eingang der Taverne in den zwergischen Teil der Stadt führte.
Der Geräuschpegel nahm kaum ab, als sie das Unterheim betraten: Überall wurde gehämmert und geklopft und das Glühen, das aus den Schmieden drang, war die einzige Lichtquelle im ewigen Dunkel des Unterreichs. Während die Gefährten durch ein Gewirr von unterirdischen Säulengängen und Versammlungshallen irrten, die sie tiefer und tiefer ins Erdreich führten, erklärte Erdmute ihnen, dass das Immerfeuer einen magischen Knotenpunkt darstelle.
„Früher war der Vulkansee umgeben von Schmiedemeistern, die seine Magie nutzten, um in dem Feuersee die besten Waffen Faerûns herzustellen“, erklärte sie mit unverhohlenem Stolz. „Doch seit das Immerfeuer vor einigen Jahren über die Ufer trat und die Umgebung verwüstete, sind sie einer nach dem anderen ins Unterheim abgewandert.“
„Ist Euch in letzter Zeit irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?“, fragte Hades, wie immer auf ihre Mission bedacht. „Irgendeine Veränderung des Vulkansees?“
„Seitdem die Zwerge das Immerfeuer verlassen haben, kommt hier kaum noch jemand hin“, sagte die Schildherrin. „Doch seht selbst. Wir sind da.“
Sie waren schon seit einiger Zeit auf keine Zwergenbehausungen mehr gestoßen und das Hämmern und Klopfen war ebenfalls verklungen. Ein fiebriges Glühen leuchtete ihnen vom Ende des Ganges entgegen. Die Gefährten betraten eine Höhle von gigantischen Ausmaßen, in deren Mitte ein mit Magma gefüllter Spalt klaffte. Die traurigen Ruinen von erkalteter Lava überzogener Schmieden hoben sich dunkel gegen das Rot des Feuerscheins ab, der aus der Erdspalte drang. Als sie näher trat, erkannte Winter, dass sich an der breitesten Stelle des Vulkansees ein Strudel gebildet hatte, der die Magmamassen schwerfällig in die Tiefe sog. Als sie versuchte, ihren magischen Blick auf das Immerfeuer anzuwenden, erkannte die Diebesmeisterin zudem, dass die Magie an diesem Ort verrückt spielte. Eine unsichtbare Macht schien den Vulkansee zu manipulieren.
„Was ist das?“, fragte Kalith, der noch eine weitere Entdeckung gemacht hatte. „Ich dachte, dieser Ort sei unbewohnt?“
Winter folgte dem Blick des Elfen und erblickte zwischen den Schmiederuinen am Ufer des Feuersees ein turmartiges Gebäude, das den Anschein machte, als hätten Kinder Stockwerke wie Bauklötze übereinander geschichtet und dann beim Fortrennen angerempelt, sodass das wacklige Konstrukt jeden Augenblick einzustürzen drohte. Ein Lichtkegel, der aus der Pagode drang, die das Gebäude abschloss, geisterte wie das Leuchtfeuer eines Leuchtturms über den Vulkansee.
„Ach das“, sagte Erdmute abfällig. „Das ist bloß der Turm des irren Wuschkins.“
„Der irre Wuschkin?“
Die Schildherrin schnaubte. „Komischer Kauz. War einst ein angesehener Magier. Naja, bevor er irre wurde und dieses Ding da baute, um seine abstrusen Experimente durchzuführen.“
„Können wir mit ihm sprechen?“, wollte Winter wissen. Wenn er ein Magier war, konnte er ihnen womöglich sagen, was es mit dem Strudel und der unbändigen Magie hier unten auf sich hatte. Die Diebesmeisterin war sich sicher, das diese Dinge etwas mit dem Portal auf die Schattenebene zu tun hatten, das sie hier vermuteten.
„Versuchen könnt ihr’s“, meinte Erdmute.
Als auf ihr Klopfen niemand antwortete, hämmerte die Zwergin mit ihrem Schild gegen die Tür und befahl Wuschkin sich zu zeigen. Ein hageres Männchen, das nur entfernt Ähnlichkeit mit einem Zwerg aufwies, lugte hinter der Tür hervor. Auf seiner Schulter saß ein hässliches Katzentier, das aussah wie aus verschiedenen Exemplaren seiner Art zusammengenäht und auch der Magier selbst schien mehr als einmal zum Opfer seiner eigenen, misslungenen Experimente geworden zu sein. Nach wiederholter Zusicherung, dass sie nur mit ihm reden wollten, ließ Meister Wuschkin die Gruppe schließlich ein und führte sie hinkend in einen kleinen Wohnraum, der dem Anschein nach auch als Labor diente. So war der Tisch übersät mit Fledermausdung, Rattenschwänzen und anderen Zauberkomponenten und in einem Einmachglas auf dem Regal dümpelte ein eingelegtes Tierhirn vor sich hin. Als Winter begann ihre Fragen an ihn zu richten, zuckte der Zwerg zusammen wie ein verschrecktes Kaninchen.
„Das Immerfeuer?“, fragte er mit furchtgeweiteten Augen. „N-nein, ich weiß nicht, was dieser Strudel zu bedeuten hat.“
„Habt Ihr Euch denn niemals gefragt, was…“
Wuschkin schüttelte den Kopf, noch ehe Winter die Frage gestellt hatte.
„Was hat es mit dem Licht auf dem Turm auf sich?“, schaltete sich nun Hades in die Diskussion ein.
„L-licht?“, stotterte Wuschkin. „Welches Licht?“
„Raus mit der Sprache.“ Hades hatte sich offenbar für eine Strategieänderung entschlossen. „Wir wissen von dem Portal.“
„P-p-p-portal?“, quiekte der Magier.
Winter seufzte. Es war ganz offensichtlich, dass der Zwerg nicht freiwillig mit der Sprache herausrücken würde. Während sie noch überlegte, ob sie ihn wohl mit einer Bezauberung zum Reden bringen konnte, holte Boltor, der besoffene Zwerg, plötzlich zum Schlag aus. Seine lähmende Faust traf den Magier genau zwischen die Augen. Wuschkin erstarrte wie schockgefroren und kippte um.  
Boltor zuckte mit den Schultern.
„Der Kerl ging mir auf den Geist“, knurrte er. „Dachte, ich verkürze die Diskussion. Fesseln wir ihn und machen uns dann selbst auf die Suche nach eurem Portal.“
„Wo habt ihr das gelernt?“, wunderte sich Grimwardt, während er sich daran machte, Boltors Vorschlag in die Tat umzusetzen. Winter war offenbar nicht die einzige, die den schmuddeligen  Trunkenbold unterschätzt hatte.  
„Mönchskloster“, sagte der Zwerg kurz angebunden. „Bevor die mich rausgeworfen haben.“ Zur Erklärung erhob er seinen Humpen, prostete Grimwardt zu und nahm einen kräftigen Schluck.
Die Durchsuchung des Turms blieb bis auf die Entdeckung eines seltenen und äußerst wertvollen Lehrbuchs über die Mysterien des Schattengewebes, das als billiger Schundroman getarnt war, erfolglos. Auch Winters Versuch, auf magische Weise in der Mitte des Vulkansees nach einem Ebenenportal zu suchen schlug fehl. Zu allem Überfluss entwischte ihnen schließlich auch noch der irre Wuschkin, den sie gefesselt in seinem Labor zurück gelassen hatten, ohne zu bedenken, dass die unbändige Magie dem Schattenadepten nichts anhaben konnte. Ratlos und ein wenig entmutigt brauchte Winter schließlich ihre letzte Schriftrolle auf, um im Turm selbst nach einem versteckten Portal zu suchen.
Diesmal hatte sie Glück: der Zauber führte die Gefährten in die Pagode im obersten Stockwerk. Ein Großteil des kleinen Säulenpavillions wurde von einer riesigen Lampe eingenommen, die von zahlreichen Linsen begrenzt wurde. Ein drehbarer Untergrund hielt die Lampe in ständiger Bewegung, was den rotierenden Lichtkegel erzeugte, den sie von unten gesehen hatten. In einer versteckten Bodenvertiefung unter der Lampe fand Winter eine große schwarze Linse. Dank des Erkenntniszaubers wusste sie, dass durch das Einsetzen der Linse in die Lampenhalterung ein Portal auf die Adumbral Calyx geöffnet würde. Doch kaum hatte sie die Linse berührt, um sie aus der Bodenvertiefung zu nehmen, wurden die vier Statuen, die das Dach der Pagode trugen, plötzlich lebendig und erhoben ihre steinernen Fäuste gegen die Eindringlinge.
Der Platzmangel machte den ausbrechenden Kampf schwierig. Winter wirkte einen Flugzauber, um den Angriffen der Steingolems zu entgehen, während Boltor der Zwerg seine magischen Stiefel einsetzte, um aus der Luft anzugreifen. Hades, Kalith und Grimwardt jedoch schränkte die Enge des Raumes in ihrer Beweglichkeit ein. Hades musste seinen Schutzzauber fallenlassen, um überhaupt in den Raum zu passen. Dazu brachte jeder erfolgreiche Angriff das Dach zum Wanken, das auf den abgeflachten Köpfen der steinernen Konstrukte lastete. Aus diesem Grund traute sich Winter auch nicht, ihren mächtigsten Zauber, einen Auflösungsstrahl, gegen die Golems einzusetzen, denn der Einsturz des Daches würde das Portal unweigerlich zerstören. Zu ihrem Ärger griff schließlich auch noch Wuschkin, mit einem Unsichtbarkeitszauber getarnt, in den Kampf ein. Ein Feuerball, den der Magier in der Mitte des Laternenraums zündete, traf Grimwardt mit voller Wucht und zwang den mächtigen Krieger in die Knie. Doch ehe Winter sich den Schurken vorknöpfen konnte, war Wuschkin auch schon wieder verschwunden. Endlich knickte auch der letzte der vier Golems ein. Das Dach knarrte bedrohlich unter den verlagerten Gewichtsverhältnissen und die Gefährten machten sich eilig daran, die schwarze Linse in die Halterung über der Laterne einzusetzen.
Dann wurde es dunkel.

Hades
Adumbral Calyx, kurz darauf.
Hades spürte, wie ihn etwas streifte. Ein rotierender Strahl, kälter als Eis und schwärzer als die Finsternis, die ihn umgab. Beißender Schmerz. Keuchend ging der Streiter des Kelemvor in die Knie.
„Flach auf den Boden werfen!“
Blind befolgte er Winters Befehl. Dann hörte er sie aufschreien.
„Grim!“
Hades robbte auf Winter zu. Auf dem Weg stieß er gegen ihren Bruder, der reglos am Boden lag. Der hünenhafte Krieger schulterte den Tempuspriester und folgte Winters Anweisungen, die ihn durch eine Bodenklappe aus der Reichweite des Schattenstrahls lotste. Hades stolperte eine Sprossenleiter hinunter und landete in einem Treppenhaus, das spärlich vom Licht einer Fackel beleuchtet war.
„Was war das?“, keuchte der Richter. „Woher wusstet Ihr von der Klappe im Boden?“
„Weil wir wieder in dem Lampenraum waren“, murmelte Winter. „Durch meine magische Dunkelsicht konnte ich ihn sehen. Derselbe Ort, dieselbe Aussicht auf das Immerfeuer, nur düsterer, undefinierter. Der Strahl, der Euch getroffen hat, war eine Schattenversion des Leuchtfeuers aus Wuschkins Turm.“
„Verstehe.“
Demnach war die Schattenebene eine Art Parallelwelt zur materiellen Ebene. Höchst bemerkenswert.
Hades kniete sich zu Grimwardt und sprach ein Gebet.
Richter der Verdammten, wenn es noch nicht an der Zeit ist, ihn zu dir zu nehmen, erhöre mich und schick diesen Krieger zu uns zurück.
Grimwardt öffnete die Augen und grummelte etwas Unverständliches, das ein Wort des Danks sein mochte. Während die Gefährten die Treppen hinab stiegen, klärte Winter ihren Bruder flüsternd darüber auf, was mit ihm geschehen war. Das Treppenhaus endete vor einer unverschlossenen Tür. Hades trat als erster ein.
Sie waren im Labor eines schwarzen Magiers gelandet. Dampfende Reagenzgläser enthielten magische Substanzen, die den Raum in dämmriges Zwielicht tauchten, halblebendige Kreaturen dümpeln in Einmachgläsern vor sich hin und in einem deckenhohen Bottich, der mit schwarzer Schattenmaterie gefüllt war, wurde eine grässliche Kreatur herangezüchtet. Sie schien sich noch nicht auf eine Gestalt festgelegt zu haben, doch jede ihrer Formen war ein Abbild des puren Horrors. Erst auf den zweiten Blick erspähte Hades den Wächter der finsteren Arbeitsstätte: Eingerollt in einer Ecke des Labors harrte die schattenhafte Silhouette eines Drachens, nicht größer als ein Pferd. Als Hades den Raum betrat, wachte er auf und zwei strahlende, tellergroße gelbe Augen richteten sich auf die Eindringlinge. Der Schattendrache zischte etwas in einer alten, kehligen Sprache. Die Worte ließen Boltor das Blut in den Adern gefrieren und der Zwerg kauerte sich furchterfüllt in eine Ecke.
Dann begann der Kampf.
Herr, gewähre mir deine göttliche Einsicht.
Hades schloss seine Hand um das Heft der Sonnenklinge Styx und fokussierte die göttliche Energie, die durch seinen Körper rann.
 „Auf mein Kommando, stürmt!“, rief er dabei, bereit einen vernichtenden Sturm gegen den Schattenwächter anzuführen. Doch der Drache war schneller. Mit einem Zischen breitete er seine Flügel aus, stob in die Luft und spie den Gefährten seinen eisigen Atem entgegen. Hades spürte, wie der Drachenodem an seiner Lebenskraft zehrte, doch noch ärgerlicher war der Umstand, dass die veränderte Position des Gegners einen Sturmangriff mit vereinten Kräften vereitelte. Um den Drachen in der Luft zu erreichen, musste der Richter erst das Gebet sprechen, das ihm Kelemvors überirdische Größe und Stärke verlieh. Als er endlich zum Zug kam, war die Gunst des Augenblicks längst verflogen. Hades überließ die Bewegungen seines Körpers Kelemvors göttlicher Führung, doch der Richter der Toten schien an diesem Tag wenig gewillt, den Drachen seinem Urteilsspruch zu unterziehen: Immer wieder gelang es dem schattenhaften Wächter, die Augen seiner Gegner zu täuschen und ihre Angriffe ins Leere zu lenken. Zwei Geister, Todesalben, die wahrscheinlich der Kampfeslärm herbeigelockt hatte, waren an der Ostseite des Raums aufgetaucht und hielten Grimwardt in Schach. Dennoch schien der Drache einzusehen, dass er gegen die Übermacht seiner Gegner keine Chance hatte und teleportierte sich davon, ehe Hades ihm den Todesstoß versetzen konnte. Die Todesalben waren schnell besiegt, doch es war ein unbefriedigender Sieg.
„Wir sollten uns zurückziehen“, erkannte Winter, während sie dem verängstigte Zwergen aufhalf, dessen Nase sofort wieder in seinem Humpen verschwand, als versuche er seine verlorene Würde auf dem Grund seines nimmerleeren Füllhorns wieder zu finden . „Wir wissen zu wenig über die Schattenebene und ihre Gefahren. Lasst uns morgen nach der Gerichtverhandlung zurückkommen.“
Hades musste sich eingestehen, dass sie Recht hatte. Dieser Kampf hätte nicht so sehr an ihren Kräften zehren dürfen. Der Drache mochte ein achtbarer Gegner sein, doch er hatte bereits gegen weitaus mächtigere Feinde den Sieg davongetragen. Wenn dieser Ort tatsächlich von einem Halbgott regiert wurde, würde es nicht ausreichen, mit halber Kraft in den Kampf zu ziehen. Ihnen blieb keine andere Wahl als der Rückzug, selbst wenn sie dadurch das Überraschungsmoment einbüßen mussten.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 12. Februar 2010, 03:18:53
Sehr schöne Einführung von Boltor. Vor allem der K.O. gegen den irren Zwergenmagier  :D
Bin voll gespannt auf das was nun kommen wird!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 23. Februar 2010, 00:15:21
Kapitel V: Eine Armee für die Silbermarken

Grimwardt
Spät am Abend im Stadtpalais der Wands, Tiefwasser.
„Ich übernehme die erste Wache“, murmelte Grimwardt aufopferungsvoll.
Wer sie so die Treppe zu ihren Gemächern hinauf kriechen sah, mit müden Augen und schlaffen Gliedern, hätte meinen können, die Schlacht läge bereits hinter ihnen. Und tatsächlich war die Wahrheit nicht allzu weit davon entfernt: Seit der Begegnung mit dem Hausdachen von Haus Wands waren sich die fünf einig, dass die Chancen auf einen geselligen Abend selbst im neunten Höllenkreis besser standen als in der Gesellschaft von Lady Laetitia Wands!
Und dabei hatte alles ganz harmlos begonnen. Nachdem sie sich aus der Adumbral Calyx zurückgezogen hatten, waren die Gefährten nach Tiefwasser gereist, um einige magische Einkäufe zu tätigen. Boltor der Zwerg hatte sich ihnen mit einem Lallen und den Worten „Saufen kann ich überall“ angeschlossen. Da niemand etwas gegen tägliches Freibier einzuwenden hatte, war mehr nicht von Nöten gewesen, um ihn in die Gruppe aufzunehmen.  
In Tiefwasser hatten sie einen Abstecher zu Khelbens Zauberschule gemacht, die seit dem Tod des berühmten Magiers von seiner Geliebten, Lady Lareal Silberhand, geführt wurde. Über Lareal, die zweitjüngste der Sieben Schwestern und eine alte Bekannte der Fedaykin-Geschwister, hatten sie gehofft mit Lareals Schwester Alustriel von Silbrigmond in Kontakt zu treten. Schließlich musste die Regentin der Silbermarken über das Portal im Unterheim und die Machenschaften des Schattenherrn der Adumbral Calyx unterrichtet werden. Doch in Tiefwasser war Lareal nicht anzutreffen gewesen. Von einer ihrer Schülerinnen hatten die Gefährten erfahren, dass die Fürstin vor zwei Tagen übereilt die Stadt verlassen hatte und seither nicht wieder aufgetaucht war. Da es schon spät war, waren sie daraufhin übereingekommen, bei einem alten Freund der Geschwister, dem Barden Marcus Wands, zu übernachten.
Doch statt auf den alten Schwerenöter waren sie im Stadtpalais seines Onkels auf Marcus’ Gattin Laetitia gestoßen. Lady Laetitia, deren sichtbare Schwäche für gefüllte Pasteten und kandierte Früchte auch fünf Schichten Gesichtspuder nicht zu übertünchen vermochten, hatte die Gefährten von dem Augenblick, da sie in ihre Falle getappt waren, nicht mehr aus ihren Fängen gelassen. Ihr schrilles Kichern hatte selbst den versoffenen Zwerg aus seiner angesäuselten Beschaulichkeit gerissen und ihr belangloses Geschnatter auf einer Frequenz, die nicht weit davon entfernt war, Glas zum Zerspringen zu bringen, übertraf jedes Folterinstrument.
Winter, der es kurzzeitig gelungen war, der Gastgeberin zu entfliehen, hatte Marcus schließlich in seinem Arbeitszimmer gefunden, wo sich der Hausherr zu nächtlicher Stunde mit übermüdeten Augen durch einen Stapel von Rechnungen und Lieferlisten quälte. Dem Zusammenbruch nahe, hatte sich der Unglückliche an der Schulter seiner alten Gefährtin ausgeheult und ihr sein Leid geklagt: Nachdem ihre Abenteuergruppe daran gescheitert war, das Auge des Drachenkönig, ein altes Familienerbstück der Wands, von den Schattendieben „zurückzustehlen“, die es durch Zufall bei einem Großraub ergaunert hatten, war Marcus’ Onkel gezwungen gewesen, das mächtige und gefährliche Artefakt zu horrenden Summen von der Diebesgilde zurückzuersteigern. Die Wiederbeschaffung hatte Marcus’ Familie in den Ruin und seinen Onkel ins Grab getrieben. Um nicht auch noch das Haus zu verlieren, hatte sich Marcus auf die Zweckehe mit Laetitia eingelassen und war in das Geschäft ihres Vaters eingestiegen. Unter dem Terrorregime des herrischen Kaufmanns und seiner zänkischen Tochter war der einstige Lebemann zu einer armseligen Karikatur seiner selbst verkommen. Um Marcus auch das letzte bisschen Lebensfreude zu nehmen und der „unnatürlichen und schändlichen“ Neigung ihres Gatten Einhalt zu gebieten, hatte Laetitia alle männlichen Bediensteten entlassen. Das Leben des ehemaligen Glücksritters bestand fortan nur noch aus Tabellen, Strichlisten und dem bitteren Sarkasmus, der ihn das alles ertragen ließ.
Grimwardt kam nicht umhin, den armen Tropf ein wenig zu bemitleiden. Immerhin waren sie nicht so ganz unschuldig an seinem Los. Um ihm ein wenig Abwechslung zu verschaffen, hatte er Marcus ein lukratives Geschäft vorgeschlagen, das seine baldige Abreise in die Abtei des Schwertes erforderte. Laetitia, misstrauisch wie eine alte Vettel, hatte sich von dem Vorschlag des Abteivogts wenig angetan gezeigt. Doch am Ende hatte die Habgier der Kaufmannstochter über ihr Misstrauen gesiegt. Als Resultat war Grimwardt der Kussattacke des überglücklichen Hausherrn ausgesetzt gewesen, die der Tempuspriester mit stoischer Miene über sich ergehen ließ.
Als er nun auf seinem Wachtposten vor den Gemächern seiner Gefährten Stellung bezog, klang Laetitias keifende Stimme noch immer in seinen Gedanken nach. Grimwardt wollte gerade die Augen schließen, um die lästige Erinnerung abzuschütteln, als er plötzlich eine Veränderung spürte. Eine Bewegung? Eine Luftveränderung? Grimwardt kniff die Augen zusammen. Dann begriff er: Nebel! Kaum sichtbar im Halbdunkel des Korridors waren die Schwaden aus den Dielen gestiegen und durch das Schlüsselloch in Winters Gemach gekrochen. Der Priester hatte genug Erfahrung mit Untoten, um die Gefahr auf den ersten Blick zu erkennen.
„Winter!“
Seine Schwester war nicht die einzige, die aufschreckte, als Grimwardt ins Zimmer platzte. Der Eindringling hatte sich vor ihrem Bett materialisiert und kniete, über Winters Ausrüstung gebeugt, auf dem Boden. Als die Tür aufsprang, fuhr er herum und das Mondlicht streifte sein bleiches Gesicht.
„Drake!“
Drake wich zischend zurück und funkelte den Kriegspriester aus rot geränderten Augen an. Etwas glitzerte in seiner Hand. Bevor Grimwardt erkennen konnte, was es war, nahm Drake Anlauf und setzte zum Sprung durchs Fenster an. Glas splitterte auf ihn nieder, als er den Fall mit einer Rolle abfing. Während der Eindringling über den Hof rannte, gingen im Haus die Lichter an und die ersten Wachen setzten ihm nach.
Gleichzeitig platzten Kalith, Hades und Boltor ins Zimmer. Kalith reagierte schnell und wies mit seiner Elfenklinge auf das Tor. Auf seinen Befehl entstand dort eine Wand aus wirbelnden Klingen, die Drake den Weg versperrten. Für einen Augenblick war der Flüchtende abgelenkt. Genug Zeit für Winter, die ganze Gruppe in den Hof zu teleportieren. Drake katzbuckelte und warf gehetzte Blicke um sich, als sie ihn umzingelten. Dann zischte er einen Zauber und setzte zum Sprung an. Ein gewaltiger Satz katapultierte ihn über die Klingenbarriere. Spinnengleich erklomm er das Mauerwerk und war im nächsten Augenblick verschwunden. Kalith und Boltor nahmen die Verfolgung auf, kehrten jedoch kurz darauf unverrichteter Dinge zurück.
„Was war das?“, fragte Winter atemlos. „Ist er…?“
„…ein Vampir?“, knurrte Grimwardt. „Sieht ganz danach aus.“
„Was war es, das er gestohlen hat?“ Hades war wie immer nichts entgangen.
Winter eilte zurück in ihr Zimmer und durchsuchte ihre Ausrüstung.
„Das muss dieser Stein aus Immerschwinge gewesen sein“, sagte sie. In kurzen Worten berichtete sie den anderen von ihrem Ausflug in die Stadt der Avariel. Bei der Plünderung des Elfen, der den Angriff auf die Wolkenstadt eingefädelt hatte, war Winter auf einen magischen Steinsplitter gestoßen. Die magische Aura des Steins war überwältigend gewesen, doch bei näherer Inspektion schien es sich dabei lediglich um eine Art moralischen Kompass zu handeln. Nutzloser Schnickschnack, in Winters Augen.
„Mir ist schleierhaft, was er mit dem Ding will“, beendete sie ihren Bericht.
„Wer weiß, welches Geheimnis der Stein birgt“, gab Hades zu bedenken. „Euer Freund Drake schien jedenfalls darum zu wissen.“
Grimwardt schüttelte schnaubend den Kopf.
„Das ergibt doch alles keinen Sinn“, grummelte er. „Gestern Abend erst hatte Drake uns in seiner Gewalt. Warum hat er sich den Stein nicht da schon genommen? Und wie soll er so plötzlich zum Vampir geworden sein? Kam er euch gestern in irgendeiner Weise untot vor?“
Ratlose Gesichter.
Schließlich war es Kalith, der das Wort ergriff.
„Mir ist es gleich, wer oder was Drake ist“, sagte er leise. Sein Gesicht war so angespannt, dass seine Kieferknochen hart aus dem schmalen Gesicht stachen. „Oder wozu er diesen Stein braucht. Drake ist der Mörder meiner Eltern und dafür werde ich ihn büßen lassen.“

Winter
Am nächsten Tag im Sterngericht, Silbrigmond.
Alle Augen waren auf Winter gerichtet.
Erhobenen Hauptes schritt die Frau des Angeklagten durch den Gerichtssaal und nahm auf dem Stuhl der Lügen Platz. Auf die Fragen des Verteidigers antwortete sie mit ruhiger Stimme, ohne das Getuschel zu beachten, das durch die Bankreihen ging. Stimmte es, dass der Butler zur Zeit seiner Aussage unter magischem Einfluss gestanden hatte? Wie war sie zu dieser Schlussfolgerung gekommen? Was hatte es mit den Tagebuchaufzeichnungen des Opfers auf sich?
Bei aller äußerlichen Gelassenheit merkte Winter, dass sie nicht ganz bei der Sache war. Immer wieder glitten ihre Gedanken ab. Drake, der gestohlene Stein, die Adumbral Calyx, das Schattengewebe... So viel war seit Doriens Festnahme geschehen und noch immer tappten sie im Dunkeln, was den Zusammenhang all dieser Ereignisse anging. Der Verbleib ihrer Tochter in der magietoten Zone war weiter ungewiss und ihr kurzer Ausflug auf die Schattenebene war inzwischen sicher entdeckt worden…
Um ihre Gedanken zu fokussieren und sich von ihren Sorgen abzulenken, blickte Winter zu Dorien, der in Handschellen auf der Anklagebank saß. Erschöpfung und Demütigung hatten dunkle Ringe unter seine Augen gezeichnet und mit einem Mal überkam sie tiefes Mitgefühl. Dabei standen seine Chancen gar nicht schlecht: Die fünf Hohen Richter würden sich der Beweiskraft des Tagebuchs nicht entziehen können. Sie mussten erkennen, dass Dorien den Mord an Fürst Emmet Oleander nicht begangen haben konnte. Doch selbst wenn sein Kopf heute verschont blieb, so hing doch sein Ruf bereits am Galgen. Der Staatsanwalt hatte einen ganzen Pulk früherer Liebschaften des Dandys ausfindig gemacht, die Doriens Verhältnis zu Lady Lucinda vor achtzehn Jahren bezeugen konnten und noch einige andere brisante Details aus seinem Leben zu erwähnen wussten:  Damals war Dorien mit gerade einmal siebzehn Jahren als „Gesellschafter“ in Silbrigmonds Salons ein oft gesehener Gast gewesen, was in Adelskreisen eine süffisante Umschreibung für eine männliche Kurtisane zu sein schien. Winter wusste, was das zu bedeuten hatte: Selbst wenn Dorien freigesprochen würde, war der Name Dantés doch für alle Zeit beschmutzt. Winter konnte sich die Betroffenheit der Dantés’ lebhaft vorstellen, wenn sie bei ihrer Rückkehr feststellen mussten, dass sich die Nachbarn das Maul über sie zerrissen…
Nachdem Winter ihre Aussage gemacht hatte, überließ der Verteidiger sie dem Anwalt der Klägerschaft, einem Dreikäsehoch von einem Gnom, der die Nase so hoch trug, das er sein Brillengestell auf dem Nasenbein balancieren konnte.
„Nennt dem Gericht Euren vollen Namen.“
„Mein Name ist Winter Ballostero, geborene Fedaykin.“
Der Gnom kniff die Augen zusammen.
„Wieso gabt Ihr Hauptmann Sernius Alatahar gegenüber an, die Gattin des Angeklagten zu sein?“, fragte er forsch.
„Es fand keine formelle Trauung statt. Doch Dorien Dantés ist der Vater meines Kindes.“
Sie würde diesem halben Meter nicht gestatten, ihre Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen. Der Gnom ließ es dabei bewenden und ging dazu über, ihr Fragen über Drake, den Butler und das Tagebuch zu stellen. Winter ließ sich von seinen kleinen Sticheleien nicht aus der Fassung bringen und meisterte das Verhör, ohne dass der Stuhl der Lügen sich verfärbte.
Nachdem der Angeklagte als letzter in den Zeugenstand gerufen worden war, zogen sich die Richter zur Beratung zurück. Winter versuchte einen Blick auf Dorien zu erhaschen, doch der Angeklagte hielt den Kopf gesenkt, sodass sein Gesicht von einer Strähne seines hellen Haars verdeckt wurde. Dann endlich öffnete sich die Tür zum Richterzimmer. Winter hätte die fünf alten Männer am liebsten mit einem Hastzauber belegt, so langsam krochen sie in ihren raschelnden Talaren zurück zum Podium. Jorus Azurmantel von der Zaubergarde verkündete den Urteilsspruch.
Winter hielt den Atem an.
„Wir, die Hohen Richter von Silbrigmond“, erklärte der Alte, „befinden den Angeklagten mit vier zu einer Stimme für… nicht schuldig.“
Beredte Betriebsamkeit folgte auf die Urteilsverkündung: Bänke wurden gerückt und eine Horde aufgeregt lamentierender Gerichtsgänger strömte dem Ausgang zu. In all dem Trubel fielen sich Dorien und Winter um den Hals.
„Danke“, flüsterte er. „Danke, dass du mir den Hals gerettet hast.“

Faust
Etwa zur gleichen Zeit im Gasthaus Zu Hammer und Helm.
Stöhnend wälzte sich Faust aus dem Bett und fluchte, als er über ein paar Damenschuhe stolperte, die vor seinem Bett verstreut lagen. Von der dazugehörigen Dame war nur der dunkle Haarschopf zu erkennen, der unter der Bettdecke hervorlugte. Faust machte gar nicht erst den Versuch, sich daran zu erinnern, wer sie war oder wo er sie aufgegabelt hatte. In seinem Schädel pochte es, als würde er von einem Trupp zwergischer Mienenarbeiter bearbeitet. Sein Gedächtnis musste ihn etwa zu dem Zeitpunkt verlassen haben, als er diesem Hurensohn von Söldner das Tischbein zwischen die Rippen gerammt hatte, woraufhin der Wirt des Strahlenden Schwerts ihn vor die Tür gesetzt hatte. Der Krieger seufzte. Miu würde ihm wieder einen ihrer moralischen Blicke zuwerfen, wenn sie davon erfuhr. Wo war die kleine Heilerin überhaupt? Nachdem er sich etwas Wasser ins Gesicht gespritzt und sein Schwert umgebunden hatte, verließ der Kämpfer das Gasthaus, um nach seiner Gefährtin zu suchen.
„MIU!“
Du bist ein erbärmlicher, versoffener Hurenbock, schalt er sich selbst, während er ziellos durch die Gassen lief. Er hatte den ganzen verdammten Kontinent von Osten nach Westen durchwandert auf der Suche nach seiner Bestimmung. Und wofür? Seit der Rebellion des Nagamura hatte er keinen Kampf mehr ausgefochten, der ihm gerecht wurde. Er hätte dort bleiben sollen, in den Bergen von Wa, wo der Rest seines geschlagenen Heers vermutlich noch immer auf ihn wartete. Warum hatte er sie im Stich gelassen? Um dem Traum einer irren alten Karaturianerin zu folgen, die ihn für den Auserwählten hielt und ihm aufgetragen hatte in seine Heimat zurückzukehren? Auserwählt von wem und wozu? Von den Nebeln? Faust schauderte, wenn er an die Nebel dachte. Sie hatten ihn schon einmal entführt… Hatten sie das? Seine Erinnerung an die Zeit vor seinem Erwachen in Kara-Tur war so schemenhaft, dass er sich manchmal fragte, ob die Erinnerungsfetzen, die ihn von Zeit zu Zeit heimsuchten, nichts weiter waren als Albträume.
Ohne es zu merken, war Faust im Zentrum der Stadt angelangt. Im Schatten des Hochpalasts lag ein unscheinbares Gebäude aus schwarzem Basaltstein, das entfernt die Form einer Krone aufwies. Das Emblem Tyrs über dem Eingang wies den Bau als Gerichtsgebäude aus. Bürger entströmten ihm in Scharen und Fausts Augenmerk fiel auf eine Gruppe nicht unweit des Haupteingangs. Eine hübsche Rothaarige fiel gerade einen Typ um den Hals, der aussah wie einer Schäferidylle entsprungen, während ein rotbärtiger Axtträger einen besoffenen Zwerg davor bewahrte ein kleines Kind über den Haufen zu rennen.
Abenteurer!, erkannte Faust schmunzelnd.
Dann stutzte er. Ein wenig abseits der illustren Gruppe harrte ein dunkelhäutiger Priester, dessen durchdringende, farblose Augen Faust zu durchbohren schienen. Faust kniff die Augen zusammen. Irgendetwas an dem Kerl kam ihm bekannt vor.
Der Fremde trat auf ihn zu.
„Faust?“
Auf unerklärlich Weise erschien Faust das Emblem Tyrs, das im Wind hinter dem Priester wehte, plötzlich wie ein drohendes Omen.
„Äh… kennen wir uns?“
„Flüchtig“, erwiderte der Fremde. „Mein Ordensname ist Hades. Auch bekannt als das dritte der Neun Schwerter von Rabenklippe. “
Die Neun Schwerter. Flüchtige Erinnerungen. Ein Fremder, der an die Tür seiner Mutter klopft. Ein Tavernenschild, das quietschend im Wind schaukelt. Der Geruch von Schweiß und Blut.
„Ihr erinnert Euch“, erkannte Hades und plötzlich lag etwas Drohendes in seiner Stimme. „Dann wisst Ihr auch, weshalb ich hier bin?“
„Nicht… wirklich.“
„Ich suche schon seit einer halben Ewigkeit nach Euch.“
„Oh.“ Faust überkam das dumpfe Gefühl, dass er den Kerl so schnell nicht wieder loswerden würde. „Sonst nicht viel zu tun, hm?“, versuchte er die Situation aufzulockern.
Keine Regung. Der Kerl hatte soviel Sinn für Humor wie ein Bauchgeschwür.
„Ich bin hier, um Euch für den Mord an Meister Thallastam zur Verantwortung zu ziehen.“
„Den Mord an…? WOU!“ Faust hob abwehrend die Hände. “Langsam, Mann!“
Der Kämpfer hatte geahnt, dass so etwas kommen würde. Aber ein Mord? Das ging gegen seine Ehre und die war ihm heilig.
„Ich weiß wirklich nicht wovon Ihr sprecht“, erklärte er fahrig, während er versuchte gegen das Pochen in seinem Kopf anzureden. „Mag sein, dass mein Gedächtnis mich in letzter Zeit etwas im Stich gelassen hat. Aber ich bezweifle, dass ich der bin, den Ihr sucht.“
„Das bezweifle ich nicht“, sagte Hades unbeeindruckt. „Ich muss Euch bitten, mir Euer Schwert auszuhändigen und mir nach Rabenklippe zu folgen. Im Namen der Neun Schwerter nehme ich Euch in Gewahrsam.“
„Zwiespalt ist das Schwert meines Vaters“, erklärte Faust. „Und ich gebe es nur ungern aus…“
Hades zog seine Waffe.
„Euer Schwert!“, forderte er schneidend und drängte den Krieger mit seinem massigen Körper in eine Seitengasse. „Oder ich sehe mich gezwungen, es Euch gewaltsam zu entreißen!“
Faust stöhnte.
„Muss das jetzt sein?“, fragte er, während er zögernd nach seinem Knüppel griff. Schließlich wollte er dem Priester nicht gleich den Kopf von den Schultern säbeln. „Ich bin nicht gerade in der besten Verfassung, um…“
Hades griff an.
Faust ächzte, als sich die Sonnenklinge in seine Seite bohrte, und wich mit einem flinken Seitenschritt dem Folgestoß aus. Scheiß auf den Knüppel! Faust zog seine Henkerswaffe. Wenn der Mistkerl ihm gleich auf die harte Tour kam, dann hatte er es nicht besser verdient! Ein eilig gewirkter Zauber verwandelte die Klinge des Krummschwerts in eine Ätherwaffe, die Hades’ Rüstung mit Leichtigkeit durchdrang. Anders als die meisten Kämpfer hielt Faust magische Studien nicht für Zeitverschwendung. Im Gegenteil: Der ehrgeizige Abenteurer hatte gelernt, östliche Kampkunst mit ein paar arkanen Tricks zu würzen, die seinen Stil der Technik anderer Kämpfer überlegen machte. Das Resultat war eine eigenwillige Mischung aus brachialer Gewalt und taktischen Kampfmanövern. Die verwirrende Unberechenbarkeit dieser Mischung bekam auch Hades nun zu spüren. Faust überzog den Priester innerhalb eines Augenschlags mit einem wahren Klingenhagel - ein Kunstgriff, den er von seinem alten Freund Nagamura gelernt hatte. Sein Gegner strauchelte, doch ein eilig gesprochenes Heilgebet brachte ihn schnell wieder auf die Beine. Auch sein nächster Angriff traf Faust mit voller Wucht: Kunststück – bis auf einen stählernen Arm war der Kämpfer ungerüstet. Doch ehe Hades zu seinem nächsten Angriff ausholen konnte, war Faust bereits aus seiner Reichweite getänzelt und holte zum Gegenschlag aus. Faust erkannte die Kampftechnik seines Gegners als eine, die seiner eigenen nicht unähnlich war, wenn Hades sich auch eher auf die Kanalisierung göttlicher Energie als auf die Perfektionierung des Zusammenspiels von Körper und Geist spezialisiert hatte. Ja, nun erinnerte er sich wieder: Es waren die Neun Schwerter, die ihn die Kunst der Schwertmagie gelehrt hatten. Er war einer von ihnen! Er hatte… Die Erkenntnis hätte Faust beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht. Hades nutzte die Gelegenheit, um ihn in eine Sackgasse zu drängen und ihm jede Ausweichmöglichkeit zu nehmen. Faust setzte alles auf eine Karte: Er erhob sein Schwert über den Kopf und setzte zum Sprung an. Die Wucht des Angriffs zertrümmerte Hades’ Schulterblatt und der Priester sank bewusstlos zu Boden.
Keuchend ließ sich Faust gegen die kühlende Steinwand sinken. Scheiße. Was sollte er jetzt tun? Wenn er ihn hier liegen ließ, würde der Priester innerhalb weniger Minuten verbluten. Wo war Miu, wenn man sie brauchte? Faust gab sich einen Ruck, nahm das Schwert des Priesters an sich und machte sich auf die Suche nach Hilfe.
„MIU!“, brüllte er lauthals, während er durch die Gassen lief.
„Halt!“ Zwei Stadtwachen in silbernen Rüstungen hielten den blutverschmierten Krieger an.
„Ist Euch eine kleine Karaturianerin aufgefallen?“, fragte Faust außer Atem. „Schwarze Haare, in Lumpen gekleidet, ziemlich schweigsam?“
Die beiden Wachen sahen ihn an, als wären sie ernsthaft um seinen Geisteszustand besorgt. Zögernd legten sie ihre Hände an die Waffen.
„Was ist geschehen? Wessen Blut ist das an Euren Händen?“
„Keine Zeit“, murmelte Faust und versuchte sich an den beiden vorbei zu drängen. „Ich muss Miu finden. Jemand liegt im Sterben. MIU!“
Einer der beiden zog sein Schwert.
„Sofort die Waffen fallenlassen!“, befahl der Ritter. „Und dann erzählt, was passiert ist!“  
Faust seufzte. Er hätte es allein mit dem ganzen Orden aufnehmen können, aber das hätte noch mehr Tote bedeutet… und noch mehr von Mius moralischen Blicken. Ergeben ließ er sein Schwert zu Boden sinken und erhob die Hände.
Als er mit den Rittern kurz darauf am Ort des Geschehens eintraf, staunte er nicht schlecht, Hades mit geheilten Knochen in der Gasse stehen zu sehen. Dann gewahrte er fünf weitere Gestalten: Es war die Abenteuergruppe, die ihm vor dem Gerichtsgebäude aufgefallen war.
„Er ist es, der mein Schwert gestohlen hat!“, erklärte Hades mit so viel Würde in der Stimme, dass niemand auf die Idee gekommen wäre, dass er noch vor wenigen Augenblicken mit zertrümmerter Schulter im Straßengraben gelegen hatte. „Er ist nicht nur ein Mörder, sondern auch ein Dieb.“
Fünf anklagende Blicke richteten sich auf Faust.

Hades
Einige Stunden später in der Küche des Ehepaars Dantés.
Mit einem halben Laib Brot und einer Käseecke in der Hand trat Faust aus der Vorratskammer.
„Wollt Ihr auch was?“, fragte er mit vollem Mund.  
„Darf ich Euch daran erinnern, dass wir zu Gast sind in diesem Haus“, schalt ihn der Richter und ließ sich mit versteiftem Rücken auf einem Küchenstuhl nieder.
„Schätze, das heißt nein.“ Der Krieger zuckte mit den Schultern und machte es sich mit hochgelegten Beinen am Speisetisch bequem. Hades runzelte die Stirn, sagte aber nichts.
Nachdem Faust in der Gasse aufgetaucht war, hatten die Ritter die beiden Kontrahenten mit auf die Wache genommen. Ein Mitglied der Zaubergarde hatte ihre Aussagen aufgenommen. Da sie beide keine Stadtbürger waren, hatte man sie daraufhin wieder gehen gelassen. Das Verhör hatte gezeigt, dass Faust die Wahrheit gesprochen hatte. Er konnte sich tatsächlich nicht daran erinnern, seinen alten Mentor, den Waldelf Thallastam, getötet zu haben. Er schien sich nicht einmal daran zu erinnern, ihn gekannt zu haben. Hades würde nach Rabenklippe reisen und die Anführerin der Neun Schwerter um Rat fragen müssen, was in diesem Fall zu tun war. Doch zuvor musste er seine Pflicht gegenüber den Fedaykin-Geschwistern erfüllen und mit ihnen gegen den Herrn der Adumbral Calyx und seinen Hofstaat in den Kampf ziehen. Der Kelemvor-Streiter war sich darüber im Klaren, dass die Begegnung mit dem Schattendrachen nur ein Vorgeschmack darauf gewesen war, was sie auf der Schattenebene erwartete. In Anbetracht der Umstände war ein Waffenstillstand mit Faust darum ratsam. Doch war dem wankelmütigen Raufbold zu trauen? Hades entschied sich zu einem riskanten Schritt und beschloss, Faust in ihre Mission einzuweihen. Wie nicht anders zu erwarten, brauchte es nicht viel Überzeugungskraft, um den ruhmsüchtigen Kämpen dafür zu begeistern, für Ehre und Ansehen in den Kampf gegen einen Halbgott zu ziehen.
Die anderen waren nicht schlecht erstaunt, als sie bei ihrer Heimkehr die beiden Kontrahenten, die sich noch vor wenigen Stunden bis aufs Blut bekämpft hatten, dabei überraschten, wie sie waffenbrüderlich die Invasion der Adumbral Calyx planten.
Winter warf Hades einen fragenden Blick zu.
„Dann hassen wir ihn also nicht mehr, hm?“, fragte sie scherzend.
Faust, der überaus charmant sein konnte, wenn er wollte, beeilte sich, Winter den Platz zu seiner Rechten anzubieten. Mit seinen ungewöhnlichen, verschiedenfarbigen Augen, seinem stählernen Körper und dem verwegenen Lächeln stand der Krieger bei der Damenwelt vermutlich hoch im Kurs. Das schien auch Dorien nicht zu entgehen.
„Ihr wisst, dass das die Vorräte meiner Eltern sind, die Ihr da so großzügig verteilt?“, fragte der Dandy mit einem eisigen Lächeln.
„Dann wohnst du noch bei deinen Eltern?“, entgegnete Faust mit rüpelhaftem Spott.
Doriens Lächeln wurde noch um einige Grade kälter und erstarrte dann.
„Habt Ihr Eure Miu wieder gefunden“, wechselte Winter eilig das Thema, bevor noch jemand erfror. „Was ist sie? Euer Tiergefährte?“
Faust lachte. „So was in der Art. Aber keine Sorge, sie beißt nicht.“ Dann wurde er ernst. „Eigentlich habe ich keine Ahnung, wer Miu ist. Sie spricht nicht viel. Gar nichts, um genau zu sein. Hat ein Schweigegelübde abgelegt.“
„Ein Schweigegelübde?“
„Sie kommt aus einem Bergkloster zwischen Shou-Long und dem Kaiserreich Wa. Der Orden der Schweigenden Schwestern. Sie folgt mir schon, seitdem ich Kara-Tur verlassen habe. Wahrscheinlich hatte sie eine Vision und glaubt nun, mich auf den rechten Pfad zurück bringen zu müssen.“ Er zwinkerte mit seinem grünen Auge, während das blaue ernst blieb.
„Der Orden der Schweigenden Schwestern?“ Winter machte große Augen und zwickte Grimwardt in den Arm. „Davon habe ich gehört! Ich selbst hatte überlegt, meine Tochter zur Ausbildung dorthin zu schicken. Habt Ihr in dem Kloster Kinder gesehen?“
„Nein“, sagte Faust. „Wieso auch? Ist doch stinklangweilig für Kinder. In einem Bergkloster mit einem Haufen schweigender Nonnen.“
„Aber dafür sicher.“
Faust zuckte mit den Schultern.
„Die Nonnen tun sicher niemandem was“, sagte er und lehnte sich gesättigt zurück. „Die haben alle einen Friedensschwur abgelegt. Aber wenn Ihr mich fragt, ist ein Ort auf der Welt so sicher wie der andere… Wie alt ist Eure Tochter?“
„Acht.“
Faust hob eine Augenbraue.
„Acht? Ich hielt Euch für nicht älter als Mitte zwanzig!“
Winter bedachte das Kompliment mit einem strahlenden Lächeln aus ihren smaragdgrünen Augen. Hades räusperte sich.
„Habt Ihr noch etwas über den Herrn der Adumbral Calyx herausfinden können“, versuchte er die Anwesenden daran zu erinnern, was vor ihnen lag.
Winter und Dorien hatten während Hades’ kurzem Ausflug ins Städtische Gefängnis die Bibliothek aufgesucht, um einige Nachforschungen anzustellen. Dort hatten sie die Dienste von zwei Gelehrten in Anspruch genommen. Von der ersten, einer Ebenenexpertin, hatten sie erfahren, dass die Schattenebene eine düsterer Reflektion der materiellen Ebene war. Jeder geographische Ort auf dieser Welt existierte auch dort, wenn auch der Übergang zwischen Realität und Illusion auf der der Schattenebene fließender war. Das bedeutete, das es auch das Immerfeuer von Sundabar dort gab und erklärte, wie es möglich war, dass Winter bei ihrem ersten Besuch auf der Adumbral Calyx das selbe Bild gesehen haben konnte, das sich auch aus dem Laternenraum in Wuschkins Turm bot: Der Palast des Halbgottes befand sich auf der Schattenebene an dem selben Ort wie der Turm des irren Zwergenmagiers.
Der zweite Gelehrte hatte Winter und Dorien mehr über ihren Gegner, Lord Volumvax Sciagraph, berichten können. Volumvax war einst, vor tausenden von Jahren, ein Mensch gewesen. Ein junger Streiter der Mondgöttin Selune, der gegen die Finsteren Heere der Göttin der Nacht in den Krieg gezogen war. Sein Heer war erfolgreich gewesen und sein Heldenmut hatte die Aufmerksamkeit und den Zorn Shars geweckt. Aus Rache hatte die Göttin seiner geliebten Gemahlin die Nachricht von seinem vermeintlichen Tod zukommen lassen. Vor Trauer hatte sich die Unglückliche von den Klippen in den Tod gestürzt. Volumvax, dessen Seele der Verlust zerfraß, war schließlich den Einflüsterungen und Lügen der Königin der Nacht erlegen und zu ihrem ergebenen Diener geworden. Zur Belohnung für seine treuen Dienste hatte sie ihm die Kräfte eines Umbranten gewehrt. Dann hatte sie ihn zum Halbdämon gemacht. Am Ende hatte Shar ihren treuen Verbündeten sogar mit dem niedrigsten Rang eines Gottes belohnt. Doch der Machtzuwachs hatte Volumvax in den Wahnsinn getrieben. Um ihn kontrollieren zu können, hatte Shar ihn in die Adumbral Calyx, einen Turmkomplex auf einer fliegenden Erdscholle in einem See aus flüssiger Schattenmaterie gebannt. Die Erdscholle konnte sich, vom Herrn der Adumbral Calyx befehligt, frei auf der Schattenebene bewegen, doch Volumvax selbst war in seinem Palast gefangen.
Während Winter und Dorien diese Informationen eingeholt hatten, waren Grimwradt, Boltor und Kalith nach Tiefwasser gereist, um einige letzte Besorgungen zu machen. Damit waren alle Vorbereitungen getroffen.
Am nächsten Tag würde der große Kampf beginnen.

Boltor
Am nächsten Morgen.
Boltor fluchte, als er, wie gewöhnlich sturzbesoffen, aus dem Haus torkelte und über ein Lumpenbündel stolperte, das irgendwer vor der Haustür deponiert hatte. Den Umstand, dass das Lumpenbündel plötzlich aufsprang und sich als eine junge Karaturianerin entpuppte, schrieb er einer Laune seines vernebelten Geistes zu.  Als dann jedoch der Neue (Boltor machte sich nicht die Mühe, sich all diese unaussprechlichen Menschennamen zu merken) aus der Tür gestürmt kam und das Lumpenbündel in die Arme schloss, wurde er doch stutzig.
„Miu!“, rief der Neue und zerzauste ihr kumpelhaft das lange schwarze Haar. „Wo warst du bloß? Hätte deine Hilfe echt gebrauchen können.“ Er schien keine Antwort auf seine Frage zu erwarten. „Leute, das ist meine Miu!“
Die junge Karaturianerin strich sich verlegen die Haare glatt und verneigte sich ehrerbietig.
„Damit wären wir zu acht“, freute sich Winter. „Eine Armee für die Silbermarken!“
Derart beflügelt teleportierten die Gefährten nach Sundabar ins Gasthaus Zur Trompete. Von dort ging es weiter ins Unterheim. Doch die Ankunft am Immerfeuer versetzte ihrer Aufbruchsstimmung einen jähen Dämpfer: Der Turm des irren Zwergenmagiers und das Portal zur Schattenebene existierten nicht mehr! An der Stelle des skurrilen Leuchtturms gab es nur noch einen Trümmerhaufen. In einiger Entfernung waren Zelte aufgeschlagen und zwergische Arbeiter liefen mit Schubkarren zwischen Trümmerhaufen und Zelten hin und her, um Schicht für Schicht abzutragen. Das ganze mutete wie eine skurrile Goldgräberszenerie an. Der Bereich um die Turmruinen war mit Schutzrunen gesichert und wurde von einem Trupp Steinschilde bewacht. Als die Gefährten sich den Runen näherten, kam ihnen Schildherrin Erdmute aus einem der Zelte entgegen.
„Hau rein!“, begrüßte Boltor seine Cousine auf Zwergisch.
„Geh fott“, erwiderte die Schildherrin.
„Was ist denn hier passiert?“
„Woher soll ich das wissen?“, knurrte die Zwergin. „Der Leiter der Expedition, Gabor, faselt dauernd etwas von magischen Löchern und gibt irgendeinen hochgelehrten Schwachsinn von sich, den kein ehrbarer Zwerg versteht.“
„Magische Löcher?“ Grimwardt, der als einziger ihre Sprache verstand, horchte auf. „Meint Ihr antimagische Zonen?“
„Was auch immer.“
„Wäre es wohl möglich, mit diesem Gabor zu sprechen?“
„Kann ihn ja mal fragen.“ Erdmute wandte sich um lief zu dem größten der Zelte. Nach einigen Minuten trat ein Goldzwerg mit beachtlichem Bartwuchs, wettergegerbter Haut und einem Monokel auf der Nase aus der Zeltöffnung und eilte auf die Gefährten zu.
„Ihr wart vor wenigen Tagen in diesem Turm?“, fragte der Zwerg auf Gemeinsprache.
„Ja, wieso?“
„Ist euch irgendetwas Ungewöhnliches dort aufgefallen?“
„Wenn Ihr das Portal zur Schattenebene meint, dann schon“, grummelte Grimwardt.
„Ein Portal!“ Vor Schrecken wäre dem Expeditionsleiter fast das Monokel von der Nase gerutscht.
„Wieso beunruhigt euch das? Und was tut ihr hier überhaupt?“
Der Zwerg leckte sich über die trockenen Lippen und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Dabei ging er unruhig auf und ab.
„Ich komme aus Zitadelle Adbar im Norden und bin ein Fachmann für Knotenmagie“, begann er. „Ich untersuche die magietoten Zonen in der Anauroch und den Talländern. Aufgrund der Aussagen einiger Beduinen-Flüchtlinge kam ich zu einem beunruhigenden Schluss: Die Größe der Löcher im magischen Gefüge und die hohe Geschwindigkeit ihrer Ausbreitung lassen befürchten, dass die Ursache dafür in einem Angriff auf Knotenpunkte des magischen Gefüges liegt. Knotenpunkte sind die Stellen im Gewebe, an denen verschiedene magische Meridiane aufeinander treffen. Die Magie ist dort besonders stark. Wird ein Knotenpunkt zerstört, so entsteht eine magietote Zone, die sich über die Verbindungsstränge sehr schnell ausbreitet. Ein solcher Knotenpunkt befindet sich auch unter dem Immerfeuer. Er ist der Grund für die hohe magische Qualität des Vulkansees. Ich fürchte, dass jemand versucht, diesen Knotenpunkt aufzulösen, um eine weitere magietote Zone zu erschaffen. Die wilde Magie ist ein erstes Indiz dafür, dass der Knotenpunkt bereits angegriffen wurde.“
Noch so ein Irrer, dachte Boltor. Der Umstand, dass der Expeditionsleiter die Angewohnheit hatte, beim Reden immer schneller zu werden, machte es nicht gerade einfacher, seinen Ausführungen zu folgen.
 „Alles klar“, knurrte der Zwerg der am Ende nur noch Magie und Knoten verstanden hatte. „Und was hat das alles nun mit dem irren Magier und dem Aschehaufen dahinten zu tun?“
„Aus den Trümmern konnte ich einige Gegenstände bergen, die darauf hindeuten, dass der Bewohner des Turms sich mit Schattengewebe-Magie beschäftiget hat.“
„Schön, der Kerl hatte ’ne Schraube locker“, grunzte Boltor. „So weit waren wir auch schon.“
„Nun, das geschieht nicht selten bei Nutzern des Schattengewebes, die sich ohne Shars Protektion mit solch gefährlicher Materie befassen“, erklärte Gabor. „Ich konnte mir bisher nicht erklären, weshalb Wuschkin den Turm zerstört hat, doch wenn ihr an diesem Ort ein Portal zur Schattenebene entdeckt habt…“
„… hat er es zerstört, um seinen Herrn zu schützen“, vollendete Winter den Gedanken.
„Oder sein Herr hat ihn zerstört und den Turm gleich dazu“, gab ihr Bruder zu bedenken.
„Welcher Herr?“, fragte Gabor.
„Wir haben keinen Zeit für diesen Kram“, drängte der Neue. „Wenn Lord Volumvax den magischen Knotenpunkt unter dem Vulkansee zerstört, sollten wir ihn schleunigst davon abhalten.“
Die anderen stimmten ihm zu.
„Hat einer von euch Priestern daran gedacht, den Zauber Ebenenwechsel zu erbeten?“, fragte Winter.
Grimwardt sah Hades an. Hades sah Grimwardt an. Winter verdrehte die Augen.
„Wollt Ihr mir erzählen, dass wir mit zwei Klerikern unterwegs zur Schattenebene sind, die nicht einmal an so etwas Banales wie einen Ebenenzauber gedacht haben?“, fragte die Diebesmeisterin und stemmte vorwurfsvoll die Hände in die Hüften.
Während unter den anderen ein Streit darum entbrannte, wer für die Planung der Mission zuständig gewesen war und keinen einzigen Dimensionssprung eingeplant hatte, beobachtete Boltor, wie die kleine Karaturianerin stumm und unbemerkt die Gesten eines Zaubers auszuführen begann.
Dann spürte er, wie sich die Dimensionen überlagerten.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 23. Februar 2010, 01:47:14
Gefällt mir wie immer super! Finde die die Art, wie du die Nebenhandlungen (z.B. Gerichtsstreit zwischen Faust und Hades) gekonnt abkürzt ohne dass es gehetzt wirkt. Freue mich wieder sehr auf die nächste Episode! Hoffe die Muse küsst dich noch! Genug Stoff hats ja gegeben  :)
(Aber 2 kleine Dinge noch: Das Schwert heißt Zwiespalt und das eine Auge ist Blau, das andere Grün  :wink: )
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 23. Februar 2010, 07:51:21
Habs geändert... Name des Schwers war ein Flüchtigkeutfehler, die Sache mit den Augen wusste ich noch nicht ;-)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 23. Februar 2010, 20:02:26
Gigantisch! Wirklich toll gemeistert, dieser Teil der Story. Die Einführung von Faust gefällt mir unheimlich gut!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 24. Februar 2010, 00:50:03
Oh ja, mir auch!  :D  :thumbup:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 25. Februar 2010, 22:49:10
Kapitel VI: Götterdämmerung

Winter
Schattenebene.
Nichts hatte sich verändert und doch war alles anders. Die Farben, das satte Rot des Feuersees, das Gelb der Lavaschlieren, alles wirkte schwerfälliger und trüber, wie eine schwache Kopie der materiellen Welt. Winter spürte, wie eine schleichende Kälte unter ihre Haut kroch und sich über ihre Sinne legte. Auch ihre Sicht war eingeschränkt: Selbst mit ihrer magischen Dunkelsicht vermochte sie nur schwach die Umrisse des mächtigen Felsbrocken auszumachen, der über dem Immerfeuer schwebte. Als sie näher kamen, erkannte sie darauf einen dreiteiligen Turmkomplex, der aus einem See aus wabernder, dunstartiger Masse erwuchs. Schwarze Schattenmaterie kroch in Schlieren den mittleren der drei Türme empor, wo sie zu einem Strahl gebündelt wurde, der rotierend über den Vulkansee geisterte. Der Schattenstrahl war dem Leuchtfeuer aus Wuschkins Turm nicht unähnlich und Winter erkannte, dass es jener Strahl gewesen sein musste, der den Gefährten bei ihrem ersten Besuch in der Adumbral Calyx zum Verhängnis geworden war: Das Portal im Laternenraum des irren Zwergen musste sie in die oberste Pagode des mittleren Turms geführt haben.
Mit Flugzaubern erreichte die kleine Armee das fliegende Plateau… und wurde sofort von einer Pfeilsalve empfangen. Angestrengt starrte Winter in die Finsternis, doch alles, was sie erkennen konnte, waren zwei Brücken in weiter Entfernung, die die beiden äußeren mit dem mittleren Turm verbanden.
„Schnell, vor den Eingang!“, rief Grimwardt ihr zu.
Winter wirkte den Zauber und teleportierte die Gruppe vor das Haupttor. Sofort schlugen Zauber um sie herum ein und Winter gewahrte über sich die Umrisse eines riesenhaften, rochenartigen Wesens. Gleichzeitig erfasste eine weitere Pfeilsalve die Gruppe. Haken schlagend bahnten sich die magisch verstärkten Geschosse einen Weg um die massige Kreatur der Nachtschwinge. Einer der Pfeile traf Kaliths Schulter und schuf beim Aufprall ein Energiefeld aus zitternden Blitzen. Gleichzeitig surrte ein weiterer Pfeil vom Himmel, um sich mit ohrenbetäubendem Donnern in Doriens Brust zu bohren. Winter hatte Glück: Geschickt wich sie einem der Blitzgeschosse aus und entging dem Donnergrollen, doch Dorien wäre unter dem Pfeilgewitter beinahe zu Boden gegangen.
„Rennt die Tür ein!“, hörte Winter Hades rufen.
Sie rannten los. Das Tor leistete keinen Widerstand und sie stürmten brüllend in eine düstere Vorhalle. Schwer klang ihr rasselnder Atem in der unverhofften Stille.
Vor einer ausladenden Flügeltür harrte eine Gnomin. Sie war das jämmerlichste Geschöpf, das Winter je unter die Augen gekommen war. Als sie den Mund öffnete, streckte sie den Gefährten den Stumpf einer verstümmelten Zunge entgegen wie den Rachen eines anthropophagen Monsters. Dabei stieß sie krächzende Würgelaute aus, wie eine morbide Art von Willkommensgruß. Dann wandte sie sich um und betrat den Saal. Die Tür ließ sie halb geöffnet. Winter wandte einen ihrer Tricks an und verbreiterte den Türspalt per Magierhand.
Die Gefährten blickten in einen von Kerzen schwach erleuchteten Thronsaal.
Lord Volumvax Sciagraph saß mit lasziv gekreuzten Beinen auf seinem Thron. Ein schattenhafter Film, der wie eine zweite Haut über dem Gesicht des Halbdämons lag, ließ seine Gestalt mit der Umgebung verschwimmen. Seine Augen, aus denen er die Gefährten mit einer Mischung aus überheblicher Verachtung und amüsierter Neugier musterte, waren pechschwarz und pupillenlos wie glänzende Obsidiane. Doch es waren nicht diese Augen, die Winter erschaudern ließen. Es war auch nicht der Schattendrache, der wie ein braver Schoßhund zu Füßen seines Herrn harrte. Oder die beiden Schattenmarilith, die ihn flankierten - sechsarmige Dämonenfrauen mit Schlangenunterkörpern, die für ihre tödliche Schwertkunst berüchtigt waren. Nein, was Winter das Blut in den Adern gefrieren ließ, war der Anblick des Throns: Er war aus Menschenleibern gefertigt. Sterbende, die sich in Qualen wanden, eingeschlossen in einem Gebilde aus gräulichem Schattendunst und einer zähflüssigen, wächsernen Masse, die das groteske Kunstwerk in ständiger Bewegung hielt. Zwei riesige Kronleuchter waren ebenfalls aus Menschenleibern gefertigt. Ebenso wie ein kleinerer Thron neben dem des Halbgottes. Auf ihm saß eine junge Frau mit aschfahlem Gesicht und silberweißem Haar, die, bemüht ihre Schmerzen zu unterdrücken, in stummer Verzweiflung gegen das Konstrukt ankämpfte, das im Begriff war sie sich einzuverleiben. Winter erkante sie anhand der Ähnlichkeit zu ihren Schwestern Lareal und Taube.  
Sturm Silberhand.
Der Mistkerl hatte sich an einer der Sieben Schwestern vergriffen.
„Ich hatte früher mit euch gerechnet“, klang die sanfte Stimme des Halbdämons so nah an Winters Ohren als stünde er direkt neben ihr. „Ihr würdet meine Sammlung ganz herrlich ergänzen.“
Das war das Stichwort.
Hades’ Sonnenklinge erstrahlte in gleißendem Licht, das den Raum durchflutete.
Und dann brach die Hölle los.

Boltor
Boltor nahm einen kräftigen Schluck aus seinem nimmerleeren Humpen.
„Elfische Hurensöhne“, lallte er.
Versteckt kauerten sie mit ihren Langbögen hinter der Brüstung der Galerie, durch die der Saal mit dem zweiten Stockwerk verbunden war. Unsichtbar für alle außer den Zwergen. Eigenartige Elfen waren das. Graue Gesichter, graue Haare, Katzenaugen. Aber Spitzohr blieb Spitzohr.
Es waren zwei, einer auf jeder Seite der Galerie. Boltor war sich ziemlich sicher, dass es zwei waren, auch wenn ihn sein Blick in dieser Hinsicht manchmal trog.
Er stürmte los, aktivierte seine Luftstiefel, stolperte torkelnd die Lufttreppe hinauf, die sich vor ihm materialisierte, setzte zum Sprung an und schraubte sich wie ein fliegender Korkenzieher auf seinen Gegner zu. Der Schattenelf brach stöhnend unter der Kopfnuss des betrunkenen Meisters zusammen. Wimmernd hielt er sich den schmerzenden Unterleib, stolperte ziellos einige Schritte rückwärts und übergab sich über die Brüstung.  
„Zum Wohl!“, lachte Boltor und erhob seinen Humpen zum Schlag. Im selbem Moment ließ ein Stromschlag seinen Körper erzittern. Der magische Blitz, der scheinbar aus dem Nichts auf ihn niedergegangen war, sprang weiter und die Schmerzensschreie seiner Gefährten sagten Boltor, dass er nicht das einzige Opfer geblieben war. Dann erschien vor ihm, wie aus dem Nichts, eine der Schattenmarilith. Boltor ächzte unter der Wucht sechs gut gezielter Schwerthiebe und ging in die Knie. Doch im selben Moment erfasste ihn eine Heilwelle, die seine Gefährten gewirkt haben mussten. Im Nu war Boltor wieder auf den Beinen, bereit seiner Peinigerin zu zeigen, was ein Schlaghagel war.
Was du mit sechs Armen schaffst, krieg ich allein mit meiner Linken hin.
In diesem Moment traf ihn etwas von hinten und presste ihm die Luft aus den Lungen. Wankend fuhr er herum. Die irre Gnomin hatte sich an ihn herangeschlichen und aus dem Hinterhalt attackiert. Ihr eigenartiger Dolch hinterließ dunkle Schlieren in der Luft. Als Boltor sie seine eiserne Faust spüren lassen wollte, tänzelte sie Zähne bleckend aus seiner Reichweite. Zeitgleich bohrte sich ein Pfeil zielgenau in seine Brust. Offenbar hatte Spitzohr sich von seiner Übelkeit erholt. Und ehe Boltor sich versah tauchte plötzlich auch noch die zweite Marilith neben ihm auf.
„Könnte mir vielleicht mal jemand behilflich sein?“, knurrte er. Was, bei Moradins Bart, trieben denn bitteschön seine sieben Gefährten, dass sie ihn hier mit vier der gefährlichsten Gegner alleine ließen? Nicht, dass er nicht noch ein Ass im Ärmel hätte... Schwerthiebe prassten wie Hagelkörner auf ihn ein, doch seine Gegnerinnen bezahlten jeden einzelnen Streich mit einem Vergeltungsschlag seinerseits. Die Welt verschwamm hinter einem Schleier aus Stahl, Bewegung und Blut. Sein Blut, aber auch das seiner Gegner. Das frustrierte Zischeln der Schlangenfrauen, die nicht eingeplant hatten, an den zwergischen Kampftrinker mehr als ein paar Schwerthiebe zu verschwenden, war wie Musik in seinen Ohren. Dennoch spürte er, wie seine Kräfte zu schwinden begannen.
Zum Glück war da sein Ring der neun Leben.
Acht Leben.
Sieben Leben.
Sechs Leben.
Fünf Leben.
Vier Leben.
Seine Gegnerinnen schäumten vor Wut. Gegen was kämpften sie da? Gegen ein verfluchtes Stehaufmännchen? Boltor spürte, dass sie trotz ihrer Übermacht nahe daran waren zu verzweifeln.
Noch drei Schläge und ihr seid Dämonenmus.
Drei Leben.
Zwei Leben.
Ein Leben.
Die Marilith schrie auf, rasend vor Zorn und Schmerz. Ihr nächster Schwertstreich war nicht nur gegen seinen Körper, sondern auch gegen seinen Geist gezielt.
Das letzte, was Boltor sah, waren die Kronen eines winterweißen Waldes.

Winter
Winter zitterte vor Aufregung.
Kalith hatte mit einem Trick seines Elfenschwerts eine Klingenbarriere vor dem Thron erschaffen, die dem Drachen einige schwere Wunden beigefügt hatte. Gezwungen seine Position als Wachhund aufzugeben, war dieser vorgeprescht, um all diejenigen in seinen Schattenodem zu hüllen, die noch vor der Tür harrten. Grimwardt und Faust hatten ihn daraufhin in die Zange genommen, doch zeitgleich hatte eine der Schattenmarilith es dem Elfen gleichgetan: Eine Wand aus blitzenden Schwertern sprang vor der Saaltür aus dem Boden und schloss Hades und Miu von dem Kampf im Thronsaal aus. Frustriert suchte der Kelemvor-Priester nach einem Weg durch die Klingenwand.
Auch Winter und Dorien waren nun von ihren Freunden im Thronsaal getrennt, doch im Gegensatz zu den beiden Heilern gereichte den Hexenmeistern der Klingenwall zum Vorteil, da er ihnen zusätzlichen Schutz bot.
„Was tut sie?“, fragte Winter zwischen zwei Zauberformeln.
Dorien hatte dank eines Erkenntniszaubers auf der Galerie hinter dem Thron einen weiteren Gegner entdeckt: Die Elfenmagierin hielt sich unter einer magischen Illusion verborgen. Ihr erster Zauber, die schattenhafte Illusion eines Kettenblitzes, hatte die Gefährten völlig unvorbereitet getroffen. Dorien hatte sie daraufhin mit einer Folge von Albtraumbildern attackiert, die ihr den Verstand geraubt hatten. Doch eine Heilwelle, von Lord Sciagraph beschworen, hatte sie bereits wieder von der Verzauberung befreit.
Als Winter durch die wirbelnden Schwerter der Klingenbarriere einen Blick auf ihren kämpfenden Bruder erhaschte, gewahrte sie einen eigenartigen Ausdruck auf dessen Gesicht. Verwirrung? Entsetzen? Und dann verschwand er plötzlich.
„Grimwardt!“, schrie Winter.
„Das war sie“, zischte Dorien, der seine Augen nicht von der verborgenen Magierin gelassen hatte.
„Was hat sie…?“
Doch Dorien hatte bereits zur nächsten Zauberformel angesetzt. Seine Stirn war düster umwölkt und seine Augen füllten sich mit weißem Nebel. In solchen Augenblicken war seine Schönheit Furcht einflößend, wie der Zorn eines Engels. Winter wusste, was das zu bedeuten hatte. Verdorren. Dorien hasste den Massenvernichtungszauber und setzte ihn nur im äußersten Notfall ein.
Die beiden elfischen Bogenschützen auf der Galerie verschrumpelten innerhalb von Sekunden zu grotesken Fleischklumpen. Auch der Schattendrache kämpfte vergeblich gegen die Macht, die alle Flüssigkeit aus seinem Körper sog. Im selben Moment, da der Zwerg Boltor vom Verbannungshieb seiner Bezwingerin in seine eigene Dimension zurück geschleudert wurde, fiel auch seine Gegnerin dem Zauber des Hexenmeisters zum Opfer. Die Elfenmagierin auf der Galerie ließ vor Schreck ihre Illusion fallen, ging in die Knie und wand sich in unerträglichen Schmerzen.
Doriens Erfolg gab Winter neuen Mut. Mit einem Triumphschrei schleuderte sie der Schlampe, die ihren Bruder wer weiß wo hin gebannt hatte, einen Auflösungsstrahl entgegen, der die Magierin völlig unvorbereitet in den Rücken traf. Nichts als ein Häufchen Asche blieb von ihr übrig. Ein zweiter Auflösungsstrahl traf die Gnomin mitten in ihr vom Hass zerfressenes Herz. Nur eine einzige Marilith und Lord Sciagraph, dem kein Zauber etwas anzuhaben schien, überlebten das Massaker.
Der Obsidianblick des Meisters richtete sich auf die beiden Verursacher der Verwüstung. Sie hatten seine Aufmerksamkeit erregt. Und seinen Zorn. Er schien mit dem Schatten des Throns zu verschmelzen und tauchte im nächsten Moment neben der Marilith auf der Galerie wieder auf. Winter schnappte entsetzt nach Luft, als sie seinen Blick auf sich spürte. Seine Mundwinkel zitterten und sie begriff.
Die Magierin. Sie war seine Geliebte.
Sieben in rasender Folge abgefeuerte Bolzen aus purer Schattenmaterie trafen Winter in die Brust. Bevor sie das Bewusstsein verlor, sah sie noch, wie sich die Augen des Hallbgottes mit weißem Nebel füllten.
Sie wusste, was das zu bedeuten hatte. Und sie war nicht sicher, ob sie es überleben würde.

Faust
Faust lachte befreit und gab sich ganz dem Kampfrausch hin. Endlich. Das war die Art von Kampf, nach dem er all die Jahre gesucht hatte. Seine Bestimmung. Er spürte, wie alle Selbstzweifel von ihm abfielen. Nicht einmal die Wucht des Verdorren-Zaubers, den der Halbgott auf sie niederfahren ließ, konnte seinen Enthusiasmus dämpfen. Die Marilith ging unter den Hieben seines Schwerts zu Boden. Ein weiterer Hieb beförderte sie über die Balustrade.
Dann spürte Faust, wie sich ein Schatten über ihn senkte.
Geh zurück, woher du gekommen bist.
Der Kämpfer spürte hinter dem telepathischen Befehl eine majestätische Präsenz, die seinen Körper aus dieser Dimension zu bannen versuchte. Er schloss die Augen, leerte seinen Geist von allen Gedanken, bis da nichts mehr war, was den geistigen Befehlen des Halbgottes einen Angriffspunkt geboten hätte. Dann wirbelte er herum und blickte in den schwarzen Abgrund der Obsidianaugen.
Götterdämmerung.
Die Welt blieb stehen, während er schneller und schneller wurde. Flüchtig nahm er einige Eindrücke von jenseits des Farbenwirbels wahr: Kalith, der Lord Sciagraphs Bannbefehl unterlag und von der Bildfläche verschwand, Miu, die sich, selbst einer Ohnmacht nahe, um die beiden zu Boden gegangenen Hexenmeister kümmerte. Dorien und Winter, die, kaum auf den Beinen, zu Sturm Silberhand teleportierten, um die Magierin aus ihrem Gefängnis zu befreien. Aber im Zentrum seiner Aufmerksamkeit bewegte sich sein eigener Körper mit rasender Geschwindigkeit. Das Schwert seines Vaters durchdrang die Drachenrüstung des Schattenherrschers dank der eintätowierten Zauberformel auf seinem Arm mühelos und wieder und wieder rammte er die Waffe mit brachialer Gewalt in den Körper des Halbgottes.
Dann plötzlich eine Bewegung und Lord Sciagraph verschmolz mit den Schatten der Alkoven und tauchte auf der anderen Seite der Galerie wieder auf. Seine empor gereckte Hand erbebte, als heilende Energie seinen Körper durchströmte. Dann lachte er verächtlich und blickte Faust herausfordernd an.  
„Feiger Hund!“, knurrte der Krieger, schwang sich über die Brüstung und fing den Sturz mit einer Rolle ab. Als er wieder auf die Beine kam, stand er Rücken an Rücken mit Hades, dem es offenbar endlich gelungen war einen Weg durch die Klingenbarriere zu finden.
„Nicht dein Tag heute, hm?“, feixte Faust, während er einen Zauber wirkte, der die Schattensprünge des Halbdämons verhindern sollte.  
„Bring mich da hoch!“, befahl Hades. Da war etwas Fatalistisches in den Augen des Priesters, das Faust neugierig machte. Er wirkte einen Flugzauber und übertrug ihn auf den Richter.
Hades schoss pfeilschnell in die Höhe, die Klinge nach vorne gerichtet. Faust erkannte das Kampfmanöver – ein weiteres Stück wiederkehrender Erinnerung. Hades führte nur einen einzigen Hieb aus. Ein einziger Hieb, in den er all seine Kraft, all seine Überzeugung legte. Und er zwang die mächtige Gestalt des schwer gerüsteten Halbdämons in die Knie. Doch auch Hades taumelte erschöpft zur Seite und vermochte sich nur mit Mühe in der Luft zu halten.
Zum ersten Mal sah Faust Furcht in den Augen des Halbgottes. Seine Hand zitterte, als er sie ausstreckte, um dem Richter mit einer Salve seiner tödlichen Schattenbolzen zu überziehen. Hades verlor das Bewusstsein und sein massiger Körper stürzte zu Boden.
Noch ehe der Priester auf dem Boden aufschlug, war Faust an Volumvax’ Seite aufgetaucht. Ein weiteres Mal bewegte er sich schneller als die Zeit. Ein weiteres Mal durchdrang Zwiespalt die Rüstung des Halbdämons als sei sie aus Pergament. Und dann der entscheidende Schlag: Das Henkersschwert durchschnitt die Kehle des Halbgottes und eine Blutfontäne übergoss den Krieger. Volumvax Sciagraph sank vor Faust auf die Knie.
Fast hätte er es geschafft.
Doch im selben Augenblick, da seine Kehle aufriss, bewahrten seine regenerativen Kräfte den Halbgott vor dem Ende. Gleichzeitig fiel ein Schatten über seine am Boden kauernde Gestalt. Hades war zurückgekehrt.
Lord Sciagraph wusste, dass er sterben würde. Faust sah, wie der Ausdruck in seinen Augen von Unglauben in Erkenntnis überging. Dann Wut.
Pure Zerstörungswut.
Er konnte nicht fliehen, konnte diesen Turm, sein Gefängnis, nicht verlassen. Aber er würde seinen Bezwingern einen letzten tödlichen Hieb versetzen, ehe er ging. Sein Blick flackerte zwischen Faust und Hades hin und her.
In diesem Moment traf ihn Winters Schwächestrahl. Der Halbdämon ächzte, als seine massige Rüstung ihn niederdrückte. Doch da war noch genug Energie in seinen erschlaffenden Gliedern für diesen letzten Racheschlag. Ein letzter tödlicher Hieb. Sein Blick richtete sich auf die Diebesmeisterin. Winter, die den Blick richtig zu deuten schien, ergriff die Flucht, um hinter dem Thron in Deckung zu gehen, während Faust die Wut seines Gegners durch ein paar bissige Bemerkungen auf sich zu lenken versuchte.
Doch der Schattengott hatte seine Wahl getroffen.
Der erste Bolzenangriff raubte Winter das Bewusstsein. Faust wartete nicht, um zu sehen, wie die zweite Salve von Todesbolzen ihr Ziel fand. Brüllend vor Zorn und Ohnmacht stürzte er sich auf Winters Mörder. Seine Klinge bewegte sich wie von alleine. Blutfächer, die vor ihm aufstoben, vernebelten seine Sicht. Erst als er Hades’ Hand auf seiner Schulter spürte, ließ er von der Leiche seines Gegners ab. Oder von dem, was noch von ihr übrig war.

Grimwardt
Irgendwo im außerdimensionalen Raum.
Wo, zum Henker, war er? Zu beiden Seiten des Kieswegs wuchsen hohe Hecken, die über ihm einen Torbogen bildeten. War das der Tod? Nein, Kriegersruh, das Reich des Feindhammers, hatte in Grimwardts Vorstellung wenig mit Hecken und Kieswegen zu tun. Eine Illusion? Wenn das ein Trugbild war, dann ein verdammt gutes. Da ihm nichts anderes übrig blieb, lief er den Weg entlang. Sackgasse. Eine Hecke versperrte ihm den Weg.
Er war in einem Irrgarten gelandet.
Fluchend machte sich Grimwardt auf die Suche nach dem Ausgang. Er schritt durch Torbögen, lief über verwunschene Waldwege, kämpfte sich durch widerspenstiges Gestrüpp, doch ohne Erfolg. Jede Sekunde, die verstrich, stellte seine Nerven auf die Zerreißprobe, denn jeder vergeudete Augenblick konnte für seine Gefährten das Ende bedeuten.
Tempus, erhöre mich und bring mich zurück.
Und endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, fand er den Ausgang des Labyrinths.
Grimwardt stürmte durch den Torbogen… in den Thronsaal der Adumbral Calyx. Der Kampf war zu Ende. Faust, von Kopf bis Fuß mit Blut und Eingeweiden besudelt, trat ihm in den Weg.
„Schlechte Nachrichten“, murmelte der Krieger und legte dem Tempuspriester schwerfällig seine Hand auf die Schulter. „Deine Schwester… ähm….“
Faust trat zur Seite und gab den Blick auf den Thron frei. Das wächserne Konstrukt aus toten Menschenleibern war erstarrt und mochte beim leisesten Windhauch zu Staub zerfallen. Traurig thronte es über den am Boden kauernden Gestalten von Dorien und Miu. Und zwischen ihnen… Grimwardt scheuchte Miu beiseite und starrte in ihr totenbleiches Gesicht. Sie hatten ihr die Augen geschlossen, sodass sie fast friedlich wirkte.
Für einen Augenblick erstarrte Grimwardt. Dann packte er Dorien beim Kragen und stieß ihn gegen die Wand.
„Wie lange war ich fort?“, fuhr er ihn an. Seine Stimme klang seltsam verzerrt in seinen Ohren. „Eine Minute? Zwei? Was für ein Ehemann und Vater bist du, dass du nicht mal so lange auf sie aufpassen konntest?“
Dann sah er den Ausdruck in Doriens Augen und sein Zorn verwandelte sich in Schmerz.
Was auch immer Winter getötet hatte, es hatte auch das Licht in Doriens Augen gebrochen.

Faust
Ein einziger Schwerthieb genügte, um Sturm Silberhand aus ihrem Gefängnis zu befreien. Nun, da Volumvax’ tot war, wichen Magie und Schattenmaterie aus seinen untoten Konstrukten und nichts als ein bröckliges Gebilde aus erkaltetem Wachs und Knochenresten blieb von seinen morbiden Kunstwerken übrig.
Faust fing die geschwächte Magierin auf, als sie zu Boden sank. Miu, seine unermüdliche Miu, war sofort mit einem Heilzauber zur Stelle. Doch die ungesunde Blässe wollte nicht aus Sturms Wangen weichen.
„Ich danke Euch“, sagte sie und zauberte trotz aller Erschöpfung ein Lächeln in ihre müden Augen. „Für die Rettung der Silbermarken.“
Faust half ihr sich aufzusetzen und sie fuhr fort.
„Es war Volumvax’ göttliche Energie, die den Schattenstrahl kanalisiert und damit den magischen Knoten unter dem Immerfeuer geschwächt hat. Mit seiner fliegenden Turmfestung ist er von Knotenpunkt zu Knotenpunkt gereist, um das magische Gewebe zu zerstören. Für die Bewohner Sundabars und der Marken ist die Gefahr nun gebannt. Doch leider hatten die Bewohner des Schattentals weniger Glück. Ich weiß nicht, wie viele von ihnen noch in den Gefängnissen der Adumbral Calyx harren und um ihr Leben bangen. Wir sollten keine Zeit verlieren und sie befreien.“
„Wie seid Ihr überhaupt hierher gelangt?“, wollte Faust wissen.
„Ich verlor das Bewusstsein, als das magische Gewebe unter der Stadt Schattental zusammenbrach“, erklärte Sturm. „Mystra ist eins mit dem Gewebe. Und wir, die Sieben Schwestern, sind ein Teil von Mystra. Wo sie nicht ist, können auch wir nicht sein. Nach dem Verschwinden Elminsters müssen die Eroberer des Schattentals mich hierher gebracht haben.“
„Der alte Mann ist… verschwunden?“
Sturm nickte ernst. „Und sein Turm liegt in Trümmern.“
Beunruhigend.
Zusammen mit Hades und Miu machte sich Faust auf den Weg in die Katakomben des Turmkomplexes, um die Gefangenen zu befreien, von denen die Harfnerin gesprochen hatte. Die paar Todesalben und Schattenelfen, die er auf dem Weg niedermetzelte, waren kaum der Rede wert. Bei den Gefangenen handelte es sich um gut zwei Dutzend Taliser, die von den Eroberern scheinbar wahllos auf die Schattebene verschleppt worden waren. Während Miu die Kranken und Verletzten versorgte, suchten Faust und Hades nach einer Halbdrow namens Razeema. Hades erklärte Faust, dass Kalith der Elf einen magischen Hilferuf von einer ehemaligen Mitstreiterin empfangen hatte, der vermuten ließ, dass sie unter den Gefangenen weilte.
Es stellte sich heraus, dass Razeema eine Zirkus-Illusionistin war, die zusammen mit einer Truppe fahrender Schausteller in Schattental gastiert hatte, als das Unglück über die Stadt hereingebrochen war. Zusammen mit einem befreundeten Halbork-Barden, mit dem sie in der Schlacht um das Schattental gekämpft hatte, war sie hierher verschleppt worden. Razeema, die ihre Zauber über das Schattengewebe wirkte, hatte durch Visionen, die Shar ihren Anhängern zukommen ließ, vom drohenden Angriff auf die Knotenpunkte des magischen Gewebes erfahren.
„Shar hat viele Aspekte“, erklärte die Halbdrow, als sie Hades’ missbilligenden Blick auf sich spürte. „Nicht alle ihre Aspekte sind böse. Auch das Schattengewebe ist es nicht. Und jene Aspekte, die Mystras Untergang anstreben, scheinen nicht kontrollieren zu können, wen ihre Nachrichten erreichen. Ich bin keine Spionin, falls Ihr das denkt.“
Sie führten die Gefangenen in den Thronsaal und während Sturm und Hades sich Gedanken darüber machten, wie sie all die Verschleppten zurück nach Faerûn bringen sollten, machte Faust sich an den Teil des Heldendaseins, den er beinahe so sehr schätzte wie den Kampf: das Plündern.
Und es gab viel zu plündern.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 26. Februar 2010, 02:18:18
Oh ja, das gab es...
Man man man, der Abend und der darauf waren aber auch der Hammer! ...Was wir bluten mussten...und die andern erst :wink:
Jetzt verstehe ich auch, warum Winter das Hassziel war... hätte nicht gedacht, dass der Halbgott eine Geliebte hat... und dann Winters Tod... mein Gott war das alles spannend :)
Und Boltors ewigen Kampf hast du natürlich auch sehr schön dargestellt!  :D
Hab grade voll Bock auf unsere nächste Sitzung bekommen  :wink:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Zophael am 26. Februar 2010, 10:55:37
Ach ja, der verdammt Irrgarten... Es wird Zeit, dass ich mir irgendwo Zauberresistenz her besorge *grummel* Und ich sollte mir evtl. auch eine Rod of Quicken leisten...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 26. Februar 2010, 17:21:24
Solange ihr mich so motiviert, bleibt die Muse mir wohl noch eine Weile treu :-)

Ja, die Elfe Velissandrin war Volumvax' Geliebte. Sie war auch diejenige, die für ihn die Silbrigmonder Adelskreise ausspioniert und dem Harfner Drake auf den Hals gehetzt hat. Das war aber nicht der vorrangige Grund, weshalb es Winter getroffen hat... Als er erkannte, dass er verloren hatte, wollte Volumvax euch leiden lassen und einen von euch mit in den Tod nehmen. Faust war kaum verletzt, da blieb also nur Winter (NSCs mal ausgenommen, damit's dramatischer ist ;-)). Außerdem erkannte er wohl, dass Winters Tod für die Gruppe emotional die größte Wirkung hätte.

Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 26. Februar 2010, 18:00:51
 :twisted:
bist manchmal auch gerne fies, hm? ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 26. Februar 2010, 18:11:52
Das macht die Macht  8)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 27. Februar 2010, 00:08:41
Ja, was für ein Abend! Super Beschreibung des Kampfes, Boltors Part gefällt mir besonders gut!
(Aber was danach kommt, wird so schlimm! )
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 28. Februar 2010, 17:06:04
Kapitel VII: Stadt der Seelen

Grimwardt
Silbrigmond, in den frühen Morgenstunden.
Sie hatten Winter im Wohnhaus von Doriens Eltern aufgebahrt. Irgendwer hatte ein paar Talkkerzen gefunden und sie am Fußende des Betts entzündet. Dann hatte Hades einen Segen gesprochen, der ihr die Reise in Kelemvors Reich erleichtern sollte. Im Laufe des Tages hatten sie den Zwerg zurückgebracht, den ein Verbannungszauber in ein Waldstück in Eiswind verschlagen hatte. Nach Kalith, der auf einer anderen Ebene gelandet war, würden sie morgen suchen.
Lange hatten sie schweigend Totenwache gehalten, ehe sie sich, einer nach dem anderen, einen Schlafplatz gesucht und zu Bett gekrochen waren.
Alle bis auf Grimwardt.
Es ist falsch.
Seit Stunden kreisten seine Gedanken nun schon um diese drei Worte. Es war falsch, dass er, der Krieger, noch lebte, während seine kleine Schwester kalt und starr auf einem Totenbett lag. Er war nicht da gewesen, um sie zu beschützen. Es war falsch. Es musste einen Weg geben, sie aus dem Reich der Toten zurückzuholen. Hin und wieder hörte man von solchen Wundern. Von zurückgekehrten Helden. Hin und wieder machten die Götter eine Ausnahme.
Plötzlich erklang aus dem Erdgeschoss ein dumpfes Scheppern.
Grimwardt sprang auf und polterte die Treppe hinunter. Mit gezückter Axt stürmte er in die Küche. Es war nur Razeema, die im Schlaf von der Küchenbank aufgeschreckt und gegen eine Bratpfanne gestoßen war. Ihr halborkischer Freund, der es sich auf dem Küchenboden bequem gemacht hatte, grunzte etwas Schlaftrunkenes und schnarchte weiter.
„Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Grimwardt.
„Bloß eine Vision“, murmelte Razeema und rieb sich den schmerzenden Hinterkopf.
Sie seufzte, als sie den fragenden Blick des Tempusklerikers auf sich spürte, und setzte sich auf.
„Ein Baum“, erklärte sie. „Da war ein Baum. Golden mit schmalen, ovalen Blättern und einem dünnen Stamm. Vielleicht eine Art Birke. Eine kleine Gestalt lugte hinter den Blättern hervor, eine Spinne, denke ich. Sie hatte eigenartige Augen... saphirblau und ungewöhnlich intelligent. Dann veränderte sich etwas. Die Blätter verloren ihre goldene Färbung und welkten wie im Zeitraffer. Als sie vom Baum fielen, verwandelten sie sich und wurden zu eingerollten Schriftrollen.“
Grimwardt runzelte die Stirn. Ein goldener Baum. Eine Spinne mit saphirblauen Augen. Blätter, die sich in Schriftrollen verwandelten. Nichts davon kam ihm bekannt vor.
„Was hat das zu bedeuten?“
„Woher soll ich das wissen?“ Razeema rückte ihre Schlafrolle zurecht und legte sich wieder hin. „Wenn ich mir über jede von Shars Visionen den Kopf zerbrechen würde, dann käme ich gar nicht mehr zum Schlafen.“
Mit diesen Worten drehte sie sich um und schloss die Augen. Grimwardt zuckte mit den Schultern und kehrte an Winters Seite zurück. Er würde den Zwischenfall am nächsten Tag der Herrin von Silbrigmond melden. Sturm Silberhand hatte sie zur Mittagsstunde in den Hochpalast geladen.
Als er seinen Stuhl zurechtrückte, runzelte er die Stirn. Stille. Der Stuhl gab keinen Ton von sich. Grimwardt lauschte – und hörte absolut nichts. So unauffällig wie möglich verließ er den Raum, um einen Zauber zu wirken. Und tatsächlich! Es war jemand im Raum. Sein magischer Blick enthüllte die Silhouette einer humanoiden Gestalt. 
Drake, war wie immer sein erster Gedanke.
„Halt!“, rief Grimwardt. „Wer ist da?“
Er hörte, wie jemand einen Zauber flüsterte, und die magische Aura verschwand. Grimwardt machte sich sofort daran, die Zimmer des ersten Stockwerks zu untersuchen. Nichts schien verändert, bis auf eines: Dorien war fort.
In Grimwardt regte sich eine dunkle Vorahnung. 

Faust
Gegen Mittag im Hochpalast von Silbrigmond.
Der Hochmarschall des Mondschildturms, ein kleiner rundlicher Mann mit säuselndem Tonfall, führte die Gruppe in den Thronsaal. Zu acht waren sie zu ihrer Mission aufgebrochen, doch nur die Hälfte von ihnen war noch übrig. Hades hatte sich bereits früh am Morgen verabschiedet, um sich auf den Weg nach Rabenklippe zu machen und die „Sache Faust“ zu klären. Die Halbdrow war aufgebrochen, um den Elfen Kalith zu suchen, den ein Bannzauber in eine andere Dimension geschleudert hatte. Der Hexenmeister Dorien schließlich war in der Nacht verschwunden, was den Tempuspriester aus Gründen, die nur er selbst kannte, dazu veranlasst hatte, hinter verschlossenen Türen die Räume zu verwüsten. Grimwardt war es auch, der nun als erster den Saal betrat und die Leiche seiner Schwester auf den Boden bettete. Faust folgte, mit Miu wie immer dicht auf den Fersen. Hinter ihnen torkelte der chronisch besoffene Zwerg durch die Flügeltür.
Unter zwei großen Torbögen, auf zwei silbernen Thronen saßen Lady Alustriel, die Herrscherin der Silbermarken und die Älteste der Sieben Schwestern, und ein weißbärtiger alter Magier in blauen Roben, den Alustriel ihnen als den Hochfürsten von Silbrigmond vorstellte. Die Regentin der Marken, eine elegante Frau mit Gesichtszügen so ebenmäßig, dass sie übermenschlich wirkten, trug einen Zauberstab, der in einem Einhornkopf endete. Zu ihrer Rechten harrten Sturm Silberhand und eine weitere der sieben Schwestern, die Sturm ihnen als die Waldläuferin Taube Falkenhand vorstellte. Zwei weitere Schwestern harrten zur Linken des Doppelthrons: Lady Lareal von Tiefwasser, und Quilé Veladorn, eine Dunkelelfe mit wallendem Silberhaar, das ihr bis zu den Kniekehlen fiel. Sie alle wirkten kränklich und erschöpft – die Auswirkungen des zerstörten magischen Gewebes.
„Ihr…. seid nicht wirklich verwandt, oder?“ Faust konnte sich die Frage nicht verkneifen. Zumindest die Drow schien nicht so ganz ins Bild zu passen. „Und sieben seid Ihr auch nicht.“
Quilé Veladorn warf ihm einen amüsierten Blick zu.
„Wir sind Töchter Mystras“, antwortete die Drow ihm mit dunkler, wohlklingender Stimme. „Und Mystra hat Faerûn in vielerlei Gestalten durchwandert. Und um Eure zweite Frage zu beantworten: Syluné, die Zweitälteste, war mit Sturm zusammen, als die Magie im Schattental zusammenbrach. Sie ist ein Geist und wir wissen nicht, wie sich Mystras Wunden auf ihr körperloses Wesen ausgewirkt haben. Und die Simbul…“ Quilé seufzte. „Niemand weiß genau, was die Simbul so treibt. Aber wahrscheinlich tut sie gerade etwas sehr Gefährliches und… sehr Mächtiges.“
Dann meldete sich Lady Alustriel zu Wort.
„Ihr also seid die Abenteuergruppe, der wir die Rettung der Silbermarken zu verdanken haben. Wir alle stehen tief in eurer Schuld.“ Die gütigen grauen Augen der Herrin von Silbrigmond blickten von einem zum anderen, bis sie auf Grimwardt ruhen blieben. „Wie ich sehe, habt Ihr einen Verlust zu beklagen. Das mindeste, was wir für euch tun können, ist der Versuch, eure Schwester zurückzurufen.“ Sie berührte die Hand des Hochfürsten von Silbrigmond und schien ihm eine telepathische Nachricht zu übermitteln. Taern Hornblade nickte und erhob sich, um ihren Auftrag auszuführen.
„In der Nacht vor vier Tagen wurde ich von einem stechenden Schmerz geweckt“, fuhr Alustriel fort. „Ich hatte eine Vision, in der Mystra mir erschien. Sie schien schreckliche Schmerzen zu leiden. Sie berichtete von tiefen Wunden, die ihre alte Widersacherin Shar ihrem Körper zugefügt hatte. Das Gewebe ist an zwei Knotenpunkten gerissen. Der erste unter dem See der Schatten in der Wüste Anauroch. Der zweite unter dem Alten Schädel im Schattental. Beide Knoten hinterlassen magietote Zonen von mehren Meilen. Und sie breiten sich weiter aus. Die antimagische Zone vom Schattental hat bereits Myth Drannor und den Elfenhof erreicht. Taube konnte die Stadt gerade noch rechtzeitig verlassen. Eine Allianz von abtrünnigen Drow-Clans und Shar-Anhängern hat die südwestlichen Täler eingenommen und marschiert nun am Ashabafluss entlang auf Myth Drannor zu. Auf dem Weg nehmen sie alles ein, was ihnen in die Quere kommt. Gleichzeitig rückt aus nördlicher Richtung die Kastellanin von Zhentilfeste mit ihrer Zhent-Armee auf Myth Drannor zu.“
Faust runzelte die Stirn. „Zhentarim, Dunkelelfen, Sharianer … Seit wann machen die gemeinsame Sachen?“
„Eine Zwecksallianz, um die Gunst der Stunde zu nutzen“, sagte Taube bitter. „Sobald Myth Drannor gefallen ist, werden die sich gegenseitig an die Kehle gehen. Und ohne den Mythal wird Myth Drannor fallen!“ 
„Bevor die im Elfenhof einfallen, müssen sie erst an meinen Jungs vorbei“, knurrte Grimwardt düster. „Die Abtei des Schwertes hat bisher auch ohne Magie allen Angriffen standgehalten.“
Dann schien dem Tempuspriester ein Gedanke zu kommen.
„Da ist übrigens noch etwas… Ich weiß nicht, ob es eine Rolle spielt.“ Er berichtete von Razeema und ihren Visionen. „Gestern Nacht schickte Shar ihr eine weitere Vision. Ein goldener Baum, dessen Blätter verwelkten und zu Schriftrollen zerfielen. Sie erwähnte auch eine Spinne mit saphirblauen Augen.“
Bestürzung in den Gesichtern der fünf Schwestern.
Wieder war es Lady Alustriel, die das Wort ergriff. „Was ihr da beschreibt, klingt äußerst beunruhigend, Grimwardt. Die Spinne vermag ich nicht zu deuten, aber die Beschreibung des Baums passt auf den Quess Ar Teranthvar. Die elfische Version der Nesserrollen.  Eben jenes Artefakt, mit dem es den Arkanisten von Nesseril vor fünftausend Jahren gelang Magie zu wirken, die die Göttin der Magie tötete und das magische Gewebe zerstörte. Die Umbranten der Anauroch, die Nachfahren der Nesserim, sind vielleicht die einzigen, die dazu in der Lage sind, die Nesserrollen vollständig zu verstehen. Der Halbgott, den ihr besiegt habt, muss in ihrem Namen gehandelt haben. Ich fürchte, dass der Angriff auf die Knotenpunkte des magischen Gewebes nur der Anfang war. Ein Ablenkungsmanöver, das den Mythal von Myth Drannor ausschalten sollte, um den Diebstahl des Elfenbaums zu ermöglichen. Die einzige vollständig erhaltene Version der Schriftrollen von Nesseril…“
Stille. Fausts leises Lachen schien eigenartig unangebracht.
„Und da Ihr Euch nicht im Bereich der magietoten Zone aufhalten könnt, sollen wir nun nach Myth Drannor reisen.“, schlussfolgerte er mit einem schiefen Grinsen und einem tatendurstigen Glitzern in den Augen. „Um den Baum zu schützen und die Welt zu retten!“
Die fünf Schwestern sahen ihn stumm an.
„Ja“, sagte Sturm leise. „So in der Art.“
Das war ein Auftrag nach Fausts Geschmack. Gestern erst hatte er einen Gott erschlagen und heute würde er die Welt retten. Die Zeit der nächtlichen Gasthausschlägereien und Saufgelage war vorbei. Er hatte wieder ein Ziel vor Augen. Taten, an die die Welt sich erinnern würde.
Dann veränderte sich die Luft und der Hochfürst von Silbrigmond materialisierte sich auf seinem Thron und überreichte Alustriel eine Schriftrolle. Ihr Blick kehrte zu Grimwardt zurück.
„Dieser Zauber vermag jeden Wunsch zu erfüllen“, erklärte die Fürstin. „Selbst die Rückkehr Eurer Schwester aus dem Reich der Toten. Aber seid gewarnt. Das Universum folgt seinen eigenen Regeln. Es mag Euren Wunsch erfüllen, doch es wird seinen Tribut verlangen. Auf die ein oder andere Weise.“
Sie überreichte Sturm die Schriftrolle. Die jüngere Schwester sah Grimwardt um Erlaubnis fragend an. Auf sein Nicken ging sie vor Winters Leiche in die Knie. Dann begann sie die Zauberformel zu rezitieren und weißes Licht erfüllte die Tote vom Kopf bis in die Zehenspitzen. Erst schwach und flackernd, dann immer stärker.
Grimwardt ergriff die Hand seiner Schwester.

Winter
Fugenebene.
Das Rauschen des Flusses klang dumpf in ihren Ohren. Ein breiter Strom trennte sie vom jenseitigen Ufer. Dazwischen erhob sich auf einer Flussinsel eine Stadt aus Kristall. Etwas Mechanisches lag in der Art, wie die Wellen sich in immer gleichen Zeitabständen und unveränderlichen Formationen aus der blau-grauen Masse erhoben und wieder senkten, ohne dabei die Struktur des Wassers zu verändern. Auch die Wolken klebten statisch und starr am stahlgrauen Himmel. Eben so vorhersehbar wie die Bewegungen des Wassers war die Ankunft der Barke. Der Fährmann war in eine graue Kutte gehüllt, die sein Gesicht bis auf das breite Kinn und die hervorstehenden Wangenknochen in Schatten hüllte. Sie ergriff seine Hand, als er sie ihr darbot, und bestieg die Barke. Schweigend hielt der Fährmann auf die kristallene Stadt zu und sie erkannte einen weißen, gewundenen Turm, der sich in ihrer Mitte erhob.
Sie schritt durch Gassen an immergleichen Fassaden entlang. Zu Anfang wurde sie von dem Bestreben geleitet, den Turm im Innern der Stadt zu finden, doch bald vergaß sie diesen Wunsch. Hin und wieder begegneten ihr andere Menschen. Ziellos und zeitleer wie sie. Sie trugen keine Kleidung und ihre Körper schienen aus dem selbem kristallinen Material zu sein, aus dem auch die Stadt erbaut war. Als sie an sich herunter sah, erkannte sie, dass auch sie selbst begonnen hatte, ein Teil der Stadt zu werden. Der Gedanke ängstigte sie nicht, im Gegenteil: er erfüllte sie mit einer eigenartigen Ruhe bar jeder Emotion. 
Sie wusste nicht, wie viel Zeit seit ihrer Ankunft verstrichen war. Zeit schien an diesem Ort keine Rolle zu spielen. Einmal gelangte sie zu einem Hafen. Hier legten Barken an mit vermummten Gestalten, die die umherwandernden Seelen auf die jenseitige Seite des Flusses brachten. Doch in ihr war nicht das Verlangen, in eine der Barken zu steigen und die Schatten am anderen Ufer zu ergründen. Keine der Barken war für sie bestimmt.
 „Winter!“
Als sie den Ruf vernahm, weckte er etwas in ihr, das sie glaubte vergessen zu haben. Sie lief in die Richtung, aus der die Stimme kam. Dann begriff sie: Es war ihr Name, den die Stimme rief. Nun rannte sie.
Dorien wartete am Ende einer Kristallallee.
Als sie ihn erblickte, zerbrach der betäubende Zauber der Stadt. Winter keuchte auf, als die Erinnerung sie übermannte. Doch Dorien war da, um sie in seine Arme zu schließen. Sie spürte, wie ihr Körper zu ihr zurückfand. Wie sie atmete. Wie ihr Herz gegen ihren Brustkorb schlug.
„Komm zurück“, sagte Dorien leise und küsste ihre trockenen Lippen.
Zitternd schmiegte sie sich an seine Brust. Es war ihr gleich, wohin er sie führte, solange er nur bei ihr blieb an diesem Ort, der ihr mit einem Mal so kalt und fremd erschien. Eng umschlungen liefen sie durch die Stadt der Seelen. Zurück zu dem Anlegeplatz mit der Barke, die sie hierher gebracht hatte. Doch nicht der Fährmann saß darin, sondern eine junge Frau. Auch ihr Gesicht lag im Schatten, doch Winter erkannte sie an den langen, roten Locken, die ihr über die Schultern fielen. 
Dorien half ihr ins Boot.
Nein.
Sie erkannte es in dem Moment, als er sich aufrichtete: Seine Seele gegen ihre. Ihr Herz, das gerade erst wieder zu schlagen begonnen hatte, setzte für einen Augenblick aus.
Nein.
Sie wollte es hinausschreien, aber sie brachte keinen Ton heraus.
Sie ließ nicht los, umklammerte seine Hand fester. Doch seine Finger entglitten ihrem Griff und die Barke legte ab. Sie wollte sich aufrichten, das Boot zum Wanken bringen, sich ins Wasser stürzen, irgendetwas. Doch Dorien schüttelte stumm den Kopf. Da war Furcht in seinem Blick und bitterer Schmerz. Aber vor allem Entschlossenheit. Die Entscheidung war getroffen, und es war nie ihre Entscheidung gewesen.
Wie erstarrt sank sie zurück ins Boot und sah hilflos zu, wie Dorien begann sich zu verwandeln. Als die Barke das Ufer erreichte, konnte sie die Gestalt am Anlegesteg kaum mehr vom Rest der Stadt unterscheiden.

Grimwardt
Sie öffnete die Augen.
„Wo ist Dorien?“
„Äh… Winter?“
Grimwardt drückte ihre Hand fester und half ihr sich aufzurichten. Ihr Blick war starr und in weite Ferne gerichtet. Was auch immer sie auf der anderen Seite gesehen hatte, es war ihr hierher gefolgt.
„Wo ist Dorien?“, fragte sie noch einmal. Ihre Stimme klang leise und seltsam beherrscht.
„Nicht hier“, grunzte der Zwerg unsensibel und stieß Grimwardt an. „Die weiß aber schon, dass sie… naja, hinüber war?“
Winter erhob sich, schien ihre Umgebung jedoch noch immer nicht wahrzunehmen.
„Ich muss ihn finden.“
„Schön“, sagte Grimwardt besänftigend und umschloss ihre Schultern mit festem Griff. „Wir suchen ihn. Ich helfe dir. Erzähl mir, was passiert ist.“
Er führte seine Schwester aus dem Palast, an die frische Luft. Während sie ihm wie eine Schlafwandlerin durch die Gassen folgte, erzählte sie ihm in konfusen Worten, was auf der Fugenebene geschehen war.
Dieser elende Narr, dachte Grimwardt. Das würde Dorien ähnlich sehen, sich heldenhaft für seine große Liebe zu opfern. Was hatte er sich bloß dabei gedacht? Dieser verwöhnte Bengel hatte sich Zeit seines Lebens vor der Verantwortung gedrückt, endlich ein Mann zu werden. Grimwardt hatte immer befürchtet, dass durch seine Leichtsinnigkeit noch jemand zu Schaden kommen würde. Und dennoch: Nach fünfzehn gemeinsamen Jahren fühlte er sich auf eine widerwillige Art verantwortlich für den jüngeren Gefährten. Irgendwie hätte er das verhindern müssen, hätte Dorien davon überzeugen müssen, dass es einen anderen Weg geben würde… Dann fielen ihm Alustriels Worte ein, kurz bevor sie ihm die Schriftrolle überreicht hatte: Das Universum mag Euren Wunsch erfüllen, doch es wird seinen Tribut verlangen. Auf die ein oder andere Weise.
Plötzlich war Grimwardt sich nicht mehr so sicher, das es einen anderen Weg gegeben hätte.
Vor einem Tempusschrein, den ein alter Kriegsveteran instand hielt, machte er Halt.
„Lass mich zu meinem Gott beten“, sprach der zu Winter. „Tempus wird wissen, was geschehen ist und was wir tun können.“
Winter nickte abwesend und Grimwardt betrat die Kapelle: einen kleinen Altarraum mit Tempussymbolen an den Wänden. Er kniete sich vor den Altar, senkte demütig sein Haupt und stützte sich, wie es Brauch war, auf seinen Schild. Dann begann er zu beten.
Tempus, mein Herr, ich bitte Dich, erhöre mein Gebet und gewähre mir Deine göttliche Einsicht.

Winter
Grimwardt wirkte erschöpft, als er auf sie zu trat und ihr den Arm auf die Schulter legte. Sie empfand keine Bestürzung; seine Worte machten lediglich endgültig, was sie bereits gewusst hatte. Nachdem er geendet hatte, wandte sie sich wortlos um. Grimwardt versuchte nicht, sie aufzuhalten.
Sie bewegte sich wie durch ein Vakuum. Als liefe sie durch einen Tunnel ohne Licht am anderen Ende.
Ihr Weg führte sie in einen Magierladen mit einer runden blauen Eingangstür. Die Augen der Ladenbesitzerin weiteten sich, als sie Winter erkannte, und ihre Hand fuhr alarmiert unter den Ladentisch.
„Ich brauche eine Schriftrolle“, sagte Winter. „Einen Zauber, um jemanden aufzuspüren.“
Die Magierin sah sie misstrauisch an und schien etwas in ihrem Blick zu suchen, das nicht da war.
„Zehn Prozent auf alles in meinem Laden, wenn Ihr mich in Ruhe lasst und meinen Ruf nicht gefährdet“, sagte sie mit gepresster Stimme.
Flüchtig erinnerte sich Winter an eine Begegnung in einer Jagdhütte im Wald. Drake, der sie mit dem Dolch bedrohte. Sie als Geisel zwischen ihm und dieser Frau. Aber es war eine Erinnerung, die jemand anderem zu gehören schien. 
Sie zuckte mit den Schultern.
Winter schob der Magierin das Geld über den Ladentisch. Sie machte sich nicht die Mühe, den Betrag nachzuzählen. Dann lief sie mit der Schriftrolle vor die Stadttore, um den Erkenntniszauber zu wirken und sich an Doriens Todesstätte zu teleportieren.
Ein Tempel mit pastellfarbenem Putz im südlichen Hochwald.
Flüchtig nahm sie Bewegungen am Rande ihres Blickfelds wahr: Mädchen mit Blumenkränzen im Haar, die hübsche Jünglinge bei der Hand nahmen, um mit ihnen im Schatten kühler Alkoven zu verschwinden. Winters Erscheinung erstickte ihr glockenhelles Lachen und hinterließ überall bedrückende Stille.
Der Zauber wies ihr den Weg durch schattige Korridore und lichtdurchflutete Säulenhallen. 
Er lag aufgebahrt in einem offenen Altarraum. Im zuckenden Schein der Kerzen wirkte sein Gesicht fast lebendig. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen, ein wenig spöttisch, als wolle er sie aufheitern. Oder dem Tod etwas von seiner düsteren Erhabenheit nehmen.
Winter zuckte zusammen, als sie eine Bewegung hinter sich spürte, vermochte den Blick jedoch nicht von seinem Gesicht zu wenden.
„Ihr müsst Winter sein“, sagte die Priesterin mit samtener Stimme. „Mein Name ist Lady Amalia.“
Jäh wandte Winter sich um.
„Habt Ihr das getan?“, flüsterte sie.
Trauer legte sich über das makellose Gesicht der Priesterin und sie ergriff ihre Hand. Winter ließ es geschehen und folgte Lady Amalia in die Tempelgärten. Eine Kirschallee führte zu einem kleinen Teich, der von Wildenten bevölkert war. Die Schönheit der Frühlingsidylle erschien Winter wie bitterer Hohn.
„Der Seelentausch ist eines der mächtigsten Rituale, das Sune ihren Priestern gewährt“, sprach Lady Amalia. „Und das größte Opfer, das ein Liebender dem Geliebten darbringen kann.“
„Ihr hättet das nicht tun dürfen“, sagte Winter mit erstickter Stimme.
Lady Amalia blieb stehen und sah sie ernst an. 
„Ich kenne Dorien schon seit zwanzig Jahren. Er hätte es nicht getan, wenn er eine andere Möglichkeit gesehen hätte. Er hat Euch geliebt, Winter.“
Sie spürte, wie eine dunkle, verzweifelte Wut in ihr hoch kochte. Mit einer jähen Bewegung entzog sie sich der Berührung der Priesterin. Was war das für eine Göttin, die so etwas zuließ? Welche Priesterin vollführte ein solch wahnwitziges Ritual? Wortlos wandte sie sich um und ließ Lady Amalia stehen. Nichts von dem, was die Priesterin ihr sagen konnte, würde ihre Fragen beantworten.
Sie kehrte in den Altarraum zurück und fiel vor Doriens Totenbett auf die Knie.
Es dauerte lange, bis die Tränen kamen, doch am Ende kamen sie. Winter hatte in ihrem Leben schon viele falsche Tränen geweint. Sie hatte vergessen, dass es Tränen gab, die einem die Kehle zuschnürten und einen Dolch in die Eingeweide rammten, bis man gleichzeitig zu ersticken und zu verbluten glaubte. Sie hoffte, dass diese Tränen ihm, falls er sie jetzt sehen konnte, all die Dinge sagen würden, die sie ihm nie gesagt hatte. Sie wusste nicht, ob es hätte anders kommen können. Wahrscheinlich hätte sie niemals wahrhaben wollen, dass ausgerechnet sie, die so vielen anderen das Herz gebrochen hatte, einem Mann erlegen war, der seine Gespielinnen so häufig wechselte wie seine Launen. Und wahrscheinlich hätte sein Stolz es ihm niemals erlaubt sich einzugestehen, dass sie mehr für ihn war als eine Trophäe, die er begehrte, weil er sie nicht haben konnte. Vielleicht hatte der Tod eine Geschichte beendet, die das Leben nie geschrieben hätte. Aber nun schrieben ihre Tränen diese Geschichte und sie wusste, dass nichts je wieder so sein würde wie früher.
Sie blieb bei Dorien bis zum Morgengrauen.
Bei Tagesanbruch begruben sie ihn in einem der Hügelgräber hinter dem Tempel. Keine Grabrede, nur die wortlosen Gesänge der Novizinnen begleiteten ihn auf seinem Weg.
Ein Weg, den sie hätte gehen sollen.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 01. März 2010, 02:09:23
Das war echt bedrückend... du hast aber auch grade ne kreative Phase!  :thumbup:

aber trotzdem: "Tempus, lebt der Mann meiner Frau noch?"  :-X
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 01. März 2010, 20:47:26
 :( :( :(

Geheult hab ich! Grausame Spielleiterin, Dorien zu töten. Seit Sommer 2007 kannte ich ihn. *schnüff*
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Abracadaver am 02. März 2010, 00:09:27
Hallo,

eine wirklich gelungene Story Hour, ich bin begeistert! Darf man nach Statblocks fragen, oder ist das unerwünscht? So oder so, freue ich mich auf's weiterlesen :thumbup:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 02. März 2010, 00:26:43
Was genau sind Statblocks? Werte von NSC und SC und so?

Ja, da war der charismatischste normalsterbliche Mensch von ganz Faerun plötzlich tot... keine Küsse mehr auf Kalids Stirn, keine Witze über "Löckchen", und kein wundersames Herrenhaus...
aber mal ehrlich, Winter hätte uns allen doch mindestens genau so gefehlt. Und wenn man sich im SL-Kartell dazu entschlie0t, dass man nicht mehr so schnell stirbt, dafür dann aber auch richtig, dann ist sowas nunmal die Konsequenz... außerdem, Kalids Chef ist ja auch zurückgekehrt, nach vielen vielen Jahren. Also könnte vielleicht auch Dorien irgendwann mal zurückkommen... wer weiß  :suspious:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Zophael am 02. März 2010, 08:32:29
Jepp, ich glaube das meint Abracadaver. Gibt's hier nicht irgendwo einen Thread, wo man seinen Char posten kann?
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 03. März 2010, 00:43:05
Hier die Werte der NSC-Gruppenmitglieder. Auf die SC in der aktualisierten Fassung habe ich im Moment keinen Zugriff- aber vielleicht will ja der ein oder andere meiner Spieler seinen Char hier posten ;-)... ich habe nur englische Regelwerke zur Verfügung, halte die Beschreibung aber meist in Deutsch - einige Übersetzungen dürften darum nicht mit der offiziellen Terminologie übereinstimmen; ich hoffe, es wird dennoch einigermaßen deutlich, was gemeint ist ;-). Regelwerke: alle (3.0. 3.5 und Pathfinder)

Dorien Dantés

Männlicher Mensch 
Hexenmeister (DnD-Gate) 3/ Menschlicher Paragon (UA) 3/ Herzwächter (F&P) 10/ Schicksalsweber (CA) 2 (18)
CG Humanoider
Initiative +5
TP 121
RK 25, Berührung 19, auf dem falschen Fuß 19  (Rüstung +6, GE +5, Ablenkung +3, Ausweichen +1)
REF +13, WIL +34, ZÄH +17
Attribute ST 10, GE 20, KO 18, IN 14, WE 8, CH 38   
Sprachen Handessprache, Sylvanisch, Elfisch
Nahkampf +11
Fernkampf   +16
GAB +11, BAB +11
BR 9m (6 Felder) 
Zauber (Zauberstufe 18)
9.Grad (5)
Zeit anhalten
8.Grad (7)
Beliebiges Verwandeln
Verdorren
7.Grad (9)
Herrliches Herrenhaus
Mächtiges Teleportieren
Regenbogenspiel
Zauber zurückwerfen
6.Grad (9)
Auflösung
Mächtige Magie bannen
Sagenkunde
Wahrer Blick
5.Grad (9)
Äußerlichkeiten
Person beherrschen
Schwachsinn
Verführung (BoEF)
Zone der Aufhebung (SC)
4.Grad (9)
Energiekugel (SC)
Mächtige Spiegelbilder (PHII)
Strahlablenkung (SC)
Versetzungstrick (SC)
Schnelligkeit (PHII)
3.Grad (10)
Blitz
Fliegen
Gasförmige Gestalt
Hast
Mächtiges Trugbild
2.Grad (10)
Dunkelsicht
Gestalt verändern
Kristalline Erinnerungen (CM)
Sengender Strahl
Unsichtbarkeit
1.Grad (10)
Alarm
Federfall
Kleine Säurekugel (SC)
Unauffälliger Diener
Verhütung (BoEF)
0.Grad (6)
Licht
Magierhand
Magie entdecken
Zaubertricks                   
Besondere Eigenschaften Attributssteigerung +2, Charismasteigerung +5, Feentransformation, Gesang der Sirene, Leidenschaftliches Herz, Lippen der Verzückung, Metamagische Zauber, Schicksal weben (2 Schicksalspunkte), Tränen von Immergold, Transferdenken
Talente Ausweichen, Beweglichkeit, Durchschlagende Zauber*, Force of Personality (CAd), Fortify Spell (CA), Geübter Magieanwender (CA), Mächtiger Zauberfokus (Verzauberung)*, Komponentenlos Zaubern, Schnell zaubern, Umgang mit exotischen Waffen (Peitsche), Zauberndes Wunderkind (FRCS), Zusätzlicher Zauber (7.Grad) * nur mit verbaler Komponente
Fertigkeiten Auftreten (Erotik) +37, Bluffen +20, Diplomatie +16, Heilkunde +15, Konzentration +25, Motiv erkennen +10, Wissen (Adel und Königshäuser) +7, Zauberkunde +23
Besondere Gegenstände: CH-Umhang +6, KO-Armschienen +4, GE_Handschuhe +4, Schutzring +3, Reistenzweste +4, Lederrüstung +4 (Zwielicht + Todesschutz), Zauberstecken des Maximierens (9.Grad)

Miu
Weiblicher Mensch (Wa, Kara-Tur)
Mönch 7/ Friedensapostel 9 (BoED) (16)
RG Humanoider
Initiative +4
TP 110
RK 44 (53*), Berührung 27 (34*), auf dem falschen Fuß 38  (Rüstung 11, natürlich 4, Ausweichen 1, Weisheit 9, Mönch 1, Geschick 34 Ablenkung 4), * mit Verbesserte Defensive Kampfweise (Ausweichen)
SR: 5/ Böses   
Resistenzen Säure 5, Kälte 5, Elektrizität 5, Feuer 5, Geräusche 5
Immunitäten: Krankheit, Gedanken wahrnehmen
REF +18, WIL +22, ZÄH +16 (+2 gegen Zauber und zauberähnliche Fähigkeiten)
Attribute ST 12, GE 19, KO 16, IN 14, WE 28, CH 20 
Sprachen Shou, Handelssprache Faerûn, Gebärdensprache
Angriff+24 unbewaffneter Schlag
Voller Angriff +24/+19 unbewaffneter Schlag (magisch/gut/ nicht tödlich) oder +22/+22/+19 Schlaghagel (1W8+4+1d4 gegen Böse Externare und Untote /20/x2)
Besondere Angriffe Betäubender Schlag (ZÄH SG 33 oder betäubt 1Runde)
BR 12 m (11 Felder) 
Zauber (Zauberstufe 13, Heilzauber 14), °BoED
9.Grad (1)
Ende allen Leids°
Massenheilung
8.Grad (2)
Aufspüren
Massen Kritische Wunden heilen
7.Grad (3)
Massen Schwere Wunden heilen
Genesung, mächtige
6.Grad (5)
Heilung
Magie bannen, mächtige
Massen Mittelschwere Wunden heilen
Schutzhülle gegen Leben
Zutritt verwehren
5.Grad (6)
Ebenenwechsel
Massen Leichte Wunden heilen
Verzauberung brechen
Wahrer Blick
4.Grad (6)
Bewegungsfreiheit
Blut des Märtyrers°
Erschöpfung aufheben
Genesung
Kritische Wunden heilen
Todesschutz
3.Grad (6)
Magie bannen
Übers Wasser laufen°
Unsichtbarkeit aufheben
2.Grad (7)
Andere schützen
Gift verzögern
Lähmung aufheben
Mittelschwere Wunden heilen
Stille
Genesung, schwächere
1.Grad (8 )
Furcht bannen
Glaubensschild
Leichte Wunden heilen
0.Grad (6)
Gift entdecken
Licht
Winzige Wunden heilen                       
Besondere Eigenschaften
Mönch:
AC-Bonus, Schlaghagel, verbesserter unbewaffneter Schlag, Bonus-Talente (Betäubender Schlag, Skorpiontritt, Gorgonenfaust),  Entrinnen, Schnelle Bewegung, Eingeübte Manöver, Ruhiger Geist, Ki-Pool, Langsamer Fall, Hoher Sprung, Reinheit des Blutes, Unversehrtheit
Friedensapostel (BoED):
Spontane Heilzauber, Untote vertreiben (20x/Tag), Besänftigende Berührung (no save, no SR), Externare vertreiben (8/Tag)
Talente Defensive Kampfweise, Friedensschwur (BoED), Geübter Zauberwirker (CD), Göttliche Metamagie (CD), Heilende Berührung (CC), Heiliger Schwur (BoED), Heiliger Ki-Schlag (BoED), Himmelsfaust (BoED), Schwur der Armut (BoED), Schwur des Gewaltverzichts (BoED), Stiller Zauber, Todesabwehr (LM), Verbesserte defensive Kampfweise, Verstärkte Heilzauber (CD), Zauberndes Wunderkind, Zusätzliches Vertreiben (CD) (3x)
Fertigkeiten Diplomatie +17, Entdecken +24, Heilkunde +24, Konzentration +22, Leise bewegen +20, Lauschen +11, Motiv erkennen +24, Springen +8, Turnen +23, Zauberkunde +20
Schwur der Armut +9 RK-Bonus (exalted), Elementen trotzen, Lebenserhalt (muss nicht essen, trinken oder atmen), +2 Ablenkungsbonus, +2 Resistenzbonus, Attributserhöhungen (+6,+4,+2), natürliche Rüstung +2, Geistesabwehr, Schadensreduzierung 5/Böses, Energieresistenzen, Bewegungsfreiheit
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Zophael am 03. März 2010, 17:18:27
Die Chars wurden in Kombination von 3.5 und Pathfinder erstellt

Grimwardt Fedaykin
männlicher Mensch
Kleriker (7. Stufe), Kriegspriester (10. Stufe), Ordained Champion (3. Stufe)
Gottheit: Tempus
Gesinnung: LN
Initiative: +8
TP: 272 / 292 (göttliche Macht) / 332 (göttliche Macht & gerechte Macht)
RK: 35, Berührung: 25, auf dem falchen Fuß: 32
max. RK: 47, Berührung: 32, auf dem falschen Fuß: 43
Ref +20, Wil +28, Zäh +25 (+2 auf alle Zauber, zauberähnliche Effekte und Gift)
Attribute: ST 16, GE 16, KO 22, IN 18, WE 31, CH 16
Sprachen: Handelssprache, Zwerg, Elf
GAB: +18/+13/+8/+3
Mit göttlicher Gunst, göttliche Macht & gerechte Macht: +40/+35/+30/+25
Schaden: 2W6+26
Mit göttlicher Gunst, göttliche Macht, gerechte Macht, Heldenmahl & Hast: +42/+37/+32+/+27/+42
Schaden: 2W6+26
Mit göttlicher Gunst, göttliche Macht, gerechte Macht, Heldenmahl, Hast & Niederstecken: +45/+40/+35/+30/+45
Schaden: 2W6+46
Domänen: Krieg, Stärke, Herrlichkeit, Schutz
Zauberstufe: 18
Besondere Eigenschaften: Untote vertreiben (22 mal pro Tag), Massen-Leichte Wundenheilen (1W8 +18) 1 mal pro Tag, Hast (schnell) 3 mal pro Tag, Massen-Heliung (180 TP) 1 mal pro Tag, Aura der Furcht (Will SG 23) 1 mal pro Tag, Becken der Heilung 95 TP pro Tag, Heldenmahl 1 mal pro Tag, Niederstecken, Ermutigen, Aufstacheln, Modifiziertes spontanes Zaubern (Kriegsdomöne spontan zaubern), Zauberkanalisieren, Göttliches Bollwerk
Talente: geübter Zauberwirker, Zauber ausdehnen, Andauernder Zauber, göttliche Metamagie (Andauernder Zauber), zusätzliches Vertreiben, Schützende Zuwendung, Gotteskrieger, zusätzliches Vertreiben, zusätzliches Vertreiben, schnelle zauberähnliche Fähigkeit, Im Kampf zaubern, Kampfreflexe, Heftiger Angriff, Robilar's Gambit, Unverwüstlich
Fertigkeiten: Diplomatie +22, Konzentration +26, Motiv erkennen +20, Wissen Adelhäuser +9, Wissen Die Ebenen +11, Wissen Geschichte +10 Wissen Religion +14, Zauberkunde +9
Besondere Gegenstände: Streitaxt +3 (Warnung & Schärfe), CH-Umhang +6, Anhänger der Weisheit +6, Schutzring +5, Mithralritterrüstung +4 (Geisterschutz, großes Bollwerk, mächtiges Geschick & Herbeirufen), schwerer Stahlschild +3 (Geisterschutz, Herbeirufen), Nimmervoller Beutel (Typ II), Stirnreif des Intellekts +6, Fußreif der Versetzung, Versorgungsring, KO-Armschienen +6, Nightstick
Andauernde Zauber  bzw. Wirkungsdauer 24 Std.: göttliche Gunst, göttliche Macht, Wahrer Blick, überlegene Resistenz
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 03. März 2010, 18:37:16
Hab Faust grade mal für die Wiki vorbereitet. Hier schonmal die Werte (allerdings alles ungepimpt):

http://forum.dnd-gate.de/index.php/topic,25247.45.html

mit Göttlicher Gunst und Gerechter Macht und so wirds natürlich noch ne Ecke besser : )
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Abracadaver am 03. März 2010, 21:40:30
Danke, genau das meinte ich. Jetzt kann ich mir auch ein paar Zahlen hinter der schönen Geschichte vorstellen:)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 03. März 2010, 21:50:22
Hier folgt Winter Fedaykin Dantés

weiblicher Mensch
Dieb (Pathfinder) 4 / Hexenmeister (DnD-Gate) 5 / Arkaner Betrüger (Pathfinder) 10 / Unseen Seer 1
chaotisch neutral
Initiative +9
TP 211
RK 26, Berührung 24, auf dem falschen Fuß 20  (Rüstung +6, GE +6, Ablenkung +4)
REF +22, WIL +25, ZÄH +15 (Resistenzweste +4)
Attribute ST 8, GE 22 (Handschuhe +6), KO 22 (Armschienen +6), IN 16 (Stirnreif +6), WE 10, CH 29 (Umhang +6)  
Sprachen Handessprache
Nahkampf +9
Fernkampf   +16
BAB +10
Strahlangriff +17 (+18 innerhalb 9 m)
BR 9m (6 Felder)

Zauber (Zauberstufe 20)

8.Grad (fünf)
Mächtiges Brüllen
Verdorren (in Gedenken an Dorien)

7.Grad (sechs)
Eisenwacht
Mächtiges Teleportieren
Regenbogenspiel
Zauber zurückwerfen

6.Grad (acht)
Auflösung
Großer Heldenmut
Kugelblitz
Mächtige Magie bannen
Wahrer Blick

5.Grad (acht)
Ausspähende Augen
Berührung der Nacht
Person beherrschen
Schwachsinn
Unverwüstlicher Kämpe
Verzauberung brechen

4.Grad (acht)
Entkräftung
Evards Tentakel
Furcht
Steinhaut
Versetzungstrick

3.Grad (acht)
Drachenhaut
Feuerball
Fliegen
Kreistanz
Vampirgriff

2.Grad (neun)
Gedanken wahrnehmen
Gegenstand aufspüren
Magic Probe
Sengender Strahl
Spiegelbilder

1.Grad (neun)
Freiwilliger Wechsel
Geheimtür entdecken
Magisches Geschoss
Personen bezaubern
Schwächestrahl

0.Grad (sechs)
Botschaft
Gift entdecken
Licht
Magierhand
Magie entdecken
Magie lesen
Schreibgehilfe
Stilles Portal
Zaubertricks
                  
Klassenfertigkeiten:
Hinterhältiger Angriff 8W6 +20 (von Craven), Fallen finden, Entrinnen, Fallengespür, Reflexbewegung, weitreichende Fingerfertigkeit, 2 x täglich improvisierter Hinterhältiger Angriff, 5 x täglich gestenlos und still zaubern, 10 Runden täglich erweiterte Unsichtbarkeit, hinterhältiger Angriffsschaden auf alle Schadenszauber wenn Opfer auf falschem Fuß

dauerhafte Zauber:  Magie entdecken, Unsichtbares sehen, Dunkelsicht

Talente:
Verbesserte Initiative, Kernschuss, geübter Magieanwender, Schnellzaubern (Meta), Craven, Präzisionsschuss, Eiserner Wille, 3 x zusätzlicher Zauber (bis 5./6./7. Grad), zauberndes Wunderkind, surprise Attack, Waffenfokus Strahl, Eschew Material, geteilter Strahl (Meta)

Fertigkeiten:
Entdecken +19, Fälschen +7, Fingerfertigkeit +21, Konzentration +22, Leise bewegen +11, Mechanismus ausschalten 23 (25 bei Fallen), Motiv erkennen +4, Schlösser öffnen +25, Suchen +18 (+20 bei Fallen), Verstecken +14, Wissen Arkanes +13, Zauberkunde +19

Besondere Gegenstände:
CH-Umhang +6, KO-Armschienen +6, GE-Handschuhe +6, Int-Stirnreif +6, Schutzring +4, Resistenzweste +4, Lederrüstung +4 Zwielicht + Todesschutz (die von Dorien  :(), Zepter des Maximierens 9.Grad (auch von Dorien), Zepter des Schnellzauberns 9. Grad, Unsichtbarkeitsring, Rapier +3 Schärfe + Warnung, Verkleidungshut, Nimmervoller Beutel III, Amulett des Wasseratmens, Stab der Dunkelheit, Magieschmiedemonokel, Brosche telepatisches Band, Maske des Erkennens, Dolche des Verschwindens +4, Adrat-Schlüssel für Silbrigmond, Ring der 9 Leben, Kelch des Amaunator
(wenn mich mal einer plündert...)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 03. März 2010, 22:55:53
Oh, haste dich jetzt für Mächtiges Brüllen als Zauber entschieden? Ist der so gut?
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 04. März 2010, 20:23:51
Ich hab den eigentlich mehr aus der Verlegenheit heraus genommen...er scheint ganz ok, aber ich lasse mich gerne eines besseren belehren. Der Zauber passt auch gar nicht richtig zu Winter. Bin etwas unglücklich damit.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 05. März 2010, 01:40:53
Also, es gäbe da ja noch Ottos Unwiederstehlichen Tanz. Der erlaubt halt keinen Rettungswurf und der Gegner kann für 1W4+1 Runden nix anderes tun als tanzen und verursacht dabei auch noch in jeder Runde Gelegenheitsangriffe. Allerdings funktioniert Zauberresistenz dabei. Ähnlich gut wäre Irrgarten, mit dem Tom Bekanntschaft gemacht hatte. Allerdings nicht so toll bei Gegnern mit hoher Intelligenz.
Was natürlich auch sehr gut ist, auch wenn es nur Grad 4 ist, wäre dieser Assay Spellresistence... also Zauberresistenz Abschätzen oder so ähnlich, aus dem Zauberkompendium. Würde dir halt ein +10 auf alle Würfe gegen einen gegner geben, um dessen Zauberresistenz zu knacken. Und ich glaube, in Zukunft werden wir noch oft Gegner mit hoher Resistenz bekommen. Daher wäre der wohl ne gute Wahl ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 08. März 2010, 01:25:24
Kapitel VIII: Der Elfenbaum

Boltor
Am nächsten Tag in Myth Drannor.
Als Boltor die Türme der Elfenstadt erblickte, entschied der Zwerg, dass für heute etwas Stärkeres hermüsse als das gute alte Markenbräu, und befahl seinem magischen Humpen ihm Rum einzuschenken: Gegen ein Spitzohr reichte eine gut gezielte Kopfnuss, für zehn musste schon ein Schlaghagel her. Aber gegen eine ganze Stadt davon half nur das Wachkoma.
Die Frage nach ihrem nächsten Ziel hatte für einige Auseinandersetzungen zwischen den Gefährten gesorgt. Der Kriegspriester hatte darauf gedrängt, dass sie zuerst in seiner Abtei nach dem Rechten sahen, während es seine Schwester zu ihrer Tochter in ein Dorf am Ashabafluss zog. Die Halbdrow und ihr halborkischer Gefährte waren auf der Suche nach ihrer Zirkustruppe, die sie im Schattental vermuteten. Allein Boltor war es gleich, wohin es ihn verschlug, solange er seinen Humpen bei sich hatte. Faust schließlich war am Glücklichsten, wenn er irgendwen zusammenschlagen konnte, und seine schweigsame Freundin schien keine eigene Meinung zu haben. Doch am Ende hatte sich der Elfenkämpfer durchgesetzt, der darauf bestand, seiner Heimatstadt in der drohenden Schlacht beizustehen. Um sich für ihre Rettung erkenntlich zu zeigen, hatte die Halbdrow dem Wunsch ihres alten Gefährten entsprochen. Da der magietote Bereich sich inzwischen auch auf den Cormanthorischen Wald erstreckte, war sie die einzige, deren Zauber hier wirkten. Ihre Schattensprünge hatten die Helden innerhalb weniger Stunden nach Myth Drannor gebracht. Selbst die magischen Gegenstände der anderen schienen an diesem Ort nutzlos. Allein Boltors Humpen war ihm – auf mysteriöse Weise – ein treuer Freund geblieben.
Vor den Toren Myth Drannors herrschte reges Treiben. Ein Strom von Flüchtlingen aus Cormanthyr und den westlichen Tälern wälzte sich über die Hügelkuppe auf die Stadt zu. Als die Halbdrow inmitten der Flüchtlingsstadt die Kuppel eines Zirkuszelts aufleuchten sah, stieß sie einen Schrei der Überraschung aus und eilte mit dem Orkbarden davon. Eine abgezehrte Reitertruppe mit Tempus-Standarte erregte die Aufmerksamkeit des Kriegspriesters. Winter verschwand ohne ein Wort der Erklärung im Getümmel und die stumme Karaturianerin wurde aufgehalten, als sie einem kranken Kind zur Hilfe eilte. Der Elf schließlich machte sich auf die Suche nach seinem Vorgesetzten. Da Boltor nicht als einziger zurück bleiben wollte, schloss er sich Faust an, den es zum Haupttor zog.
Vor den verschlossenen Toren der Elfenstadt bahnte sich ein Tumult an. Elfenschützen, die hinter den Wehrscharten des Walls Stellung bezogen hatten, hielten ihre Bögen gespannt und stießen wüste Drohungen gegen einen Bauernmob aus, der versuchte, sich mit einem zum Rammbock umfunktionierten Kutschbock Zutritt zur Stadt zu verschaffen.
„Was ist hier los?“, dröhnte Fausts Ruf durch das Getümmel.
„Die Hurensöhne wollen uns hier vor den Toren verrecken lassen!“, schallte es aus der Menge. „Die lassen nur noch ihre eigenen Leute rein! Wir haben Hunger und brauchen frisches Wasser!“
„Hey!“ Faust formte seine Hände zum Trichter und brüllte den Wall an. „Lasst die Leute ein!“
Keine Antwort.
„Hochmütiges Elfenpack“, schnaubte der Kämpfer.
„Ay!“ Das war sein Stichwort. Boltor erhob zustimmend seinen Humpen.
Faust machte derweil Anstalten sich dem rammwütigen Bauernpack anzuschließen. Doch schon nach dem ersten Ansturm ließ ihn etwas innehalten. Abrupt wandte er sich um und zog den Zwerg mit sich in die Menge, wo die Halbdrow Razeema in magischer Verkleidung auf sie wartete. Offenbar hatte sie dem Kämpfer eine ihrer telepathischen Nachrichten zukommen lassen.
„Mir fiele da eine dezentere Methode ein, in die Stadt zu gelangen“, sagte sie spöttisch.
Mit Razeemas magischer Hilfe war der Wall kein Hindernis mehr. Auf der anderen Seite wären sie beinahe mit einem Schützen zusammengeprallt, der in Eile einen Wehrturm hinunter stürmte. Faust krallte sich den Fremden und stieß ihn, einem Impuls folgend, in den Eingang einer Hausruine.
„Hey, was…?“
„Was soll das heißen, ihr lasst keine Flüchtlinge rein?“, knurrte Faust. „Da draußen warten Kinder, und Verwundete. Die meisten sind schon seit Tagen auf der Flucht. Seit wann ist Myth Drannor ein elfischer Eliteclub?“
„Wir stehen kurz vor einem Angriff!“, fauchte der Elf. „Was maßt Ihr Euch an! Wer seid Ihr überhaupt? Euch habe ich hier noch nie gesehen.“
„Wer ist dein Vorgesetzter?“
„Ich habe wirklich keine Zeit für diesen Mummenschanz!“ Spitzohr riss sich los und machte Anstalten sich aus dem Staub zu machen. Faust stieß ihn gegen die Wand.
„Wer ist dein Vorgesetzter“, wiederholte er schroff.
Der Elf musterte ihn verächtlich.
„Hauptmann Fflar Melruth ist der Anführer der Ark’Velahr“, zischte er. „Was du wüsstet, wenn du hierher gehören würdest. Und wenn du mich nicht sofort gehen lässt, verspreche ich dir, dass der Hauptmann noch dein geringstes Problem sein wird!“
„Wo finde ich diesen Fflar?“
„Such ihn doch selbst!“
Diesmal erklang ein lautes Rumpeln, als Spitzohr in einen Trümmerhaufen segelte. Boltor prostete Faust anerkennend zu. Sein Stil gefiel ihm. Der Elfenschütze, der vor Wut in sein wirres Kauderwelsch verfiel, rief seine Kameraden um Hilfe an. Frohlockend rieb sich Boltor die Hände: Das klang nach einer heiteren Schlägerei. Doch Boltor wurde enttäuscht.
„Hauptmann Fflar wohnt dem Elfenrat im Palast bei“, sagte der Elf abfällig. „Versuch nur, ihn mit deinen belanglosen Nörgeleien zu belästigen. Die Stadt ist zwar hoffnungslos überfüllt, aber ich will wetten, dass ein Unruhestifter wie du in unseren Kerkern noch Platz findet!“
Faust streckte sich und ließ tatendurstig seine Fingerknochen knacken.
„Wie sieht’s aus, Razeema? Kannst du uns in den Palast bringen?“

Grimwardt
„Er liegt hier drüben“, sagte Nimoroth und führte den Freund an das Krankenlager von Waffenmeister Borgo. Der Waldelf hatte das ausladende Zirkuszelt von Heinos Wandertruppe zum Lazarett umfunktioniert, um die Flüchtlinge mit dem Nötigsten zu versorgen.
„Wann sind sie angekommen?“, fragte Grimwardt.
„Gestern Abend“, erwiderte der Druide. „Hast du schon mit dem Rest der Truppe gesprochen?“
Grimwardt nickte düster in seinen Bart hinein. Seine Männer hier unter den vertriebenen Talisern zu finden war das letzte, womit der Kriegspriester gerechnet hätte. Die Abtei des Schwertes war in seiner Abwesenheit vom Feind überrannt worden und die kläglichen Reste seines Heers hatten sich nach Myth Drannor zurückgezogen, um sich den Elfen im Kampf gegen die Allianz von Besetzern anzuschließen. Wie ein Pack hungriger Wölfe waren Drowclans, Orkbanden und triumphierende Sharianer über die schutzlose Bevölkerung der magietoten Lande hergefallen. Ohne die Protektion ihrer mächtigen Beschützer – Elminster vom Schattental und Sturm Silberhand – hatten die Taliser ihren Feinden nicht viel entgegen zu setzen. Und auch Grimwardt hatte sie enttäuscht. Er hätte sich niemals von Winter überreden lassen dürfen, das Schlachtental zu verlassen! Die Abtei zu verlieren war schmerzlich genug, doch nicht dabei gewesen zu sein, als sie fiel, nagte an ihm wie Rost am Eisen.
„Waffenmeister?“
Der Zwerg hatte einige Knochenbrüche erlitten und viel Blut verloren, doch er war zäh wie raues Leder und würde es überleben.
„Herr Priestergeneral“, murmelte Borgo und richtete sich halb auf.
„Was ist geschehen?“, brummte Grimwardt.
Der Zwerg fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.
„Es war Gaum Auzkovyn mit seinen Leuten“, krächzte der Verwundete. „Sie wurden von einer Sharpriesterin begleitet. Es tut mir Leid, Herr. Wir waren in der Unterzahl.“
Gaum Auzkovyn, der alte Drecksack!
 Der Name seines Erzfeindes brachte Grimwardts Blut in Wallung. Der Clanführer eines Trupps dunkelelfischer Exilanten hatte der Abtei des Schwertes schon einmal einen schweren Verlust zugefügt. Grimwardt war noch ein Novize gewesen, doch er konnte sich noch gut an den Tag erinnern, als Eldan Ambrose, der Gründer der Abtei, in der Schlacht gegen die Drow sein Leben gelassen hatte. Damals war ein Clan von Dunkelelfen durch ein Portal in die Katakomben der Abtei eingedrungen. Eldans Leute konnten den Angriff abwehren, doch beim Versuch das Portal zu zerstören war Ambrose von zwei Glabrezu unter Auzkovyns Befehl getötet worden. Vor fünf Jahren schließlich hatte der Clanführer einen zweiten Versuch unternommen, die Abtei zu bezwingen. Nach der Wiederauferstehung der Spinnenkönigin war es dem Vhelraun-Priester gelungen, andere vertriebene Drowclans um sich zu scharen, die während der Zeit von Lolths Schweigen mit der Göttin gebrochen hatten. Doch auch dieses Mal war es den Verteidigern der Abtei gelungen, die Drow in die Flucht zu schlagen. Der Gedanke, dass Gaum nun zurückgekehrt war, um Grimwardts Platz einzunehmen und die Abtei als Ausgangspunkt für Überfälle auf die Talländer zu nutzen, trieb Grimwardt die bleiche Wut ins Gesicht.  
„Wie hat er das angestellt?“, knurrte er.
„Er befehligt ein Monster – eine grässliche Kreatur: so groß wie ein Sturmriese und unförmig wie ein klobiger Fels. Unter seiner rissigen, steinernen Haut scheint es gänzlich aus Lava zu bestehen. Nachdem das Monster das Haupttor zertrümmert hatte, stürmte Gaum mit seinen Männern die Abtei. Unsere Leute kämpften tapfer und verbissen und unter normalen Umständen hätten wir den Sieg davongetragen, da bin ich mir gewiss. Doch durch den magischen Bann blieb uns Tempus’ helfende Hand verwehrt. Ohne den Beistand des Feindhammers war die Abtei dem Untergang geweiht…“
„Das wollen wir erst noch sehen“, erwiderte Grimwardt düster. „Wo ist Schwertführer Jareth?“
Borgo zögerte und der Kriegspriester begriff, dass sein Unbehagen nicht allein von seinem zertrümmerten Ellbogen herrührte.
„Herr“, begann der Zwerg steif. „Bevor ich weiterrede, lasst mich Euch versichern, dass ich nicht aus Feigheit oder mangelndem Respekt gehandelt habe.“
„Raus mit der Sprache“, brummte Grimwardt.
„Nun, ihr kennt ja Schwertführer Jareth“, fuhr der Waffenmeister fort. „Unbeugsam und stolz wie ein Archon. Er weigerte sich aufzugeben, selbst als die Schlacht schon längst verloren war. Ich… ich widersetzte mich seinem Befehl und führte eine Gruppe von Rekruten auf dem Fluchtweg durch die Katakomben aus der Abtei. Was bringt aller Heldenmut, wenn niemand mehr da ist, um das Volk zu schützen, das wir beim Feindhammer geschworen haben, zu verteidigen?“
Grimwardt nickte düster in seinen Bart hinein. Er würde Borgo keine Absolution erteilen – schließlich war es nicht sein Befehl, dem er sich widersetzt hatte. Doch er würde ihn auch nicht verurteilen. Die Logik des Zwergs erschien ihm gerechtfertigt. Immerhin gab es noch Hoffnung: Myth Drannor verfügte über Artefakte, denen selbst eine magietote Zone nichts anzuhaben vermochte. Wenn es ihnen gelänge, die Gefahr von der Elfenstadt abzuwenden, dann wäre die Rückeroberung der Abtei eine reine Formsache.
Nachdem er sich versichert hatte, dass seine Leute gut versorgt waren, trat Grimwardt zu Nimoroth, der vor dem Zelt auf ihn wartete.
„Wirst du mit uns kommen?“, fragte er.
Nimoroth schüttelte den Kopf.
„Ich habe das Gefühl, dass ich hier eher gebraucht werde.“
Schweigend verfolgten sie die Zirkusnummer eines gnomischen Jongleurs, der vor einem Artistenwagen eine Gruppe von Flüchtlingskindern bei Laune hielt. Grimwardt stutzte. Kam ihm der kleine Rotschopf dort in der ersten Reihe nicht bekannt vor?

Winter
„Scarlet!“, rief Winter, während ihr Blick suchend durch die Menge irrte.
„Dieses Kind!“ Schimpfend hinkte Winters Mutters ihrer Tochter hinterher.  Die Wangen der drallen Wirtshausbesitzerin waren vor Aufregung gerötet und die Furunkel, die sie von den Strapazen der Flucht davongetragen hatte, erschwerten ihr das Laufen. Doch wie alle Fedaykins war sie störrisch und stur und wäre eher gestorben als sich ihre Schwäche einzugestehen. „Ständig läuft sie davon und bringt sich in Schwierigkeiten.“
Wie oft hatte Winter diesen Satz schon von ihrer Mutter gehört.  Doch jetzt war nicht die Zeit für nostalgische Kindheitserinnerungen. Winter hatte ihre Eltern und Schwiegereltern unter den Flüchtlingen wieder gefunden. Auf der Flucht vor den Besatzern hatten sie nur das Nötigste zusammengerafft und sich dem Strom nach Osten angeschlossen.  Die Schimpftiraden ihrer Mutter verwunderten Winter: Scarlet war immer ein braves Kind gewesen. Sie hatte ihr nie etwas zweimal sagen müssen. Was trieb sie plötzlich dazu, sich vom Lagerplatz ihrer Großeltern davonzustehlen? Nicht auszudenken, was ihr hier alles passieren konnte: Hunger und Not hatten schon so manchen Flüchtling zu verzweifelten und schändlichen Taten getrieben. Umso größer war Winters Erleichterung, als sie den roten Lockenkopf ihrer Tochter plötzlich hoch über den Köpfen der Menge aufleuchten sah: auf den Schultern ihres Onkels.
„Sieh mal, wen ich bei den Zirkusleuten gefunden habe“, sagte Grimwardt und ließ seine Nichte zu Boden gleiten. Doch anstatt ihrer Mutter in die Arme zu laufen, ergriff Scarlet die Hand ihres Onkels und vergrub das Gesicht in seiner Armbeuge.
„Scarlet?“ Winter kniete sich besorgt zu ihr herunter. „Geht es dir gut?“
Keine Antwort.
„Schatz, was ist los?“
„Ni-hichts!“, kam es in der Tonlage von „Lass mich in Ruhe!“ aus Grimwardts Armbeuge. Mit sanfter Gewalt löste sich der Kriegspriester von dem kleinen Klammeraffen und schob sie ihrer Mutter in die Arme.
„Ich lasse euch wohl mal ein wenig allein“, grummelte er und verdrückte sich.
Scarlet indessen verweigerte sich trotzig der mütterlichen Umarmung. Ihr Anblick versetzte Winter einen schmerzlichen Stich. Sie sah aus wie Dorien, wenn sie unglücklich war.
„Scarlet“, sagte sie ernst. „Sag mir, was passiert ist.“
„Nichts ist passiert!“, fauchte Scarlet und verschränkte patzig die Arme vor der Brust. „Nichts, außer dass meine Mutter eine Lügnerin ist!“
„Eine…“ Winter fuhr erschrocken zusammen. „Scarlet, wer hat dir diesen Unsinn erzählt!“
„Na, der dunkelhäutige Priester!“, grollte Scarlet. „Als du mich mitten in der Nacht aus dem Bett gezerrt hast und zu den Großeltern ins Gasthaus gebracht hast! Du hast gesagt, es wäre alles in Ordnung, aber der Priester sagte, dass du lügst. Du hast auch gesagt, dass ich dort sicher wäre und auch das hat nicht gestimmt!“
„Schatz, ich weiß, die Flucht hat dir Angst gemacht, aber ich verspreche dir…“
 „Ich habe keine Angst!“, fuhr Scarlet sie an. „Und ich will auch keine von deinen Versprechungen! Ich will eine Axt! Ich will bei Onkel Grim in der Abtei lernen, wie man kämpft.“
„Scarlet, du bist noch zu jung, um zu kämpfen.“
„Aber alt genug, um entführt zu werden?“
„Der Mann, der dich entführt hat, war ein sehr böser Mann und...“
„Immerhin hat er mich nicht angelogen!“, sagte Scarlet bitter und schluckte heftig, um die Tränen zurückzuhalten. „Verstehst du nicht?  Ich will lernen, mich zu verteidigen! Du kannst es nämlich nicht! Du bist ja nie da!“
Das saß. Mit Entsetzen bemerkte Winter, dass sie ihre Tochter kaum noch wieder erkannte. War dieses verstörte aber wild entschlossene Mädchen dasselbe Kind, das noch vor wenigen Tagen im Atelier ihres Großvaters Kätzchen gejagt und sich mit Blaubeermarmelade bekleckert hatte? Wann hatte Scarlet aufgehört, dieses Kind zu sein? Erst die Entführung, dann die Flucht, die ständigen Ortswechsel… Hatte sie das alles vielleicht schlechter verkraftet, als Winter geglaubt hatte?
Und nun muss ich alles noch schlimmer machen…
Winter schloss die Augen und holte tief Luft.
„Scarlet, ich verspreche dir, dass du mit dem nächsten Jahrgang von Rekruten mit der Ausbildung anfangen kannst, wenn das wirklich dein Wunsch ist“, begann sie.
„Gut…“, sagte Scarlet überrumpelt und rieb sich misstrauisch die Arme. „Wirklich?“ So schnell hatte sie nicht mit einem Erfolg gerechnet.
„Aber jetzt musst du mit mir zu deinen Großeltern kommen“, fuhr Winter mit ernster Miene fort. „Ich… ich muss euch etwas sagen.“
Wenige Minuten später waren alle im Lager von Winters Eltern vereint. Doch als sie in die ahnungslosen Gesichter ihrer Schwiegereltern blickte, wusste sie nicht, wie sie anfangen sollte.
„Es gibt etwas, das ich euch sagen muss“, begann sie stockend und senkte den Blick. Unmöglich, Doriens Mutter dabei in die Augen zu blicken. „Etwas, das auszusprechen mir sehr schwer fällt. Dorien ist von uns gegangen… Dein Vater, Scarlet, ist tot.“
Zuerst Verständnislosigkeit, dann langsames Begreifen.
Meister Dantés fing seine Gattin auf, als sie taumelnd nach seiner Hand griff. Ihr ersticktes Schluchzen brachte den Kloß in Winters Hals beinahe zum Bersten. Würde dieser Schmerz jemals nachlassen? Dann spürte sie Scarlets Hand, die scheu nach ihrer tastete, und versuchte sich ein Lächeln abzuringen. Doch der Kloß in ihrem Hals verzerrte den Versuch zu einer kläglichen Grimasse. Scarlets Blicke aus blauen Kinderaugen flackerten verunsichert über ihr Gesicht, als versuche sie aus ihrem Gesichtsausdruck abzulesen, was wohl die angemessene Reaktion auf eine solche Nachricht war.
„Ich… ähm… ich glaube, ich mochte ihn“, sagte sie vorsichtig.
Sie hat ihn kaum gekannt, durchfuhr es Winter. Dorien hatte gerade erst begonnen, sich seiner Tochter zu nähern. Nicht einmal ein halbes Jahr war es her, dass er eines Morgens im Hafen von Hlondeth aufgetaucht war, um sie zu sehen. Für Scarlet war er nur einer in einer Reihe von Vätern, die einer nach dem anderen wieder aus ihrem Leben verschwunden waren. Vielleicht war es besser so. Vielleicht hatte das Schicksal ihn absichtlich aus ihrem Leben fern gehalten. Winter war dankbar dafür, dass ihre Tochter nicht empfand, was sie empfand.
„Eines Tages“, sagte sie leise, „werde ich dir alles erzählen. Eines Tages wirst du verstehen, was für ein großartiger Mann er war.“
Als Winter den Tränenschleier vor ihren Augen fortblinzelte, erkannte sie Grimwardt und Kalith, die respektvoll einige Schritte entfernt auf sie warteten. Auch Scarlet war das Auftauchen des Elfen nicht entgangen.
„Ihr geht wieder fort, habe ich Recht?“, murmelte sie, während sie mit den Füßen im Kies scharrte. „Du und Onkel Grim.“
Winter blickte Kalith an.
„Wir müssen uns beeilen“, sagte der Elf. „Der Elfenrat tagt gerade im Palast.“
Winter nahm ihre Tochter in die Arme und wiegte sie sanft hin und her, wie sie es getan hatte, als Scarlet noch ein kleines Kind gewesen war.
„Es ist sehr wichtig, dass wir das tun“, sagte sie. „Es ist wichtig, damit alles so werden kann wie früher und du zu Onkel Grim in die Schwertschule gehen kannst.“
Scarlet seufzte.
„Immerhin lügst du diesmal nicht“, murmelte sie.
Winter spürte, wie ein trauriges Lächeln sich auf ihr Gesicht stahl und war froh, ihr Gesicht in Scarlets Haaren verbergen zu können. Natürlich würde nichts wieder werden wie früher.

Faust
Kurz darauf in der Ratshalle des Hochpalasts
Das Surren eilig gezogener Schwerter empfing Faust, als er mit dem Zwergen und der als Elfe getarnten Halbdrow in die Versammlung des Elfenrats platzte. Innerhalb eines Augenblicks waren die Eindringlinge von zehn elfischen Schwertkämpfern umzingelt, die nicht den Anschein machten als wollten sie sich mit unnötigen Fragen aufhalten.
Tampá!“, ließ ein eilig gebrüllter Befehl sie innehalten. Kalith bahnte sich einen Weg durch die Klingenwand und stellte sich schützend vor seine Gefährten. „Die gehören zu uns.“
Das Schwerterdickicht lichtete sich ein wenig und Faust erkannte, dass sie inmitten einer Halle aufgetaucht waren, die von einer gläsernen Kuppel überdacht wurde. Grimwardt und Winter waren ebenfalls da und vom unverhofften Auftauchen der Gefährten nicht minder erstaunt. Das Sonnenlicht, das durch die Kuppel flutete, malte goldene Schattenbilder auf den Boden und vier schlanke Erlen verliehen der Halle die Verspieltheit eines Innenhofs.
Doch auch die freundlichste Atmosphäre vermochte die Aufregung nicht zu dämpfen, in die das Auftauchen der drei Eindringlinge den Elfenrat gestürzt hatte. Mehrere Ratsmitglieder waren von ihren Lehnstühlen aufgesprungen und ein schwer gerüsteter Sonnenelf, der sich schützend vor den Thron seiner Königin geworfen hatte, beschoss Kalith mit einer Reihe schneidender Fragen in seiner Muttersprache. Die Folge war, dass auch der Träger der Kriegsklinge ins Visier der zehn Elitekämpfer geriet. Faust, der ein wenig Elfisch sprach, entnahm dem rasenden Wortwechsel, dass Kaliths Vorgesetzter einen Hinterhalt vermutete, und sich zu vergewissern versuchte, dass Kalith nicht ein Schattenmagier in Verkleidung war. Seine Antworten schienen den Sonnenelf zu befriedigen und die Lage entspannte sich ein wenig.
„Fflar Melruth?“, riet Faust. Der Elfenkämpfer musterte ihn aus kühlen grauen Augen und gab seinen Männern den Befehl sich zurückzuziehen. Er selbst jedoch machte keine Anstalten, seine Waffe zu senken, die, wie Faust erkannte, ähnlich wie Kaliths Schwert, selbst jetzt noch in eisigem Licht erstrahlte.
„Man weigerte sich, uns einzulassen, darum mussten wir improvisieren“, erklärte Faust ihren dramatischen Aufzug.
„Wie seid Ihr hier rein gekommen?“
 „Wir sind mit Hilfe eines Artefakts in den Palast teleportiert.“ Razeemas dreiste Lüge entlockte Faust ein anerkennendes Schmunzeln. Dann runzelte er angriffslustig die Stirn.
„Könnt Ihr mir erklären, weshalb vor Euren Toren verzweifelte Flüchtlinge um Einlass betteln, während Ihr Euch hinter Euren Palastmauern verkriecht?“, fragte er provokant. „Sollen sich die Bauern und Knechte aus den Tälern vielleicht mit Heugabeln und Besenstielen gegen das Heer der Allianz verteidigen, das auf Myth Drannor zurückt?“
Faust hasste Elitedenken. Als unehelicher Sohn einer damaranischen Adligen hatte er am eigenen Leibe erfahren, was es heißt, nach dem Blut beurteilt zu werden, das durch seine Adern floss. Für elfische Suprematie hatte er darum nicht das geringste Verständnis. Seine aufrührerischen Worte zeigten das gewünschte Resultat: Ein Großteil der Ratsmitglieder war von seinen Sitzen aufgesprungen und bombardierte den menschlichen Kämpfer mit wüsten Verwünschungen. Selbst Kalith runzelte missbilligend die Stirn.
„Aus welchem Grund sollte ich mich vor Euch rechtfertigen!“, zischte Fflar und machte einen drohenden Schritt in Richtung des Unruhestifters. In diesem Moment erhob sich die Königin, die den Schlagaustausch mit unbewegter Miene verfolgt hatte, und ergriff beschwichtigend den Arm des Hauptmanns.
„Wenn überhaupt bin ich diejenige, die sich rechtfertigen müsste“, sagte sie mit freundlicher Bestimmtheit und Fflar senkte entschuldigend den Kopf. „Doch ihr werdet sicher verstehen, dass ich als Regentin des Elfenhofs wie alle Herrscher zunächst meinem eigenen Volk gegenüber verpflichtet bin“, sagte sie an Faust gewandt. „Wie Ihr ja bereits selbst erwähnt habt, steht diese Stadt kurz vor einem Angriff, der alles zerstören könnte, was wir in den letzten Jahren so mühsam aufgebaut haben. Der Angriff auf Mystras Gewebe hat uns von all unseren Verbündeten abgeschottet. Die Portale nach Immerdar, Silbrigmond und Immerschwinge wurden außer Kraft gesetzt. Auch der Schutzwall des Mythals ist beschädigt. Sollen wir dem Feind auch den letzten Triumph gönnen, indem wir zulassen, dass unsere Vorräte aufgebraucht werden, noch ehe der Kampf begonnen hat? Auch unsere Versorgungssysteme basieren auf Magie. Die Menschen aus den Talländern haben unser tiefstes Mitgefühl, doch niemand hat sie gezwungen, hierher zu kommen. Sie hätten nach Essembra flüchten können, das noch nicht vom Feind eingenommen wurde, oder in den Süden. In der Tat steht ihnen diese Möglichkeit noch immer offen. Wenn sie hier bleiben, um mit uns zu kämpfen, sind sie auf sich allein gestellt.“
Die diplomatischen Worte der zierlichen Elfe besänftigten selbst Fausts rebellisches Gemüt.
„Lasst wenigstens die Kinder und Kranken in die Stadt“, sagte er in gemäßigtem Tonfall.
„Um sie von ihren Eltern und Verwandten zu trennen?“ Coronal Ilsevele schüttelte den Kopf. „Nein, es muss einen anderen Weg geben.“
„Ich fürchte, wir bringen noch mehr schlechte Neuigkeiten.“ Grimwardt war vorgetreten, um die Diskussion auf den eigentlichen Grund ihres Kommens zu lenken. „Fürstin Alustriel von Silbrigmond schickt uns. Unsere Erkundungen auf der Schattenebene lassen vermuten, dass Hadhrune von Umbra der Drahtzieher hinter dem Angriff auf das magische Gewebe ist. Und dass er es auf die Nesserrollen abgesehen hat. Oder besser gesagt auf den Elfenbaum.“
„Den Quess Ar Teranthvar?“  
Grimwardts Eröffnung versetzte den Elfenrat in helle Aufregung. Nachdem der Kriegspriester die ganze Geschichte erzählt hatte, trat einer der Elfenmagier vor und bat um Ruhe. Sofort verstummten alle Diskussionen.
„Mein Name ist Araevin Teshurr“, sagte der Sonnenelf. Faust blinzelte: Lag es an der Veränderung des Lichts oder hatten seine Augen gerade die Farbe gewechselt? „Der Turm der Winde, die alte Zauberakademie von Myth Drannor, wird erst seit kurzem wieder genutzt. Einige Fakultäten wurden noch nicht restauriert. In diesem Teil der Türme befindet sich auch der Quess Ar Teranthvar. Er wird von einem Hochmagier beschützt, der beim Untergang Myth Drannors mit dem Turm verschmolz. Mit Hilfe von magischen Projektionen war es ihm möglich, den Turm der Winde  über die Jahrhunderte vor Plünderungen zu bewahren. Darcassan ist der einzige, der weiß, wo sich der Baum befindet. Doch mit dem Wegfall der Magie sind auch seine Projektionen verschwunden. Ich kenne kein Mittel, das es uns erlauben würde, mit ihm in Kontakt zu treten.“
„Das lasst unsere Sorge sein“, sagte Faust. „Könnt Ihr uns in diesen Turm bringen?“
Araevin nickte. „Folgt mir.“

Grimwardt
Kurz darauf.
Der Turm der Winde hatte seinen Namen nicht von ungefähr. Das säuselnde Pfeifen, das durch die Wipfel der beiden Schattenkronen strich, die den Turm begrenzten, mochte für elfische Ohren angenehm klingen, doch Grimwardt fühlte sich durch das zittrige Gewimmer allenfalls an das Wehgeschrei eines sterbenden Heulers erinnert. Das gewundene Gebilde hatte keinen sichtbaren Eingang. Doch Araevin trug einen Ring mit einem Siegel, das, in ein Mosaik am Boden eingelassen, ein Portal ins Innere der Magierschule aktivierte. Offenbar handelte es sich bei dem Siegelring um ein von den Elfengöttern gewährtes Artefakt, was seine Resistenz gegen Antimagie erklärte. Der Elfenmagier leitete die kleine Gruppe durch gläserne Hallen und gewundene Gänge, bis sie schließlich in einen unbemöbelten Raum traten. Die Astgabel, die die westliche Wand durchstoßen hatte und ins Zimmer hineinwuchs und die Staubschicht auf dem Boden ließen vermuten, dass er schon seit Längerem nicht mehr genutzt wurde.
„Wo sind wir?“, fragte Grimwardt.
„Das ist Darcassans altes Arbeitszimmer“, erklärte Araevin. Der Elfenmagier kniete sich zu Boden, um den Staub fort zu wischen. Darunter kam ein Bodenmosaik zum Vorschein, das einen Goldelfen in blauen Roben zeigte. In das Innere des Mosaiks war eine Kristallkugel eingelassen, die Grimwardt als Ausspähungsinstrument erkannte.
„Wollt Ihr sagen, der Wächter des Elfenbaums ist eine Dielenplatte?“, knurrte der Tempuspriester.
„Wie ich bereits sagte“, erwiderte der Magier. „Er ist mit dem Turm verschmolzen.“
Araevin erhob sich, rieb sich den Staub von den Händen und blickte aufmerksam von einem zum andern. Sein Blick blieb an Faust hängen.
„Ihr wirktet eben im Ratssaal als wüsstet Ihr einen Weg, Darcassan in die Lage zu versetzen, eine seiner Projektionen zu beschwören“, bemerkte er und der Hauch eines Lächelns streifte seine eigenartigen, wechselhaften Augen. „Ich nehme an, Ihr seid nicht wirklich mit der Hilfe eines Artefakts in den Palast gelangt?“
„Nein…“, gab Faust zu und gab der Halbdrow ein aufforderndes Zeichen. „Razeema?“
Die Schattenadeptin sprach ein Bannwort und die Verkleidung fiel von ihr ab. Der Elfenmagier wirkte nicht überrascht.  
„Unter den gegebenen Umständen“, murmelte er, „bleibt mir wohl keine andere Wahl, als euch zu trauen.“  
„Wenn es eine Möglichkeit gibt, das Mosaik aus dem Fußboden zu lösen, könnte Razeema uns und Meister Fußboden auf die Schattenebene bringen“, erklärte Faust. „Der Magieverlust ist auf die materielle Ebene beschränkt. Seine Projektionen sollten dort also wirken.“
Araevin nickte.
„Ja, das könnte klappen.“
Winter fand an der Halterung der Kristallkugel einen Mechanismus, der die Aushebung des Mosaiks erlaubte, und Fausts Plan war schnell in die Tat umgesetzt. Razeemas Zauber ließ die Dimensionen verschwimmen und rund um die Gefährten erwuchs eine Schattenversion des Cormanthorischen Waldes. Grimwardt spürte gerade erst wieder festen Boden unter den Füßen, als sich bereits die erste von Darcassans Projektionen zwischen den Bäumen manifestierte. Zwei weitere folgten kurz darauf. Sie alle hatten die ebenmäßigen Züge des Elfenmagiers aus dem Bodenmosaik. Doch während der erste in Darcassans blaue Roben gekleidet war, trug der zweite eine Elfenrüstung und ein Schwert. Der dritte schließlich war in eine einfache Lederkluft gehüllt und zog einen Dolch aus seinem Stiefelschacht.
„Ihr Elenden!“, zischten die drei wie aus einem Mund und der Magier erhob seinen Zauberstecken gegen Razeema. „Seid ihr zurückgekehrt, um euer Werk zu vollenden, ssr’aicoiar?“
„Der Elfenbaum ist in Gefahr“, knurrte Faust, der sich schützend vor die Halbdrow geworfen hatte. „Wir sind hier, um ihn sicherzustellen!“ Araevin fügte etwas in seiner Muttersprache hinzu, doch Darcassans Double schienen nicht überzeugt.
Dhaeraow!“, zischelten sie. „Der Quess Ar Theranthvar wurde bereits entwendet!“
„Noch ein Grund mehr, uns anzuhören!“, entgegnete Faust.
„Ihr kommt mit einer Schattenmagierin!“, schnaubten die drei Darcassans mit einer Stimme. „Der Quess Ar Theranthvar wurde…“
„… von Schattenmagiern gestohlen“, unterbrach ihn Araevin. „Das haben wir befürchtet. Sintar, Ihr müsst uns erzählen, was passiert ist. Ich bürge für diese fünf, auch für die Halbdrow. Sie wurden von Alustriel von Silbrigmond entsandt, das Artefakt zu schützen.“
Die Trugbilder musterten den Elfenmagier mit unverhohlener Abscheu. Jahrhunderte der Einsamkeit hatten Darcassan mit Argwohn und Bitterkeit erfüllt. Doch er schien einzusehen, dass Wehklagen und falsche Anschuldigen das Artefakt nicht wieder zurückbringen würden. Ein Windhauch blies zwei der Projektionen hinfort und nur noch der Magier blieb übrig.  
„Der Wegfall der Magie hat mich von meinen Projektionen abgeschnitten“, begann er. „Doch durch die Verbindung, die ich mit dem Turm der Winde eingegangen bin, kann ich spüren, was in seinen Mauern vor sich geht. Sie kamen gestern Abend. Es waren sechs, alle Umbranten. Einer von ihnen war Prinz Hadrhune, der jüngste Sohn des Herrn von Umbra. Sie entweihten einen Schrein der Mystra und entführten den Quess Ar Theranthvar.“
„Was haben sie damit vor?“, fragte Grimwardt.
„Nun, was werden sie wohl damit vorhaben?“, murmelte der Hochmagier düster. „Hadhrune wird versuchen, den Baum in seine ursprüngliche Form zurückzuverwandeln, um seine Mysterien für Seinesgleichen verständlich zu machen.“
„Die Schriftrollen von Nesseril.“
„Ja, die Nesserrollen“, bestätigte Darcassan. „Ein aufwendiges Ritual wird von Nöten sein, den Baum vollständig zu verwandeln. Möglicherweise gelingt es Tyvollus die Transformation hinauszuzögern, aber er wird sie nicht verhindern können.“
„Wer ist Tyvollus?“ Der Name war Grimwardt noch nicht untergekommen.
„Der Schöpfer des Quess Ar Teranthvar“, antwortete der Hochmagier. „Wie ich mit dem Turm verschmolz er mit seiner Schöpfung. Die Nesserrollen widerstanden seiner elfischen Hochmagie, darum ersann er einen Weg, sie an diese Form zu binden. Durch die Verschmelzung verlor Tyvollus seine sterbliche Form, doch hin und wieder erscheint er in Gestalt einer Spinne in den Zweigen des Quess Ar Teranthvar.“
 „Eine Spinne mit saphirblauen Augen“, murmelte Grimwardt. Das erklärte den Teil von Razeemas Traum, den sie bisher nicht hatten enträtseln können.
 „Was würde geschehen, wenn es den Umbranten gelänge, dieses Ritual durchzuführen?“, fragte Faust.
„Wer kann das sagen?“ Die Augen des Hochmagiers zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. „Vielleicht trachten Hochprinz Telamont und seine zwölf Söhne danach, den Zauber zu duplizieren, mit dem es Karsus gelang, Mystra zu töten und das magische Gewebe zu zerstören. Dann hätten die Umbranten von Anauroch und die Kirche von Shar das Monopol über die Magieausübung auf Faerûn. Über kurz oder lang würde sich der ganze Kontinent ihm unterwerfen und Telamont hätte sein Ziel erreicht: die Wiedergeburt des Imperiums von Nesseril mit ihm an der Spitze.“
„Verfluchter Bastard“, knurrte Faust. „Wie können wir dieses Ritual aufhalten?“
„Ihr müsst den Quess Ar Theranthvar zerstören.“ Grimwardt konnte sehen, wie schwer Darcassan diese Worte über die Lippen kamen. Fast empfand er so etwas wie Mitleid für den Magier, der sechseinhalb Jahrhunderte eingeschlossen in ein Bodenmosaik verbracht hatte, um ein Artefakt zu schützen, das er jetzt zerstören musste. „Es gibt keine andere Möglichkeit. Ihr könnt von Glück reden, wenn es euch auch nur gelingt, in die Nähe des Baums zu kommen. Der Versuch ihn zu bergen ist ein Risiko, das wir nicht eingehen können. Zu viel steht auf dem Spiel.“
„Aber es ist ein Artefakt“, wandte Faust ein. „Ich dachte, Artefakte können nicht zerstört werden.“
„Das können sie“, berichtigte ihn der Elf. „Zu jedem Artefakt gibt es ein Gegenstück, das es zu zerstören vermag. Ich kenne dieses Gegenstück nicht, doch die Zerstörung eines jeden Artefakts liegt in seiner Schöpfung begründet.“
„Also weiß Tyvollus…“
„Nein.“ Darcassan schüttelte den Kopf. „Die Nesserrollen sind älter als Tyvollus oder der Quess Ar Teranthvar. Sie sind sogar älter als das Imperium von Nesseril. Um sie zu zerstören, müsst ihr weiter zurückgehen als selbst die elfische Geschichte zurückreicht.“
„Ihr sprecht von den Gründerrassen.“
Der Elfenmagier konnte seine Verblüffung nicht verbergen und auch Araevin hob erstaunt den Kopf.
 „Ihr wisst von den Gründerrassen?“, wunderte er sich.
Faust zuckte mit den Schultern.
„Hab nur hier und da ein paar Happen aufgeschnappt“, sagte er.
„Die ersten intelligenten Geschöpfe auf Faerûn waren Reptilienwesen“, erklärte Darcassan. „Die Götter machten ihnen die Magie zum Geschenk. Auf diese Weise entstanden die Nesserrollen. Sucht nach Hinweisen auf das Entstehungsritual. Vielleicht findet ihr so heraus, wodurch sie zerstört werden können.“
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 09. März 2010, 02:19:36
Wie immer schön zu lesen!
Bin gespannt auf Dr. Schiefkiefer ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 09. März 2010, 19:34:48
Ich freu mich auch schon auf mehr!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Abracadaver am 18. März 2010, 17:40:33
Ich bin auch schon sehr gespannt! Eure Geschichte ließt sich wunderbar und lässt auf ein weit entferntes Ende hoffen:)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 24. März 2010, 00:27:05
Ich hoff ja echt, dass Brüssel dir nicht deine Kreativität raubt und du bald, wenn du weniger Stress hast, wieder weiterschreiben kannst. Freue mich auf das Wiedersehen mit all den alten Bekannten ... :D
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 24. März 2010, 18:36:50
Seit ich weiß, dass unsere Meisterin am Montag eine Hausarbeit fertig haben muss, traue ich mich gar nicht mehr nachzufragen, ob sie schon weitergeschrieben hat... :-X
Käme mir dann doch sehr selbstsüchtig vor. Aber danach besteht bestimmt wieder Hoffnung!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 24. März 2010, 18:50:45
Jaaa, schlechte Zeiten für Musen... aber nächste Woche wirds ein wenig besser, dann geht's auch hoffentlich weiter.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 24. März 2010, 21:44:07
Juhu!
Oh, und viel Erfolg bei der Hausarbeit! Hab meine auch heute fertig bekommen!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 09. April 2010, 00:02:43
Kapitel IX: Die Ruinen von Oreme

Winter

Vier Tage später, Oase Biradoon, Nordwesten von Anauroch. 
„Das ist Wucher“, empörte sich Winter.
„250 Gold pro Kopf und Tag“, beharrte der Karawanenführer. „Ist letztes Angebot. Alif Ben Kanaan ist bester Wüstenführer in Anauroch. Weiß, wie man Zhentarim-Zölle umgehen kann. Kennt alle Oasen auf Weg nach Oreme. Ist gefährlich in Oreme. Wüste hat eigenen Willen dort. Und viele Geenies und Asherati.“
„Ashe… was?“
„Sanddiebe. Sehr gefährlich. Verstecken sich nachts im Sand, um Karawanen zu überfallen. Braucht ihr guten Führer, wenn ihr nach Oreme wollt.“
„1000 Gold pauschal.“ Winter verschränkte stur die Arme vor der Brust. Sie traute dem kleinen Beduinen mit dem geschäftstüchtigen Grinsen nicht. Mochten die Götter wissen, auf welche Umwege er sie führte, nur um noch den ein oder anderen Tagessatz für sich herauszuschlagen. „Die Hälfte als Anzahlung.“
Alif Ben Kanaan rümpfte pikiert die Nase und wandte sich ab, um seinem Kamel den Hals zu kraulen und Winter zu verstehen zu geben, welche Beleidigung ihr Angebot für ihn war. Sie schnaubte, als sie den blasierten Blick des gelangweilt vor sich hin schmatzenden Tiers auffing,  und stapfte davon. Grimwardt folgte seiner Schwester, die auf einen der Tee-Pavillons zusteuerte, die die kleine Handelsenklave am Rande der Biradoon-Oase säumten. Vor dem Zelt speiste eine Gruppe von D‘Tairig, die ein seltsames schwarzes Gebräu aus kleinen Bechern schlürfte. Unter den Männern befand sich ein weiterer Kamelführer. Doch der alte Beduine, dessen Gesicht so schrumpelig war wie die schwarzen Früchte in seiner Essschale, sah nicht einmal auf, als Winter ihn ansprach. Sie wollte ihm gerade mit einer bissigen Bemerkung zu verstehen geben, was sie von seinem Kundenumgang hielt, als Grimwardt ihr mit einer mäßigenden Geste die Hand auf die Schulter legte. 
„Hättet Ihr wohl Interesse an einem Auftrag, wenn ich ihn Euch unterbreiten würde?“, wandte er sich an den Nomaden.
Mit einer Mischung aus stiller Würde und Ehrerbietigkeit erhob sich der Alte und verneigte sich vor dem Tempuspriester. Winter seufzte. Großartig. Offenbar ging es gegen die Ehre des Alten mit einer Frau zu verhandeln. Nein, hier würde sie nicht viel ausrichten können. Also zurück zu Alif und den anderen. Die Verhandlung mit dem jüngeren Karawanenführer hatte inzwischen eine bizarre Wendung genommen: Statt auf den geschäftstüchtigen Beduinen traf Winter  auf einen fluchenden Schluckspecht, der sich mit der Verbissenheit eines Wahnsinnigen darum bemühte, Boltors nimmerleeren Humpen zu bezwingen.
„Das ist Betrug!“, schimpfte er lallend. „Dumme Humpen ist niemals leer! Ist magische Humpen!“
„In einer magietoten Zone? Wie das?“ , konterte Faust, der das Schauspiel mit verschränkten Armen und einem siegessicheren Schmunzeln beobachtete. „Gib’s zu: Du hast es einfach nicht drauf.“
„Sieht so aus, als ob wir die Wette gewonnen hätten.“ Boltor schnalzte mit der Zunge. „1000 Gold für Hin- und Rückweg, Kamele inklusive.“
Winter schmunzelte und warf einen hastigen Blick über die Schulter: Gut. Grimwardt war noch ins Gespräch mit dem Alten vertieft. Besser, sie ließen diese kleine List ihm gegenüber unerwähnt. Ihr Bruder konnte furchtbar kleinlich sein, wenn es um unorthodoxe Handlungsstrategien ging. 
Nachdem der Handel geschlossen war, zog es die Männer in das Teehaus am Rand der Nomadensiedlung, während Winter Miu dabei half, ein wenig abseits der Beduinenzelte ihr Lager aufzuschlagen. Sie hatten gerade den letzten Zeltnagel im Boden versenkt, als Faust mit einer verschleierten Beduinin im Schlepptau zurückkehrte. Miu zuckte mit keiner Wimper, doch der bloße Anblick der keuchen jungen Karaturianerin schien den Kämpfer in die Defensive zu zwingen.
„Sie soll nur für mich tanzen!“, verteidigte er sich mit dem treuherzigen Blick eines Straßenjungen, der gerade, als er herzhaft in einen ehrlich verdienten Apfel beißen will, innehält, weil der Obstladenbesitzer ihn mit misstrauischer Miene beäugt. „Ehrlich! Es heißt, die muss man gesehen haben… die Bauchtänze der D’Tairig.“
Miu bedachte seine Beteuerungen mit einem ihrer duldsam-stoischen Blicke, doch Winter entging nicht das leise Schmunzeln, das sie hinter vorgehaltener Hand verbarg, als Faust mit seiner Begleiterin im Zelt verschwunden war. Auch Winter musste lachen. Doch es war ein verhaltenes Lachen und als ihr das auffiel, überkam sie eine merkwürdig schwermütige Stimmung. Seufzend ließ sie sich vor dem Zelt nieder, grub die Zehen in den Sand und ließ ihren Blick über die Dünen gleiten. Nach einer Weile bemerkte sie, dass sie gedankenverloren mir einem kleinen magischen Kompass spielte, den Grax, der Halbork-Barde aus Heinos Zirkustruppe, ihr zum Geschenk gemacht hatte.
Vor ihrer Abreise aus Myth Drannor hatte sie den Zirkusartisten darum gebeten, eine Ballade zu verfassen. Eine Ballade zu Ehren Doriens.  Grimwardt hatte verächtlich geschnaubt und etwas von „Lug und Trug“ gemurmelt, als sie ihm die erste Strophe vorgetragen hatte. Zugegeben, es gehörte ein wenig Fantasie dazu, Dorien in Grax‘ „Ritter voll Tugend und Glanz“  wiederzuerkennen.  Und auch die Schilderung seines „o furchtlosen Ringens mit dem rasenden Rachegott“ trug nicht unbedingt zur Authentizität der Ballade bei. Doch strahlende Ritter und furchtlose Ringkämpfe waren der Stoff, aus dem Heldenepen gemacht waren, und Winter war entschlossen, Dorien unsterblich zu machen. 
Scarlet und ihre Großeltern hatte sie mit Razeemas Hilfe nach Silbrigmond gebracht. Die Halbdrow war später nach Myth Drannor zurückgekehrt, um den Elfen bei der Bewältigung des Flüchtlingsproblems zu helfen. Kalith war ebenfalls zurückgeblieben, um seiner Heimat im Kampf gegen die Allianz beizustehen. Der Rest der Gruppe hatte sich auf den Weg zur Kerzenburg gemacht, um Erkundigungen zu den Gründerrassen und dem Schöpfungsritual der Nesserrollen einzuholen.
Drei Tage lang hatten sie die Bibliothek durchforstet. Die historischen Schriften eines Autors, der sich selbst der „Weltenseher“ nannte, hatten sie schließlich auf die Spur der Sarrukh gebracht. Das Echsenvolk, eine der Gründerrassen, war vor vielen tausenden Jahren in einer Stadt namens Oreme im heutigen Gebiet der Anauroch beheimatet gewesen. Einem Auserwählten unter den Sarrukh hatten die Götter einen Schluck aus dem Kelch des Amaunator gewährt, der ihn mit göttlicher Einsicht in die Mysterien der Magie erfüllte. Dieses Wissen schrieb der Auserwählte nieder, und so entstand die erste Version der Nesserrollen. Als das Reich der Sarrukh zerfiel, verschanzten sich die sechzig mächtigsten Zauberwirker der Stadt mit den Schriftrollen in den Katakomben von Oreme, um ihre Körper in Leichname zu verwandeln und so der Vernichtung zu entgehen. Noch heute, so schrieb der Weltenseher, ruhten sie dort unter den Ruinen von Oreme. Einer der sechzig jedoch war für 10 000 Jahren zum Wächter der Grabstätte ernannt worden. Es musste jener Wächter gewesen sein, der die Schriftrollen unter den Menschen von Nesserril verbreitet hatte. Und er war es auch, den die Gefährten hier in der Anauroch zu finden hofften. Denn wenn es jemanden gab, der um das Geheimnis ihrer Zerstörung wusste, dann war er es.

Grimwardt
In der Wüste, fünf Tage später.
„Sicher, dass ich den Betttopf heute stecken lassen kann?“, fragte Faust mit einem breiten Grinsen.
„Ist die komische grüne Färbung um die Nase bei euch Menschen normal?“, stimmte Boltor in den Spottgesang mit ein.
„Sollen wir vielleicht ein wenig langsamer reiten?“ Selbst Winter ließ es sich nicht nehmen, den großen Bruder auf die Schippe zu nehmen.
Grimwardt schnaubte griesgrämig in seinen Bart hinein. Seit ihm die Hitze und das ständige Ruckeln und Wanken am ersten Tag der Reise ein wenig auf den Magen geschlagen waren, wollten die Sticheleien und Seitenhiebe einfach nicht abreißen. Noch so ein geistreicher Kommentar und irgendwem würde das Lachen gehörig vergehen! Die eintönige Umgebung und die kärgliche Versorgung trugen auch nicht gerade dazu bei, Grimwardts grantige Laune zu heben. Was würde er jetzt nicht für ein gutes, deftiges Heldenmahl geben. Außerdem hatte er seit fünf Tagen nichts weiter gesehen als endlose Dünen und das knochige Hinterteil des Leitkamels.
„Dort hinten ist es.“ Die Worte des beduinischen Wüstenführers ließen Grimwardt aufblicken. „Das ist Oreme.“
Sie hatten eine mächtige Düne erklommen. In einiger Entfernung erspähte der Kriegspriester ein gigantisches Ruinenfeld, das in einer Talsenke am Rande eines ausgetrockneten Flussbetts gelegen war. Von der Zeit zersetzte Torbögen und Gebäudetrümmer malten dunkle, grotesk vergrößerte Schatten in den Wüstensand. Als sie näher kamen, erkannte Grimwardt, dass die sandfarbenen Überreste der Sarrukh-Stadt intakter waren als es aus der Ferne den Anschein hatte: Die Gerippe von Turmspitzen und Dachgiebeln, die aus dem Sand stachen, ließen vermuten, dass große Teile Oremes unter dem Sand erhalten geblieben waren. Nachdem sie die Kamele am Rande des Trümmerfelds zurückgelassen hatten, machten sich die Gefährten daran, die Ruinen zu erkunden.
„Irgendwo muss es einen Zugang zum unterirdischen Teil der Stadt geben“, sagte Faust.
„Na großartig“, murmelte Winter. „Und wie sollen wir den ohne Magie finden?“
„So wie wir es früher auch getan haben“, brummte Grimwardt. „Wir suchen!“
Alif hob den Kopf und kniff die Augen zusammen.
„Was ist?“, knurrte Faust, der dem Wüstenführer nicht über den Weg traute. Der Kämpfer hatte seit ihrer Abreise aus Biradoon ein wachsames Auge auf den Beduinen gehabt.
„Ist nicht richtig“, murmelte Alif. „Dort hinten war Düne. Muss eine… Vorsicht!“
Zu spät gewahrte Grimwardt den Schatten der Wanderdüne, die sich mit der Arglist eines lauernden Assassinen hinter der Gruppe aufgetürmt hatte. Dann senkte sich Dunkelheit auf ihn herab und Sandkörner, die ihm in alle Poren drangen, raubten ihm die Luft zum Atmen. Vergeblich versuchte Grimwardt sich mit den Händen an die Oberfläche zu graben, während er spürte, wie der Druck der Sandmassen zunahm, die ihn unter sich zu begraben drohten. Seine Sinne begannen zu schwinden, doch ehe er das Bewusstsein verlor, packten ihn von oben kräftige Hände, um ihn an die Oberfläche zu zerren. Faust schlug ihm auf den Rücken und Grimwardt würgte spuckend und fluchend den Sand aus seinen Lungen. Seine Schwester, die schwer atmend neben ihm kniete, schien das gleiche Schicksal ereilt zu haben.
„Verfluchte Wüste“, keuchte der Kriegspriester mit knirschendem Sand zwischen den Zähnen. 
„Das ist nicht Wüste“, murmelte Alif, dem die Sache mulmig zu werden schien. „Das ist Hexenwerk. Ist verflucht, diese Ort.“
Die Gefährten setzten ihre Suche nach einem Weg in den unterirdischen Teil der Stadt fort, doch in den ersten beiden Ruinen, die sie erkundeten, fanden sie nichts als Sand und Staub. Grimwardt hatte zudem das dumpfe Gefühl, dass sie beobachtet wurden. Schatten am Rande seines Blickfelds, eilig verwischte Spuren im Sand – sie schienen nicht alleine zu sein. Als sie auf ein weiteres Turmskelett zusteuerten, stieß Alif plötzlich einen Warnschrei aus. Gerade noch rechtzeitig bemerkte Grimwardt, dass der Sand unter ihnen eine ungewöhnlich dunkle Färbung hatte.
Treibsand.
Der Priester bekam mit einer Hand Miu zu fassen, die beinahe in die tückische Falle getappt wäre. Boltor tänzelte geschickt zur Seite und Alif war abrupt stehen geblieben. Für Winter und Faust jedoch, die in der Mitte des feuchten Bereichs standen, kam die Warnung zu spät. Fausts massige Gestalt versank innerhalb eines Augenblicks in dem schlickigen Sandbad. Winter griff eilig nach Grimwardts freie Hand, doch der Sog, der sie in die Tiefe zog, war zu groß. Der Priester sah noch, wie seine Schwester eilig nach Luft schnappte, ehe der Wüstenschund sie mit einem schwerfälligen Glucksen verschlang.
Der Kleriker fackelte nicht lange und band sich ein Seil um die Hüfte, dessen Ende er Boltor zuwarf.
„Hol’ uns hoch, wenn ich daran ziehe“, befahl er schroff, holte tief Luft und sprang seiner Schwester nach. Blind ließ er sich von den zähflüssigen Massen in die Tiefe saugen in der Hoffnung aufgrund seiner Masse schneller zu sinken als Winter. Grimwardt hatte Glück: Schon nach wenigen Metern spürte er, wie er auf Widerstand stieß, umschlang Winters Hüfte und ließ sich von seinen Gefährten in die Höhe ziehen. Schwer atmend tauchten die Geschwister kurz darauf aus dem Sandschlund auf.
„Was ist mit Faust?“, keuchte Winter, kaum dass die anderen sie an Land gezogen hatten. Doch Grimwardt hatte bereits Anlauf genommen, um ein zweites Mal in den Sandsee zu tauchen. Eine halbe Ewigkeit schien zu vergehen, ehe er am Grund des Schlundes angelangt war und den Kämpfer zu fassen bekam. Keuchend wuchtete er den bewusstlosen Gefährten kurz darauf an Land. Fausts Pulsschlag war schwach, als Grimwardt sich über ihn beugte, doch der Krieger war zäh. Ein heilendes Gebet brachte ihn schnell wieder auf die Beine.
„Hehe“, machte Boltor mit dem seligen Grinsen eines Besoffenen und nahm noch einen Schluck aus seinem Humpen.
„Was?“, knurrte Faust, während er mit mäßigem Erfolg versuchte, sein Haar vom Sandschlick zu befreien.
„Ich sehe Hände im Sand.“
„Häh?“
Alif Ben Kanan wurde kreidebleich und stieß einen Fluch in seiner Muttersprache aus. Für die Dauer eines Augenblicks meinte Grimwardt zu sehen, wie sich lange, rostrote Finger um die Füße des Wüstenführers legten. Dann ein Ruck und Alif versank mit solcher Abruptheit im Sand als bestünde der Untergrund aus Wasser. Ungläubig starrten die Gefährten auf die Stelle, die seinen Schrei verschluckt hatte.
„Oh“, machte Boltor ernüchtert.
„Asherati“, murmelte Winter mit einem Schaudern. „Das müssen die Sanddiebe gewesen sein, von denen Alif sprach. Wir sollten aufpassen, wo wir hintreten.“
Um sich vor einem weiteren Hinterhalt zu schützen, breiteten die Gefährten eine der Zeltplanen unter ihren Füßen aus. Die Sicherheitsmaßnahme erschwerte das Vorankommen, sodass es bereits Nachmittag war, als sie endlich den Zugang zum unterirdischen Teil der Stadt entdeckten. Eine Bodenluke führte eine steinerne Treppe hinunter in ein Labyrinth aus Korridoren und Hallen. Auch hier gab es Spuren im Sand und einmal meinte Grimwardt ein Kichern und das Aufblitzen pupillenloser gelber Augen zu gewahren. Doch sie drangen unbehelligt immer tiefer in das Labyrinth vor, bis sie schließlich eine Halle betraten, die im Gegensatz zum Rest der Stadt noch Spuren einer humanoiden Zivilisation aufwies. Wandmalereien beschrieben Szenen aus dem Alltagsleben einer Kultur von Reptilienmenschen und ein Thron aus grünem Smaragd, der in der Form einer geöffneten Klaue gearbeitet war, erhob sich in der Mitte des Raums.
„Ah, die Fremden sind angekommen“, ertönte eine keckernde Stimme.
Die Gefährten fuhren herum.

Faust
Hätte Faust die Kreatur beschreiben müssen, die ihnen aus dem Halbdunkel hinter dem Klauenthron entgegen gehumpelt kam, wäre ihm wohl als erstes der Vergleich zu einem knorrigen, windgepeitschten Steppengewächs in den Sinn gekommen, das allein durch Sturheit der Austrocknung trotzte. Der Leichnam des Sarrukh  war etwa so groß wie der Zwerg und nicht einmal halb so breit – selbst wenn man den Buckel mitrechnete, der die knochige Gestalt niederzudrücken schien. Seine staubtrockenen Kieferknochen klapperten beim Sprechen und sein Unterkiefer war ein wenig versetzt zum Oberkiefer, was dem grinsenden Eidechsenschädel mit den starren, lidlosen Augen den irren Ausdruck eines Schwachsinnigen verlieh.
„Seid Ihr derjenige, der die Sanddiebe befehligt?“, knurrte Faust. „Was habt Ihr mit unserem Begleiter angestellt?“
„Ich befehlige die Wüste, mein junger, organischer Freund“, berichtigte ihn Schiefkiefer. „Und ihr mögt mich bei meinem Titel nennen. Ich bin König Oreme, Herr der Anauroch“, fügte er hoheitsvoll hinzu, während er mit einigem Ächzen und Klappern den Klauenthron erklomm, der wirkte, als könne er das dürre Gerippe jederzeit in seiner Handfläche zermalmen. Dann schüttelte er sich den Sandstaub von mindestens einem Jahrzehnt aus den königlichen Lumpen, was Grimwardt ein beherztes Niesen bescherte.  „Ich sah euch kommen, doch ihr seid nicht hier, um die Gräber der Sechzig zu plündern. Der D’Tairig dagegen war ein wenig zu versessen auf die Schätze der Anauroch, doch die Asherati werden seiner Habgier einen Dämpfer verpasst haben.“
„Ihr saht uns kommen?“ Faust hob eine Augenbraue.  „Wollt Ihr behaupten, dass Ihr die Zukunft sehen könnt…, Majestät?“, fügte er mit mildem Spott hinzu.
Die Zukunft?“, eierte der Sarrukh. „Ich sehe Zukünfte, mein Junge. Doch es ist nicht schwierig, sie gegeneinander abzuwägen – geradezu anödend, will ich meinen. Der Geschichte gehen auf Dauer die Ideen aus. Ihr allerdings…“ Er sezierte die Gruppe mit seinen stierenden Augen und legte in einer ruckartigen, salamanderartigen Bewegung den Kopf in die Neige. „Ihr beabsichtigt den Schattenlord von Umbra herauszufordern und doch ist euer Tod nicht völlig eindeutig. Das ist… unüblich.“
„Ich nehme an, das ist eine gute Nachricht“, kommentierte Faust nüchtern die historiographischen Betrachtungen des Leichnams. „Vielleicht wollt Ihr die Sache ja noch ein wenig spannender machen, indem Ihr uns bei unserer Mission unterstützt?“
„Will ich das?“, sinnierte Schiefkiefer, doch Faust erkannte, dass er die Neugier des Alten geweckt hatte. Er berichtete von ihrer Suche nach dem Quess Ar Teranthvar und den Nachforschungen in der Kerzenburg, die sie hierher nach Oreme geführt hatten.
„Pah, die Nesserrollen“, schnaubte der Sarrukh hochmütig und wusch mit einer abfälligen Geste das mächtigste Artefakt der Weltgeschichte hinfort. „Nichts als die Kopie noch mächtigerer Magie. Die Rollen sind nichts weiter als ein kleines historisches Experiment meinerseits. Ich war es, der die Schriftrollen diesem kleinen Fischervolk unterjubelte, weil ich sehen wollte, wie sich die Magie auf den Verlauf ihrer Geschichte auswirkt. Äußerst enttäuschend – ihr Untergang stand schon nach wenigen Jahrzehnten fest.“
„Wisst Ihr, wie man ihn zerstören kann?“, fragte Winter. „Den Elfenbaum?“
„Natürlich weiß ich das“, erwiderte Oreme spitzfindig. „Aber es wäre doch langweilig, wenn ich euch das sagen würde.“
„Vielleicht ist dir ja nicht mehr so langweilig, wenn ich dir eine kostenlose Kieferbehandlung mit meinem Schlaghumpen verpasse“, knurrte der Zwerg angriffslustig.
Der Sarrukh schien diese Möglichkeit ernsthaft in Betracht zu ziehen.
„Möglich“, sinnierte er, während er sich nachdenklich am Kinn zupfte. „Aber nicht sehr wahrscheinlich, mein kleiner trinkfester Freund.“ Dann verwarf er das Angebot und klatschte eilfertig in die Hände. „Auf, auf, strengt nur ein wenig eure blutreichen, unfossilen Hirne an. Die Antwort auf die Zerstörung eines Artefakts liegt in seiner Schöpfung.“
„Die Nesserrollen wurden verfasst, nachdem ein Sarrukh aus einem Kelch getrunken hatte, der ihm göttliche Einsicht verlieh“, erinnerte sich Winter. Sie runzelte nachdenklich die Stirn. „Vielleicht…  müssen wir das Ritual ja umkehren.“
„Wie? Rückwärts trinken?“, knurrte Boltor, der wenig von Oremes Ratespiel zu halten schien. „Du meinst, wir reihern ’ne Runde gegen den Baum und der löst sich in Luft auf?“
„Ihr denkt zu weit, meine Freunde“, klapperte Schiefkiefer, dem das Rätselraten diebischen Spaß zu bereiten schien.
„Auf jeden Fall hat es etwas mit dem Kelch zu tun.“ Faust tat ihm den Gefallen und ging auf sein Spielchen ein.
„Warm!“
„Vielleicht müssen wir ebenfalls daraus trinken.“
„Kalt.“
„Den Inhalt verschütten?“
„Warm!“
„Über den Baum?“
„M-m-m…“
„Seine Wurzeln?“
Der Sarrukh klatschte freudig in die Hände und zog keckernd den Kopf ein, was ihm den Anschein einer schrulligen alten Schildkröte verlieh.
„Und ihr könnt uns doch gewiss sagen, wo wir diesen Kelch finden“, schmeichelte Winter.
„Das kann ich“, bestätigte der Sarrukh.
Erwartungsvolle Stille.
„Aber will ich das?“, fuhr er an sich selbst gewandt fort. „Welches Interesse sollte ich an der Zerstörung der Nesserrollen haben? Dieser Baum ist vielleicht das letzte, was von meiner Kultur übrig geblieben ist. Nur die Kopie einer Kopie, gewiss. Aber dennoch ein Stück Erinnerung. Nein“, entschied er schließlich. „Nein, ich glaube, dazu habe ich keine Lust.“
Boltor schnaubte. „Soll ich dir verraten, wozu meine linke Faust Lust hätte?“
„Langweilig“, urteilte König Oreme und der Zwerg musste frustriert feststellen, dass das exzentrische Urwesen gänzlich immun gegen seine Provokationen zu sein schien. „Das erkenne ich auch ohne hellseherische Fähigkeiten.“
„Es muss doch irgendeine Möglichkeit geben, wie wir…äh… zu Eurer Unterhaltung beitragen können“, testete Faust eine neue Strategie.
Und sie schien aufzugehen. Der Sarrukh klatschte in die Hände und bedachte Faust mit einem wohlwollenden Blick.
Das“, lobte er, „ist ein ausbauungsfähiger Ansatz. Ich hätte da eine Idee.“ Ein glucksendes Lachen entrang sich seiner staubigen Kehle und er rieb sich in kindischer Vorfreude die Hände. „Ein Duell!“
„Ihr… wollt gegen mich kämpfen?“ Faust sah sich im Geiste bereits im Zweikampf mit einer buckelnden alten Eidechse und es war kein Bild, das er gerne in dem magischen Buch aus der Anderswelt verewigt sehen wollte, in dem eine unsichtbare Hand seine Taten niederschrieb.
„Nicht ich!“, klapperte der Sarrukh. „Nein, was ich meine ist ein epischer Zweikampf  zwischen einem von euch und einem der Helden Faerûns. Der Ausgang nur schwer vorherzusehen. Wie der Kampf Fflar Melruths gegen den Dämonenfürst. Ah ja, das war Unterhaltung!“
Faust zuckte mit den Schultern.
„Meinetwegen. Gegen wen soll ich kämpfen?“
Schiefkiefer lachte keckernd.
„Drizzt Do’Urden.“
Fausts Herz machte einen Sprung und sein Grinsen wurde immer breiter, bis er selbst dem Sarrukh hätte Konkurrenz machen können.
Ja, ja, ja, ja!
Das war keine Bedingung, das war ein Traum! Einer seiner Kindheitsträume würde in Erfüllung gehen! Er würde gegen Drizzt Do’Urden, den Bezwinger des Balor Errtu, den Herausforderer der Drow-Göttin Lolth antreten!
„Sagt mir, wo ich ihn finde!“, bat er atemlos.
Der Sarrukh stieß eine Folge zischender, vokalloser Worte aus. Eine eigenartige Art von Macht schien dem wirren Kauderwelsch innezuwohnen, doch es waren nicht die Worte der bekannten Magie. Die Formel öffnete ein Tor, das sich wie ein Schlund hinter dem Thron des Sarrukh materialisierte. Das war keine Beschwörung oder Illusion. Es schien vielmehr, als habe der Leichnam mit seinen Worten die Realität selbst verändert.
„Wie ich sagte“, erklärte er (und diesmal hätte er wohl auch gegrinst, wenn es ihm nicht anatomisch unmöglich gewesen wäre, es nicht zu tun): „Die Nesserrollen sind nichts weiter als eine Kopie noch mächtigerer Magie.“
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 09. April 2010, 01:13:38
Ja,ja,ja,ja!  :D

Wieder sehr cool! ist immer, wie wenn man auf die nächste LOST Folge wartet ;)
...Sehr schön fand ich auch das "...Oh".
Sollte unser neuer Standard-Spruch werden, wenn ein NSC draufgeht ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 09. April 2010, 11:37:00
Wie immer Begeisterung pur!
Bin gespannt auf die nächsten Kapitel :-) Da kommen ja noch einige spannende Szenen...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Abracadaver am 09. April 2010, 21:55:29
Eure Geschichte erweckt den Wunsch bei euch mitzuspielen:)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 09. April 2010, 23:12:34
Es ist eine sooooo coole Gruppe!!!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 09. April 2010, 23:38:11
Stimmt. Wir können uns verdammt glücklich schätzen  :). Schön, dass die Geschichte das rüberzubringen vermag.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 11. April 2010, 12:41:32
Genau, ein Hoch auf die... Namenlosen...
...Wir brauchen echt mal nen Namen für unsere Gang, sonst bleiben wir wirklich die Namenlosen...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 17. April 2010, 02:51:30
Kapitel X: Eis und Sand

Boltor
Eiswindtal, kurz darauf.
„DRIIIIZZT!“, brüllte Faust wie von Sinnen.
Seine Freunde warfen sich verstohlene Blicke zu.
„Mm“, machte Grimwardt. „Sollen wir ihn aufhalten?“
Boltor schnaubte verdrießlich. Hatte der Kerl was gesoffen, das er ihm vorenthalten hatte? In dem Augenblick, als die alte Echse den Namen des Dunkelelfen ausgesprochen hatte, war ein wahnwitziges Funkeln in die Augen des Kämpfers getreten. Dafür schienen weiter oben ein paar Lichter ausgegangen zu sein. Was, beim Barte des Moradin, glaubte er, was er da tat? Dachte er, wenn er nur laut genug brüllte, käme der Drow schon irgendwann aus dem Dickicht gesprungen?
„DRIZZT!“
Nun, wenn sie Pech hatten, würde genau das passieren. Und Fausts Gebrüll machte nicht eben einen friedfertigen Eindruck. Dann bemerkte Boltor eine Bewegung am Rande seines Blickfeldes.
„Wir sind nicht allein“, murmelte der Zwerg.
Im nächsten Moment traten sechs stämmige Menschenkrieger aus dem Unterholz. Trotz der Kälte, die hier herrschte, waren ihre Oberkörper unbekleidet und mit Henna bemalt. Um die Schultern trugen sie schwere Fellmäntel. Einer der Barbaren sprach sie in einer Sprache an, die Boltor nicht verstand. Sein Tonfall war barsch und seine gezückte Axt ließ keinen Zweifel daran, was er von sandbedeckten Fremden hielt, die plötzlich aus dem Nichts auftauchten, um mit ihrem Gebrüll den Wald aufzuscheuchen.
„Wir suchen Drizzt Do’Urden“, erklärte Faust übergangslos. „Das Schicksal der Welt könnte davon abhängen!“
Die Fremden bedachten ihn mit finsteren Blicken.
„Eure Waffen!“, befahl der Anführer schroff.
„Mm, das ist das Schwert meines Vaters und ich gebe es nur ungern…“ Als Faust die warnenden Blicke seiner Gefährten auffing, hob er ergeben die Hände. „Schon gut.“
Nachdem sie ihnen die Waffen abgenommen hatten, führten die Barbaren die Gefährten in ihr Winterlager. Das kleine Dorf war gerade im Abbau begriffen: Von den mit Fellen verkleideten Zelten standen nur noch die hölzernen Gerüste und Frauen und Kinder verluden Felle und andere Wertgegenstände auf bereitstehende Pferde. Das Auftauchen der Abenteurer erregte einiges Aufsehen. Kinder liefen ihnen entgegen, um sie neugierig zu begaffen und irgendwo fing ein Hund an zu kläffen. Von den Wächtern wurden die Gefährten vor das einzige noch intakte Zelt geführt. Die Öffnung wurde angehoben und ein hünenhafter Nordmann, unzweifelhaft der Stammesführer des Dorfes, trat heraus. Er mochte etwa Ende Vierzig sein. Sein langes blondes Haupthaar, das ihm wild und ungezähmt ins Gesicht wehte, wies noch keine graue Strähne auf. Doch sein kantiges Gesicht war zerfurcht von tiefen Linien, die, wie es schien, nicht die Zeit sondern Kummer und Leid in seine Züge gegraben hatten. An der Seite trug er einen mächtigen Hammer.
„Heiliger Humpen!“, entfuhr es Boltor und er kniff seine kleinen, rot geäderten Augen zusammen. „Häuptling Wulfgar?“
Ja, tatsächlich. Vor ihnen stand der Uthgart-Stammesführer der Elche und einer der treusten Freunde des großen Zwergenkönigs Bruenor Heldenhammer von Mithrilhalle. Boltor senkte ehrerbietig sein Haupt.  
„Wer seid Ihr und was wollt Ihr?“, fragte Wulfgar rau, doch ohne drohenden Unterton.
„Ich muss gegen Euren Freund Drizzt kämpfen“, ratterte Faust mit der logischen Schlüssigkeit eines sabbernden Deppen drauflos. „Um den Baum zu zerstören und die Welt zu retten. Der Leichnam will uns nur helfen, den Kelch zu finden, wenn wir ihm einen epischen Kampf liefern. Sprich: Wenn ich nicht gegen Drizzt Do’Urden kämpfe, gelingt es den Umbranten, das Ritual zu vollenden und der Zauber wird das magische Gewebe zerstören.“
Wulfgar verzog keine Miene. Die beiden Krieger jedoch, die hinter dem Stammesführer Stellung bezogen hatten, warfen sich verstörte Blicke zu, als versuchten sie sich darüber klar zu werden, ob der schwafelnde Fremde wohl gefährlich sei oder einfach nur gewaltig einen an der Klatsche hatte.
Grimwardt räusperte sich. „Was mein Mitstreiter sagen möchte“, versuchte er die Ehre der Gruppe zu retten: „Wäre es wohl möglich, dass wir mit dem Dunkelelfen sprechen könnten. Es ist wirklich dringend.“
„Ich habe Drizzt seit Jahren nicht gesehen“, antwortete Wulfgar einen Tick zu schroff. Boltor kniff die Augen zusammen: Irgendetwas stimmte hier nicht. Ihm war nicht die Unruhe entgangen, die den Stamm bei der Erwähnung von Drizzts Namen erfasst hatte. Ein paar der Stammeskrieger hatten die Arme vor der Brust verschränkt und warfen sich düstere Blicke zu, doch ihr Unmut schien nicht den Gefährten zu gelten.
„Es tut mir leid, doch ich kann euch nicht helfen“, erklärte Wulfgar.
„Aber vielleicht weiß ja die unsichtbare Frau dort hinten, wo er steckt“, sagte Winter arglos.
Winters Enthüllung brachte das Fass zum Überlaufen. Laute, wütende Stimmen wurden laut und Wulfgars Blick wurde kalt und hart. Boltor blickte in die Richtung, in die Winter gedeutet hatte, konnte jedoch nichts erkennen.
„Ich habe Drizzt Do’Urden das letzte Mal vor fünf Jahren gesehen“, wiederholte der Stammesführer unwirsch. „Ingor, führ die Fremden an den Rand des Waldes. Sie sind hier nicht länger willkommen.“
Grobe Hände packten Boltor bei den Schultern.
Im selben Moment verschwand Winter von der Bildfläche.

Winter
Winter teleportierte sich zu der Stelle zwischen den Bäumen, wo sie die unsichtbare Frau gesehen hatte. Offenbar hatten diese Barbaren keine Ahnung von Magie: Der Zauber, unter dem sich die Fremde verbarg, war nicht besonders mächtig und Winter war es ein Leichtes gewesen, sie mit ihrem magischen Blick zu durchschauen.
Die Fremde – sie mochte ein paar Jahre älter sein als Winter selbst - stand mit verschränkten Armen gegen einen Baum gelehnt. In ihren wilden, kastanienroten Locken hatten sich Aststücke und einige Blätter verfangen. Sie schien Winter erwartet zu haben. Als die Diebesmeisterin einige Schritte entfernt von ihr auftauchte, machte sie ihr ein Zeichen ihr zu folgen. Schweigend lotste sie Winter durchs Unterholz. Die Geschmeidigkeit, mit der sie sich durch den Wald bewegte und ihre breiten, kampfgeschulten Schultern ließen vermuten, dass sie selbst früher auf Abenteuer ausgezogen war. Am Rande einer Lichtung blieb sie stehen und wandte sich zu Winter um.
„Das hättet Ihr nicht sagen sollen“, erklärte sie. Es lag kein Groll in ihrer Stimme, doch ihre dunklen Augen musterten Winter mit Argwohn. „Mein Name ist Catti-brie. Sagt mir, was Ihr von Drizzt Do’Urden wollt.“
„Winter“, stellte sich die Diebesmeisterin vor. „Es tut mir leid, wenn wir Euch Ärger bereitet haben. Aber mein Gefährte spricht die Wahrheit.“
Während sie Catti-brie ihr Anliegen unterbreitete, bemerkte Winter, wie die Fremde magisch in ihren Geist einzudringen versuchte. Da sie einen Wahrheitszauber vermutete, ließ sie es geschehen.
„Alustriel von Silbrigmond hat Euch diesen Auftrag erteilt?“, fragte Catti-brie schließlich und Winter spürte, wie ihr anfängliches Misstrauen zu schwinden begann. Sie schien einen Augenblick zu überlegen; dann nickte sie. „Ich werde mit Drizzt sprechen“, sagte sie. „Kehrt zu Euren Freunden zurück, er wird euch dort aufsuchen, wenn er sich entschieden hat.“
Winter bedankte sich bei der Fremden und kehrte zu den anderen zurück. Die Barbaren hatten sie an den Rand des Waldes geführt. Winters Verschwinden hatte die Krieger in Unruhe versetzt, doch da Wulfgar seinen Befehl nicht revidiert hatte, waren sie nicht handgreiflich geworden. Zu ihrem Glück!
Winter berichtete von ihrer Begegnung im Wald.
„Wie, sagtest du, hieß die Kleine?“, fragte Boltor, als sie geendet hatte.
„Callie...äh… Caddie…“
„Catti-brie?“
„Ja, so was in der Art.“ Erstaunt sah sie den Zwerg an. „Du kennst sie?“
„Jeder kennt sie“, behauptete Boltor. „Sie ist die Adoptivtochter des Zwergenkönigs von Mithrilhalle.“
 „Und Drizzts Frau“, warf Faust ein.  
„Frau!“, höhnte Boltor. „Ich frage mich, was Wulfgar wohl davon hält, dass sein treuer Freund seine Geliebte pimpert!“
„Unsinn!“, knurrte Grimwardt. „Drizzt und Wulfgar sind im Guten auseinander gegangen und…“
Während ihre männlichen Begleiter um Drizzts Ehre stritten, warfen sich Winter und Miu verständnislose Blicke zu. Offenbar war die Sage von Drizzt dem Dunkelelfen noch nicht bis nach Kara-Tur vorgedrungen. Und was Winter anging: Bruenor Heldenhammer und Drizzt Do’Urden waren niemals ihre Helden gewesen. Sie erinnerte sich vage an Lieder und Epen, in denen sich ein dunkelfischer Schwertkämpfer gegen sein eigenes Volk stellte und mit seinen Freunden durch die Welt zog, um … naja… um Leute niederzumetzeln. Doch das waren Abenteuergeschichten für kleine Jungs, denen sie offenbar nie die angemessene Begeisterung entgegen gebracht hatte.
Plötzlich verstummten die anderen.
Keiner hatte Drizzt kommen gehört. Falls er ihren anstößigen Streit mit angehört hatte, so ließ er sich nichts anmerken. Der Drow stand völlig reglos und musterte die Gefährten aus lavendelfarbenen Augen, die blass aus dem nachtschwarzen Gesicht stachen. Um den Hals trug er das Einhornemblem Mielikkis, der Herrin des Waldes. Ob es Bedacht oder Misstrauen war, was aus seinen Augen sprach, vermochte Winter nicht zu sagen. Faust dagegen verschwendete keine unnötige Sekunde daran, den Gemütszustand seines Turniergegners zu deuten. Das Auftauchen seines Kindheitsidols hatte ihn wieder in diesen Zustand konfuser Unzurechenbarkeit versetzt. Der dunkelelfische Einsiedler ließ Fausts Redeschwall mit stoischer Unbewegtheit über sich ergehen, doch als der Kämpfer begann, in wilder Zusammenhanglosigkeit Begebenheiten aus Drizzts Biografie zu rezitieren, setzte er dem ganzen ein Ende.
„Ich werde Euch begleiten“ unterbrach er den Redefluss seines Gegenübers. „Catti-brie hat mir alles erzählt und ich glaube, dass ihr die Wahrheit sprecht, so ungewöhnlich Eure Geschichte auch klingen mag. Doch wir sollten uns beeilen. Ich… möchte diesem Ort nicht allzu lange fern bleiben.“
„Ist wegen Stammesführer Wulfgar, häh?“, erriet Boltor und schlug stolz seinen Humpen gegen seine Brust. „Es wäre mir eine Ehre in Eurer Abwesenheit über Euren Freund zu wachen. Jeder Freund des großen Bruenor Heldenhammer ist auch mein Freund“
„Ich danke euch.“ Drizzt neigte den Kopf. „Doch das wird nicht nötig sein.“
„Wie?“, knurrte der Zwerg. „Traut Ihr mir das nicht zu? Mein Humpen vermag wahre Wunder zu vollbringen!“
„Daran zweifele ich nicht“, sagte der Drow mit geduldiger Höflichkeit und bar jeden Spottes. Er zögerte, doch dann fuhr er fort: „Es stimmt, ich bin hier, weil ich glaube, dass einem meiner Freunde Gefahr droht. Aber Wulfgar würde Eure Hilfe ablehnen. So wie er auch meine Hilfe nicht annehmen würde, weil es seiner Ehre als Stammeskrieger zuwider wäre. Er wusste nicht, dass ich hier bin, bis Ihr aufgetaucht seid.“ Ehe einer der Gefährten auf die subtile Rüge reagieren konnte, fuhr er eilig fort. „Also? Besteht Euer Portal noch?“  

Faust

Anauroch, etwa eine Stunde später.
Der Sarrukh-Leichnam hatte die Wahrheit gesprochen: Die Wüste gehorchte seinen Befehlen. Als die Gefährten durch das Portal zurückgekehrt waren, hatten sie statt den Ruinen von Oreme eine Wüstenstadt vorgefunden: Wo zuvor nur Gebäudegerippe aus dem ewigen Sand geragt waren, schraubten sich nun filigrane Türme aus Sandstein in den Himmel und fremdartige Stufenpyramiden säumten die sandigen Straßen. Die Wüste hatte sich zurückgezogen und eines ihrer zahlreichen Geheimnisse enthüllt: Oreme, die verlorene Stadt der Sarrukh, existierte noch immer unter dem Sand. Und was noch ungewöhnlicher war: Das magische Gewebe war an diesem Ort noch intakt, so als hätte König Oreme gewusst, was kommen würde, und seine Vorkehrungen getroffen.
Die Arena war klein und nur spärlich besetzt mit Oremes Hofstaat: Einige Yuan-Ti räkelten ihre Schlangenkörper auf den Tribünen und Asherati mit rostroten, schmalgliedrigen Körpern und weißen Augen tummelten sich zwischen sandfarbenen Echsenmenschen mit gespaltenen Zungen. Die abendliche Arena war in ein Meer tanzender Lichter und Fackeln gehüllt und über allem thronte König Oreme in einer Loge, die wie sein Thron in der Form einer geöffneten Echsenklaue gearbeitet war. Die Regeln waren einfach: Wer fiel, verlor. Ließ einer den anderen absichtlich gewinnen, war der Handel mit dem Sarrukh ungültig.
Breitbeinig und ein wenig ungelenk stapfte Faust in die Arena. Winters Mithril-Kettenhemd, das sie ihm für den Kampf geliehen hatte, zwickte an den Seiten und schränkte ihn in seiner Beweglichkeit ein. Faust war es nicht gewohnt, in Rüstung zu kämpfen. Er hatte die Schutzzauber nicht gezählt, die auf ihm lagen, aber er hatte sich noch nie zuvor so magisch gefühlt. Zwiespalt surrte, als er die Klinge aus der Scheide riss und zur Unterhaltung einige Drillübungen vorführte. Die Zuschauer bedachten seine Schaueinlage mit einem eigenartigen Konzert aus Zischen und Klatschen.
Dann kam Drizzt von der anderen Seite und ernte ehrfürchtiges Raunen. Er blinzelte, als das Licht der Fackeln seine empfindlichen Drowaugen streifte und zog ohne Umschweife seine beiden Krummsäbel – einer blau und metallen; der andere wie aus reinem gleißenden Licht gemacht. Dann nickte er Faust zu: das verabredete Startsignal.
Dann wollen wir doch mal sehen, ob du deinem Ruf als bester Kämpfer der Herzlande gerecht wirst, Dunkelelf, dachte Faust. Er spürte, wie das Blut in seinen Ohren pochte und packte sein Schwert fester.
Faust stürmte los, doch Drizzt war schneller. Eine Sandwolke umhüllte die heranrasende Gestalt des Dunkelelfen. Faust spürte einen unerwarteten Schmerz in der Seite, als das lichthelle Schwert seine Rüstung durchdrang, und wich eilig dem Folgeschlag aus. Das Ausweichmanöver gelang, doch auch Drizzt tänzelte zur Seite und die Schnelligkeit, mit der er sich dabei bewegte und der Sand, den sein rasender Körper aufwirbelte, hüllten die Gestalt des Drow in einen Schutzmantel der Unschärfe. Ein reflexartiges Abtasten der Wunde sagte Faust, dass sein Gegner nicht mit voller Kraft angegriffen hatte. Drizzts Säbel hatte kaum mehr als einen Kratzer hinterlassen: Er schien Fausts Defensive auszutesten. Offenbar wusste er den muskulösen Kämpfer, der sich trotz seiner körperlichen Überlegenheit nicht allein auf seine Stärke verließ, nicht einzuschätzen. Als Faust nun auf ihn zustürme, ging er einen Lidschlag bevor der Kämpfer ihn erreichte in die Knie, und kreuzte eilig die Klingen vor der Brust, um den Schlag abzuwehren. Doch Faust durchschaute sein Vorhaben, bremse scharf ab, wirbelte halb um die eigene Achse und fand einen Weg durch die Klingenbarriere. Die Halbdrehung, die Drizzt vollführte, um dem Schlag auszuweichen, bremste die Wucht des Schlags, doch völlig ungeschoren kam der Dunkelelf nicht davon. Seine Antwort war ein rasender Klingenwirbel, und diesmal hatte er offenbar gelernt: Als Faust nach dem ersten Schlag mit seinem abrupten Seitenschritt aus seiner Reichweite sprang, setzte Drizzt ihm nach: Wie ein Tänzer schien der Drow jede seine Bewegungen zu spiegeln und seine Lichtklinge durchdrang mühelos Fausts dürftige Verteidigung. Der metallene Säbel jedoch prallte an den Schutzzaubern ab, die Winter auf Faust gewirkt hatte. Der Kämpfer ergriff die Gelegenheit beim Schopfe und nutzte das Überraschungsmoment für einen Vergeltungsschlag seinerseits. Doch trotz der verringerten Schlagkraft des Dunkelelfen und seiner eigenen gezielten Vergeltungsschläge geriet Faust ins Schlingern. Der Präzisionstanz des Drow zehrte an seinen Kräften und seine gezielten Schläge in die Magengegend brachten den stämmigen Kämpfer ins Wanken.
Verdammter Hurensohn.
Er war gut – verdammt gut. Aber jeder hatte Schwachstellen. Und Faust glaube Drizzts Schwachstelle gefunden zu haben. In einer plötzlichen, unerwarteten Bewegung katapultierte er sich in die Höhe. Drizzt wich zur Seite aus, als er Faust mit einem irrwütigen Kampfesschrei auf sich zu springen sah, doch genau darauf hatte der Kämpfer spekuliert. Im Sprung vollführte er eine halbe Drehung, rollte sich ab, kam federnd vor dem Drow zum Stehen und rammte ihm mit ungebremster Wucht die Klinge in die Brust. Keuchend ging Drizzt in die Knie und hielt sich die klaffende Wunde. Verblüffung stand in seinen blassvioletten Augen. Dann Neugier. Und dann…. Von einem auf den nächsten Augenblick war Drizzt aus Fausts Blickfeld verschwunden. Im nächsten Moment wirbelte der Drow aus entgegen gesetzter Richtung auf seinen Gegner zu und sein Klingenwirbel wurde zum Orkan. Der Drow schien überall zu sein und trotz der irrsinnigen Schnelligkeit der Bewegung verloren seine Hiebe nicht an Präzision. Seine Augen glänzten vor Erregung. Und obwohl Faust jeden seiner Schläge mit einem Gegenschlag seinerseits beantwortete, spürte er, dass er im Begriff war, seinem Gegner zu unterliegen. Noch einmal legte er all die Kraft, die ihm verblieb, in einen einzigen Schlag. Noch einmal versuchte er Drizzts Präzisionstanz mit unberechenbarer Wucht zu begegnen. Doch der Drow wich seinem abrupten Ausfallschritt mit einer Seitwärtsrolle aus.
Das war’s, dachte Faust.
Und dann kam mit dem Schmerz die Dunkelheit.
Als Faust die Augen öffnete, starrte er in Mius besorgtes Gesicht. Doch die Besorgnis wich kurz darauf einem verdrießlichen Stirnrunzeln, das ihm offenbar klarmachen sollte, was seine kleine, pazifistische Begleiterin von solch blutigen Turnierkämpfen hielt.
„Beeindruckend“, fand dagegen Winter. „Ich habe zwar nicht viel gesehen außer einer wirbelnden Staubwolke, aber es war bestimmt beeindruckend.“
„Hoffentlich hat Schiefkiefer mehr gesehen als eine wirbelnde Staubwolke“, murmelte Faust.
Drizzt reichte ihm die Hand.
„Meinen Respekt“, sagte der Drow. Das todeswütige Funkeln in seinen Augen war wieder dem verhaltenen Blick des scheuen Einsiedlers gewichen. Miu hatte die tiefe Wunde in seiner Brust geheilt, doch der breite Riss in seinem Wams trug Zwiespalts Handschrift.
Faust ließ sich von ihm aufhelfen.
„Gleichfalls“, gab er das Kompliment zurück. „Aber das schreit nach einer Revanche.“
Drizzts Sieg war verdient gewesen, keine Frage, aber knapp. Faust war sich sicher, dass er nur ein wenig Übung brauchte, um den Drow zu besiegen. Er lernte schnell – verdammt schnell. Und Drizzt war ihm heute ein guter Lehrer gewesen!
Der Hauch eines Lächelns streifte Drizzts Gesicht.
„Ich bin leicht zu finden“, nahm er Fausts Herausforderung an.
Hinter ihnen ertönte rhythmisches Klappern: König Oreme war erschienen, um Drizzt klatschend zu seinem Sieg zu gratulieren. Faust schnaubte.
„War der Kampf zu Eurer Zufriedenheit, Majestät?“, brumme er.
„Exzellent, exzellent“, klapperte Schiefkiefer. „Mein bester Tag seit zwei Jahrzehnten“
„Also helft Ihr uns dabei den Kelch zu finden?“
„Nun“, sinnierte der Leichnam. „Die Trophäe gebührt ja für gewöhnlich dem Sieger, aber ich bin heute gut gelaunt, darum habt Ihr Glück, mein junger, wechselhafter Freund.“
Der Sarrukh stieß ein gutturales Gurgeln hervor und wie bereits zuvor schienen seine Worte die Wirklichkeit zu verändern: ein goldener Kelch, der halb so groß war wie König Oreme selbst, erschien in seiner Hand. Feierlich überreichte er Faust das Artefakt.
„Ein Tropfen flüssiger Sonne reicht aus, den Nesserbaum in Flammen aufgehen zu lassen“, erklärte er. „Außerdem kann euch der Kelch dabei helfen aus der Wüste zu fliehen, falls ihr tatsächlich so weit kommen sollet.“
„Ihr werdet Euch noch wundern!“
Ein keckerndes Lachen entrang sich der staubtrockenen Kehle des kauzigen alten Sarrukhs.
„Unwahrscheinlich, aber wünschenswert.“

NSCs/Gegner

Drizzt Do’Urden
Männlicher Elf (Drow)
Drow-Kämpfer 1/ Waldläufer 4/ Scout 3/ Schwertgelehrter 2/ Derwisch 10/ Sturm 2 (22)
CG Mittelgroßer Humanoider

Initiative +21
Dunkelsicht 36m
Sprachen: Gemeinsprache, Drow, Drow-Gebärdensprache
HG 23
RK 39/ 54*, Berührung 33/ 48*, auf dem falschen Fuß 28
(Rüstung +6, Derwisch +3, Sturm +1, Ablenkung +5, Ausweichen +1, Geschick +5 (geschärfte Säbel), Weisheit +6, Kompetenz +2)  
*Defensiv (+15) + Parade (+4) + Vergeltungsschlag (-4)
TP 254
ZR 33
REF +42, WIL +23, ZÄH +24, +2 gegen Zauber und zauberähnliche Fähigkeiten
Attribute: ST 21, GE 30, KO 20, IN 14, WE 22, CH 13
BR 13,5m (11 Felder) (x1 1/2 mit Hast)
GAB +20, RAB +26

Angriff (Standard-Aktion)
Normal:  +33* (1W6+11/15-20/x2)
Tänzelnder Angriff (mit Hast):  ---+34* (1W6+11+2W6 Skirmish/15-20/x2 + verlangsamt)

Voller Angriff (volle Aktion)
Hast + Derwisch-Tanz:  +38*--/+38*--/+33*--/+28*--/+23*  (1W6+17+2W6 Skirmish/15-20/x2+ verlangsamt) und +38--/+33--/+28--/+23 (1W6+17 +2W6 Skirmish + 1W6 Kälte/15-20/x2+verlangsamt)
Derwisch-Tanz + Tausend Schnitte +Hast: +38*/+38*/--+38/--+33*/+33*--/+28*/+28*--/+23*/+23* (1W6+17+2W6 Skirmish/15-20/x2+ verlangsamt) und +38/+38--/+33/+33--/+28/+28--/+23/+23 (1W6+17 +2W6 Skirmish + 1W6 Kälte/15-20/x2+verlangsamt)
Derwisch Tanz Defensiv + Hast: +23*--/+23*--/+18*--/+13*--/+8* und +23--/+18--/+13--/+8*
Derwisch-Tanz + Tausend Schnitte Defensiv: /+23*/+23*--/+18/+18*--/+13*/ +13*--/+8*/+8* und /+23*/+23*--/+18/+18*--/+13*/ +13*--/+8*/+8*
*ignoriert Rüstung
-- 1,5m-Schritt zwischen Angriffen

Waldläufer Zauber (Zauberstufe 4)
Springen (+10, 1min/St)
Blindgespür (10min/St)

Manöver und Stellungen
Stellungen
Kind der Schatten: 20% Fehlschlagschance bei Bewegung
Manöver
1.Grad
Geistesklarheit
Gegensturm: GE-Wurf gegen anstürmenden Gegner
Plötzlicher Sprung
2.Grad
Smaragdklinge
Wolfsgriff

Besondere Fähigkeiten
Drow-Kämpfer (DotU): +2 Initiative, GE statt ST auf Schaden, wenn Gegner auf falschem Fuß erwischt ist
Waldläufer: Bevorzugtes Gelände (Wald), Erzfeind  (Elfen) +4, Erzfeind (Externare) +2, Kampfstil, Spuren lesen, Tiergefährte (Guenhyvar), Tiergespür, Zauber
Scout (CAd): Skirmish (+2W6, +2 RK), Fallen finden, Kampfesklarheit (+1 Kompetenzbonus auf Initiative und ZÄH), Reflexbewegung (kann nicht afF erwischt werden), +3m Bewegungsrate, Spurenloser Schritt
Schwertgelehrter (ToB): Disziplin-Fokus (Wüstenwind), Manöver und Stellungen, Schnelle Reaktion +1, RK-Bonus (WE)
Derwisch (CW): Derwisch-Tanz 5x/Tag, Gekonnte Parade, Herausragendes Geschick, Klingenwirbel, Verbesserte Reaktion +2, Tausend Schnitte, Todestanz
Sturm (CAd): Beidhändigkeit -1, Sturmverteidigung +1
Drow: Lichtblindheit -1, ZR, Attributsmodifikatoren (GE 2, IN 2, CH 2 KO -2), zauberähnliche Fähigkeiten (1x/Tag Tanzende Lichter, Feenfeuer, Dunkelheit)

Talente:  Ausdauer, Ausweichen, Beweglichkeit, Defensive Kampfweise, Mächtiger Kampf mit 2 Waffen, Kampf mit 2 Waffen, Kampfreflexe,  Kritisch wankend schlagen (DotU), Perfektionierter Kampf mit 2 Waffen (episch), Schneller Jäger (CS), Tänzelnder Angriff,  Verbesserte defensive Kampfweise (CW), Verbesserter Kampf mit 2 Waffen, Verbesserter kritischer Treffer, Vergeltungsschlag (PH2), Waffenfinesse, Waffenfokus

Fertigkeiten: Auftreten (Tanz) 12, Entdecken 13, Entfesslungskunst 30, Klettern 9, Konzentration 22, Lauschen 13, Leise Bewegen 17, Springen 29, Turnen 36, Wissen (Natur) 9, Überlebenskunst 13

Derwisch-Tanz: 5/Tag kann Drizzt eine volle Attacke machen und sich bewegen (volle BR). Er muss jeweils einen 1,5m-Schritt zwischen den Angriffen machen und erhält einen Bonus von +5 auf Angriff und Schaden. Dauer: 12 Runden.
Gekonnte Parade Wenn Drizzt mind. -5 auf den GAB hin-nimmt, um seine RK zu steigern (Defensive Kampfweise), erhält er zusätzliche +4 auf seine RK (Ausweichen).
Herausragendes Geschick: Drizzt kann immer 10 nehmen auf Springen, Auftreten (Tanz) und Turnen.
Kritisch wankend schlagen: Macht Drizzt einen kritischen Treffer, so ist das Ziel zugleich für 1 Runde verlangsamt.
Skirmish: Drizzt macht zusätzlichen Schaden (2W6) und erhält einen Kompetenzbonus von +2 auf die RK, wenn er sich in der Runde mindestens 2F bewegt. Nur gegen lebendige Gegner.
Tausend Schnitte: 1x/Tag kann Drizzt die Anzahl seiner Angriffe verdoppeln. Kombiniert er diese Fähigkeit mit dem Derwisch-Tanz, so macht er zwischen jedem  1,5-Schritt zwei Angriffe.
Vergeltungsschlag (Talent): Wenn Drizzt einen Malus von -4 auf seine RK hinnimmt und dem Angreifer +4 auf Schaden gewährt, kann er für jeden Schlag, den sein Gegner gegen ihn ausführt, einen Gelegenheitsangriff (insgesamt 10 pro Runde) gegen ihn ausführen.

Besondere Gegenstände: Stirnreif der Weisheit +6, Beinschoner der Schnelligkeit, GE-Handschuhe +6, KO-Armschienen +6, „Blaues Licht“, „Eistod“, Mithrilkettenhemd +2 (2x nimble), Resistenzumhang +5, Schutzring +5, Onyx-Statuette, Stiefel der Bewegungsfreiheit,  Gürtel der Riesenstärke +6, Zauberspeicherring (mächtiger)

Blaues Licht: Krummsäbel +2
Strahlendes Licht: ignoriert Rüstungsbonus auf RK
Schwächend: -4 ST bei kritischem Treffer (einmalig je Gegner)
Geschärft (A&E): -5 GE von RK, +5 GE auf Schaden

Eistod: Krummsäbel +2
Frost: +1W6 Kälteschaden
Warnung: +5 Initiative
Geschärft (A&E): -5 GE von RK, +5 GE auf Schaden

Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 17. April 2010, 19:03:43
Yeah! Gefällt mir sehr gut!  :thumbup:

Die Werte von Drizzt musste auch mal posten. Finde ihn tausend mal gelungener als den offiziellen Drizzt.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 18. April 2010, 21:45:39
So, NSC-Werte von Drizzt habe ich hinzugefügt... Wenn ich irgendwann mal Zeit hab, mach ich das auch für die anderen bisherigen NSCs.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 19. April 2010, 00:17:45
Ja, diese RK 54 war echt übel...

So, Faust und Grimwardt gibts jetzt auch in der Wiki:

http://wiki.dnd-gate.de/index.php/Der_Faust (http://wiki.dnd-gate.de/index.php/Der_Faust)

http://wiki.dnd-gate.de/index.php/Grimwardt_Fedaykin (http://wiki.dnd-gate.de/index.php/Grimwardt_Fedaykin)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 28. April 2010, 02:46:27
...Wann wohl die nächste Folge kommt...  :wink:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 28. April 2010, 18:51:26
Nightmoon, geile Wiki-Einträge!!! Grims Geschichte kenn ich ja ziemlich gut, interessant, mal die von Faust so am Stück zu erfahren.
Und, ja, wann wohl die nächste Folge kommt...  :wink:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 28. April 2010, 20:03:49
Ach ja, die Achse des Guten *g*
Tja, die letzten Wochen der "Wiedereingliederung" waren etwas stressig. Ich hoffe, das wird demnächst besser - mal sehen...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 29. April 2010, 21:27:00
http://davemaclancastor.weebly.com/ (http://davemaclancastor.weebly.com/)

So, haben in der Uni gestern ein nettes Tool gezeigt bekommen, mit dem ich mal fix ne Seite gebaut habe ;)
...siehe oben
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 29. April 2010, 22:50:47
Wie geil ist das denn!  :o
Hm... wir leben schon so ein bisschen in unserer eigenen Welt, hm? ;-)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 29. April 2010, 23:04:19
Neeeeeein, ich nicht... dieser verdammte Drizzt, beim nächsten mal ist er tot...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 03. Mai 2010, 01:05:56
Kapitel XI: Sandschlund

Winter
See der Schatten, am nächsten Morgen.
Noch einmal hatte König Oreme den Gefährten geholfen. Sein Portal hatte sie an die Ufer des Schattensees geführt. In der Mitte des Sees waren im flirrenden Licht der aufgehenden Wüstensonne die fließenden Umrisse der Stadt Umbra zu erkennen. Auf einem gewaltigen Felsbrocken erbaut, der einem umgedrehten Berggipfel glich, schwebte die fliegende Stadt der Shadovar vor einer roten, pulsierenden Sonne über dem dunklen, tümpelartigen Wasser. Der See lag in einem Tal, das von einem Wehrring spitzer, speerartiger Berge umschlossen war. In der Ferne über dem Gebirge tauchten hin und wieder kleine schwarze Punkte auf: Das mussten die Sanddrachen-Patrouillen sein, vor denen der alte Sarrukh sie gewarnt hatte. Wäre es einem der Wächter gelungen, den Herrn der Stadt rechtzeitig zu warnen, so hätten sie damit rechnen müssen, bei ihrer Ankunft am See der Schatten eine ganze Armee von Umbranten vorzufinden. So jedoch war ihre Ankunft im Herzen des Schattenreichs noch unbemerkt geblieben.
An der Stelle des Ufers, die der Stadt am nächsten war, erstreckte sich eine Dattelplantage. Ein Erkenntniszauber hatte offenbart, dass Hadhrune den Quess Ar Teranthvar an diesem Ort versteckt hielt. Als die Gefährten die Plantage betraten, wurden sie vom rhythmischen Geräusch fallender Dattelbündel empfangen, die von Sklaven von den Palmen geschüttelt und sortiert wurden. So leise wie möglich schlichen die Gefährten unter den ausladenden Palmenwedeln hindurch. Doch die Sklaven beachteten sie nicht und Aufseher waren nicht zu sehen. Wohin hätten die Sklaven hier in der Wüste auch flüchten sollen?
„Diese Plantage ist riesig“, murmelte Boltor. „Wie sollen wir zwischen all den Bäumen unseren Baum finden?“
„Eine goldene Buche zwischen Palmen?“, erwiderte Winter. „Die sollte eigentlich auffallen.“
„Dann ist sie auch den Sklaven aufgefallen“, vermutete Faust und trat auf einen der Arbeiter zu. Doch der Mann schüttelte auf seine Fragen nur stumm den Kopf und wich nervös den Blicken des Fremden aus. Faust trat ihm mit verschränkten Armen in den Weg.
„Raus mit der Sprache“, drängte er. „Gibt es irgendeinen Bereich auf der Plantage, den ihr nicht betreten dürft?“
„Bitte, mein Herr“, sagte der Mann in gebrochener Handelssprache und schielte nach seinem Dattelbündel. „Muss weiterarbeiten. Sonst Ärger.“
„Hier ist kein Aufseher“, erklärte Faust. „Ich bin im Moment das einzige Problem, das dir Sorgen bereiten sollte.“
Als der Dattelpflücker versuchte sich an ihm vorbei zu schieben, packte der Kämpfer ihn plötzlich bei der Schulter, verdrehte ihm den Arm auf dem Rücken und stieß ihn mit dem nackten Oberkörper gegen eine der stachligen Dattelpalmen. Der Mann wimmerte vor Schmerz und bettelte um Gnade.
„Faust!“, rief Winter, während Miu entsetzt zusammenzuckte, doch Faust ließ nicht von dem Mann ab.
„Jetzt red’ schon!“, zischte er. „Ich hab’ nicht den ganzen Tag Zeit.“
„Bitte“, schluchzte der Sklave. „Nicht schlagen! Kein goldener Baum!“
Winter packte Faust bei der Schulter.
„Verdammt, Faust, was ist in dich gefahren?!“, versuchte sie den Kämpfer zur Vernunft zu bringen. „Willst du ihn umbringen? Er ist ein Sklave! Selbst wenn er etwas wüsste, würde es ihm wahrscheinlich den Tod bringen, zu reden!“
Mit einem Schnauben ließ Faust von dem Mann ab. Miu kniete sich eilig zu dem Verwundeten, um sich seine Verletzungen anzusehen. Als sie zu Faust aufsah, war ihr Blick voller Schmerz. Der Kämpfer wandte eilig den Blick ab und murmelte etwas Unverständliches.
„Können wir uns jetzt alle wieder beruhigen und mit der Suche fortfahren?“, brummte Grimwardt.
Sie suchten weiter und gelangten schließlich in einen Bereich der Plantage, wo keine Sklaven zu sehen waren. Die Dattelpalmen waren hier bereits abgeerntet und Bastkörbe mit den Früchten lagerten übereinander geschichtet im Schatten der Palmwedel. Als sie weiter in die abgeerntete Zone vordrangen, gelangten sie zum Ufer des Schattensees.
„Dort!“, rief Winter und wies in südliche Richtung. Zwischen den Palmen, in Sichtweite der fliegenden Stadt, stand der Baum aus Razeemas Vision: Klein und verloren wirkte der schmale Elfenbaum zwischen all den bauchigen Dattelpalmen. Nur noch wenige goldene Blätter hingen an seinen Zweigen und die Vielzahl der schwarzen, verschrumpelten Schriftrollen, die am Boden um den Stamm verstreut lagen, zeugten davon, dass das Ritual schon fast vollendet war, das den Baum in seine ursprüngliche Form zurückverwandeln sollte.
Die Gefährten sahen einander an. Was nun? Winter war sich sicher, dass der Baum von mächtiger Schattenmagie geschützt wurde, doch wie konnten sie dem entgehen, wenn ihnen selbst keine Magie zur Verfügung stand? Handeln und hoffen war die einzige Strategie, auf die sie bauen konnten. Mit dem Kelch des Amanautor in einer und seinem Schwert in der anderen Hand trat Faust vor. Kaum hatte er sich dem Baum auf fünfzig Schritte genähert, begann der Sand vor seinen Füßen lebendig zu werden. Sandschlieren krochen, von einem unmerklichen Windhauch bewegt, über den Boden und formten sich zu zwei wirbelnden Windhosen aus Sandstaub, die sich schneller und schneller in die Höhe schraubten und dabei die umstehenden Palmen entwurzelten. Der Sandsturm vernebelte die Sicht auf den Quess Ar Teranthvar und aus dem Zentrum der Sandhosen materialisierten sich zwei riesenhafte humanoide Kreaturen aus purem Sand.
Sandgolems.
„Versucht den Baum zu erreichen“, schrie Faust Winter und Miu über den aufkommenden Orkan hinweg zu und warf Winter den Kelch zu. Dann hob er sein Schwert und stürmte los. In wenigen Augenblicken hatte Winter ihn und die anderen aus dem Blickfeld verloren. Der Sandstaub war überall. Eilig zog sie sich ihr Halstuch über Mund und Nase, tastete nach Mius Hand und rannte mit ihr  los. Sie machten einen Bogen um die beiden Golems und erreichten den Quess Ar Teranthvar. Die Zweige des Baums bogen sich im Wind und rissen an den letzten goldenen Blättern.
Beeilt Euch, ich kann die Magie nicht lange aufrechterhalten.
Winter tauschte einen erstaunten Blick mit Miu: Ja, auch sie hatte die telepatische Nachricht empfangen. Die Stimme in ihrem Geist klang schwach und verzerrt. Ihr Blick fiel auf eine winzige Gestalt im Geäst des Baumes: die Saphirspinne. Tyvollus, der Erschaffer des Quess Ar Teranthvar, musste einen Weg gefunden haben, das antimagische Feld im Umkreis um den Baum außer Kraft zu setzen. Ihr magischer Blick sagte ihr, dass auch sie selbst wieder zaubern konnte.
„Ich versuche es“, konnte sie noch auf Tyvollus’ Nachricht antworten, ehe die gewaltige Faust des Sandgolems sie in die Magengrube traf und in den Sand schleuderte. Hustend und würgend rappelte sie sich auf und ging hinter dem Stamm des Elfenbaums in Deckung. Während Miu stumm zu ihren Ahnen betete, um gesegnetes Wasser zu erschaffen und das Ritual zu initiieren, welches das Artefakt zerstören sollte, gewahrte Winter eine Bewegung über dem Schattensee. Ein wirbelnder Säureball schoss dicht über der Wasseroberfläche auf die betenden Miu zu. Winters Warnruf kam zu spät und das Geschoss hinterließ böse Verätzungen auf der bloßen Haut der Karaturianerin.
Winter stellte sich schützend vor Miu, um sie zum See hin abzuschotten, und blickte dem Angreifer entgegen: Ein Nachtmahr, ein pechschwarzes Streitross, dem Feuer und Rauch aus den Nüstern stoben, galoppierte mit flammenden Hufen durch die Luft. Auf seinem Rücken ritt eine Gestalt in schwarzen Roben mit einem gewundenen Zauberstecken. Obgleich sie ihn noch niemals gesehen hatte, erkennte Winter ihn sofort: Das musste Prinz Hadhrune sein. Die Aktivierung der Sandgolems hatte den jüngsten Sohn des Hochprinzen von Umbra auf den Plan gerufen.

Grimwardt
Grimwardts Axt traf kaum auf Widerstand, als sie den Unterschenkel des Sandriesen durchstieß. Doch der Angriff riss den Golem in die Knie und die massige Sandgestalt fiel in sich zusammen. Gleichzeitig katapultierte sich Faust im Sprung auf den zweiten Sandriesen zu. Sein Körper durchstieß die Sandwand und der Golem explodierte in einer Wolke aus Sandstaub.
Als sich der Sandsturm um die gefallenen Gegner gelegt hatte, klärte sich Grimwardts Sicht ein wenig: Vom See her kommend galoppierte der fliegende Reiter auf die Gruppe zu. Hadhrunes Gesicht lag im Schatten, doch sein Zauberstecken war auf die Gefährten gerichtet. Das Ende des Steckens erstrahlte für einen Augenblick in gleißendem Licht. Als sich der blendende Film über seinen Augen verflüchtigte, hatte sich über den See der Schatten ein Teppich aus flimmernden Luftspiegelungen gelegt, der sich mit rasender Geschwindigkeit dem Ufer näherte. Miu war das erste Opfer des Illusionsschleiers: Mit schreckverzerrtem Blick ließ sie den Kelch fallen und floh, wie von zwanzig Teufeln gejagt, in die Wüste. Winter hinter ihr packte ihr Rapier und schlug wie von Sinnen um sich. Faust und Boltor schließlich begannen mit entleerten Blicken Unsinnssätze vor sich her zu plappern wie zwei schwachsinnige Gelehrte.
Bloß ein Trugbild, dachte Grimwardt, eine Fata Morgana.
Er schloss die Augen, um der Illusion des Magiers zu entgehen, doch die flimmernden Farben folgten ihm in die Dunkelheit. Vergeblich versuchte Grimwardt sich gegen den Farbnebel zu stemmen. Wabernde Blasen aus Schmerz und Grauen zerplatzen vor seinen Augen und fraßen sich wie hungrige Nagetiere in seinen Verstand.
Dann war es vorbei. Als er aufwachte, kauerte er orientierungslos im Sand. Faust, dessen rechte Gesichtshälfte mit Brandblasen übersäht war, richtete sich gerade wankend neben ihm auf. Von Winter und Boltor fehlte jede Spur und Miu musste längst von der Plantage geflohen sein. Und wo war…? Tempus steh uns bei: Der Kelch des Amanautor war verschwunden.
„Habt Ihr geglaubt, ihr könntet hier einfach so hereinspazieren und die Arbeit von Jahrzehnten zerstören?“ Hadhrune und sein Ross harrten bewegungslos einige Meter vor dem Ufer über dem See. Noch immer war unter der Kapuze des Umbranten kein Gesicht zu erkennen, das diese Worte gesprochen haben könnte.
„Feiger Hund!“, knurrte Faust.
„Ich hol’ ihn da runter“, brummte Grimwardt.
Der Kriesgspriester sprach ein Gebet und Tempus ließ über dem Nachtmahr die Umrisse einer riesigen Hand aus reiner Energie entstehen. Das Höllenpferd stieß ein erbostes Wiehern aus, als das Energiegebilde es mitsamt seinem Reiter zu Boden zu drücken begann. Gleichzeitig sprinteten Grimwardt und Faust los, um beide im seichten Uferwasser in Empfang zu nehmen. Ein einziger Axthieb genügte, um dem riesigen Tier den Kopf abzusäbeln. Eine Blutfontäne ergoss sich über die beiden Kämpfer und färbte die Wasser des Schattensees rot, während Faust dem strauchelnden Reiter mit einem Triumphschrei die Klinge seines Krummschwerts in die Seite rammte. Der Prinz von Umbra erstarrte, als das Schwert ihn durchbohrte. Dann löste er sich auf.
Eine Illusion, erkannte Grimwardt. Der Schwarzmagier hatte ein Schattenbild erschaffen, um sie zu täuschen. Der echte Hadhrune musste den Kelch an sich genommen haben und verschwunden sein. Doch wo hatte er sich versteckt? Grimwardts magischer Blick, der für gewöhnlich jede Illusion zu durchschauen vermochte, hatte keine magische Aura enthüllt. Dann hörte er ein magisches Zischen und ein grüner Strahl schoss pfeilschnell auf den verletzten Faust zu. Der Kämpfer widerstand der tödlichen Magie des Auflösungsstrahls, doch der Säureball, der folgte, traf ihn mit voller Wucht.  
„Schnell!“, keuchte Faust, der sich nur noch mit Mühe aufrecht zu halten vermochte. „Er versucht zu fliehen!“
Früh am morgen hatte der magisch begabte Kämpfer einen Zauber gewirkt, der ihn vor bevorstehenden Teleportationen warnte. Nun flüsterte er eilig eine Formel, die den Unsichtbaren am Flüchten hindern sollte. Doch Hadhrune würde nicht lange dafür brauchen, Fausts Zauber zu bannen. Und noch immer konnte Grimwardt nichts erkennen! Blind hechtete er in die Richtung, aus welcher der Auflösungsstrahl gekommen war und schlug zu.
Tempus, lenke meine Hand und stärke meine Faust wie meinen Geist!
Der erste Schlag ging ins Leere, doch der zweite dritte traf auf Widerstand. Der Umbrant keuchte auf, als die Streitaxt ihn streifte. Zwei weitere kraftvolle Axthiebe trafen ihn tödlich und die Unsichtbarkeit fiel von dem Getroffenen ab. Hadhrune von Umbra ging vor Grimwardt in die Knie und zum ersten Mal blickte der Kriegspriester in das Gesicht seines Gegners: schwarze, pupillenlose Augen starrten ihm aus dem grauen wutverzerrten Gesicht des Schattenmagiers entgegen.
„Er wird mich rächen.“
Hadhrunes düsterere Prophezeiung ging in einer Blutfontäne unter, die sich aus seinem Mund ergoss. Demütig sank Grimwardt neben dem Sterbenden auf die Knie und stützte sich auf seinen Schild.
Herr von Kriegersruh, ich danke Dir für diesen Kampf und preise deine Stärke und Größe.
„Das Ritual, schnell!“, rissen Fausts Worte den Priester aus seinem Gebet. Grimwardt erhob sich und folgte dem Blick seines Gefährten: Am östlichen Horizont hatte sich eine Sandwand aufgetürmt, die mit der Wucht einer Schneelawine näher rollte. Im Zentrum der Sandwand formte sich das hagere, wutverzerrte Gesicht eines brüllenden, kahlköpfigen Magiers. Entwurzelte Palmen wurden von den Sandmassen mitgerissen und verschwanden im Schlund des Hochprinzen von Umbra. Panische Schreie erklangen, als das gewaltige Gebilde wie ein trampelndes Monster über die Plantage hereinbrach und die ersten Sklaven der Sandlawine zum Opfer fielen.
Grimwardt ergriff den Kelch, den Faust ihm entgegen hielt, und kniete sich vor dem Quess Ar Teranthvar in den Sand. Während Faust seinen Körper als Schild benutzte, um Priester und Baum vor dem Sandsturm abzuschirmen, der dem Sandschlund vorauseilte, füllte Grimwardt den Kelch mit heiligem Wasser und entfernte die goldenen Siegel vom Rand des Kelches wie der Sarrukh es ihnen erklärt hatte. In das heilige Wasser getaucht, verflüssigten sich die Siegel und vermischten sich mit dem Wasser zu einer goldgelben, zähflüssigen Substanz. Ohne zu zögern kippte Grimwardt das Gebräu auf die Wurzeln des Quess Ar Teranthvar. Für einen Moment trafen seine Blicke die saphirblauen Augen Tyvollus’. Dann ging der Baum in Flammen auf und die letzten verbliebenen Blätter an seinen Zweigen verschrumpelten innerhalb von Sekunden und lösten sich in Nichts auf. Doch mit den Nesserrollen starb auch der elfische Beschützer des Baums, der die Magie bis zum Ende aufrechterhalten hatte.
„MIU!“, hörte Grimwardt Faust gegen den Sturm anbrüllen. Er blickte über die Schulter und erkannte undeutlich die kleine Karaturianerin, die auf der Flucht vor dem Sandschlund um ihr Leben rannte. Die Sandwand war bereits so nah, dass sie den Himmel fast vollständig verdunkelte. Während Miu keuchend und erschöpft in Fausts Armen Zuflucht suchte, schaufelte Grimwardt gehetzt Sand in den Kelch, um das zweite Ritual einzuleiten, das sie von hier fort bringen sollte. Keine Sekunde zu früh spürte der Priester das ersehnte Flimmern, das ein Überlagern der Dimensionen ankündigte. Grimwardt schloss die Augen.
Als er sie wieder öffnete, fanden sich Faust, Miu und er schwer atmend auf dem weißen Boden einer marmornen Halle. Angenehme Kühle umfing sie und helles Tageslicht fiel durch die hohen Fenster des strahlenden Gebäudes. Grimwardt erkannte, dunkel gegen die Helligkeit der Fenster, die Umrisse einer weiblichen Gestalt, die durch die Halle auf sie zuschritt.
„Grim?“
Der Priester stutzte.
„Winter? Was machst du hier?“
Seine Schwester kniete sich neben ihm zu Boden.
„Ich glaube, es war ein Zauber Hadhrunes, der mich hierher gebracht hat“, erklärte sie. „Wohl ein Zufall. Ist der Baum zerstört? Und wo ist der Zwerg?“
„Die Nesserrollen sind zerstört und der Zwerg war plötzlich verschwunden.“
Für einen Augenblick schloss Grimwardt die Augen und spürte, wie Mius heilendes Gebet seine müden Glieder erfrischte.
„Wohin nun?“, fragte Winter nach einer kurzen Verschnaufpause.
„Ich finde, wir sollten Miu entscheiden lassen“, fand Faust. „Sie ist die einzige, die uns im Moment zurück nach Faerûn bringen kann.“
Grimwardt und Winter gaben diesem Vorschlag ihre stumme Zustimmung und die Karaturianerin kniete sich zum Gebet mit dem Gesicht zur Sonne.

Gegner:

Hadrhune
Männlicher Umbrant
Magier 10/ Schattenadept 10 (20)
CB Mittelgroßer Humanoider
HG 22
Initiative +6, Dunkelsicht, Dämmersicht
TP  183 (93 Schattendouble)  
RK 35* (Schattendouble 20), Berührung 25 (Schattendouble 20) * mit Schattenschild
Fehlschlagschance: 50% (Verbesserte Unsichtbarkeit) oder 20% (Schattenschild)
SR: 10/ Adamantium (Steinhaut)  
Schnelle Heilung 2
ZR 31 (im Schatten) oder 22 (immer)
REF +13, WIL +20, ZÄH +16 (+3 gegen Nekromantie und Verz.), kann nicht von geistesbeeinflussenden Zaubern betroffen werden
Attribute: ST 10, GE 22, KO 23, IN 31, WE 14, CH 18
Sprachen: Gemeinsprache, Netherese, Drakonisch, Condathanisch
BR 15 m (10 Felder) (im Schatten) oder 9m (6 Felder)
Voller Angriff +15/+10 Dunkler Stecken (1W6+2+1W6/1w10 Kälte-schaden) (Schattendouble)
Nahkampf: +10, Fernkampf +17
Zauber:
Zauberstufe: 25 mit Schattengewebe-Knoten, 24 Verwandlung & Hervorrufung, 26 Nekromantie & Verzauberung  
9.Grad (5)
Wehgeschrei der Todesfee (1 Kreatur/Stufe, ZÄH 32)
**Zeit anhalten (1W4+1 Runden frei agieren)
Vampirgriff, schnell und maximiert
Säurekugel (schnell) (2x)  
8.Grad (5)
Dimensionsschloss
Schillerndes Muster (Verwirrung in 4F-Radius für 1W4 R, kein RW)
*Geistesnebel
Polarstrahl (kein RW, 26W6 Kälteschaden)  
*Verbesserte Unsichtbarkeit (1min/St, auch gegen Geruchsinn & Blindgespür, nur mit Wahrer Blick zu sehen)
7.Grad (6)
Vampirgriff, schnell + maximiert
*Mächtige Teleportation
*Projiziertes Ebenbild
Zauber zurückwerfen (1W4+6 Zauberstufen auf Wirker zurück)
*Wahrer Blick
6.Grad (6)
Mächtige Kugel der Unverwundbarkeit
Vampirgriff, schnell
Mächtige Magie bannen (3x)
Todeskreis (ZÄH, 26W4 TP an Kreaturen  in 6F Radius)
5.Grad (6)
Berührung der Nacht (15W6 +1W6+2 KO bei missl. ZÄH 28)
Verzauberung brechen
*Dimensionshüpfer (schnell, teleportiert 9m pro Runde als Bewegungsaktion, 1R/St) (2x)
4.Grad (6)
Bewegungsfreiheit
Säurekugel (15W6 + Übelkeit bei misslungenem ZÄH 25) (3x)
*Strahlablenkung
Mächtige Spiegelbilder
Sandfusion
*Steinhaut
3.Grad (7)
Gasförmige Gestalt
Fliegen (2x)
Vampirgriff (kein RW, 10W6, Schaden als temporäre TP)
Mächtige Magierrüstung
Dunkelheit
Hellsehen/-hören
Unauffindbarkeit
2.Grad (7)
Gestalt verändern (3x)
Unsichtbarkeit (3x)
Geisterhafte Hand
1.Grad (7)
Stilles Trugbild
Federfall
Geräuschkugel (2x)
Magisches Geschoss (2x)
0.Grad (4)
Magie entdecken (2x)
Gift entdecken
*zu Anfang des Kampfes bereits gewirkt
Zauberähnliche Fähigkeiten (nur im Schatten): Unsichtbarkeit 1/Tag (20 min), Schattenbilder 3/Tag (wie Spiegelbilder, 1W4 +6), Schattenweg alle 2 Runden (verschwindet und taucht 90m weiter wieder auf, Bewegungsaktion), Schattenwandel 1/Tag (wie Mächtiges Teleportieren)
Besondere Eigenschaften: Schattenverteidigung, Schattenschild, Schattendouble
Talente: Arkane These (Vampirgriff), Bösartige Magie, Hartnäckige Magie, Kernschuss, Knotenmagie, Plötzlicher gestenloser Zauber,  Präzisionsschuss, Schattengewebemagie, Schnell zaubern, Schriftrolle herstellen, Strahl spalten, Verstärkter Zauber, Zauber maximieren, (Mächtiger) Zauberfokus (Nekromantie), Zauberndes Wunderkind
Fertigkeiten: Wissen (Arkanes) +33, Zauberkunde +33, Konzentration +31
Besondere Ausrüstung: Geschicklichkeitshandschuhe +6, Stirnreif des Intellekts +6, Konstitutionsarmschienen +6, Hadrhunes Dunkler Stecken (+1, Einsinferno, Entzug von Lebenskraft, Grimwalds Graumantel, Projiziertes Ebenbild, Schattenbänder  33 Ladun-gen), Schwarze Robe des Erzmagiers, Amulett der natürlichen Rüstung +5

2 Verbesserte Sandgolems
N Riesiges Konstrukt
Initiative -1, Dunkelsicht, Dämmersicht
HG 17
RK 27, Berührung 6, auf dem falschen Fuß 27
TP  271
REF +12, WIL +11, ZÄH +12
Attribute: ST 37, GE 7, KO -, IN -, WE 11, CH 1
BR 6m (4 Felder)
SR: 10/ Adamantium + Wucht
ZR: 100%
GAB +31; RAB +52
Angriff +42 Hieb (4W8+13)
Voller Angriff: +42/+42 Hieb (4W8+13)
Reichweite 3F
Immunitäten: Betäubung, Erschöpfung, Entkräftung, Elektrizität, Gift, Krankheit, Lähmung, Schlafeffekte, Todeseffekte, Lebenskraftentzug, alle Effekte, die einen Zähigkeitswurf erfordern
Besondere Angriffe Verlangsamen, Ersticken, Sandstaub
Verlangsamen: wie Zauber (WILL SG 17) als schnelle Aktion
Sandstaub: -4 auf GE-basierte Würfe und Entdecken
Ersticken: durch Sand, der die Körperöffnungen des Gegners dringt: Konstitutionswurf SG 10 (jede Runde erhöht sich der SG um 1) oder ersticken in der nächsten Runde (erste Runde 0 TP, dann -1)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 03. Mai 2010, 18:13:34
Machst du dir beim Leiten eigentlich Notizen? Vieles wüsste ich gar nicht mehr so genau aber dann fällts mir beim lesen wieder ein... sehr cool wieder und das war auch einfach n echt harter Tag... eine Begegnung nach der Nächsten und dann das was jetzt noch kommt... bin gespannt!  :thumbup:
Habs auch direkt auf die Seite mit aufgenommen.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 03. Mai 2010, 19:40:00
Bisher nicht, aber ich habe ja meist die Notizen zu den Abenteuern und eure Reaktion fällt mir dann beim Durchlesen ein. Aber ich merke langsam, dass in-game-Notizen 'ne gute Idee wären; viel habe ich auch vergessen, aber gut, wenn's keinem auffällt ;-)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 03. Mai 2010, 20:09:29
Das war echt ein anstrengender Spieltag. Und als der Typ sich den Kelch geschnappt hatte, dachte ich, oh nein...! Wie sollen wir da jetzt wieder ran kommen???

Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 04. Mai 2010, 01:01:11
Ja, dachte ich auch... aber das war auch n fieser Zauber... ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 10. Mai 2010, 02:30:34

Kapitel XII: Aus dem Nebel


Faust
Nebel. Faust lief ein Schauer über den Rücken, als die Dunstschlieren seinen Körper hinauf krochen. So hatte es auch damals angefangen… Der Kämpfer blinzelte und sah sich um. Undeutlich erkannte er Gemäuer und Türme, die wie verschleierte Bräute hinter der Nebelschicht harrten. Wo war er? Und wo waren die anderen? Faust rief nach seinen Gefährten, doch er erhielt keine Antwort.
Verdammt, Miu, wo hast du uns hingeführt?
In einiger Entfernung hörte Faust Schlachtenlärm, doch hier war alles ruhig. Dann stieß er gegen etwas Weiches und blickte nach unten: Leichen. Der Platz war übersäht mit den toten Körpern von Elfen und Menschen. Die Elfen wiesen Brandwunden auf und waren zum Teil bis zur Unkenntlichkeit verbrannt; die meisten der Menschen dagegen schienen durch Waffengewalt zu Tode gekommen zu sein. Als Faust sich zu einem der Gerüsteten hinunterbeugte, erkannte er auf seiner Brustplatte das Emblem des Schwarzen Netzwerks. Er musste in Myth Drannor gelandet sein. Und die Allianz hatte bereits mit voller Härte zugeschlagen.
Plötzlich eine Bewegung. Reflexartig fuhr Fausts Hand an den Knauf seines Schwerts. Ein Elf, ungerüstet aber mit einem kostbaren Bastardschwert in der Hand, irrte schwer verletzt über das Schlachtfeld.
„Hey!“
Faust ging auf den Fremden zu und fing ihn auf, als er zusammenbrach. Pures Entsetzen stand in den Augen des Elfenkämpfers.
„Wohin haben sie mich diesmal geführt?“, flüsterte er, dem Delirium nah.
Faust fuhr ein eiskalter Schrecken in die Glieder, als ihm bewusst wurde, in welcher Sprache er diese Worte gesprochen hatte - eine Sprache, die er beinahe vergessen hatte. Eine Flut zusammenhangloser Erinnerungen überrollte ihn. Erinnerungen an die Zeit, nachdem die Nebel ihn in jene eigenartige Welt voller Grauen und Tod entführt hatten.
Rabenhorst, die Nebel….
Ein schrecklicher Gedanke durchzuckte ihn. Nein! Nein, er wollte nicht wieder zurück! Er hatte seinen Weg gefunden. Rabenhorst hatte ihn gehen lassen. Die Nebel hatten ihn entlassen. Warum waren sie nun zurückgekehrt? Faust schloss die Augen und versuchte die Panik niederzukämpfen, die ihn in die Dunkelheit zu reißen drohte.
Konzentrier dich.
Er bettete den verwundeten Elfen mit dem Rücken gegen eine Steinmauer. Dann stutzte er. Etwas an dem Sonnenelf kam ihm bekannt vor. Die harten Züge seines goldbraunen Gesichts, die rasiermesserscharfen Wangenknochen, sein langes Elfenhaar…
„Tyrael?“
In seinem Fieberwahn schien der Elf seine Umgebung kaum wahrzunehmen. Trotzdem glaubte Faust ihn zu kennen – aber nicht aus Rabenhorst. Die Erinnerungen, die er weckte, waren klarer als die albtraumhaften Zerrbilder aus der Anderswelt: Faust war sehr jung gewesen, als er einem geheimnisvollen Freund seines verschollenen Vaters in die Stadt Rabenklippe gefolgt war und seine Kampfausbildung bei den Neun Schwertern begonnen hatte. Keiner der anderen Rekruten hatte Faust das Wasser reichen können – keiner bis auf Tyrael. Faust und er waren wie Feuer und Eis gewesen. Unzählige Male hatten Tyraels elfischer Hochmut und seine menschenverachtenden Hassreden Faust zur Weißglut getrieben und sie hatten sich bis aufs Blut bekämpft. Nur bis zum Äußersten war keiner der beiden je gegangen, denn Ehre und ein heimlicher Respekt für die Kampfkunst des anderen hatten sie davon abgehalten. Doch all das hatte sich geändert, als… Faust runzelte die Stirn. Ja, da war noch eine Erinnerung, aber sie kauerte im Schatten, so als versuche sein Gewissen, sie von ihm fernzuhalten.
„Noch so ein Elfenfreund! Ich dachte, ich hätte euch alle erwischt“, durchschnitt eine dunkle, diabolische Stimme Fausts Gedanken und ein Schatten fiel über ihn. Noch ehe sein Blick die Bedrohung erfasst hatte, hatte seine Hand wie von selbst sein Schwert aus der Scheide gerissen. Die massige Gestalt eines Höllenschlundteufels kreiste mit dramatisch entfalteten Schwingen über dem Schlachtfeld. Gelbe Glut und unstillbarer Durst loderten in den Augen des mächtigen Höllenherrn.
Faust spürte, wie Zwiespalt in seiner Hand vibrierte. Eigenartige Farbreflexionen spiegelten sich auf der Klinge des Krummschwertes und Faust meinte zischelnde Stimmen in seinem Geist zu hören. Er blinzelte überrascht: Er konnte nicht verstehen, was die Stimmen sagten, doch etwas in ihm verspürte einen unwiderstehlichen Tötungsdrang: Zwiespalt wollte, dass er den Teufel angriff. Das Schwert seines Vaters schien einen eigenen Willen zu besitzen.
Dann fuhr der erste Feuerball mit infernaler Wucht auf Faust nieder. Er fluchte.
„Stellst du dich mir Mann gegen Mann oder muss ich zu dir hochkommen?“, schnaubte er, während er zur Seite wegrannte, von Tyrael fort, um den Bewusstlosen vor weiteren Flächenzaubern zu schützen. Der Teufel lachte düster und katapultierte sich im Sturzflug auf den Herausforderer zu. Seine Bissattacke brannte wie Feuer und zwang Faust in die Knie. Schwefelgeruch und schwelende Hitze benebelten seine Sinne. Doch Zwiespalts Euphorie färbte auf ihn ab und das Schwert überzog den Gegner mit einem rasenden Klingenwirbel. Der Höllenschlundteufel brüllte vor Wut, als die Klinge seine Haut aufschlitzte wie eine Orangenschale, und antwortete mit einem schmetternden Prankenhieb. Seine Krallen rissen eine hässliche Wunde in Fausts Kehle, doch während sein Gegner noch mit dem Schwanz zum Folgehieb ausholte, wirbelte der Kämpfer bereits um die eigene Achse, katapultierte sich in die Höhe, sprang von hinten auf den Teufel zu und zertrümmerte das Schlüsselbein seines Gegners. Unbeholfen wie eine verletzte Fledermaus schlug sein Gegner mehrmals mit den Flügeln, ehe es ihm gelang, vom Boden abzuheben und sich aus Fausts Reichweite treiben zu lassen. Sein Gesicht war eine Fratze aus Zorn und Schmerz, als er mit bebendem Finger auf Faust wies und mit einer zischenden Zauberformel die Feuer der Hölle auf den Schwertkämpfer herab beschwor.
Faust spürte wie seine Haut in der Glut zu schrumpeln begann, noch ehe er die Säule aus gleißendem Licht auf sich niederstürzen sah. Dann explodierten zu allen Seiten Feuerkugeln und sein Körper schien in der erbarmungslosen Hitze zu Staub zu zerglühen.

Grimwardt
„Grim! Faust! Miu! Wo seid ihr?“
Grimwardt hörte Winters Rufe, doch der Anblick, der sich ihm bot, als die Nebel sich lichteten, erstickte seine Antwort. Er stand vor den Toren Myth Drannors. Der Schutzwall der Stadt war an mehreren Stellen durchbrochen und Rauchsäulen hinter den Mauern ließen vermuten, dass die meisten Angreifer die Stadt bereits gestürmt hatten. Doch noch immer gab es hier und dort Elfen und Menschen, die auf den Feldern verbittert um ihre Heimat kämpften. Das Verschwinden der Antimagie (mochten die Götter wissen, wie es dazu gekommen war) hatte den Vorteil der Angreifer zunichte gemacht und den Verteidigern neuen Mut gegeben. Doch zu viele ihrer Gefährten lagen im Staub. Unter ihnen erkannte Grimwardt viele bekannte Gesichter. Der Abteivorsteher ballte die Fäuste, als er den Blick über das Schlachtfeld gleiten ließ. Melgrent, Godwart, Ravel... Sie alle waren Novizen in seiner Abtei gewesen. Doch es waren nicht die Toten, die Grimwardt die bleiche Wut ins Gesicht trieben. In einiger Entfernung hatten die Nebel den Verursacher all der Verwüstung enthüllt: eine unförmige, felsenartige Kreatur. Der Zwerg Borgo und zwei weitere Tempuskrieger seiner Abtei kämpften verbissen gegen das Geschöpf, doch sie waren erschöpft und dem Ende nahe und ihre Waffen hinterließen kaum Wunden in der krustenartigen Haut ihres Gegners. Dort, wo die Platten der Umpanzerung des Ungeheuers aufeinander trafen, enthüllten sie Lavaströme, die unter der Haut des Wesens pulsierten. Grimwardt erkannte, dass nur perfide Magie ein solches Wesen erschaffen haben konnte. Er erhob seine Axt.
„Graum Auskovyn!“, brüllte er über das Schlachtfeld nach dem dunkelelfischen Clanführer, der in seiner Abwesenheit die Abtei des Schwertes erobert hatte. „Zeig dich mir, du elender Schurke!“
„Dort oben.“ Winter war neben ihren Bruder getreten und wies in den grauen Mittagshimmel. „Er ist unsichtbar.“
„Hol ihn da runter“, knurrte Grimwardt ohne den Blick von der monströsen Schöpfung des Drowmagiers zu wenden. Dann stürmte er los, während Winter einen Flugzauber sprach und selbst unsichtbar wurde.
„Für Ehre und Glorie!“, brüllte Grimwardt mit Inbrunst, während er über das Schlachtfeld stürmte. Sein Zorn und der Segen des Feindhammers verliehen ihm eine Größe und Schrecklichkeit, die seine Leute für einen Augenblick innehalten ließ. Gleichzeitig eröffneten die beiden unsichtbaren Magier den Kampf und der Himmel explodierte in einem magischen Feuerwerk, sodass es den Kriegern scheinen musste, als sei Tempus in menschlicher Gestalt zur Erde herabgestiegen. Der Gedanke gab ihnen neuen Mut und belebte den Funken der Hoffnung in ihren mutlosen Gesichtern.
„Aus dem Weg, Borgo, der gehört mir!“
Der Zwerg und die Rekruten sprangen zur Seite, als Grimwardt heran raste, und seine Streitaxt drang ungehindert  durch den Krustenpanzer des Ungeheuers. Das Geschöpf stieß einen jaulenden Jammerlaut aus, der in seltsamem Kontrast zu seiner monströsen Gestalt stand.  Für einen Moment schien es so, als wolle die riesenhafte Kreatur aus dem Kampf fliehen, doch dann fügte sie sich dem Willen ihres Schöpfers. Einen Augenblick zu spät hob Grimwardt seinen Schild. Ein schmetternder Prankenhieb traf seinen Schädel und ein weiterer seinen Unterleib. Ihm drohte schwarz vor Augen zu werden, doch der Tempus-Priester besiegte die aufkeimende Übelkeit und holte zum Gegenschlag aus. Im selben Moment wirkte Winter ihren mächtigsten Zauber, Doriens magisches Vermächtnis. Das Monster ging in die Knie, als eine Welle negativer Energie alle Flüssigkeit aus seinem Körper sog. Schmerz und Leid spiegelten sich auf seinem von Narben entstellten Gesicht, sodass sich Grimwardts Todesstoß wie ein Gnadenstoß anfühlte. Als die Axt das Herz des Wesens durchbohrte, begannen seine Gesichtszüge zu zerfließen und die Magie, die es im Leben zusammen gehalten hatte, wich aus seinen Gliedern. Der Lavariese schrumpfte zu einer erbärmlichen Kreatur zusammen, die halb Grimlock und halb Troll zu sein schien: Sie war blind und gesichtslos und ihr massiger, unförmiger Körper war von grünlichem Schleim überzogen.
„Meister“, waren ihre letzten Worte und sie hob mit einer kraftlosen Geste die Hand.
Grimwardt folgte der Geste des Halbtrolls mit den Augen und sprach ein Gebet. Der magische Blick, den Tempus ihm gewährte, enthüllte die kämpfenden Gestalten von Winter und dem Drow, deren wildes Zauberduell den Himmel in ein farbenprächtiges Kunstwerk aus Strahlenfächern und Energiebällen verwandelt hatte. Graum Auzkovyn trug sein Haar kurz geschoren und sein Gesicht war zur Hälfte von einer bunten Maske verdeckt - das Erkennungsmerkmal der Anhänger Vhelrauns. Seine Roben waren an einer Seite völlig verkohlt und enthüllten Brandblasen, die sich über seine ganze rechte Körperhälfte zogen. Winter dagegen schien den Kampf weitgehend unbeschadet überstanden zu haben. Strähnen ihres Feuerhaars umtanzten ihr Gesicht und ihre grünen Augen glänzten vor Erregung. Freudige Erregung, wie Grimwardt erstaunt feststellte: Sie genoss diesen Kampf. Und zum ersten Mal sah er seine Schwester so wie ihre Gegner sie sehen mussten: als eine der mächtigsten Zauberinnen Faerûns, gefährlich und von tödlicher Schönheit.
Graum zischte wütend, als er erkannte, dass er im Begriff war, den Kampf zu verlieren, und schleuderte einen schwarzen Strahl auf seine Gegnerin. Doch der Zauber prallte an Winters unsichtbarem Schutzschild ab und wurde auf den Drow zurück geworfen. Die Wucht seines eigenen Geschosses sandte Graum schleudernd durch die Luft und er schlug ächzend in Grimwardts Reichweite auf dem Boden auf.
„Nicht!“, rief der Priester, als Winter zu einer weiteren Formel ansetzte, um ihm den Rest zu geben. „Er gehört mir.“
Wortlos näherte sich Grimwardt seinem Erzfeind und wuchtete seinen Schild einen Finger breit vor Graums Nasenspitze in den Boden, sodass der Drow zusammenzuckte. Dann stellte er seinen Fuß auf die Brust des Magiers.
Graum lachte ihm dreist ins Gesicht.
„Erbärmlich!“, spuckte er, während ihm Blutschaum aus dem Mund quoll. „Du hast deine Leute in der Abtei im Stich gelassen und nun schickst du deine kleine Schwester, um mich zu besiegen. Sassoon! Licht über dich, Grimwardt Fedaykin!“
„Ich denke, damit kann ich leben“, erwiderte Grimwardt trocken.
Dann hob er seine Axt und enthauptete den Mann, der Priestergeneral Eldan Ambrose und Dutzende Tempuskrieger auf dem Gewissen hatte. Endlich, nach vierundzwanzig Jahren, erfüllte er das Versprechen, das er Ambrose bei seinem Tod gegeben hatte: Eldan war gerächt und die Gefahr fürs erste gebannt. Ohne Graum Auzkovyn war die Allianz der Drow-Clans hinfällig. Es mochte Jahre, vielleicht Jahrzehnte dauern, bis sie wieder einen Anführer fanden, der genug Ansehen genoss, um die zerstrittenen Familien zu einen. Langsam begriff Grimwardt, was das bedeutete, und ein Gefühl reinen Glücks durchströmte ihn: Er war von Tempus gesegnet! Denn alles, was er erreichte, war am Ende das Werk des Feindhammers. Nur für einen Augenblick schloss er die Augen und ließ das Gefühl zu. Dann wisperte er ein kaum hörbares Dankgebet und wandte sich an Borgo und die Hand von Rekruten, die sich um ihn geschart hatten.
„Waffenmeister“, sagte er schroff.
„Ja, Herr?“
„Begrabt unsere Toten. Wir wollen für sie beten. Und dann reiten wir los und erobern die Abtei zurück.“

Faust
Er sieht die Klinge auf sich zukommen und weiß, dass er dem Schlag nicht ausweichen kann. Seine Glieder sind schwer wie Blei und sein Schwert zittert in seiner Hand. Als die schwarze Seelentrinkerklinge in sein Fleisch schneidet, spürt er wieder diesen benebelnden Schmerz, als ob etwas alle Kraft und allen Mut aus ihm saugt. Ihm wird schwarz vor Augen und er sinkt in die Dunkelheit. Er weiß, wenn er ihr nachgibt, ist das sein Ende. Und er will nicht sterben! Zu viel, was er noch nicht erlebt hat, zu viel, was er der Welt noch zu geben hat. Wie ein Ertrinkender klammert er sich an diesen Gedanken und kämpft gegen die Wogen der Finsternis. Endlich, mit ungeheurer Anstrengung, gelingt er ihm die Augen zu öffnen. Das Sonnenlicht, das durch die Baumwipfel fällt, empfängt ihn mit gleißender Schärfe und mit seinem Bewusstsein kehrt auch der Schmerz wieder zurück.
Als das blendende Weiß sich aus seinem Sichtfeld zurückzieht, erblickt er seinen Gegner, der, auf sein Schwert gestützt, an seiner Seite kniet. Thallastam hat noch nicht bemerkt, dass er wieder bei Bewusstsein ist, denn er hat die Augen geschlossen und hält den Kopf gesenkt.
Er betet für mich, fährt es Faust durch den Kopf.
Der Gedanke entfacht den schwelenden Zorn in ihm von neuem. Er betet für ihn, weil er glaubt, dass seine Seele verloren ist. Wie die seines Vaters. Mit dem Streit um seinen Vater hat alles begonnen. Faust weiß, dass sein Meister lügt. Wie könnte seine Mutter ihn belogen haben? Wie könnten all ihre Geschichten eine Farce sein? Der Mann aus ihren Geschichten hätte niemals seine Freunde verraten und einen Pakt mit der Hölle geschlossen wie der Waldelf behauptet. Auch wenn Faust diesem Mann nie begegnet ist, weiß er, dass sie ihm niemals ein Lügenmärchen aufgetischt hätte. Der Gedanke an die Verleumdung seines Vaters durch dessen alten Freund treibt ihm Tränen der Wut in die Augen und seine Hand verkrampft sich um den Knauf seines Schwertes.
Dann versinkt die Welt in Rot.
Als seine Sinne zu ihm zurückkehren, kniet Faust schwer atmend im Gras. Klebriges Blut tropft von seinem Gesicht und der Rüstung auf die enthauptete Leiche des Waldelfen. Er blinzelt verwirrt und starrt in die aufgerissenen Augen seines Meisters. Für einen Augenblick weigert er sich zu begreifen, was geschehen ist. Dann überrollt es ihn mit unbarmherziger Härte. Keuchend springt er auf und taumelt zurück. Ein eigenartiger, panischer Laut dringt aus seiner Kehle, halb Schrei, halb hysterisches Lachen. Doch er kann nicht die Stimme seines Gewissens übertönen.
Du hast einen wehrlosen Mann getötet.


Faust schnappte keuchend nach Luft. Mius Hand auf seiner Stirn fühlte sich an wie glühende Kohlen und ein höllisches Brennen durchfuhr ihn, als seine verkohlte Haut zu regenerieren begann.
„Danke“, brachte er schließlich ächzend hervor und setzte sich auf. „Wo… hast du gesteckt?“
Miu ergriff seinen Arm und er spürte ihre Beunruhigung. Alarmiert folgte er ihrem Blick nach Westen… und erblickte den Höllenschlundteufel, der im rasenden Flug auf sie zuhielt. Offenbar hatte er Faust für tot gehalten und seinen Fehler bemerkt. Ein Feuerball formte sich zwischen seinen Klauen.
„Lauf, Miu!“, rief Faust und stieß sie beiseite. Dann stolperte er auf die Beine und sprach einen Flugzauber. Der Feuerball raste an Faust vorbei auf Miu zu, doch die flinke Karaturianerin ging rechtzeitig hinter einer Straßenecke in Deckung.
„Zäher Bursche, wie?“, lachte der Höllenschlundteufel, während sie beiden Gegner aufeinander zu schossen. „Ist fast schade um dich!“
Faust reagierte einen Augenblick früher als sein Gegner. Zwiespalt erstrahlte in allen Regenbogenfarben, als die Henkersklinge das Herz des Teufels durchstieß. Der Tod kam so überraschend für seinen Gegner, dass sein Körper noch ein paar Mal mit den Flügeln zuckte, ehe er zu stürzen begann. Faust schloss für einen Moment die Augen. Dann glitt er ihm erschöpft nach und die verlorene Erinnerung echote in seinen Gedanken.
Du hast einen wehrlosen Mann getötet.
Sein Gegner war besiegt, aber noch nicht tot. Bereits im Sturz hatten die ersten Wunden begonnen sich zu schließen. Faust war froh darüber. Nicht dass er eine Rechtfertigung gebraucht hätte, um auf irgendetwas einzudreschen.... Es verringerte nicht die Last der Schuld, aber die bleierne Erschöpfung, die die körperliche Anstrengung mit sich brachte, benebelte seine Sinne. Alles wirkte gedämpft hinter dem Schleier aus Blut und Schweiß, der sich vor seine Augen legte. In diesem Moment war es nicht die Reue, die ihn zu überwältigen drohte, sondern die Erkenntnis, dass Thallastam die Wahrheit gesagt haben könnte. Hatte sein Vater, der vor ihm den Titel des Faust getragen hatte, tatsächlich seine Seele verkauft, um die Macht eines Teufels zu erlangen? War es das, was Zwiespalt ihm durch diesen Kampf hatte mitteilen wollen? Er hatte immer angenommen, sein Vater habe das Krummschwert um seinetwegen zurück gelassen. War es umgekehrt gewesen? Hatte die Chaosklinge ihren Träger verstoßen, weil er seinen Idealen den Rücken gekehrt hatte? Doch weshalb? Was war mit ihm passiert? War er noch am Leben? Mit schmerzlicher Bitterkeit wurde Faust bewusst, dass womöglich der einzige, der ihm seine Fragen beantworten konnte, nicht mehr am Leben war.
„Faust!“
Der Ruf zwang ihn innezuhalten. Es war Tyrael. Miu musste seine Wunden geheilt haben. Mit angewiderter Miene stieg der Elf über das Ergebnis von Fausts Hackwut. Dann zog er sein Schwert, murmelte etwas in seiner Muttersprache und ein kleines Irrlicht sauste in Spiralen um die Klinge des Bastardschwerts. Nachdem das geisterhafte Licht die Klinge umspielt hatte, hob Tyrael das Schwert und enthauptete den Teufel (oder was noch von ihm übrig war) mit seiner verzauberten Klinge. Augenblicklich löste sich der Höllenschlundteufel in Luft auf: Die Hölle hatte zurückgefördert, was ihr gehörte.
„Danke“, keuchte Faust.
Tyrael hob langsam den Kopf und sein Blick aus kalten grauen Augen triefte vor Verachtung.
„Ich habe nicht vergessen, was du getan hast“, zischte er.
„Es… tut mir leid“, sagte Faust mit ehrlicher Reue und machte einen Schritt auf Tyrael zu. Der Elf wich vor ihm zurück wie vor einer giftigen Viper und ein unheilvolles Funkeln streifte seine Augen. Das war purer Hass, erkannte Faust. Er hielt inne. Tyrael hatte ihn nie leiden können, aber sein Maß an Verachtung war nie über das hinausgegangen, was der arrogante Elf der gesamten Menschheit entgegen brachte. Dann begriff er: Er hatte einen Elfen umgebracht – etwas, das Tyrael ihm niemals vergeben würde.
„Ich habe einen Racheschwur gegen dich geleistet“, sagte Tyrael leise und die Spitze seines Schwertes zeigte auf Fausts Brust.
„Nicht jetzt“, murmelte Faust erschöpft.
„Nein, nicht jetzt“, erwiderte der Elf mit einem verächtlichen Blick auf Fausts Wunden. „Aber ich werde dich finden und wenn wir uns das nächste Mal sehen, wird einer von uns sterben.“
Mit diesen Worten wandte er sich um und ließ Faust stehen. Der Kämpfer schloss ergeben die Augen und ließ sich mit dem Rücken gegen eine Gebäudewand sinken. Gerade als er im Begriff war einzunicken, spürte er Mius Hand auf seiner Schulter. Er blickte auf. Sie lächelte und es tat gut ihr Lächeln zu sehen nach allem, was passiert war. Dann legte sie eine Hand an ihr Ohr und sah Faust erwartungsvoll an. Er runzelte die Stirn. Dann begriff er: Der Kampfeslärm hatte aufgehört. Die Schlacht war zu Ende und Myth Drannor war gerettet.
Faust und Miu brachen auf, um in Erfahrung zu bringen, wie es den anderen ergangen war. Auf dem Weg durch die Stadt schlossen sie sich einem Strom von Elfenkämpfern an, die es zum Hochpalast zog. Hier hatte sich ein Großteil der Überlebenden um den Vorplatz geschart und zu ihrer Freude erkannten Faust und Miu viele bekannte Gesichter: Kalith, Nimoroth, Razeema und der Halbork Grax hatten die Kämpfe überstanden. Auch Winter war dort und berichtete, dass es Grimwardt gut ginge. Schließlich trat Hauptmann Fflar Melruth vor die Menge, um offiziell den Ausgang der Schlacht zu verkünden: Die Kastellanin von Zhentil-Feste, die Anführerin der Allianz, war besiegt und ihre Truppen zurückgeschlagen. Die Rettung des magischen Gewebes war der Simbul und dem Erzmagier Elminster vom Schattental zu verdanken. Auch die antimagische Zone über Cormyr war verschwunden. Nur den magischen Knoten unter der Wüste von Anauroch hatten die beiden Auserwählten Mystras nicht retten können. Trotzdem waren es allem in allem gute Nachrichten, die der Hauptmann zu verkünden hatte, und die Versammelten brachen in Jubelstürme aus. Faust, der sich von der Hochstimmung anstecken ließ, drückte übermütig der nächststehende Elfe einen Kuss auf die Lippen. Dann wirbelte er eine überrumpelte Miu durch die Luft und trug sie im Triumphzug durch die Stadt. Schon nach wenigen Straßenblocks hatte sich eine Schar von Bewunderern um sie geschart und als sie in Whispers Braustube ankamen, wusste bereits die halbe Stadt von den Heldentaten der Gefährten und von Fausts Kampf gegen Drizzt Do’Urden.

Winter
Am Abend in der Abtei des Schwertes.
Als Grimwardt und Borgo nach einem siebenstündigen Ritt durch das Tor der Abtei ritten, fanden sie den Innenhof mit Leichen übersät vor. Die verkohlten und vertrockneten Körper der Drowkämpfer trugen Winters Handschrift. Grimwardts Schwester trat kurz darauf aus dem Hauptgebäude. Fröstelnd verschränkte sie die Arme vor der Brust.
Nach der Schlacht vor den Toren Myth Drannors hatte sie Grimwardt angeboten, ihn in die Abtei zu teleportieren, doch er hatte abgelehnt. Winter kannte seine Gründe: Die Abtei war Grimwardts Verantwortungsbereich und er empfand es als seine priesterliche Pflicht sie Kraft seiner eigenen Hände aus der Gewalt der Besetzer zurückzuerobern. Doch Winter gab einen Dreck auf Grimwardts priesterliches Ehrgefühl, wenn sein Leben auf dem Spiel stand. Wer wusste schon, was in der Abtei auf ihn wartete: Sie war nicht gewillt, ihn seiner Sturheit willen an die Schergen des Drowmagiers zu verlieren. Aus diesem Grund war sie auf eigene Faust ins Schlachtental aufgebrochen. Faust und Miu hatten sie begleitet. Doch Winter hatte die zwei Dutzend Bogenschützen und Schwertkämpfer, die der Clanführer zur Verteidigung der Abtei zurückgelassen hatte, fast im Alleingang besiegt. Ein Verdorren-Zauber hatte die Hälfte von ihnen dahin gerafft, noch ehe sie ihren Gefährten auch nur das Tor geöffnet hatte. Winter hatte sich ganz dem Pulsieren der Magie in ihrem Körper hingegeben. Unsichtbar hatte sie aus der Luft beobachtet, wie ihre Feinde in Panik vor dem versteckten Angreifer flohen und das Grauen auf ihren Gesichtern hatte sie auf morbide Weise fasziniert. Der Rausch und das Entzücken waren ein neues, aufregendes Gefühl. Früher hatte sie den Kampf allenfalls als lästiges Übel betrachtet und ihre magischen Kräfte als Überlebensmittel. Heute war ihr zum ersten Mal bewusst geworden, dass es auf ganz Faerûn vielleicht gerade mal ein Duzend Zauberwirker gab, die es mit ihr aufnehmen konnten. Es war ein erhebendes Gefühl. Doch es hatte einen seltsamen Beigeschmack. War das wirklich sie, deren Augen beim Gedanken an diese Macht zu glänzen begannen?
„Winter“, knurrte Grimwardt, als sie den beiden Reitern entgegen trat, und die Zornesader auf seiner Stirn trat pochend hervor. „Hab ich mich nicht klar und deutlich ausgedrückt, als ich sagte, du sollst in Myth Drannor auf mich warten?“
„Ich habe traurige Neuigkeiten.“ Winter hielt es für besser, seine Rüge zu ignorieren. „Jareth ist tot. Die Drow haben ihn gefoltert, um zu erfahren, wo du steckst.“
Das Auffinden des verstümmelten Leichnams hatte Winters Euphorie einen schweren Dämpfer verpasst. Grimwardt und sein Erster Schwertbruder waren seit ihrer Novizenzeit Freunde gewesen und in all der Zeit hatte Winter mit Jareth nie mehr als ein paar höfliche Worte gewechselt. Und dennoch war er ein Teil ihres Lebens – ein Teil der Abtei – gewesen. Wie oft hatte sie Grims Schimpftiraden über Jareths Hitzköpfigkeit gelauscht. Oder Jareth dabei beobachtet, wie er einen ungehorsamen Rekruten zusammenstauchte.
Grimwardt nahm seinen Helm ab und senkte den Kopf.
„Führ mich zu ihm.“
Winter führte ihren Bruder und den Zwerg in den Kerker. Auch Engart, der Rekrut, der den Drow als Informant gedient hatte, war tot – wahrscheinlich verdurstet. Doch da er aus Grimwardts Sicht ehrlos gestorben war und kein priesterliches Begräbnis verdient hatte, verbrannten sie ihn mit den anderen Leichen. Jareth dagegen unterzog Grimwardt einer heiligen Waschung, ehe er ihm seine Rüstung anlegte und ihn im großen Gebetssarg aufbahrte. Als sich Grimwardt und Borgo zur rituellen Totenwache an sein Totenbett knieten, verließ Winter unauffällig die Halle. Tempus war nicht ihr Gott und Jareths Tod hatte sie daran erinnert, dass sie noch ein Versprechen einzulösen hatte.
Winter reiste nach Silbrigmond und steuerte das Haus der Dantés’ an. Scarlet, die mit Marlas Katzen auf der Eingangstreppe spielte, grüßte ihre Mutter verhalten. Erst als Winter ihr versichert hatte, dass es auch ihren Freunden gut ginge, zeichnete sich ein angedeutetes Lächeln auf ihrem Kindergesicht ab. Mit ihrer Tochter und ihren Schwiegereltern teleportierte Winter in den Hochwald an Doriens Grab wie sie es ihnen bei ihrem letzten Treffen versprochen hatte. Seine Mutter hatte Lilien mitgebracht, die sie über dem kleinen Hügelgrab verstreute und sein Vater kniete im stillen Gebet am Fuß des Grabes.
Winter war fast ein wenig erstaunt, als sie feststellte, dass ihr Schmerz an diesem Ort unvermindert war. Und erleichtert. So vieles hatte sich verändert, dass alles, was sie an ihr früheres Leben band, ihr kostbar erschien.
Plötzlich spürte sie Scarlets Hand, die nach ihrer tastete. Schüchtern und ein wenig reumütig sah sie mit Doriens Augen zu ihr auf. Winter ergriff ihre Hand. Dann lächelte sie, während ihr stille Tränen über das Gesicht rannen.


Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 10. Mai 2010, 17:35:40
Sehr sehr geil!
Wenn ich ehrlich bin, für mich das bisher Beste Kapitel überhaupt und ein geiles Finale. Hast die Innenwelt der Charaktere echt toll erzählt! ...freu mich schon aufs nächste Mal zocken!  :wink:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 10. Mai 2010, 19:02:45
Boah...Gänsehaut!!!

Wirklich, ich hatte fast durchgehend eine Gänsehaut beim Lesen. Fast schon unheimlich, wie du die Gefühlswelt unserer Charaktere da erfasst.

Ich kann so langsam verstehen, was z. B. Harry-Potter-Fans dazu bewegt hat, nachts stundenlang Schlange vorm Buchladen zu stehen, um den nächsten Band als erste in die Hand zu bekommen.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 10. Mai 2010, 19:22:56

:oops:
Schön, dass ihr das so seht. Hin und wieder bin ich mir nicht sicher, ob ich nicht vielleicht zu viel in eine Spielsituation hinein interpretiere... oder eure Figuren was sagen/denken lasse, das aus eurer Sicht out of character ist.
Und jep, das war der krönende Abschluss. Viel mehr Synonyme für hacken und stoßen wären mir auch nicht mehr eingefallen :P
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 21. Mai 2010, 14:46:16
hm... wann wohl die nächste Staffel kommt... aber die Dreharbeiten laufen ja auch noch  :D
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 21. Mai 2010, 15:26:55
Es gibt Gerüchte um einen Autorenstreik! Wegen zu umfangreicher anderweitiger Verpflichtungen. ;-)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 21. Mai 2010, 15:52:58
Ja, das ist auch Mist... die armen Autoren bekommen ja quasi nichts für all die Arbeit...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 24. Mai 2010, 07:56:45
DRITTES BUCH: QUELL DER SEELEN


Prolog


Drake
Tiefwasser, Schwertküste, zwanzigster Tag der Flammleite, 1382 TZ.
Der Gestank nach Sommerregen, Fisch und Unrat hing schwer in der Luft, als Drake an diesem Abend an den Quais entlang schritt. Ratten huschten durch die Schlammrillen, die Pferdekutschen im aufgeweichten Boden hinterlassen hatten, und aus schmuddeligen Hafenspelunken drang grobschlächtiges Gelächter. Es war eines jener Viertel, wo Huren an jeder Straßenecke lungerten und Bestechungsgelder den Stellenwert von Trinkgeld hatten. Drake verabscheute Orte wie diesen und die Erinnerungen, die sie weckten. Er war schon seit Jahren nicht mehr hier gewesen. Der Albino hatte es längst nicht mehr nötig, seine Kundschaft an Orten zu suchen, die förmlich nach Verbrechen stanken.
Er betrat eine Taverne, nannte dem Wirt seinen Namen und warf ihm ein paar Münzen zu für zwei Becher Wein und das Vorrecht, eine der Sitznischen zu beziehen, die durch Vorhänge vom Schankraum getrennt waren. Wer sich hierher verzog, der war entweder auf zwielichtige Geschäfte oder ein Stelldichein mit einer der Bordsteinschwalben aus. Drake jedoch begehrte weder das eine noch das andere.
Seit zwei Tagen war er bereits in der Stadt. Seine Anwesenheit in Tiefwasser konnte seinem alten Lehrmeister nicht entgangen sein. Wenn er ihn warten ließ, dann vermutlich, weil er ihm Gleichgültigkeit vorgaukeln oder seine Überlegenheit demonstrieren wollte. Sicher, Drake hätte ihn überraschen können. Er kannte seine Verstecke in der Stadt. Doch warum ihn brüskieren, wenn er derjenige war, der hier als Bittsteller auftrat? Er hasste diese Rolle und den Preis, den sein Meister für seine Hilfe verlangen würde. Doch all seine Nachforschungen waren im Sand verlaufen. Tiefwasser war seine letzte Chance, herauszufinden, wo Feyleen steckte.
Er musste etwa zwei Stunden warten, ehe der schmuddelige Samtvorhang beiseite geschoben wurde und eine vermummte Gestalt auf die Sitzbank ihm gegenüber glitt. Sein Meister nahm den Hut ab und fuhr sich flüchtig mit der regenfeuchten Hand durch das kurz geschorene Haar. Als Vermächtnis einer schicksalhaften Begegnung hatte sein Gesicht eine ungesund graue Färbung zurückbehalten. Dafür hatte die Veränderung die Zeichen der Zeit aufgehalten: Sein stoppeliger Dreitagebart mochte an den Schläfen etwas ergraut sein, doch um die kalten hellen Augen war kein Fältchen zu sehen.
„Drake“, sagte der Assassine kühl. Wie immer verlor er nicht viele Worte, sondern kam gleich auf das Wesentliche zu sprechen: „Was willst du?“
Der Albino schob ihm einen der Weinbecher entgegen und prostete ihm wortlos zu.
„Ich brauche deine Hilfe“, sagte er, obgleich er darauf wetten mochte, dass sein Meister längst über sein Anliegen informiert war. „Seit einiger Zeit werde ich von einer rachsüchtigen Dämonin verfolgt. Feyleen war ihr Name, als sie noch sterblich war. Vor zwei Jahren besiegte sie ihre Herrin, eine Erzdämonin niederen Ranges, und nennt sich seither Königin der Sukkubi. Ich habe verschiedene Magier und Dämonologen mit der Suche nach ihr beauftragt, doch bisher ohne Erfolg. Ich hatte gehofft, du könntest deine Verbindungen zum Schädelhafen spielen lassen, um mehr herauszufinden.“
„Hm“, machte sein Meister unbestimmt und führte den Becher an die Lippen, ohne jedoch davon zu trinken.
Interessant, dachte Drake. Also hielt er es nicht für ausgeschlossen, dass Drake hierher gekommen war, um ihn zu vergiften. Das war gut, denn jede Unsicherheit seines Gegenübers verschaffte ihm einen Verhandlungsvorteil.
„Und warum sollte mir daran gelegen sein, dir zur helfen?“, erkundigte sich der Assassine.
Drake ließ ein paar bedeutungsschwere Augenblicke verstreichen, ehe er ihm einen kleinen Lederbeutel über den Tisch schob: sein Angebot. Sein Meister entnahm dem Beutel eine kleine Anstecknadel mit dem Wappen der Stadt Immerlund. Das Symbol war unmissverständlich: Immerlund gehörte zu Drakes Einzugsgebiet. Die Übergabe des Wappens bedeutete, dass er ihm als Gegenleistung für seine Erkundigungen alle Kontakte und Stammkunden in der Stadt überlassen würde.
Der Assassine kniff die Augen zusammen.
„Diese Dämonin scheint dir einiges wert zu sein“, bemerkte er.
„Bei unseren letzten beiden Begegnungen habe ich je ein Körperteil verloren“, erwiderte Drake lakonisch. „Keine Tradition, die ich fortzuführen gedenke.“
Sein Meister maß ihn mit dem lauernden Blick eines Luchses. Drake wusste, er würde nicht lockerlassen ohne den Versuch ihn zu demütigen. Das war einer der Gründe, weshalb er so lange gezögert hatte, hierher zu kommen.
„Du hast keine Kosten und Mühen gespart, ein Tötungskommando zusammenzustellen“, sagte der Assassine unvermittelt. „Ein Geschwisterpaar, mit dem du schon einmal vor acht Jahren zu tun hattest, wenn ich recht informiert bin.“  
Für einen Augenblick erstarrten Drakes Gesichtszüge. Wie hatte er das so schnell herausgefunden? Die Mundwinkel seines Meisters zuckten spöttisch. Dann lehnte er sich zurück und kostete mit herablassender Lässigkeit von dem Wein.
„Und jetzt sag mir, von wem du tatsächlich besessen bist, Drake. Von dieser Sukkubus oder den Fedaykin-Geschwistern?“



Kapitel I: Die Hochzeit

Grimwardt
Fünf Tage zuvor in der Abtei des Schwertes.
Applaus brandete auf, als Faust unter Grimwardts Axthieb zu Boden ging. Miu war wie üblich gleich zur Stelle, um die Prellungen zu heilen, die die beiden Kontrahenten bei dem Turnierkampf davongetragen hatten. Das „Duell der Giganten“ am Ende eines Turniertages hatte in der Abtei des Schwertes Tradition, doch eine Schau wie diese hatte wohl keiner der Zuschauer je geboten bekommen. Nach den schweren Verlusten im Schattenkrieg und dem verheerenden Ende des letzten Festturniers hatte die Abtei gute Reklame bitterer nötig denn je. Und für die Bewohner der Talländer war der Wettkampf um die Nachfolge Jareth Burlisks eine willkommene Abwechslung nach den Monaten der Entbehrung: Die Heerscharen der Schatten-Allianz hatten von Schattental bis Myth Drannor eine Schneise der Verwüstung hinterlassen und für das gemeine Volk waren harte Zeiten angebrochen. Doch von den Sorgen und Anstrengungen der letzten Monate war an diesem Tag nichts zu spüren. Das Wettturnier war ein voller Erfolg: Miu hatte zu Mittag für ein magisches Festmahl gesorgt und die Kunde von der kostenlosen Verpflegung hatte sich so schnell herumgesprochen, dass Grimwardt ein zweites Heldenmahl hatte auftischen müssen, um dem Ansturm an hungrigen Mäulern gerecht zu werden. Die Tribünen quollen förmlich über und Waffenmeister Borgo konnte sich vor Neuanmeldungen für das nächste Ausbildungsjahr kaum retten.
„Fast wieder der Alte“, brummte der Tempuspriester und streckte Faust die Hand hin. Mit einem Grummeln ließ dieser sich aufhelfen. Faust mochte einer der beste Kämpfer sein, denen Grimwardt je begegnet war, doch in Friedenszeiten war er ein müßiger Taugenichts und einer Schande für sich und andere. Zwei Zehntage hatte er in Myth Drannor dem Wein und den Frauen gefrönt, ehe Miu ihn in ihrer Verzweiflung in die Abtei geschleift hatte. Grimwardt, der mit dem Wiederaufbau der Abtei beschäftigt war, hatte seinem unsteten Freund eine Portion Disziplin verordnet und ihn mit der Säuberung der Katakomben betraut. Die Portale im Kellerlabyrinth der Abtei, die dem Abteivorsteher schon seit Jahrzehnten zu schaffen machten, waren nicht nur Ausgangspunkt für zahlreiche Drow-Überfälle. In den letzten Jahren hatten zu Grimwardts wachsender Verärgerung auch ein Betrachter und ein illithidischer Menschenhändler die bequeme Abkürzung für sich entdeckt. Faust hatte dem regen Durchgangsbetrieb ein Ende gesetzt und nebenbei noch einen Sklaven-Umschlagsplatz im Unterreich aufgerieben. Die Arbeit hatte ihm sichtlich zugute gereicht.
Grimwardt überließ es seinem Gefährten die Menge bei Laune zu halten, während er sich eilig aus der Arena stahl. Doch er hatte die Rechnung ohne die Schar von Bewunderern gemacht, die ihm hinter der Tribüne auflauerten. Seit Grax, der Halbork-Barde, ihre Taten im Schattenkrieg in Verse gefasst hatte, waren die Gefährten von der Schwertküste bis nach Myth Drannor zu einiger Berühmtheit gelangt.
Grimmig schlug Grimwardt sich bis zum Hauptgebäude durch, wo Sir Silas auf ihn wartete. Silas, der Gewinner des heutigen Wettspektakels, würde Jareths Platz als Erster Schwertbruder einnehmen.
„Meinen Glückwunsch“, sagte der junge Paladin und verneigte sich ehrerbietig. „Ein beeindruckender Kampf und ein verdienter Sieg, mein Herr.“
„Gleichfalls“, grummelte Grimwardt und schob Sir Silas in sein Arbeitszimmer, um auch den Aufdringlichsten seiner Verfolger abzuschütteln. „Meine Zeit ist knapp bemessen, darum werde ich gleich damit beginnen, Euch in Eure Aufgaben einzuweisen.“
„Ich bitte darum.“
Grimwardt kam nicht weit mit seinen Ausführungen, denn schon nach wenigen Augenblicken klopfte es an der Tür.
„Was ist?“
„Verzeiht, Signor Generale, störe ich?“
Der Priester erkannte die gnomische Besucherin als eine der Wettkampfteilnehmerinnen. Lucia di Santa Leone war eine gnomische Maestra, eine cormyrische Hofschwertmeisterin. Auf ihrem Reittier, einem schneeweißen Leoparden, hatte die kleine Schwertkämpferin beim Lanzenstechen für Furore gesorgt und war innerhalb kürzester Zeit zum Publikumsliebling avanciert. Nun lüftete sie mit einer schwungvollen Bewegung ihr Federbarett und verneigte sich mit der Hand auf dem Herzen.
„Nur eine momento, Signore.“ Im Nu war die quirlige Gnomin im Zimmer und plapperte emsig drauflos. „Lady Lucia di Santa Leone ist mein Name. Ihr erinnert Euch? Bene. Ich wollte euch noch sagen, dass es ist eine Ehre für mich, Eure Bekanntschaft zu machen. Ich weiß, ich habe nur erreicht dritte Platz in diese Wettkampf und Sir Silas wird sein großartige Schwertbruder. Doch es wäre noch größere Ehre für mich, würdet Ihr annehmen meine Schwert und meine Dienst.“ Mit diesen Worten ging Lady Lucia vor Grimwardt in die Knie und legte ihm ihr Schwert zu Füßen. „Ich gelobe, ich will einsetzen meine ganze Kraft und Glaube für Ehre von Tempus, wenn Ihr mich nehmt in Eure Dienste, Generale.“
Erwartungsvolle Stille.
Grimwardt räusperte sich unschlüssig. Lucias Glaubenseifer und ihre Tatkraft imponierten ihm. Doch als ausgebildete Maestra würde sich die Gnomin nicht mit einem Söldnerlohn abspeisen lassen. Und eine weitere Festanstellung konnte sich die Abtei nicht leisten. Die magischen Warnvorrichtungen hatten Unsummen verschlungen und auch die Reparaturen am Außenwall waren nicht billig gewesen. Dazu kam, dass Grimwardt auf der Suche nach einem Abteimagier war, um den Gebäudekomplex dauerhaft magisch abzuriegeln. Und auch die Kosten für das „Projekt Achse des Guten“ mussten gedeckt werden: Vor zwei Monaten hatte Grimwardt mit Steinschildherrin Erdmute von Sundabar ein Abkommen geschlossen zur gegenseitigen Unterstützung im Kampf gegen die Feinde der Herzlande. Das Projekt sollte zudem einen kulturellen Austausch zwischen Schülern der Abtei und zwergischen Shieldsar-Rekruten ermöglichen. Dem Bündnisbeitritt seines elfischen Gefährten Nimoroth, der eine Mielikki-Tempelschule in Myth Drannor leitete, hatte Grimwardt zunächst skeptisch gegenüber gestanden. Nimoroths elfisches Gefasel von Gewaltverzicht und der Liebe zur Natur schien ihm kein passendes Gedankengut für ein Kriegsrekrutierungslager. Doch weil er den Waldelfen nicht kränken wollte und da er schlecht einen Rückzieher machen konnte, wo doch das Projekt offiziell der Völkerverständigung diente, hatte er Nimoroths Beitrittsgesuch letztendlich abgesegnet. Die Reisekosten für den Schüleraustausch jedoch würden zu einem Großteil auf der Abtei lasten, da die Zwergin Erdmute kaum Unterstützung von der Stadt Sundabar erhielt und Nimoroth in seiner Genügsamkeit keine Gebühren für die Ausbildung an seiner Schule erhob.
Doch abgesehen von diesen finanziellen Überlegungen wäre Lady Lucia zweifellos eine Bereicherung für die Abtei. Und das nicht nur wegen ihres Geschicks mit der Lanze. Sir Silas war gewiss ein rechtschaffener und gottesfürchtiger Mann. Doch er war ein Adliger und besaß nicht Jareths Beliebtheit beim Volk. Als Aushängeschild für die Abtei, deren Rekruten vor allem aus den unteren Ständen stammten, war er mit seiner steifen und vornehmen Art gänzlich untauglich. Die schillernde Gnomin dagegen hatte die Herzen der Taliser im Sturm erobert.
„Maestra“, entschied Grimwardt schließlich. „Die Ehre ist ganz auf meiner Seite. Ich bin sicher, dass sich für Euch ein Platz in diesen Mauern finden lässt.“ Die Frage nach ihrem Sold ließ er bewusst unerwähnt.
„Mille grazie, Signor Generale“, gnomelte die Schwertmeisterin und schwang ihren Hut.
Im selben Moment begann die Luft zu flirren und Winter materialisierte sich vor den Augen der Anwesenden.
„Grim, ich muss mit dir reden.“
Ungeniert riss Winter wie üblich das Gespräch an sich. Grimwardt schloss die Augen. Er wurde langsam zu alt für die Wutanfälle, die Winters Mangel an Beherrschtheit in ihm auslöste.
„Maestra, Sir Silas“, knirschte er. „Würdet Ihr meine Schwester und mich wohl entschuldigen.“
Winter wartete nicht einmal, bis die beiden die Tür hinter sich geschlossen hatten.
„Ich werde morgen heiraten“, eröffnete sie ihrem Bruder.
Herr, steh’ mir bei. So ein Gespräch.
„Und?“, knurrte Grimwardt. „Ist ja wohl nicht das erste Mal.“
„Siehst du, genau diese Einstellung ist der Grund, warum ich dich noch nie auf meine Hochzeit eingeladen habe!“
„Habe ich dich je darum gebeten?“
„Nein. Aber dieses Mal hätte ich dich gerne dabei. Doch ich muss sicher sein, dass du dich auch zu benehmen weißt.“
„Dass ich mich…?!“ Winters Dreistigkeit verschlug ihm wieder einmal die Sprache. „Das ist ja wohl die Höhe! Wer ist denn hier diejenige, die einen Ehemann nach dem anderen abserviert und erwartet, dass ich dieses Lotterleben auch noch gutheiße.“
„Könntest du mit dieser Meinung vielleicht morgen ausnahmsweise mal hinter dem Berg halten? Um meinetwillen?“
„Hmpf“, grummelte Grimwardt. „Solange ich keine Tischrede halten muss.“
„Danke“, seufzte Winter. „Das bedeutet mir sehr viel.“
„Wer ist denn der ‚Glückliche’?“
„Captain Joe Blackbird.“ Winter zögerte, ehe sie hinzufügte: „Ein Piratenfürst.“
Nachdem Grimwardt seinen Hustenanfall überwunden hatte, schickte er ein stummes Stoßgebet zum Himmel.

Winter
Am nächsten Tag am Hafen von Hlondeth, Vilhongriff.
„So kann sie doch nicht auf einer Hochzeit erscheinen!“
Winter fühlte sich eher als Teil einer Freakshow denn als Mittelpunkt einer Hochzeitsgesellschaft: Faust war natürlich nicht ohne sein Schwert erschienen, Grimwardt hatte es nicht einmal für nötig befunden, das eingetrocknete Blut von seiner Axt zu entfernen, Boltor stank wie üblich nach dem Inhalt seines Humpens und sie selbst steckte in einem grässlichen Monster von Kleid, dessen verwaschenes Gelborange sich mit ihrem roten Haar biss, weil Joe darauf bestanden hatte, dass sie zur Trauung das Hochzeitskleid seiner Großmutter trug. Die Krönung aber bildete Miu, die in ihren uralten Lumpen zum Treffpunkt an den Quais erschienen war. In ihrer Not versuchte Winter zu retten, was zu retten war, und türmte in aller Eile ihren langweiligen Dutt zu einer halbwegs festtagstauglichen Hochsteckfrisur auf. Die stumme Karaturianerin harrte ihrer Bemühungen mit widerwillig versteiftem Oberkörper und angespannten Kiefermuskeln.
„Warum habt ihr nichts gesagt, verflucht? Ich hätte ihr doch eines meiner Ballkleider geben können.“
„Sie nimmt keine Geschenke an“, belehrte Faust die nervöse Braut. „Genauso wenig wie Leihgaben. Sie besitzt nichts, was nicht unbedingt zum Leben notwendig ist, und würde niemals etwas behalten, das sich zu Geld machen ließe, mit dem sie arme Kinder füttern oder kranke Leute heilen könnte.“
„So ruiniert sie jedenfalls meinen Hochzeitstag!“
Die Sonne stand bereits im Zenit und die kleine Hochzeitsgesellschaft badete in der schwülen Sommerhitze im Schweiß, als am Eingang der Hafenbucht endlich die Segel der Sturmhexe aufleuchteten.
„Schnell“, rief Winter. „Ehe die Hafenwache die Flagge erkennt.“
Hastig teleportierte sie sich und ihre Gäste an Bord des Dreimasters. Die Crew hatte sich an Deck versammelt, um der Braut des Captains einen gebührenden Empfang zu bereiten, der in diesem Fall aus ein paar anstößigen „Harrrrrs“ und einigen obszönem Bemerkungen über Winters Hinterteil bestand. Was ihre unorthodoxe Interpretation des Begriffs „Festtagsgarderobe“ betraf, so stand die Mannschaft der Sturmhexe den Brautbegleitern in nichts nach: Die Seehexe Sycorax trug ein Kleid aus Fischgräten und Seetang, der alte Gunnar, Joes Erster Maat, hatte sich zur Feier des Tages ein Schlammbad gegönnt und die Werhaizwillinge Roy und Ray hatten auf jegliche Bekleidung oberhalb der Gürtellinie verzichtet, um ihre schneidigen Fischleiber besser zur Geltung zu bringen.
„Umberlee zum Gruße, ihr Landratten!“, polterte es vom Steuerdeck und Captain Joe stolzierte mit aufgeplusterter Brust auf seine Gäste zu. Lüstern packte er seine Braut bei den Pobacken, zog sie zu sich heran und erstickte ihre Begrüßung in einer feuchtnassen Kussattacke. Er schmeckte nach Fisch und Rum und etwas, über das Winter lieber nicht weiter nachdachte. „Knackig wie ein junger Krebs, meine kleine Auster.“
Mit seiner Hakenhand und der Rastamähne glich Captain Joe Blackbird der Bilderbuchversion eines Piratenfürsten. Um die Hüfte trug er ein Rapier und mehrere Dolche und sein stählerner, olivfarbener Oberkörper, der ihn zu einer durchaus ansehnlichen Erscheinung und einer halbwegs erträglichen Brautwahl machte,  war mit Tätowierungen von Schatzkarten übersät. Diese Schatzkarten waren der Grund für Winters Entscheidung, sich mit Joe zu vermählen. Die Heiratsschwindlerin glaubte nicht an Joes Beteuerungen, der ihr hatte weismachen wollen, die Karten seien nichts weiter als Fälschungen, die seine Feinde nach seinem Tod in die Irre führen sollten, damit er sich auch noch im Jenseits über sie lustig machen konnte. Sie würde schon noch herausfinden, was es tatsächlich mit den Tätowierungen auf sich hatte… und bis dahin würde sie die willige Piratenbraut mimen.
„Schatz“, schnurrte sie, während sie es sich auf dem Poller dem Steuerrad gegenüber bequem machte. „Du hast mir immer noch nicht verraten, wo unsere Hochzeit stattfinden soll.“
 „Geduld, meine kleine Auster. Wenn die Winde uns gewogen sind, sind wir in knapp fünf Stunden dort.“
Es wurde bereits dämmrig, als am Horizont eine kleine Urwaldinsel in Sicht kam. Winter stieß einen Schrei der Überraschung aus und rannte aufgeregt zur Reling: Hell erleuchtet im Schein mehrere Fackeln ragten am Strand der Insel zwei steinerne Monumente in den Himmel. Die Statuen waren in einem primitiven Stil gehalten, doch die Ähnlichkeit war unverkennbar: Sie stellten Joe und Winter dar. Zu Füßen der beiden haushohen Statuen konnte Winter eine Schar Eingeborener ausmachen, die mit Fackeln zum Strand liefen, um die Hochzeitsgäste zu begrüßen.
„Winter Blackbird“, sagte Joe feierlich. „Darf ich vorstellen? Deine Insel. Alles Gute zu unserem Hochzeitstag.“
Meine Insel?“ Winter wirbelte herum und schlug in ehrlicher Begeisterung die Hände zusammen.
„Du weißt, ich mag große Geschenke“, grinste Joe. Davon wusste Winter ein Lied zu singen. Das hier übertraf sogar den monumentalen Lustbrunnen, mit dem der Captain sie zur Verlobung überrascht hatte. „Und heute Nacht wirst du noch ein größeres zu Gesicht bekommen, hehehehe“, fügte Joe mit einem gänzlich unnötigen Augenzwinkern hinzu.
Winter lachte affektiert und versuchte den aufkeimenden Brechreiz zu unterdrücken.
Plötzlich kam Bewegung in die Hochzeitsgesellschaft.  
„Planke!“, erschallte ein Ruf vom Heck des Schiffes. Die Forderung wurde aufgenommen und wenig später brüllte die gesamte Mannschaft im Chor: „Planke! Planke! Planke!“
Winter sah Joe fragend an.
„Ein alter Piratenbrauch…“, konnte dieser noch sagen, ehe die Werhaizwillinge Roy und Ray ihn zu Boden rangen und an Hand, Haken und Füßen fesselten. Danach war Winter an der Reihe.
Wenige Minuten darauf stand das Brautpaar aneinandergefesselt auf der Schiffsplanke, während die ausgelassene Meute sie mit Säbeln und Speeren zum Springen aufforderte. Die Regeln waren einfach: Befreien und zur Insel schwimmen. Wer zurückblieb, dem verwehrte Umberlee, die Göttin der Meere, ihren ehelichen Segen.
Umberlee kann mich mal, dachte Winter im Vertrauen auf ihr magisches Amulett des Wasseratmens.

Faust
Kurz darauf.
„Das war nun wirklich nicht nötig, Miu“, sagte Faust, während er durch das seichte Küstenwasser watete und sich eine Strähne seines klatschnassen Haars aus der Stirn strich. Miu wandte sich um und zog ironisch eine Augenbraue in die Höhe.
„Schon klar, meine Aktion war genauso unnötig“, räumte er ein.
Miu, die nichts von Winters Amulett des Wasseratmens wusste, war der Gefährtin in Sorge um deren Leben hinterher gesprungen. Woraufhin Faust, der nichts von Mius mysteriösen Kräften ahnte, dieser ins kalte Nass gefolgt war. Das einzige Resultat dieser Sprungserie war, dass beide nun patschnass auf die Insel zuwateten und sich später Boltors spöttische Kommentare würden anhören müssen.
Als sie am Strand ankamen, wurden sie von einer Schar aufgeregt tuschelnder Eingeborener empfangen, die das Auftauchen der beiden Neuankömmlinge offenbar in größte Verwirrung stürzte. Schließlich trat eine kleine, alte Frau vor, deren nackter Körper mit fremdartigen Zeichen bemalt war, und es wurde still. Sie trug einen gewundenen Stab und an Ohren, Nase und Brüsten baumelten schwere Muschelgehänge.
„Wir gehören zu der Hochzeitsgesellschaft“, erklärte Faust und wies auf das Piratenschiff.
Wieder begannen die Eingeborenen zu tuscheln. Die Schamanin hob die Hände und bedeutete Faust und Miu sich niederzuknien. Um nicht unhöflich zu erscheinen, taten die beiden wie ihnen geheißen und knieten sich ins seichte Wasser. Die Eingeborene murmelte ein paar kehlige Worte in ihrer Muttersprache und verstreute ein pulvriges Gewürz aus einer Kokosschale. Dabei wog sie sich sacht hin und her und verdrehte die Augen bis nur noch das Weiße zu sehen war.
Offenbar eine Art Begrüßungsritual, dachte Faust. Dann spürte er wie ein Schatten über ihn fiel.
„Was zum…?“
Faust fuhr herum, doch da brandete die mannshohe Welle auch schon auf die beiden am Boden Kauernden nieder. Prustend tauchte er kurz darauf aus dem Wasser und wollte lauthals seinen Ärger kundtun. Doch die feierliche Stimme der Schamanin ließ ihn innehalten.
„Was das Meer hat vereint, soll der Mensch nicht trennen. So sollt Ihr sein Mann und Frau im Angesicht Umberlees.“
Faust starrte sie entgeistert an.
Oh.
Scheiße.

Zwei junge Krieger traten vor, um den beiden Frisch Vermählten Blumenkränze um den Hals zu hängen, und die Eingeborenen brachen in Jubelschreie aus. Erst jetzt bemerkte Faust Winter und Joe, die wenige Augenblicke nach ihnen am Strand eingetroffen waren. Als Winter erkannte, was geschehen war, konnte sie sich ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen. Die keuche Miu dagegen schien ihre unverhoffte Vermählung nicht so locker zu nehmen. Sekundenlang stand sie wie vom Blitz getroffen da. Dann wich alles Blut aus ihren Wangen und sie floh voller Entsetzen in den Dschungel.
Faust stöhnte.
„Miu!“, rief er und rannte ihr nach.
Er fand die fromme Karaturianerin betend am Ufer eines Moors.
„Miu, nimm das doch nicht so ernst“, bat er sie. „Ich glaube nicht, dass es zählt, wenn die…  Eheleute nichts von ihrem Glück ahnen. Und selbst wenn doch, kann Grimwardt oder ein anderer Priester uns sicher wieder scheiden. Und überhaupt: Sofern… ähm… die Ehe nicht vollzogen wurde, hast du wohl kaum etwas zu befürchten, oder?“
Warum hältst du nicht einfach die Klappe?, schalt er sich noch während er sprach.
Miu sprang auf und bedeutete ihm mit einer vehementen Geste zu gehen. Noch nie hatte er seine sanftmütige Gefährtin so gebieterisch und kompromisslos erlebt. Faust hob abwehrend die Hände.
„Schon gut, ich verschwinde.“
Doch er zögerte, sie hier draußen allein zu lassen. Erst als sie ihn zum zweiten Mal zum Gehen mahnte, kehrte er widerwillig zum Strand zurück. Inzwischen war die Hochzeitsfeier in vollem Gange: Die Piraten hatten begonnen, Rumfässer aus dem Sand zu graben, während die Eingeborenen mit Buschtrommeln und einheimischen Gesängen für Stimmung sorgten.
„Na, ihr hattet es aber eilig“, empfing Captain Joe Faust mit einem obszönen Grinsen.
Großartig, dachte Faust lakonisch. Jetzt hatte er Miu auch noch in den Augen der Gesellschaft entjungfert. Langsam wurde ihm klar, weshalb sie ihn so vehement aus ihrer Nähe hatte wissen wollen. Faust fand, dass es nicht mehr schlimmer kommen konnte, und ließ sich in den Sand sinken, um sich hemmungslos zu betrinken.
Doch es kam noch schlimmer.
Das nächste, woran er sich erinnerte, war ein brennender Pfeil, der sich eine Handbreit vor seinem Gesicht in den Sand grub. Kurz darauf stand der Strand in Flammen und das entrüstete Gebrüll des Captains übertönte die panischen Rufe der Flüchtenden.
„Die klauen mein Schiff!“

Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 24. Mai 2010, 17:26:51
Schöner neuer Einstieg! Aber da gabs auch echt einige lustige Situationen... wie die unfreiwillige Hochzeit...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 11. Juni 2010, 18:24:12
Hach ja... ich freu mich auf nächsten Samstag!  :D
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 20. Juni 2010, 13:26:58
Was für eine Session...von 12 Uhr Mittags bis 8 Uhr Morgens. Ich glaub 20 Stunden haben wir noch nie gespielt!
War so irre spannend, zeitweise dachte ich, wir schaffen es gar nicht (schon wieder gescheitert, wie vor 8 Jahren! das wäre eine große Schmach gewesen).
Freue mich auf neue Kapitel!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 21. Juni 2010, 10:07:27
Oh ja! vor allem bin ich dann noch bis 18 Uhr wach gewesen... aber nu hab ich ma gut gepennt!
Oh, und ich bin auch sehr gespannt! ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 23. Juni 2010, 02:36:11
Kapitel II: Einladung zum Maskenball

Grimwardt

Kurz darauf auf der Sturmhexe
Am Mast des Piratenschiffs hatten die Angreifer eine neue Fahne gehisst: eine schwarze Harlekinmaske. Grimwardt kannte das Symbol von einem früheren Abenteuer: Es war das Wappenzeichen der Nachtmasken, der Diebesorganisation der Stadt Westtor. Bittere Erinnerungen an Schmach und Niederlage hingen an diesem Symbol, denn es war die vampirische Führungsriege der Nachtmasken, der die Gefährten das Scheitern ihrer Mission vor acht Jahren zu verdanken hatten.
Als Grimwardt mit Winter, Faust und Joe an Bord des Schiffes teleportierte, fielen ihm als erstes die beiden massigen Gestalten ins Auge, die mit verschränkten Armen den alten Gunnar am Steuerrad zur Abfahrt drängten: Es waren Oger, doch ihre Körper waren gräulich und das ungesunde Funkeln in ihren bleichen Augen verriet ihre wahren Natur. Der Kapitän hatte seinen ersten Maat zusammen mit einer Hand voll Seeleuten zur Bewachung auf dem Schiff zurückgelassen. Diesen Umstand hatten sich die Vampire zunutze gemacht und die Wachen in ihren Zauberbann geschlagen und zu unfreiwilligen Komplizen gemacht: Willenlos lenkte der Steuermann das Schiff aus der Bucht, während die Mannschaft die Geschütze klarmachte, um die Hochzeitsgesellschaft unter Beschuss zu nehmen.
„Grim!“
Winter zwickte ihren Bruder in die Seite und wies aufgeregt nach links, wo zwei weitere Gestalten aus einer Deckluke krochen. Die kleinere der beiden war ein Knabe von zehn oder elf Jahren, der in altertümliche Gewänder aus schwerem Samt gehüllt war. Die zweite jedoch hätte Grimwardt unter tausend anderen wieder erkannt: Drake! Im Mondschein, das dem Gesicht des Albinos ein geisterhaftes Leuchten verlieh, war unverkennbar, dass sich der alte Erzfeind der Fedaykins der Liga der Blutsauger angeschlossen hatte. Doch Drake schien die Geschwister kaum zu beachten. Stattdessen wies er mit einem Zischen auf Captain Joe und rief: „Da ist der Dieb! Niemand bestiehlt die Nachtmasken, Halunke! Dafür wirst du büßen!“
Mit diesen Worten schnellte er vor und ehe einer der Gefährten reagieren konnte, war er bei dem Kapitän angelangt und würgte ihn, bis er bewusstlos in seine Arme sank. Winter, die erkannte, was Drake vorhatte, sprach hastig einen Dimensionsbann, um eine magische Flucht zu vereiteln. Beinahe zeitgleich zerfetzte Faust dem Angreifer mit seinem Schwert die Kehle. Der Vampir röchelte, ehe er sich in Nebel auflöste. Auf diesen Moment hatte Grimwardt gewartet! Mit dröhnender Stimme rief er Tempus’ Macht auf den Körperlosen herab und das Unfassbare geschah: Der wabernde Nebel zerstob in einer grün züngelnden Flamme und nicht einmal ein Staubkorn blieb von Drake übrig!
Die Vernichtung ihres langjährigen Peinigers kam so überraschend, dass niemand auf den Knaben achtete, der mit Drake gekommen war. Mit lieblicher Singstimme bannte der kleine Vampir Winters Dimensionsanker, kniete sich neben Joe und teleportierte mit ihm und den beiden Ogerwächtern vom Schiff.
„Verdammt“, fluchte Faust. Dann blickte er auf die Stelle, an der Grimwardts Zauber den Assassinen vernichtet hatte. „Und das soll der Kerl gewesen sein, der euch so viel Ärger bereitet hat?“
„Nein“, sagte Winter, deren Blick wie gebannt an der Stelle hing. „Das war nicht Drake.“
Ruckartig hob sie den Kopf und sah Grimwardt an. Er nickte unmerklich: Sie hatte Recht. Er hatte sie nicht einmal angesehen. Keine Verspottungen, kein Versuch sie zu erpressen. Außerdem war Drake ein Einzelgänger. Unwahrscheinlich, dass er sich mit den Nachtmasken zusammengetan hatte. Ein düsterer Verdacht beschlich Grimwardt.
„Wenn es nicht dieser Drake war, wer war es dann?“, fragte Faust.
„Und was wollte er von deinem Ehemann?“, lenkte Grimwardt das Gespräch in eine andere Richtung, denn er hatte beschlossen, seine Vermutung für sich zu behalten, bis er sich seiner Sache sicher war.
„Wenn ich das wüsste“, murmelte Winter. „Offenbar hat Joe mir einiges verschwiegen.“
„Wie zum Beispiel, dass er eine offene Rechnung mit den Nachtmasken hat?“
„Also?“, fragte Faust. „Willst du ihn retten oder überlässt du ihn den Blutsaugern?“
„Nicht bevor ich weiß, was es mit diesen Tätowierungen auf sich hat… und mit Drake“, erwiderte Winter. Dann seufzte sie und blickte in die Runde. „Bereit für ein neues Abenteuer?“

Winter
Kurz darauf in den Katakomben der Hafenstadt Westtor, See des Sternregens.
Das ist die unromantischste Hochzeit, die ich in siebzehn Jahren erlebt habe, dachte Winter ernüchtert, während sie Grimwardt, Faust und Miu durch Schlick und Unrat der Kanalisation von Westtor hinterher stapfte. Nun, immerhin würde so Generationen von Blackbird-Bräuten dieses grässliche Monster von Hochzeitskleid erspart bleiben!
Der Ortungszauber, mit dem sie Joe aufgespürt hatte, hatte sie geradewegs in diese ungastliche Umgebung geführt. Immer tiefer hinein ins Tunnellabyrinth führte sie der Zauber und immer höher stieg das Abwasser, bis es Winter bis zur Taille reichte. Schließlich erblickten die Gefährten Licht am Ende eines Ganges und kamen in einen größeren Stauraum. Ein vergitterter Abfluss an der Ostseite des Raumes spülte die Abwässer in die Bucht von Westtor. Der Ortungszauber jedoch führte die Gefährten durch eine kleine Tunnelöffnung an der Nordseite des Raumes. Als sich süßlicher Verwesungsgeruch zu dem Kanalisationsgestank gesellte, wussten sie, dass sie auf der rechten Fährte waren. Und dann hörten sie die Schreie. Schreie, die nicht menschlich klangen und Winter das Blut in den Adern gefrieren ließen. Und dazwischen – wie bitterer Hohn – der sanfte Klang einer Laute und die glockenhelle Stimme des Vampirknaben, dessen lieblicher Singsang von den Tunnelwänden widerhallte: „Sag uns, wo du unsere Ware versteckt hast, Pirat, und dein Leiden hat ein Ende. Nur ein Wort und meine Melodie singt dich in den Schlaf.“
Keine Zeit mehr für Heimlichkeit! Die Gefährten stürmten los… und platzten unverhofft in einen von Fackeln und Kandelabern schwach erhellten Raum. Für einen Augenblick erhaschte Winter einen Blick in den Raum… und in die perfide Seele eines kindlichen Monsters: Der Junge saß mit lässig unterschlagenen Beinen auf einem steinernen Sarg und zupfte mit verzücktem Gesichtsausdruck die Saiten seiner Laute, wobei die teuflische Magie seines Spiels den Piraten zum Tanzen zwang. Joes Oberkörper war mit eisernen Stacheldrähten umwickelt, die ihm bei jeder Bewegung ins Fleisch schnitten und ihn vor Schmerz wimmern und brüllen ließen. Das Blut, das aus seinen Wunden trat, entlockte dem Jungen entzückte Seufzer und es bestand kein Zweifel daran, was mit Joe passieren würde, wenn der Vampir erst hatte, was er wollte. Dann plötzlich ein dissonanter Akkord: Der Knabe hatte die Eindringlinge erspäht. Ein Zucken durchlief seine Züge und verzerrte das engelhafte Kindergesicht zu einer grässlichen Fratze, während ein unterschwelliges Knurren aus seinen halb geöffneten Lippen drang. Dann ein Fauchen und ein Sprung und der kleine Vampir kauerte spinnengleich an der Decke des Raums.
Winter unterdrückte ein Schaudern.
„Tote Kinder machen sich in keiner Biographie besonders gut“, murmelte Faust und zog sein Schwert. „Aber ich glaube, für ihn könnte ich eine Ausnahme machen.“
Grimwardt brummte etwas, das nach Zustimmung klang. Doch ehe sie sich um den Vampirknaben kümmern konnten, wurde ihnen der Weg von den massigen Körpern der beiden Ogerwächter versperrt, die versteckt hinter dem Eingang gelauert haben mussten. Während auf der Schwelle zum Folterraum der Kampf losbrach, ersann Winter einen Plan, um Joe aus den Fängen des Sängerknaben zu befreien. Eilig sprach sie einen Zauber, der sie vor den Eisenstacheln schützen sollte, ehe sie mit einem weiteren Zaubertrick ihren Standort mit dem des Piraten tauschte. Im nächsten Moment spürte sie, wie die Eisendrähte in ihren Oberkörper schnitten, doch die Stacheln konnten ihr nichts anhaben. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine weitere Gestalt, die aus dem Schatten auf sie zuschnellte. Drake! Eine weitere Vampirausgabe des Albinos hielt fauchend auf sie zu. Keine Zeit darüber nachzudenken, was das zu bedeuten hatte! Eilig befreite sich Winter von den Eisendrähten, doch auch dem Vampirknaben war ihre Befreiungsaktion nicht entgangen. Zornig über den Verlust seiner Beute stieß er ein markerschütterndes Kreischen aus, das ein schrilles Fiepen in Winters Ohren hinterließ. Blut strömte ihr aus Ohren und Nase. Ein Blick in Richtung ihrer Gefährten sagte ihr, dass es um sie kaum besser stand: Fausts frustriertes Fluchen kommentierte seine vergeblichen Versuche den Wall der Wächter zu durchbrechen, deren Kombination aus purer Muskelkraft und vampirischer Flinkheit ihm zu schaffen machte. Und auch gegen Grimwardts priesterliche Macht schienen diese Gegner immun zu sein.
Das hat keinen Sinn, erkannte Winter. Sie waren zu unvorbereitet für diesen Kampf, hatten ihre Gegner und deren Vorteil durch die vertraute Umgebung unterschätzt. Sie hatten Joe, das sollte ihnen fürs erste genügen! Da das schrille Fiepen ihr Hörvermögen einschränkte, sprach Winter einen stummen Dimensionszauber, um sich zu ihren Freunden zu teleportieren, und einen weiteren, um aus den Katakomben zu fliehen.
Es war bereits ihre zweite Niederlage gegen die Vampire von Westtor.

Grimwardt    
Wenig später im Speisesaal der Abtei des Schwertes.
„Hast du mir vielleicht etwas zu beichten?“, schalt Winter ihren Bräutigam mit verschränkten Armen und schulmeisterlichem Blick. Mius heilende Berührung hatte neben Joes Fleischwunden auch seine Trunkenheit beseitigt und er schien nicht sonderlich erfreut über diesen Zustand absoluter Nüchternheit. Mürrisch ritzte er, zu Grimwardts wachsendem Missfallen, mit seiner Hakenhand Kerben in den Speisetisch und warf düstere Blicke in seinen Wasserbecher.
„Ich muss zu meiner Crew zurück“, murmelte er. „Bring mich zurück auf die Insel.“
„Sie hat dir deinen verdammten Arsch gerettet!“, knurrte Faust. „Und dir fällt nichts Besseres ein, als Forderungen zu stellen!“
„Kümmere dich um deinen eigenen Dreck, Mann“, fauchte der Pirat. Doch er schien einzusehen, dass Faust Recht hatte. „Erinnerst du dich an meinen Junggesellenabschied vor fünf Tagen?“, wandte er sich widerwillig an seine Braut.
„Eure Sauftour durch halb Turmish?“
„Waren das meine Worte? Dann habe ich möglicherweise vergessen zu erwähnen, dass ich mit der Crew noch mal aufs Meer raus gefahren bin…. Ein Handelsschiff aus Westtor.“
„Du hast ein Schiff gekapert?! Joe, wir hatten uns auf Halbe-Halbe geeinigt!“
Grimwardt quittierte die Enthüllung seiner Schwester mit einem tadelnden Räuspern. Er hatte es seit langem aufgegeben, Winter auf den Pfad der Tugend zurückführen zu wollen, aber dass sie in seiner Gegenwart so ganz ungeniert über ihre Verfehlungen zu sprechen wagte, das grenzte an Respektlosigkeit.
„War keine große Sache, bloß ein paar Kunstgegenstände“, behauptete der Pirat. „Aber dann fanden wir in einigen Weinfässern Schmugglerware. Drogen, ziemlich harter Stoff: Traumstaub, Teufelskraut und so ein rotes Zeug. Ich hatte keinen blassen Schimmer, dass die Nachtmasken da ihre Finger im Spiel hatten, sonst hätte ich das Zeug nie angerührt.“
Winter sah ihn scharf an.
„Und du hieltst es nicht für nötig, mich von eurer nächtlichen Aktion in Kenntnis zu setzen? Was hast du mir noch alles verschwiegen? Fangen wir doch mal bei deinen Tätowierungen an! Was zeigen diese Schatzkarten wirklich?“
Der Kapitän grinste schief durch eine Zahnlücke
„Ah, darum hast du mich also geheiratet, hehe.“
„Und du?“, konterte Winter. „Warum hast du mich geheiratet?“
„Vielleicht weil es nur einen Weg gibt, wie du es herausfinden kannst“, erwiderte er mit einem anzüglichen Grinsen. „Unsere Hochzeitsnacht ist noch nicht vorüber, meine kleine Auster.“
Winter kehrte ihm schnaubend den Rücken zu.
„Bin ich eigentlich der einzige, der sich wundert, wie Schneeweißchen in die Katakomben kam, nachdem wir ihn auf dem Schiff kalt gemacht hatten“, warf Faust ein.
Drake! Über all den Humbug von gekaperten Schiffen und mysteriösen Schatzkarten hätte Grimwardt die Begegnung mit dem Assassinen beinahe vergessen. Das Auftauchen des zweiten Vampirs hatte seine Vermutung bestätigt: Die Vergangenheit hatte sie eingeholt. 
„Es sind Klone“, erklärte er ruhig. 
Winter wandte sich ruckartig zu ihm um.
„Du meinst…?“
Er nickte.
Dann begann er zu erzählen: Vor acht Jahren hatte die Abenteuergruppe, der Winter und er damals angehörten, nach einem Ort gesucht, der sich die Bastion der ungeborenen Seelen nannte: ein Quell der Seelenenergie, in dem die Seelen der Sterblichen heranreiften. Seit fast 1500 Jahren wurde dieser Ort von einem mächtigen roten Drachen heimgesucht, Ashardalon, der sich vor dem sicheren Tod in die Bastion geflüchtet hatte und sich seither von den ungeborenen Seelen ernährte, um dem Tod zu entfliehen. Seinetwegen geschah es immer wieder, dass auf der ganzen Welt Kinder ohne Seelen geboren wurden. Ashardalons Bezwinger von einst, Gen Soleilon, war ein Held von Westtor und ein Vorfahre Drakes. Von Elminster von Schattental hatten die  Gefährten erfahren, dass es nicht möglich sei, Ashardalon aus der Bastion zu vertreiben ohne die Hilfe des letzten Nachfahren des Soleilon. Dies war der Grund, weshalb sie mit Drake zusammengearbeitet hatten. Doch sie waren nicht die einzigen, die nach der Bastion gesucht hatten. Zu Anfang ihrer Mission war Drake von einer Marilith angegriffen worden, die ihm eine Hand abschnitt.
„Wir vermuteten damals, dass sie seine Hand brauchte, um einen Klon des letzten Nachfahren zu erschaffen“, schloss Grimwardt seinen Bericht.
„… und das ist ihr nun gelungen“, vollendete Faust die Geschichte.
„Ihr oder dem, für den sie arbeitet“, warf Winter ein. „Wir haben nie herausgefunden, in wessen Namen sie handelte, doch die Vampirklone deuten auf die Nachtmasken hin.“
„Und ihr glaubt, dieser Seelenquell ist erneut in Gefahr?“
„Eher noch immer“, murmelte Grimwardt. Er hatte die Schmach der Niederlage, die sie in den Vampirkrypten von Westtor ereilt hatte, wo sie nach einem Zugang zur Bastion gesucht hatten, nie ganz verdauen können. Bot sich ihnen hier etwa eine Chance, zu Ende zu bringen, was sie vor acht Jahren begonnen hatten?
„Wir sollten dem auf den Grund gehen“, entschied er. „Doch zuerst sollten wir eine Nacht darüber schlafen. Vampire jagt man am besten bei Tageslicht.“
Als sich die Gefährten und Joe am nächsten Tag zum Frühstück erneut im Speisesaal der Abtei einfanden, trat Sir Silas mit einem versiegelten Brief an Grimwardt heran.
„Herr, dies fand ich heute morgen vor der Tür zu meinem Schlafgemach.“
Als er das Siegel erkannte, sog Grimwardt scharf die Luft ein: eine schwarze Harlekinmaske!
„Haben die Wachen heute Nacht irgendetwas bemerkt?“, fragte er alarmiert. „Hinweise auf einen Eindringling? Merkwürdige Bewegungen? Nebel?“
„Nein, Herr.“
Grimwardt runzelte die Stirn. Er untersuchte den Briefumschlag nach Kontaktgift. Als er keines fand, brach er das Siegel. Die Botschaft war mit roter Tinte geschrieben – Blut: Als ob sie noch Zweifel daran bestünde, von wem die Nachricht stammte!
Winter Fedaykin-Dantés, Grimwardt Fedaykin, Desmond MacLancastor, Miu Kimura“, las Grimwardt vor und wurde gleich von Winter unterbrochen.
„Desmond MacLancastor?“ Sie sah Faust amüsiert an.
„Woher kennen die Hurensöhne meinen richtigen Namen?“, knurrte der Kämpfer. „Scheint als hätte unser kleiner Sängerknabe viele Talente.“
MacLancastor…Das klingt ziemlich hochtrabend.“
„Warum steht mein Name nicht in dem Brief?“, erkundigte sich derweil der egozentrische Piratenfürst. 
„RUHE!“, rief Grimwardt die anderen zur Ordnung. „Wollen wir uns über Namen streiten oder soll ich weiter lesen?“
Stille.
Ihr seid aufs Herzlichste eingeladen zum Maskenball im Stadtpalais der Urdo-Familie, Marktdreieck, Westtor, zur zwölften Stunde des Zwanzigsten Tages der Flammleite. Diese Einladung wird Euch Einlass gewähren. P.S.: Möge uns ein gemeinsamer Feind zusammenführen.
„Das ist heute“, erkannte Winter. „Heute um Mitternacht.“
„Eine Falle?“, fragte Faust.
„Zweifelsohne“, erklärte Grimwardt.
„Aber auch ein Anhaltspunkt, um an die Nachtmasken heranzukommen“, erklärte Winter. „Wir sollten mehr über diese Urdo-Familie herausfinden.“
Faust sah in die Runde.
„Auf nach Westtor?“, fragte er.
„Auf nach Westtor!“, bestätigten die anderen.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 23. Juni 2010, 10:00:36
Yes! Und jetzt gehts wieder richtig rund...
Hach ist das immer schön in der eigenen Geschichte zu nostalgieren  :D
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 24. Juni 2010, 22:09:22
Ich bin ganz entzückt :-) Ja, jetzt gehts richtig rund! Die kommenden Kapitel werden ganz besonders turbulent...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 27. Juni 2010, 03:46:23
Kapitel III: Der geflügelte Blitz

Winter
Später in Westtor.
Erschöpft ließen sich die Gefährten im Schatten der Marktstände auf einer Mauer nieder, um ihren dampfenden Füßen eine Rast zu gönnen. In der brütenden Sommerhitze war Westtor mit seinen sandigen Straßen und geschäftigen Kaufleuten der reinste Hexenkessel. Ihre Nachforschungen in der Stadt hatten die Gefährten nicht weit gebracht: Die Stadtbewohner waren keine große Hilfe gewesen. Die meisten hatten ihnen die Tür vor der Nase zugeschlagen, sobald sie den Namen „Urdo“ auch nur erwähnt hatten. Selbst die Priester der Morgenröte im Tempel des Lathander schienen sich mit dem abgefunden zu haben, was niemand hier auszusprechen wagte: dass Westtor längst in den Händen der Vampirgilde war, die die politischen Geschicke des Stadtstaats aus dem Verborgenen lenkte und die Regierung an der kurzen Leine hielt.
„Seht den Geflügelten Blitz in der Arena von Westtor!“, schallte es über den Marktplatz. Mit einer Trommel in der Hand und einer Werbetafel auf dem Rücken versuchte sich ein junger Marktschreier in all dem Trubel Gehör zu verschaffen. „Der Zitternde Daumen präsentiert: Kampf um Westtor. Heute zur Mittagsstunde in den Sandgruben.“
„Ist er gut?“, fragte Faust mit mäßigem Interesse und ruckte den Kopf in Richtung der Werbetafel. „Der Geflügelter Blitz?“
„Er ist der Beste!“, versicherte der Junge eifrig. „Sie stellen die Schlacht um Westtor nach. Er spielt den Engel, der an Soleilons Seite kämpfte. Und er ist wahnsinnig schnell!“
„Dann ist er wohl wirklich ein Engel?“ fragte Faust mit sanftem Spott.
„Naja, er hat Flügel!“, verteidigte der Junge seinen Helden. „Sie sehen ein wenig aus wie… wie Falkenflügel, aber warum sollte er kein Engel sein? Habt Ihr schon mal einen echten Engel gesehen?“
Winter horchte auf. Falkenflügel? Wahnsinnig schnell? Es mochte ein Zufall sein, doch die Beschreibung passte auf einen einstigen Widersacher ihrer alten Abenteuergruppe.
„Ist dein Engel vielleicht ein Avariel?“, fragte sie.
„Ein… was?“
„Ein geflügelter Elf.“
Der Junge überlegte.
„Nun, er hat spitze Ohren“, räumte er ein.
Elijas Avalior. Jetzt fiel ihr auch der Name wieder ein. Das Intrigenspiel des Klingensängers hatte eine machtgierige Avarielfürstin zu einem verheerenden Angriff auf die Stadt der Gläsernen Gesänge verleitet, der ohne das Eingreifen der Gefährten in einem Desaster geendet hätte. Elijas’ Absichten mochten ehrenhaft gewesen sein: Durch den Angriff waren die korrupten Machenschaften der Regierung aufgeflogen und die Ungeflügelten hatten sich aus ihrer Jahrhunderte währenden Knechtschaft befreit. Doch das änderte nichts daran, dass er den Tod duzender Unschuldiger in Kauf genommen hatte, um sein Ziel zu erreichen. Für seine Verbrechen war er aus der elfischen Gemeinschaft von Faerûn ausgestoßen worden. Aber es war nicht diese Erinnerung, die Winter im Sinn hatte, als sie sich nun an den jungen Marktschreier wandte.
„Wo finde ich diesen ‚Geflügelten Blitz’?“
„Die Gladiatoren werden in den Sandgruben des ‚Zitternden Daumen’ im Arenenviertel ausgebildet“, sagte der Junge. „Aber im Moment ist keine Besuchszeit. Ihr müsst bis nach dem Kampf warten, um…“
Doch Winter war bereits davongeeilt.
„Kannst du mir erklären, was das werden soll?“, knurrte Grimwardt, der wie Faust und Miu Mühe hatte, mit ihr Schritt zu halten.
„Erinnerst du dich an unsere erste Begegnung mit Vampirdrake?“, fragte sie.
„Ja, gestern auf dem…“ Dann stockte er. „Du meinst den Einbruch bei den Wands?“
„Als er uns den Stein aus der Avarielstadt stahl, ganz recht“, bestätigte Winter.
Es war etwa zweieinhalb Monate her. Damals hatte ein Klon, den sie für Drake gehalten hatten, den magischen Steinsplitter entwendet, den Winter bei der Plünderung von Elijas’ persönlichem Hab und Gut gefunden hatte. Der Verlust war ihr als nicht weiter tragisch erschienen. Die einzige Fähigkeit des Steins schien es zu sein, seinem Träger den Grad an Verderbtheit seiner eigenen Seele aufzuzeigen. Nicht gerade die nützlichste Erfindung. Doch in Verbindung mit dem Geheimnis um die seelenlosen Geburten mochte der Stein eine weitaus größere Bedeutung haben, als sie damals hätten ahnen können. Und wer könnte mehr darüber wissen, als der vormalige Besitzer des Steins?
Vom Wächter am Tor der Gladiatorenschule erfuhren die Gefährten, dass die Sandgruben nicht nur Sklaven beherbergten. Der Politik der Arenenbetreiber, die jedem Gladiator, der die Sandgruben ein Jahr lang überlebte, die Freiheit versprachen, war es zu verdanken, dass es auch viele Gemeine in die Arena zog. Der Ruhm hatte schon so manchen Tagelöhner zum Stadthelden gemacht und die meisten der „Wiedergekehrten“ waren inzwischen erfolgreiche Söldner. Der Geflügelte Blitz jedoch war ein Gefangener, den ein Ausbilder einem Tayanischen Sklavenhändler abgekauft hatte. Winter bezweifelte, dass der „Stolz der Arena“ wie die anderen darauf hoffen durfte, in die Freiheit entlassen zu werden.
Während die anderen dem Wächter Karten für das Kampfspektakel abkauften, schlich sich die Zaubermeisterin, mit einem Unsichtbarkeitszauber getarnt, durch das Tor. Die Sandgruben befanden sich hinter dem Hauptgebäude der Gladiatorenschule: In zwei Duzend Bodengruben, die mit stählernen Gitterluken abgedeckt waren, harrten Kreaturen verschiedenster Rassen ihrem Einsatz in der Arena. Die gleißende Mittagssonne drang gnadenlos bis in den letzten Winkel der Zellen und lieferte die Gefangenen den Blicken der Aufseher aus, die das Gelände von vier Wachtürmen überblickten. Immerhin schien es kein magisches Warnsystem zu geben: Unter ihrem Zauber blieb Winter unentdeckt. Nicht einmal als sie mit Hilfe eines Flugzaubers in die Höhe schwebte, um sich einen Überblick zu verschaffen, schlugen die Wachen Alarm.
Aus der Vogelperspektive war es ein Leichtes, den geflügelten Elfen in einer der Sandgruben ausfindig zu machen. Zusammengesunken kauerte der Avariel im schattigsten Winkel seiner Zelle, das Gesicht mit dem Ellbogen abgeschirmt und die Flügel eingeknickt: Die einst kupfer-weißen Schwingen waren an den Ellen angebrochen und mit Staub bedeckt. Der Bruch wirkte gewollt.
Ein Vogel im Käfig, dachte Winter.  
„Elijas?“, flüsterte sie.
Er regte sich kurz, sah jedoch nicht auf.
„Ich bin es, Winter.“ Sie kauerte sich unsichtbar an den Rand des Käfiggitters. „Winter Fedaykin.“
„Wer?“ Es klang tonlos und schal.  
„Wir haben uns in Immerschwinge kennen gelernt…“
Kennen gelernt war nicht unbedingt der passende Ausdruck. Sie hatte ihn geplündert und dafür gesorgt, dass man ihn aus der Stadt verstieß.
Er lachte auf - kurz und bitter. Offenbar erinnerte er sich.
„Und was wollt Ihr von mir, Winter Fedaykin?“, fragte er düster. „Euch an meinem Unglück ergötzen? Nun… genießt es!“
„Nein, ich…“ Sie biss sich auf die Lippen. Wieso kam sie sich so schäbig vor, hier bei ihm aufzutauchen und ihn um einen Gefallen zu bitten? Er hatte ihr Mitleid nicht verdient. Es war nur gerecht, dass er litt. „Ich brauche Informationen zu einem magischen Stein – ein Splitter eines Edelsteins, der…ähm… der einmal Euch gehört hat.“
Stille.
„Ihr meint den Seelensplitter?“
„Ich denke schon…“ Sie stocke. Nein, das hat niemand verdient. „Elijas, ich kann Euch helfen.“
„Das könnt Ihr nicht.“
„Doch, ich kann…“
„Verschwindet!“ Mit jäher Feindseligkeit hob er den Kopf. Winter erschrak, als der Blick seiner grün-goldenen Augen sie traf – dunkel und leer und von tiefen, blessurartigen Ringen umschattet. Von dem stolzen, verschlossenen Elfenfürsten war nicht viel mehr als ein Schatten geblieben, das Gesicht aschfahl und eingefallen; die Gesichtsmuskeln angespannt als falle es ihm schwer, sie unter Kontrolle zu halten. Erst jetzt bemerkte sie, dass er trotz der Hitze zitterte.
Die Gefangenschaft bringt ihn um, erkannte Winter betroffen. Der Sandkäfig hatte ihm seinen Lebenswillen geraubt. Doch da war noch etwas. Etwas, das ihn auffraß.
„Versprecht mir, dass Ihr verschwindet, wenn ich rede, und ich sage Euch alles, was ich über den Stein weiß.“
Winter zögerte.
„Also gut“, sagte sie und war froh, dass er ihre Augen nicht sehen konnte.
„Der magische Stein, den Ihr gestohlen habt, war ein Familienerbstück“, erklärte der Avariel. „Mein Vater nannte ihn den ‚Seelensplitter’ oder einfach nur ‚den Schlüssel’ und lehrte mich, dass der Stein die Stadt der Gläsernen Gesänge niemals verlassen dürfe, weil er sonst großes Leid über Faerûn bringen könne. Weshalb, das erfuhr ich nie. Er behauptete, der Stein werde mir seine Aufgabe offenbaren, wenn meine Seele dazu bereit sei. Doch das ist nie geschehen.“
So etwas in der Art hatte Winter befürchtet.
„Er wurde gestohlen“, gestand sie leise.
Für einen Augenblick meinte sie so etwas wie Betroffenheit in Elijas’ Augen zu lesen. Dann waren sie wieder kalt und leer.
„Ihr hättet ihn niemals an Euch nehmen dürfen.“
„Ihr könntet uns helfen, den Splitter wieder zu finden.“
„Das ist nicht mehr mein Problem; Ihr habt ihn gestohlen.“
„Aber es wäre uns eine große Hilfe, wenn Ihr…“
Er schnitt ihr das Wort ab: „Ihr habt gesagt, Ihr verschwindet, wenn ich rede!“
„Da… habe ich wohl gelogen“, gestand sie. „Elijas, ich will doch nur…“
„Wachen!“
In einer einzigen blitzschnellen Bewegung katapultierte sich Elijas aus der Hocke in den Sprung. Winters beschwichtigende Worte halfen nichts: Mit Händen und Füßen klammerte er sich an das Gitterdach seiner Zelle und begann wie ein eingesperrtes Tier an den Stäben zu rütteln. Aufgeregte Stimmen wurden laut und einen Augenblick später wurde die Tür des nächstgelegenen Wehrturms aufgerissen und zwei Wächter stürmten mit Knüppeln bewaffnet heraus, um den Gefangenen unter Kontrolle zu bringen.
Winter erkannte, dass sie nichts mehr für ihn tun konnte.
Aber du kennst mich schlecht, wenn du denkst, dass du mich so einfach loswirst.

Faust
Wenig später in der Arena von Westtor.
„Vampirblut“, erklärte Grimwardt, während er halbherzig das Geschehen in der Arena verfolgte. „Auf Sterbliche wirkt es wie eine Droge. Es verbessert die Reflexe und schärft die Wahrnehmung, doch über kurz oder lang tötet es den Süchtigen und lässt ihn als Vampir wiederauferstehen. Die roten Augen, die Lichtempfindlichkeit – alles Symptome einer Blutsucht.“
„Wir sollten ihm helfen“, sagte Winter bedrückt. „Könntest du ihn nicht in der Abtei behandeln?“
„Warum sollte ich?“, schnaubte Grimwardt. „Hast du vergessen, was er getan hat? Die Unschuldigen, die er auf dem Gewissen hat? Unter den Toten waren Kinder! Sein Volk hat ihn nicht ohne Grund verstoßen.“
„Sollen wir etwa zulassen, dass er zum Vampir wird?“
„Das lässt sich verhindern“, brummte Grimwardt und deutete auf seine Axt.
„Grim!“
„Warum bist du so versessen darauf, dem Kerl zu helfen?“
„Weil…“ Winter biss sich auf die Lippen, wie sie es immer tat, wenn ihr die Argumente ausgingen, und senkte irritiert den Kopf.
„Manche Leute haben keine zweite Chance verdient“, erklärte Grimwardt eisern.
„Jeder hat eine zweite Chance verdient“, widersprach Faust und betrachtete den Priester Stirn runzelnd von der Seite. Er hatte den Geschwistern nie erzählt, was er in Myth Drannor über sich selbst erfahren hatte. Was würde Grimwardt tun, wenn er es irgendwann erfuhr? Würde es etwas zwischen ihnen ändern? Wo zog der Priester seine Grenze? Was den Avariel anging, so konnte Faust sein Urteil nur aufgrund dessen  fällen, was er von den Geschwistern erfahren hatte. Doch er musste sich eingestehen, dass ihm die Zweck-heiligt-die-Mittel-Philosophie des Elfen bis zu einem gewissen Grad imponierte.
„Miu!“
Abrupt beendete Winters Aufschrei den kleinen Disput. Faust erstarrte. Was war mit Miu geschehen? Woher kam all das Blut, das ihr aus Augen und Ohren trat? Bestürzt bemerkte er die tiefen Einschnitte, die sich über ihren gesamten Körper zogen.
„Miu, was hast du getan?!“
Die Karaturianerin sah ihn mit leidenden Augen an und deutete mit dem Kopf in Richtung der Arena. Während ihrer kurzen Auseinandersetzung hatten die Gefährten kaum auf das Kampfgeschehen geachtet. In der Arena wurde die Belagerung Westtors durch die Truppen des Soleilon nachgestellt. Sir Gen Soleilon, der Paladin des Lathander, hatte nach seinem Sieg über den roten Drachen Ashardalon eine Armee um sich gesammelt und war gegen den Vampirkönig Orlak I. in die Schlacht gezogen. Nach seinem Sieg über den Nachtkönig war er zum König von Westtor gekrönt worden. Die Vampire waren natürlich nur geschminkte Gladiatoren und die glorreichen Streiter des Lathander wussten kaum, wie man mit einem Schwert umging. Umso erstaunlicher war es, dass es auf beiden Seiten bisher kaum Tote gegeben hatte. Und Faust fiel dafür nur eine Erklärung ein: Miu! Die friedliebende Karaturianerin hatte nicht mit ansehen können, wie die Kämpfer in der Arena zur Belustigung der Menge ihr Leben ließen. Wahrscheinlich hatte sie wieder einmal irgendeinen märtyrerischen Zauber gewirkt, der sie alle Wunden auf sich nehmen ließ.
„Miu, du verdammte Irre“, stöhnte Faust. „Du kannst nicht die ganze Welt retten!“
Sieh mich nicht so an!
„Oh, fahr zur Hölle!“, fluchte der Kämpfer, während er, halb wider sich selbst, seinen Knüppel packte und sich, immer zwei Sitzreihen auf einmal nehmend, einen Weg durch den Zuschauerraum bahnte. Bis die Arenenwächter merkten, was los war, war er bereits über die Bande gesprungen und hatte den nächststehenden Kämpfer nieder geprügelt. Die Fellumkleidung seiner Keule federte die Wucht seiner Schläge, als er wie ein Orkan durch die Reihen der Gladiatoren fegte. Die Männer würden von dem Ansturm allenfalls ein paar blaue Flecken und einem brummenden Schädel zurückbehalten. Sicher nicht die Art von Rettungsaktion, die Miu im Sinn gehabt hatte - aber sie hatte nun wirklich kein Recht sich zu beschweren! Wie oft sollte er noch für sie den Trottel spielen, bis ihre Weichherzigkeit sie eines Tages umbrachte? Den Turnierkommentator brachte das Auftauchen des rasenden Irren, der entschlossen schien, mit beiden Seiten gleichermaßen abzurechnen, sichtlich in Erklärungsnot. Doch die Menge jubelte – und wen kümmerte historische Genauigkeit, wenn das Volk zufrieden war?
Es dauerte nicht lange, bis auch der letzte Mann am Boden lag. Was nun? Die Wächter, die ihn eben noch aus der Arena hatten zerren wollen, wirkten nun entschlossen, ihn um jeden Preis am Gehen zu hindern. Ein so erfahrener Kämpfer war ein seltener Gast in der Arena von Westtor… und ein würdiger Gegner für den „Geflügelten Blitz“. Unter lautem Jubel wurde das Gittertor geöffnet, das die Arena von den Sandgruben trennte, und Elijas Avalior trat aus dem Schatten. Trotz der gebrochenen Flügel war der Avariel eine eindrucksvolle Erscheinung – würdevoll und vollkommen ruhig. Doch Faust wusste genug über Aufputschmittel, um zu erkennen, dass seine Gelassenheit der benebelnden Wirkung des Vampirbluts zuzuschreiben war. Wahrscheinlich verabreichte jemand ihm die Droge stets kurz vor dem Kampf, um ihn in der Arena unter Kontrolle zu halten.  
Der Kommentator gab das Startsignal. Faust gewahrte noch, wie Elijas einen Hast-Zauber auf sich wirkte, dann streifte ihn kaltes Metal. Bevor er auch nur zu erfassen vermochte, wohin sein Angreifer so plötzlich verschwunden war, traf ihn eine magische Kugel aus purer Energie in den Magen und schleuderte ihn eine Mannslänge durch die Arena. Was zur Hölle…? Faust spuckte Sand. Alles klar: Dem Klingensänger schien daran gelegen zu sein, es schnell hinter sich zu bringen. Und „schnell“ bekam hier eine ganz neue Bedeutung. Faust hatte es schon mit vielen wendigen Gegnern zu tun gehabt, aber Elijas’ Kombination aus magischer Beschleunigung und kämpferischer Präzision übertraf selbst den rasanten Schwertertanz eines Drizzt Do’Urden. Für einen Augenblick bedauerte Faust, dass er nur seinen Knüppel zur Hand hatte – mit seinem Henkersschwert hätte er sich in diesem Kampf deutlich wohler gefühlt. Dann wirbelte er herum und antwortete mit einem Sturmangriff, der den überraschten Elfen gegen die Bande schleuderte. Es regnete Federn und für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich die Blicke der beiden Kontrahenten.  
Er will sterben, erkannte Faust.
Er wusste, dass die elfische Philosophie der Seldarine den Freitod als Verbrechen wider das Leben betrachtete. Wahrscheinlich hatte der Avariel seit langem auf einen Gegner gewartet, der ihm die Stirn bieten konnte, um sein Leben zu beenden ohne seinem Glauben zuwider zu handeln. Selbst wenn Faust ihn mit dem Knüppel nur bewusstlos schlagen konnte, so würde der Kodex der Arena seinen Tod verlangen. Und darauf hoffte er. Die Erkenntnis verpasste Fausts Kampfgeist einen schweren Dämpfer. Er brauchte das Feuer, die Leidenschaft, den Siegeswillen … Welchen Reiz hatte ein Kampf, den sein Gegner zu verlieren hoffte? Nicht, dass Elijas es ihm leicht gemacht hätte! Sein rasanter Klingentanz ließ Faust kaum Raum für Gegenangriffe, doch die überrumpelnde Wucht des ersten Angriffs blieb aus. Sicher, der Avariel war geschwächt: Fausts erster Angriff hatte ihm schwer zugesetzt und die gebrochenen Flügel taten das Übrige den Kampf zu erschweren. Ein einziger sicherer Schlag und er wäre erledigt! Doch es gab keinen sicheren Schlag gegen einen Gegner, der sich schneller bewegte als die verdammte Zeit!
Ich fürchte, ich muss dich enttäuschen, dachte Faust bitter. Immerhin hatten seine Gefährten den Klingentänzer zu fünft kaum besiegen können. Elijas schien zu demselben Schluss zu kommen. Beinahe verzweifelt wirkte sein nächster Schlag… und die Arena begann sich um Faust zu drehen.
Als er wieder zu sich kam, hielt der Avariel ihm das Schwert an die Kehle. Sein Blick aus leeren Augen war auf eine Tribüne im Zuschauerraum gerichtet, wo sich Lady Thistle Thalavar, die Herrscherin von Westtor, von ihrem Platz erhob, um die Entscheidung über Leben und Tod zu verkünden, die das Publikum gefällt hatte. Sie schien nicht besonders glücklich über diese Rolle.
Ihr Daumen zeigte nach unten.
Oh, scheiße, dachte Faust.

Winter
Kurz darauf in der Nähe des Sune-Tempels im südlichen Hochwald.
Faust regte sich, als der Heiltrank zu wirken begann, und blinzelte orientierungslos ins Licht.  
„Wo…bin ich? Scheiße, bin ich tot?“
„Nein. Du bist ohnmächtig geworden, bevor ich Elijas niederschlagen konnte“, sagte Winter. „Ich habe uns aus der Arena teleportiert.“
„Oh… danke.“ Faust setzte sich auf.
„Kannst du mir mal helfen?“
Ächzend wälzte Winter den bewusstlosen Avariel auf die Seite. Ihre magischen Bolzen hatten eine hässliche Platzwunde in seine Schläfe gerissen. Faust kniete sich zu ihr und untersuchte die Wunde.
„Du hast ihm eine ordentliche Kopfnuss verpasst, aber das wird ihn nicht umbringen“, sagte er. „Wo sind Miu und Grimwardt?“
„Miu wäre fast an ihren Wunden verblutet. Grim hat sie aus dem Theater geschafft.“
„Und was nun?“ Faust wies auf Elijas. „Was machen wir mit ihm?“
„Wir bringen ihn in den Tempel.“
„Welchen Tempel?“
„Komm mit.“
Faust schulterte den Bewusstlosen und Winter führte ihn durch das Unterholz. Ein Gefühl der Beklommenheit überkam sie, als sie die Terracotta-Säulen des Sune-Tempels durch das Geäst schillern sah. Sie war nicht mehr hier gewesen, seit… seit jenem Tag. Ein Pulk junger Frauen und schöner Jünglinge in Jagdgewändern kam ihnen aus den Torbögen entgegen geeilt. Ihr unbeschwertes Lachen wich aufgeregtem Getuschel, als sie die Fremden erblickten. Das herzerweichende Bild des verwundeten Kriegers, der einen bewusstlosen „Engel“ im Arm trug, entlockte den Sune-Anhängern rührselige Seufzer. Eine junge Nymphe überwand als erste ihre Scheu und trat auf Faust zu. Schüchtern streckte sie ihre Hand aus und ließ sie sanft über Elijas’ Federkleid gleiten. Dann blickte sie mit großen, samtenen Augen zu Faust auf und zog ihn mit sich in den Tempel.
„Ähm“, machte Winter und hielt ihn am Arm zurück. „Ich muss mit Lady Amalia sprechen. Wir haben nicht viel Zeit. Wir müssen zurück nach Westtor, um einen Schlachtplan aufzustellen, ehe der Maskenball beginnt.“
„Schlachtplan...“, murmelte der Krieger mit einem entrückten Lächeln ohne die Blicke von den perfekten Rundungen der Nymphe zu lassen.
„Aber Euer Freund ist verletzt, mein Herr“, sagte sie arglos. „Und auch Ihr seid verwundet.“
„Ja, das bin ich“, hauchte Faust wie mit seinem letzen Atemzug.
Oh, bitte!
Winter verdrehte die Augen. Kopfschüttelnd sah sie zu, wie sich Faust von einem Duzend parfümierter Hände in ein luftiges Atrium und auf ein Kissenlager ziehen ließ. Dann fing sie eine der Novizinnen ab, die mit Ölen und Salben anrückten, um die beiden Verwundeten zu verwöhnen, und ließ sich zu Lady Amalia führen. Sie fand die Vorsteherin des Tempels im Gebetsraum, wo sie den Altar mit frischen Blumengestecken dekorierte.
„Winter.“ Ein schwermütiges Lächeln huschte über das Gesicht der Priesterin.
Winter musste sich beherrschen, um nicht laut mit den Zähnen zu knirschen. Sie würde Lady Amalia niemals vergeben können, was sie getan hatte.
„Wir brauchen Eure Hilfe“, sagte sie steif. „Es geht um einen Blutsüchtigen…“
Bevor sie ihr Anliegen vortragen konnte, drangen wütende Stimmen aus dem Atrium und eine Novizin kam herbeigeeilt, um Lady Amalia etwas ins Ohr zu flüstern.
„Entschuldigt mich.“
Winter folgte der Priesterin in die Säulenhalle: Das Liebesnest schien sich in wenigen Minuten in ein Tollhaus verwandelt zu haben. Faust stand aufgebracht in der Mitte des Saals und stritt mit einer hübschen Mondelfe, die mit zornigen Gesten ihre Kameradinnen aus der Nähe des bewusstlosen Avariel verscheuchte. Dazu riefen alle durcheinander und ergriffen Partei für die eine oder andere Seite.
„Nevé!“, rief Lady Amalia die Novizin zur Ordnung. „Was ist hier los?“
Sofort kehrte Stille ein.
„Der Avariel ist ein dhaerow“, sagte die Elfe starrsinnig. „Er trägt das Mal des Ausgestoßenen. Ich sagte dem Krieger, er soll ihn von hier fortschaffen!“
„Was soll der Mist?“, knurrte Faust. „Das hier ist kein elfischer Tempel.“
„Das Haus der Liebe ist freundschaftlich mit dem Immergold-Tempel verbunden, der Hanali Cenalil aus dem Pantheon der Seldarine geweiht ist“, belehrte ihn die Novizin. „Würdet Ihr dem Feind Eures Freundes Einlass in Euer Haus gewähren?“
„Das reicht.“ Lady Amalia hob beschwichtigend die Hände. „Verlasst den Raum. Ich will allein mit unseren Gästen reden… Geht. Auch du, Nevé.“
Widerstrebend gehorchte die Elfe dem Befehl ihrer Herrin.
„Es tut mir leid“, sagte Lady Amalia seufzend, nachdem die anderen gegangen waren. „Und ich entschuldige mich für Nevés Benehmen. Aber sie hat Recht. Ich kann Euren Freund nicht behandeln ohne die elfische Glaubensgemeinschaft des Hochwalds gegen uns aufzubringen.“
„Wegen eines unsichtbaren Mals?“
„Die Elfen bestrafen nur die schlimmsten Verbrechen mit dem Mal des dhaerow“, erklärte die Priesterin.
Faust murmelte schnaubend etwas von „Oberflächliches Pack“ und verließ mit Elijas in den Armen den Tempel. Lady Amalia sah ihnen bekümmert nach.
„Wenn ich sonst etwas für Euch tun kann…“
„Nein“, sagte Winter frostig und folgte Faust in den Wald. Nicht weit vom Tempel lehnten sie Elijas gegen einen Baum und ließen sich ratlos ins Moos sinken.
„Und was nun?“, fragte Faust.
Winter schüttelte mutlos den Kopf.
„Ich muss nachdenken“, sagte sie.
Ziellos machte sie einige Schritte ins Unterholz. Sie wollte allein sein. Sie war den Tränen nahe und ihre eigene Empfindsamkeit befremdete sie. Warum lag ihr so viel daran, diesen Avariel zu retten? Hatte er ihr nicht deutlich genug gezeigt, dass ihm nicht an ihrer Hilfe gelegen war?
Abrupt blieb sie stehen, als sie erkannte, wohin ihre Schritte sie gelenkt hatten.
Doriens Grab.
Er ist wie ich.
Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag: Es war nicht Elijas, den sie zu schützen versuchte, sondern sich selbst! In dem Moment, als sie ihn in der Grube gesehen und ihm in die Augen geblickt hatte, hatte sie etwas von sich selbst in ihm erkannt. Seine Welt war zusammengebrochen so wie die ihre dabei war, auseinander zu fallen, und es hatte seinen Lebenswillen zerstört. Würde sie enden wie er? Die Leere, die Doriens Tod in ihr hinterlassen hatte, die Furcht Scarlet zu verlieren und schließlich die Hilflosigkeit, die sie beim Wegfall der Magie empfunden hatte, nagten wie dunkle Schatten an ihrer Seele. Was würde von ihr übrig bleiben, wenn sich all das in Staub auflöste, woran sie hing und was ihr wichtig war?
Betäubt ließ sie sich vor Doriens Grab zu Boden sinken.
„Hilf mir“, flüsterte sie. „Sag mir, was ich tun soll.“

Faust
Wenig später.
Sie hatten Elijas mit einem Fluch belegt, der ihm beim Anblick von Vampirblut Brechreiz verursachen sollte. Ob das einen Süchtigen abhalten würde, war fraglich. Winter und Faust waren sich darüber im Klaren, dass er nur überleben würde, wenn er den Willen dazu fand.
„Er braucht ein Ziel“, hatte Winter gesagt, als sie zurückgekommen war. Sie hatte Faust nicht sagen wollen, wo sie gewesen war, doch was auch immer sie im Wald getan hatte, es hatte sie verändert. Sie wirkte entspannter als zuvor.
Faust kniete sich nieder und flößte Elijas einen Heiltrank ein. Der Avariel kam zu sich. Er blinzelte irritiert, als er in Faust seinen Kampfgegner erkannte. Doch dann erblickte er Winter und begriff.
„Aufgeben ist wohl keine Eurer Stärken“, murmelte er ergeben.  
„Nein.“
Er schloss die Augen und lachte mutlos auf.
„Ihr hättet mich sterben lassen sollen“, flüsterte er. „Schon damals, in Immerschwinge. Für mich gibt es keine Alternative. Doch das könnt ihr nicht verstehen.“
„Schon klar“, spottete Faust. „Weil wir Menschen sind, was verstehen wir schon?“ Elfischer Überlegenheitsmythos – ein weit verbreitetes Übel.
„Nein. Weil Veränderung Teil eurer menschlichen Natur ist.“
Faust runzelte die Stirn. Er hatte den Avariel falsch eingeschätzt: Er verachtete die Menschen nicht, er beneidete sie…
„Ihr könnt Euer Schicksal ändern“, sagte er. „Auch ich habe einst einen Fehler begangen, den ich glaubte, nie wieder gut machen zu können.“
„Ich habe nicht einfach einen ‚Fehler begangen’“, sagte Elijas düster. „Was ich tat, tat ich aus Überzeugung. Wenn ich falsch lag, warum haben die Seldarine mich nicht mit den anderen in den Tod geschickt? Warum… das hier?“
„Vielleicht haben sie uns geschickt, damit Ihr Euren Weg wieder findet.“
Elijas schüttelte sacht den Kopf, doch Fausts Worte schienen ihn nachdenklich gemacht zu haben. Der Kämpfer schwieg, um seine Worte nachwirken zu lassen.
„Was meintet Ihr eben, als ihr von Euren Fehlern spracht?“, fragte der Avariel schließlich.
Faust zögerte.
„Winter, würdest du vielleicht…?“
Nicht vor ihr.
„Bin schon weg.“
Nachdem Winter im Gebüsch verschwunden war, begann Faust zu erzählen. Er erzählte von den Jahren in Rabenklippe, die er als Mitglied der Neun Schwerter verbracht hatte. Von dem Streit um seinen Vater, der zu dem Kampf mit seinem Meister und dessen Tod geführt hatte. Von seiner Flucht aus Rabenklippe und der Zeit der Buße in der Welt hinter den Nebeln. Von seiner Rückkehr nach Toril und der Rebellion des Nagamura in Kara-Tur. Zu seinem Erstaunen fiel es ihm nicht schwer sich vor Elijas zu öffnen. Vielleicht weil die Ehre des Avariel mindestens so angeschlagen war wie die seine. Und es tat gut diese Dinge auszusprechen. Worte brachten alles in einen Zusammenhang, gaben dem vermeintlichen Chaos einen Sinn…
Als er schließlich aufsah, war er erstaunt, wie spät es bereits war.
„Was werdet Ihr tun?“, wandte er sich an Elijas, der ihm mit gleichmütiger Miene zugehört hatte. Unmöglich zu sagen, was er dachte.
Der Elf zögerte.
„Ich weiß nicht…Vielleicht werde ich nach Rabenklippe gehen und mich den Neun Schwertern vorstellen. Was Ihr über sie erzählt, hat mich neugierig gemacht.“
Faust hob überrascht den Kopf.  
„Oh.“
Nicht gerade die Reaktion, die er erhofft hatte. Sicher, auf eine gewisse Art und Weise hatte er genau das erreicht, was er wollte: Elijas schien nicht mehr darauf zu warten, dass ihm irgendwer ein Schwert in die Brust stieß. Fürs erste hatte er sogar ein Ziel vor Augen, etwas, aus dem er neuen Lebensmut schöpfen konnte. Wenn er ehrlich war, war die Abenteurerstadt Rabenklippe sogar der ideale Ort für einen gefallenen Avariel. Niemand würde ihn dort nach seiner Vergangenheit fragen. Und die Neun Schwerter wären ihm gegenüber vermutlich auch nicht abgeneigt: Sein Klingensänger-Stil war der karaturianischen Kampfkunst des Ordens nicht unähnlich und bei seiner kämpferischen Erfahrung wäre es Elijas vermutlich ein Leichtes, den Stil der Neun zu imitieren. Aber mussten seine Zukunftspläne unbedingt Fausts Vergangenheit beinhalten?
„Keine Angst“, sagte Elijas, der Fausts Zweifel zu erraten schien. „Falls sie noch immer nach euch suchen, werde ich niemandem verraten, wo ihr seid. Ihr habt mein Wort.“
Das Geräusch eines abgebrochenen Zweigs ließ die beiden aufhorchen. Winter trat aus dem Gehölz.
„Wir müssen zurück“, wandte sie sich an Faust. „Grim fragt sich sicher bereits, wo wir bleiben.“
Elijas, der ihre Worte als Signal zum Abschied deutete, richtete sich auf und bewegte vorsichtig die Flügel, die die Sune-Anhänger mit ihren heilenden Salben bestrichen hatten.
„Ich stehe in Eurer Schuld“, sagte er an die beiden Freunde gewandt. „Vielleicht… erhalte ich irgendwann einmal die Gelegenheit, Euch den Gefallen zurückzuzahlen.“  
Die beiden sahen ihm nach, als er die Schwingen ausbreitete und davonflog und Faust schien es als hätten sie beide den gleichen Gedanken: Vielleicht hast du das schon.


Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 27. Juni 2010, 10:32:34
Ohhhh...wie wunderwunderschön!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 27. Juni 2010, 13:05:37
Oh ja! Die inneren Konflikte der Charaktere wiederzugeben ist echt eine Stärke von dir! Aber war auch ne coole kleine Abweichung des Abenteuers  :thumbup:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 14. Juli 2010, 20:55:10
Und? Ist schon ein neues STückchen auf dem Weg?  :)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 14. Juli 2010, 22:10:06
Auf den Weg schon, aber mit der Ankunft könnte es noch ein wenig dauern...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 14. Juli 2010, 23:20:29
Ja, jetzt wo LOST für immer vorbei ist, bleibt mir ja nur noch diese Serie ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 16. Juli 2010, 23:08:15
Ich sitze auch schon wie auf heißen Kohlen.
Freu mich schon auf unsere RPG-Woche!!!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 18. Juli 2010, 17:37:12
Kapitel IV: Herrin der Träume

Winter
Am Abend im Stadtpalais der Familie Urdo.
Ein als Harlekin Maskierter öffnete den Gefährten die Tür, prüfte ihre Einladung, und bat sie mit dramatisch unheilvollen Gesten ins Haus. Zum Anlass des Abends hatten sich die Gefährten an Winters Verkleidungskiste gütlich getan – wenn es auch einiger Überredungskunst bedurft hatte, Miu balltauglich zu machen. Die genügsame Karaturianerin übertraf selbst Grimwardt in ihrem Mangel an Verständnis für derlei dekadenten Schnickschnack. Und sie hatte ein verstörendes Talent dafür, ihren „Peinigern“ mit Blicken Gewissensbisse einzubrennen: Nie hatte sich Winter bei dem Versuch, jemandem ein wenig Gesichtspuder aufzutragen, mehr wie ein Scharfrichter gefühlt.
Der Ballsaal war an den Wänden mit purpurnen Samtteppichen drapiert und ein paar silberne Kandelaber spendeten dämmriges Licht. Maskierte Ballgäste mit gepuderten Perücken und schwarzen Samtlarven standen in kleinen Grüppchen beisammen und erfüllten den Saal mit ihrem affektierten Gelächter, während Diener in schwarzen Livreen für das leibliche Wohl sorgten. Die Luft war erfüllt von einem einlullenden Duftcocktail aus Opium und Patchouli und von irgendwoher drangen die sanften, schwermütigen Klänge einer Harfe. Das Zwielicht und die Masken machten es unmöglich, zwischen Menschen und Blutsaugern zu unterscheiden, doch Winter hatte eine vage Vorstellung davon, was sich im Laufe der Nacht in den schattigen Fensteralkoven und heimlichen Sitznischen abspielen würde, wenn erst der Wein und die aphrodisierende Atmosphäre die Unvorsichtigen in die Arme ihrer Gastgeber trieben. Dennoch entfuhr der Diebesmeisterin ein sehnsüchtiger Seufzer, als sie all das lasterhafte Treiben um sich herum betrachtete. Wie lange war es her, seitdem sie selbst sich solch süßen Ausschweifungen hingegeben hatte? Wurde sie langsam zu alt für die leiblichen Freuden des Lebens? Verstohlen betrachtete sie sich in einem der mannshohen Wandspiegel: das wallende rote Haar, der schlanke Hals, die smaragdgrünen Augen… alles, wie es sein sollte. Aber waren nicht ihre Wangen ein wenig eingefallen? Hatten der Kummer und die Sorgen der letzten Monate diese dunklen Ringe unter ihre Augen gezeichnet? Und waren das etwa Krähenfüße, die sich dort in ihren Lidfalten abzeichneten? Winter erschauderte.
„Keine Zeit für Eitelkeiten“, raunzte Grimwardt und zog sie weiter. „Wir haben eine Verabredung.“
„Da sind ja unsere Ehrengäste“, ließ eine wohlbekannte Knabenstimme die Geschwister herumfahren.
Fausts Hand fuhr an den Knauf seines Schwerts und Winter hatte bereits einen Zauberspruch auf den Lippen, doch ihre Wachsamkeit verstärkte nur das süffisante Honigkuchen-Lächeln auf den Lippen des Kindvampirs. Müßig zupfte der sadistische kleine Lockenschopf ein paar Takte auf seiner Laute, um die Angespanntheit seiner Gäste auszukosten, ehe er sie mit sanfter Schlafwandlerstimme bat, ihnen zu folgen. Lauernd verfolgte Winter jeden Schritt des Knaben, während die Freunde ihm eine ausladende Treppe hinauf in den ersten Stock des Hauses folgten. Falls er sie in eine Falle zu locken versuchte, so waren sie bestens gerüstet: Die Ohrstöpsel waren nur der Anfang. Bevor sie hergekommen waren, hatten sie eine wahre Schutzzauber-Orgie veranstaltet. So eine Schlappe wie vor acht Jahren in der Purpurnen Lady würde ihnen kein zweites Mal passieren.
Der Vampir führte sie in einen Raum in orientalischem Stil mit allerlei Diwanen, exotischen Wandbehängen und leise klirrenden Windspielen. Dann schob er einen seidenen Vorhang beiseite und enthüllte drei Maskierte, die im Schneidersitz auf einem Kissenlager hockten: eine blasshäutige Adlige mit blasiertem Wimpernaufschlag und pompöser Barockperücke, ein aufgedunsener Kahlkopf in schweren Samtroben, der an jedem seiner fettigen Wurstfinger einen juwelbesetzten Ring trug, und ein Halbdrow, dessen blassrote Augen scharf hinter den Larvenschlitzen hervorstachen. Ein vierter Vampir in Knochenrüstung stand bewegungslos wie ein eherner Wächter im Hintergrund. Die Augen des Vampirknaben leuchteten auf, als er die Frau erblickte. Unterwürfig kniete er sich ihr zu Füßen.
„Candide.“ Gönnerhaft strich die Vampirin dem Jungen über die braunen Locken. „Da sind ja unsere Gäste. Sei doch so gut und bring uns etwas Wein und dann spiel uns etwas Schönes auf der Laute.“
Schweigend belauerten sich beide Parteien, während Candide davoneilte, um dem Wunsch seiner Herrin zu entsprechen. Doch die Gefährten hüteten sich, von dem Wein zu kosten, den der Knabe ihnen einschenkte. Die Vampirfürstin lachte affektiert, während der Rest des Gruselkabinetts keine Miene verzog.
„Keinen Durst?“, fragte sie spöttisch.
Winter bedachte den kleinen Seitenhieb mit einem düsteren Lächeln. Mit vergiftetem Wein hatte der Wirtshausbesitzer der Purpurnen Lady sie seinerzeit auszuschalten versucht. Sie hatten ihn vernichtet, waren jedoch am unterirdischen Labyrinth der Vampirkrypten gescheitert.
„Welch krude Zurückweisung unserer Gastfreundschaft“, stichelte die Vampirfürstin weiter. „Wo wir  doch im Gegensatz zu Eurem letzten Besuch denselben Feind bekämpfen, wie es mir scheinen will.“
„Und wer soll das sein?“
Die Vampirin zog erstaunt eine Augenbraue in die Höhe.
„Das wisst Ihr nicht?“ Sie führte forsch ihr Weinglas an die Lippen, dessen Inhalt zu zähflüssig für Rotwein war. „Dann seid Ihr nicht hier, um den Schöpfer der Albinoklone zu stellen? Dafür schient Ihr diesen liederlichen Geschöpfen aber ein lebhaftes Interesse entgegen zu bringen nach allem, was Candide mir berichtete. Und auch der Umstand, dass Euer erstes Auftauchen in der Stadt vor acht Jahren mit dem Erscheinen der ersten Klone zusammenfällt, will mir nicht wie ein Zufall erscheinen.“
Winter kniff die Augen zusammen.
„Und wer soll das sein, der Schöpfer der Klone?“
„Kein geringerer als Orlak III., Nachkönig von Westtor.“
Schon damals hatten die Gefährten vermutet, dass die Marilith, die Drake angegriffen hatte, um Komponenten für einen Klonzauber zu beschaffen, für den Vampirführer der Nachtmasken arbeitete. Aus diesem Grund waren sie überhaupt erst nach Westtor gekommen. Aber was hatte in der Zwischenzeit den vampirischen Adelsstand gegen den Nachtkönig aufgebracht?
„Und seit wann ist Orlak III. unser gemeinsamer Feind?“, sprach Grimwardt aus was sie alle dachten.
„Seit er aufgehört hat, sich an den Kodex zu halten“, erwiderte die Sprecherin des Blutsauger-Quartetts und ein unterschwelliges Knurren, das gar nicht zu ihrem damenhaften Auftreten passen wollte, begleitete ihre Worte. „Seit zweitausend Jahren beherrschen die Nachtmasken die Unterwelt von Westtor. Wir sind die Seele dieser Stadt, die wir seit jeher aus dem Verborgenen regiert haben. Seht euch um! Die Nacht ist unsere Gefährtin und Shar unsere Schutzpatronin. Es ist nicht unsere Bestimmung ans Licht zu streben so wie Orlak es tut. Er hat einen Zauber entwickelt, mit dem es uns möglich ist im Sonnenlicht zu wandeln. Kein Sterblicher sollte je unsere wahren Gesichter sehen, doch er zeigt sich ganz ungeniert in der Öffentlichkeit. An der Seite von Thistle Thalavar, diesem armseligen Geschöpf. Er plant sie zu ehelichen und mit ihr die Krone des Cormakh. Er, der das Bluterbe von Orlak I. in sich trägt, will dieses sterbliche Flittchen von niederem Stand zu seiner Frau machen! Sollen wir diesen Verrat an uns etwa dulden? Hah, vermutlich ist er nicht einmal einer von uns! Es gibt Gerüchte, wonach Orlak III. in Wahrheit von einem Klon des Schwarzmagiers Manschoon besiegt wurde, der die Treue mit den Zhentarim hält.“
„Aber wozu braucht er die Klone?“, fragte Faust.
Natürlich wussten die Gefährten die Antwort: Um den Drachen Ashardalon in der Bastion der ungeborenen Seelen zu besiegen. Doch wie gelangte man in die Bastion? Wo befand sie sich? Und was wollte der Unsterbliche dort? Wussten die Vampire die Antwort auf diese Fragen? Doch die Gefährten wurden enttäuscht.
„Orlak erschuf sich eine Armee“, meldete sich der Kahlkopf mit säuselnder Eunuchenstimme zu Wort. „Um die Kontrolle über die Gilde an sich zu reißen. Er hat die Körper der Bleichen mit der Essenz seines Geistes erfüllt, sodass sie ihm in allen Belangen ergeben sind.“ Er lehnte sich zurück, und kostete mit geschürften Lippen von seinem Blutwein. „Das ergaben jedenfalls die Auswertungen seiner magischen Experimente. Die ersten Klone tauchten vor acht Jahren auf. Seither ist ihre Zahl stetig angestiegen. Als Orlak verschwand, gingen sie mit ihm, kehrten jedoch kurz darauf zurück, um an seiner Statt die Geschicke der Gilde zu leiten.“
„Dieser Halunke“, begehrte der Halbdrow auf, der sich bis jetzt in düsteres Schweigen gehüllt hatte. „Uns hätte dieses Vorrecht gegolten! Sich einfach über Jahrtausende alte Traditionen hinweg zu setzen, wie kann er…“
Der Eunuch legte beschwichtigend seine Wurstfinger auf den Arm des jähzornigen Vampirfürsten und das animalische Zucken des Halbdrow hörte ebenso abrupt auf wie es aufgetreten war.
„Orlak ist verschwunden?“, fragte Faust.
„Oh ja“, säuselte Kahlkopf. „Seit fast drei Monaten ist er wie vom Erdboden verschluckt. Kein Aufspürungszauber vermag ihn zu orten.“
Winter fuhr ein eisiger Schreck durch die Glieder.
Er ist bereits in der Bastion!
Eilig rechnete sie zurück. Fast drei Monate. Zweieinhalb Monate war es her, seitdem der Klon ihnen den Seelensplitter gestohlen hatte. Elijas’ Vater hatte den Stein einen Schlüssel genannt. Der Schlüssel zur Bastion! Das war der Grund, weshalb der Splitter die Stadt der Gläsernen Gesänge nicht hätte verlassen dürfen! Der Mythal der Elfenstadt hatte die Ortung des Steins Jahrhunderte lang verhindert. Erst als er mit ihnen die Stadt verlassen hatte, war es Orlak gelungen, den Schlüssel ausfindig zu machen. Mit einer ganzen Armee von Soleilon-Erben war er in die Bastion marschiert und hatte den Drachen besiegt!
Winter spürte, wie ihre Hände feucht wurden. Es war ihre Schuld… wieder einmal! Es schien als habe das Schicksal sie in dieser Mission zum Scheitern verurteilt.
„Gibt es Anhaltspunkte?“, fragte sie. Vielleicht irrte sie sich. Vielleicht hatten der Diebstahl des Seelensplitters und das Verschwinden des Nachtkönigs gar nichts miteinander zu tun. Immerhin war die Welt noch nicht untergegangen…
„Ich habe sämtliche Aufzeichnungen des Nachtkönigs durchforstet“, erklärte der Eunuch und faltete selbstgefällig die Hände über dem schwammigen Bauch zusammen. „Es ist mir nicht völlig gelungen, seinen Code zu entschlüsseln, doch einige Worte schienen mir gehäuft darin aufzutreten. Immer wieder fand ich zum Beispiel den Hinweis auf einen Ort, den er den Seelenquell nannte. Auch die Traumebene erwähnte er hin und wieder. Dort erhoffte Orlak offenbar Näheres über jenen Seelenquell zu erfahren.“
Die Traumebene? Das war eine neue Information. Wahrscheinlich hatte der Vampirkönig so von dem Schlüssel erfahren. Vielleicht konnten sie dort Hinweise auf einen weiteren Zugang zur Bastion finden.
„Wie gelangt man auf die Traumebene?“, fragte Grimwardt.
„Für unsere Art ist dieser Ort unerreichbar“, erklärte der Eunuchenfürst. „Ihr Sterblichen dagegen betretet ihn jede Nacht im Schlaf. Doch im Schlaf seid ihr völlig dem Spiegel eurer Seelen ausgeliefert, den die Herrin der Träume euch vorhält. Sie ist die Herrscherin der Traumebene. Um sie zu treffen und von ihr zu erfahren, was sie in den Seelen der Sterblichen liest, müsst ihr bei Bewusstsein sein. Es gibt in den Vampirkrypten einen Zugang zur Traumebene – eine unserer Fallen, mit denen wir unsere sterblichen Besucher in die Irre führen. Ihr selbst habt bereits Bekanntschaft mit einer ähnlichen Falle gemacht, wie uns zu Ohren gekommen ist“, fügte er süffisant hinzu.
„Wenn die Traumebene für euch nicht erreichbar ist, wie ist Orlak dann dort hin gelangt?“ Winter hielt es für das Beste, die überhebliche Anspielung auf ihren unfreiwilligen Besuch auf der Schattenebene zu ignorieren.
Kahlkopf bedachte sie mit einem gönnerhaften Schmunzeln.  
„Unsere Macht über die Menschen dieser Stadt ist praktisch vollkommen“, erklärte er verächtlich. „Es dürfte dem Nachtkönig nicht schwer gefallen sein, einen willigen Informanten zu finden.“
„Wenn ihr jeden beliebigen Bürger zur Herrin der Träume schicken könnt, wozu braucht ihr uns dann?“
Der Eunuch lachte affektiert und nippte mit schlecht überspielter Nervosität an seinem Blutwein.
„Um den Nachtkönig zu töten.“
„… damit ihr, falls wir draufgehen, jede Beteiligung verleugnen könnt, verstehe“, knurrte Faust.
„Diese Unterredung hat nie stattgefunden“, betätigte der Fettwanst mit einem aalglatten Lächeln.
„Und worin genau besteht eure Beteiligung?“
„Wie wär’s mit: Wir lassen euch am Leben?“, zischte der Halbdrow und seine Eisaugen funkelten blutlüstern. Doch wieder beruhigte Kahlkopf ihn mit einem Händetätscheln.
„Wir zeigen euch den Zugang zur Traumebene und erklären uns bereit, die Verfolgung eures Piratenfreunds einzustellen. Ihr seht: Da wir euch ein Ziel vorgeben, das ihr ohnehin verfolgt, könnt ihr bei diesem Handel nur gewinnen.“
Dem war nicht viel entgegen zu setzen. Trotzdem war keinem der Gefährten wohl bei dem Gedanken, der Führungsriege der Nachtmasken einen Gefallen zu erweisen.
„Und was passiert, wenn wir erfolgreich sind und Orlak III. vernichten?“
„Dann wird einer von uns seine Nachfolge antreten“, erklärte der Vampirfürst diplomatisch, doch Winter entging nicht das wachsame Funkeln in den Augen der Vampirin und das unterschwellige Schnauben des Halbdrows. Einzig der Knochenritter, der während der ganzen Unterhaltung reglos auf seinem Platz geharrt hatte, gab auch jetzt keine Gefühlsregung preis. Es blieb nur zu hoffen, dass sich die vier Vampirfürsten nach Orlaks Vernichtung gegenseitig an die Kehle gehen würden. Eine Fehde um die Thronfolge war im Grunde das Beste, worauf die Gefährten hoffen konnten. Das Böse richtet sich gegen sich selbst – hin und wieder traf das alte Sprichwort zu. Allerdings war es wenig ratsam, sich allzu häufig darauf zu verlassen…
„Dann sind wir uns also einig.“ Die Vampirfürstin deutete das Schweigen der Gefährten als stumme Zustimmung. „Candide wird Euch morgen bei Sonnenaufgang am Gasthaus abholen, um euch zum Traumportal zu führen.“

Faust
Am nächsten Morgen.
„Drizzt oder Elijas?“, fragte Faust, während die Gefährten vor dem Eingang des Goldenen Esel auf ihren vampirischen Führer warteten.
„Elijas“, brummte Grimwardt.
Faust schüttelte den Kopf.
„Stärkere Defensive, aber Drizzt kann besser zuhauen.“
„Fliegen und zaubern“, konterte Grimwardt.
 Faust schnalzte zweiflerisch mit der Zunge.
„Um wie viel würdest du wetten?“
„Ich wette nicht.“
„Jetzt geht das schon wieder los“, kommentierte Winter nüchtern das Gedankenduell der beiden Kämpfer. Zur Erlösung der beiden weiblichen Gruppenmitglieder trat in diesem Augenblick der Gastwirt vor die Tür.
„Seid ihr die Helden von Immerschwinge?“, fragte er. „Gerade kam ein kleiner Junge herein, der nach euch sucht.“
Candide hatte es sich auch dieses Mal nicht nehmen lassen, den Gefährten auf seine stille, höhnische Art seine Gerissenheit unter die Nase zu reiben. Wie alt er auch in Vampirjahren sein mochte, er hatte noch immer die emotionale Reife eines Zehnjährigen. Mit derselben Häme, mit der er dem Gastwirt den armen kleinen Straßenjungen vorgegaukelt hatte, um ins Haus gebeten zu werden, trat er nun mit einem seelischen Seufzer ins Sonnenlicht, nur um zu demonstrieren, dass selbst das Tageslicht kein Hindernis für ihn darstellte. Als er die Gefährten kurz darauf in die Kanalisation lockte und sie durch den ärgsten Unrat stapfen ließ, während er selbst spinnengleich an den Wänden entlang kroch, bekam Faust nicht Übel Lust, bei nächster Gelegenheit den Lichtschutzzauber zu bannen, der auf ihm lag, um zuzusehen, wie sich die Flammen durch sein überhebliches Engelsgesicht fraßen. Die Vampirlady wäre vermutlich nicht allzu glücklich über die Einäscherung ihres kleinen Lieblingsbarden, aber Candide war schließlich nicht Teil ihres Paktes…
Nebel.
Faust erstarrte. Sie waren angekommen. Der Vampirjunge hatte sie zu einem alten Bewässerungsschacht geführt, aus dem dichte, weiße Nebelschwaden quollen. Faust spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten.
„Ihr gelangt auf die Traumebene, sobald ihr durch die Nebel geht“, erklärte Candide. „Die Herrin der Träume schätzt Besucher nicht besonders. Sie wird versuchen, sich euch mit Albträumen vom Leib zu halten. Seid darauf gefasst.“ Und mit einem unheilschweren Lächeln  fügte er hinzu: „Habt süße Träume!“
Mit diesen Worten ging der Vampirjunge auf die Nebel zu, die mit geisterhaften Dunstklauen nach ihm griffen. Nach wenigen Augenblicken hatte der Nebelschlund ihn verschlungen. Mit schierem Horror starrte Faust auf die Stelle, die die kleine Gestalt verschluckt hatte. Nur mit größter Mühe widerstand er dem Drang, einfach davonzurennen.
„Da… bringen mich keine zehn Pferde rein“, brachte er schließlich hervor.
„Warum?“, fragte Winter verwundert.
„Es sind die Nebel…“ Ihm versagte die Stimme.  
Die anderen warfen sich befremdete Blicke zu.
„Du hast Angst vor Nebeln?“, fragte Grimwardt schroff.
„Das solltest du auch“, erwiderte Faust. „Sie sind gekommen, um uns zu holen. Um mich zu holen.“
Er kannte diese Blicke: Wir wussten gar nicht, wie irre zu bist. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, als er die Menschen auf Rabenhorst auf ähnliche Art und Weise angesehen hatte, wenn sie von den Nebeln gesprochen hatten… Miu ergriff behutsam seine Hand.
„Tja…“, versuchte Winter zu vermitteln. „Wir… könnten uns alle an den Händen fassen und gemeinsam durch den Nebel gehen.“
„Das bringt nichts!“, fuhr Faust sie an wie ein in die Enge getriebenes Tier. „Sie werden jeden von uns in seine ganz persönliche Hölle bringen und dann gibt es kein Zurück mehr!“
„Aber du… bist auch zurück gekommen.“
Er starrte sie an ohne ihr wirklich zuzuhören.
„Ich werde eine Münze werfen.“
Wenn das Schicksal will, dass ich zurückkehre, dann kann ich es nicht ändern.
„Äh… gut, wenn du meinst.“
„Kopf“, entschied er. Dann schnickte er die Münze in die Höhe, sah zu wie sie sich mehrmals um die eigene Achse drehte, und fing sie auf dem Handrücken auf.
Kopf.
Faust schluckte.
Das Schicksal hat entschieden.
„Können wir jetzt endlich gehen?“, brummte Grimwardt ungeduldig.
„Also gut…“, murmelte Faust. „Falls unsere Wege sich hier trennen: War mir eine Ehre, euch kennen gelernt zu haben.“
Dann holte er tief Luft und trat in den Schacht.

Grimwardt
Die Nebel verziehen sich und Grimwardt steht allein im Innenhof seiner Abtei. Leichengeruch liegt in der Luft. Seine Schritte hallen dumpf vom Steinboden wider. Der erste Leichnam hängt mit verdrehten Gliedern in der Umzäumung des Trainingsplatzes. Der vergiftete Pfeil steckt noch in seiner Kehle. Die nächste Leiche wurde auf ähnliche Art getötet. Grimwardt erkennt die Geschütze an den Schaftfedern: Drowpfeile. Sie tragen Gaum Auzkovyns Handschrift. Sein Blick geht in die Höhe, sucht das kleine vergitterte Fenster im zweiten Stock des Hauptgebäudes: sein Arbeitszimmer. Seine Befürchtung bestätigt sich, im Innern brennt Licht: Der Clanführer ist bis ins Herz seiner Welt vorgedrungen, um ihn zu verhöhnen.
„Wo warst du?“
Er dreht sich um. Dort steht Jareth als sei er aus dem Nichts erschienen: Jareth, sein Erster Schwertbruder und sein Freund aus Jugendtagen, wie er ihn zuletzt in den Kerkern der Abtei gesehen hat: sein Gesicht eine unförmige Masse aus Blut und Hautfetzen, seine Glieder verdreht und mehrfach gebrochen. Graums Männer folterten ihn, ehe sie ihn töteten. Offenbar war er nicht gewillt, mit ihnen zu plaudern. Guter Mann.
„Wo warst du, als sie die Abtei angriffen?“, fragt er noch einmal. „Wir hätten dich hier gebraucht.“
„Es gibt nichts, wofür ich mich rechtfertigen müsste“, erklärt Grimwardt ruhig „Vor dir oder der Herrin der Träume oder meinem Gewissen oder was auch immer du repräsentierst. Doch ich bedaure deinen Tod, Jareth.“
„Ach ja?“ Die Erscheinung tritt näher und mustert ihn aus verquollen, blutunterlaufenen Augen. „Du bist in die Wüste aufgebrochen, obwohl du wusstest, dass einige von uns zurückgeblieben sind, um die Abtei bis zum bittereren Ende zu verteidigen.“
„Das war deine Entscheidung“ erinnert ihn Grimwardt. „Meine war es, dafür zu sorgen, dass Myth Drannor nicht in die Hände der Feinde fällt. Es war eine taktische Entscheidung.“
„Myth Drannor?“ Jareth lacht bitter auf. „Wem hast du die Treue geschworen, Grimwardt? Den Elfen von Cormanthyr oder den Menschen des Schlachtentals?“
„Ich habe Tempus die Treue geschworen“, erwidert Grimwardt.
„Ihm und der Abtei! Die Abtei hast du verraten. Damit hast den Segen des Feindhammers verwirkt.“
Ein Windhauch fegt die Erscheinung hinfort, doch sogleich tritt eine neue an ihre Stelle: Jareth der Krieger, gerüstet mit Schild und Flügelhelm und bereit für den Kampf. Er erhebt sein Schwert gegen seinen Freund und Herrn.
„Grimwardt Fedaykin, ich fordere dich zum Kampf heraus. Verteidige deine Ehre oder stirb in Schande!“
Grimwardt schließt für einen Moment die Augen und ballt die Hände zu Fäusten, um den aufkeimenden Zorn zu unterdrücken.
Es ist nur ein Traum, erinnert er sich selbst. Jareth ist tot und er hat es nicht verdient, dass diese Hexe von Traumflüsterin ihn dazu benutzt, dir ein schlechtes Gewissen einzureden. Du hast dir nichts vorzuwerfen. Du hättest ihn nicht retten können.
„Also schön“, sagt er und zieht sein Schwert. „Du sollst in Würde sterben, Jareth. Und wenn es nur in meinen Träumen ist.“


Winter
Sie läuft durch einen morgenfeuchten Frühlingswald. Scheu tasten sich Nebelschlieren über den moosigen Untergrund und hinterlassen glitzernden Raureif auf den Farngewächsen. Dann lichtet sich der Wald und gibt den Blick frei auf einen kleinen Weiher. Ein Reiher dreht dicht über der Wasseroberfläche seine Runden und landet dann im Schilf. Am Ufer sitzt eine Gestalt, die ganz in die Betrachtung der Morgenidylle versunken ist. Winters Herz macht einen Sprung, als sie ihn erkennt.
„Das ist kein Albtraum“, flüstert sie.
Dorien wendet sich zu ihr um.
„Danke, sehr freundlich.“ Er lacht. Ein leichtes, unbeschwertes Lachen. „Komm, setz dich zu mir.“
Sie lässt sich ins Ufergras sinken. Ihr Herz pocht noch immer wie verrückt. Er wirkt zu real für ein Traumbild: die feinen Mosaike in seinen eisblauen Augen, die leicht arrogante Wölbung seiner Augenbrauen, die langen Wimpern, die seinem Gesicht eine feminine Note geben… zu detailreich für einen Traum. Wie gerne würde sie sich dem Traum einfach hingeben, vergessen, dass es ein Traum ist. Doch sie traut der Idylle nicht.
 „Du hast sicher viele Fragen…“
Sie zögert. Es fällt schwer die Frage auszusprechen, die sie am meisten quält.
„Bist du… bist du glücklich, dort, wo du jetzt bist?“
„Dort wo ich jetzt bin, bin ich nicht ich“, erwidert er. Er lächelt, doch es ist ein wehmütiges Lächeln. „Gefühle sind an sterbliche Erfahrungen gebunden.“
Sie senkt den Blick. Das ist kein Trost, es bestätigt nur ihre Befürchtungen: Es gibt keinen Ort, an dem sie ihn jemals wieder sehen könnte. Welche Form seine Seele auch angenommen hat, seine Erinnerungen, seine Erfahrungen, das was ihn ausgemacht hat, ist mit seinem Körper gestorben. Der Dorien, den sie kannte, existiert nur noch in ihren Erinnerungen und die werden nicht immer so klar sein wie dieser Traum…
„Du… verstehst doch, warum ich es getan habe, oder?“, fragt er leise. „Ich konnte es nicht ertragen. Also habe ich das getan, was ich meistens tue. Ich bin davongerannt… und habe gehofft, dass du stärker bist.“
„Ich versuche es“, sagt sie mit belegter Stimme.
„Oh, das gelingt dir ganz gut“, erwidert er nicht ohne einen Hauch von Bitterkeit. „Es ist dir immer gut gelungen, dich abzulenken.“
Sie hebt verwundert den Kopf.
„Meinst du…?“ Sie lacht auf. „Joe? Die Hochzeit? Ach Dorien, du kennst mich doch.“
„Ja“, murmelt er ohne sie anzusehen. „Und ich habe es nie verstanden.“
„Es geht dabei ums Geschäft.“
„Nein.“ Er hebt jäh den Kopf. „Auf unseren Abenteuern hast du mehr Gold verdient als jeder dieser Kerle in seinem ganzen Leben gesehen hat. Gib es zu, im Grunde genießt du es, dass…“
Irritiert bricht er ab.
„Selbst in deinem Traum streiten wir uns“, stellt er mit entwaffnender Nüchternheit fest. Dann seufzt er und streift ihr mit einer versöhnlichen Geste eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Tut mir leid…“
„Ist schon gut…“
Sie sinkt in seine Umarmung und schließt die Augen. Sein Atem streift ihr Gesicht und sie biegt den Kopf in den Nacken in Erwartung seines Kusses.
„Hat es dir eigentlich Vergnügen bereitet, mich zu töten?“
Sie fährt zusammen. Die Eiseskälte seiner Worte trifft sie unvorbereitet. Sie blickt zu ihm auf, sucht in seinen Blicken nach einer Erklärung, doch sie findet nur kalte Verachtung. Dann huscht ein eigenartiger Ausdruck schmerzhafter Überraschung über sein Gesicht und er schnappt röchelnd nach Luft. Blut rinnt aus seinem Mundwinkel und seine Augen flackern.
„Dorien!“
Erst jetzt spürt sie etwas Kaltes, Metallenes zwischen ihren Fingern und als sie an sich herabblickt, erkennt sie, dass es ein Dolch ist. Die Klinge steckt in Doriens Brust: sie hat sein Herz durchbohrt. Winter springt entsetzt zurück.
Das ist der Punkt, wo der Traum zum Albtraum wird.
Auf einmal hört sie hinter sich applaudierendes Klatschen. Das Geräusch klingt wie bitterer Hohn in der Stille, die Doriens sterbender Atem hinterlässt. Winter wirbelt herum.
Drake. Natürlich.
„Respekt!“, applaudiert der Albino. „Alle Achtung, das hätte ich dir gar nicht zugetraut.“
Das bringt das Fass zum Überlaufen.
„Du!“ Blind vor Wahn stürzt sie auf ihn zu, den blutigen Dolch noch in der Hand. „Mach dass du aus meinem Traum verschwindest!“
Drake lacht.
„Es ist dein Traum. Ich bin hier, weil du es willst.“
„Von wegen! Keine Ahnung wie, aber irgendwie hast du sich in meinen Traum geklinkt, um mich wieder zu manipulieren oder zu erpressen oder deine kranken Spielchen mit mir zu treiben, du verdammter Hurensohn!“, wütet Winter.
„Ehrt mich, dass du mir das zutraust, aber ich muss dich leider enttäuschen“, spottet Drake. „Nicht ich bin derjenige mit dem blutigen Dolch in der Hand. Wie schon gesagt: Meinen Respekt dafür. Aber hör doch bitte damit auf, dir einzureden, Dorien geliebt zu haben, bloß um seinem Tod einen Sinn zu geben. Das ist wirklich erbärmlich.“
„Erbärmlich ist es, eine Siebenjährige zu entführen, weil du zu feige bist, deine Freunde um Hilfe zu bitten!“
„Du lenkst schon wieder ab. Muss sehr frustrierend sein, mich diesmal nicht zum Sündenbock stempeln zu können. Dabei sollte dir im Moment etwas ganz anderes Sorgen bereiten... Dreh dich mal um.“
Wider sich selbst wendet Winter sich tatsächlich um. Dorien! Mit blutender Brust und totenbleichem Gesicht richtet er sich auf. Ein Schatten huscht über seine Züge und verwandelt sein Gesicht in eine Maske der Rachsucht. Anklagend erhebt er die Hand gegen Winter und von seinen Lippen dringen zischende Worte der Magie.
Sie schließt die Augen und spürt, wie ihr eine Träne über die Wange rollt. Ergeben breitet sie die Arme aus.
„Tu es“, flüstert sie.


Faust
Eine Sandgrube irgendwo in der Wüste, so tief wie ein Brunnenschacht und nur ein wenig breiter. Die Sonne steht senkrecht über der Schachtöffnung wie ein gleißender, pulsierender Feuerball und es ist brütend heiß. Er spürt eine Bewegung neben sich. Neben seiner Grube befindet sich eine weitere, getrennt von seiner durch ein Gitter. Darin kauert eine kleine, dunkelhaarige Gestalt. Miu. Verängstigt schlingt sie die Arme um den Körper und versucht ihr Gesicht vor den penetranten Strahlen der Sonne zu schützen. Faust lässt sich ergeben gegen die Gitterstäbe sinken.
„Willkommen in Rabenhorst“, sagt er mit einem tiefen Seufzer. „Keine Angst, Miu. Wir werden nicht ewig in diesem Loch hocken. Nur solange, bis eine Leiche durch die Decke fällt und wir uns vor Grauen durch den Sand graben oder so.“
Zur Sicherheit probiert er einen Zauber aus. Natürlich vergeblich, hätte ihn auch gewundert, wenn die Nebel es ihnen so leicht machen würden. In seiner Hosentasche ertastet er seine Glücksmünze.
Wirklich eine beschissene Idee, durch den Nebel zu gehen, tadelt er sich selbst. Als ob ich es nicht besser gewusst hätte.
Sie müssen lange warten. Schließlich weicht die Sonne dem Mond und die Wärme des Tages einer eisigen Wüstennacht. Der Durst raubt den beiden Gefangenen beinahe die Besinnung. Dann endlich vernimmt Faust Schritte im Sand.
„Hey!“, brüllt er den Schacht hinauf.
Niemand antwortet. Einer der Fremden lässt ein Seil in Mius Zelle hinab und drei vermummte Gestalten klettern schweigend in die Tiefe. Einer von ihnen zerrt Miu zu Boden und reißt ihr die Kleider vom Leib.
„Scheiße, was…nicht!“ Faust rüttelt mit aller Macht an den Gitterstäben.
Sein Gebrüll ist das einzige Geräusch. Bis er Mius schmerzerfüllten Schrei vernimmt, kehlig und rau, das erste Geräusch, das seit ihrer Kindheit von ihren Lippen dringt. Er weiß sofort, dass das in ihren Augen schlimmer ist als alles andere. Nicht die Schändung, sondern der Bruch ihres Gelübdes, ist es, was ihr Schande bereitet.
Das ist nicht seine Hölle, sondern Mius.  
Sie gehen ebenso schweigend und gestaltlos wie sie gekommen sind. Miu liegt zusammengekauert am Boden und nur das lautlose Schluchzen, das dann und wann ihren Körper erzittern lässt, sagt Faust, dass sie noch am Leben ist.
„Miu…“ Er umklammert die Gitterstäbe so fest, dass seine Knöchel weiß unter der Haut hervorstechen, denn er weiß, dass nichts, was er sagt, sie trösten kann. „Verdammt, Miu, es war doch nicht deine Schuld… du warst machtlos“
„So wie du.“
Faust fährt herum. Ein Mann um die Fünfzig, aus dem Nichts erschienen, mustert ihn durchdringend aus rot glühenden Augen. Ein einnehmendes, wenn auch leicht spöttisches, Lächeln umspielt seine Lippen.
„Was ist das für ein krankes Spiel?“, fragt er düster, die Hand auf dem Schwertknauf. Zwielicht erzittert unter der Berührung. Wie beim Kampf mit dem Höllenteufel drängt das Schwert ihn zum Angriff.
„Warum konntest du ihr nicht helfen, Desmond?“, fragt der Fremde.
„Scheiße, woher kennst du meinen Namen?“
Der Rotäugige lacht leise.
„Du konntest ihr nicht helfen, weil du machtlos bist. Nur ein Mensch.“
„Und was bist du?“
Ein Schatten wischt die Erscheinung hinfort. Faust zieht sein Schwert und dreht sich wachsam um die eigene Achse. Der Schatten taucht am anderen Ende der Zelle wieder auf und materialisiert sich erneut – doch diesmal offenbart der Fremde ihm seine wahre Gestalt. Die ledernen Teufelsschwingen nehmen die gesamte Breitseite des Schachts ein und zwei kleine Hörner sprießen aus der Stirn des Wesens.
„Du solltest eigentlich wissen, was ich bin“, erklärt er.
Faust schluckt. „Mein Vater.“
Vielleicht ist es doch nur ein Traum, hofft er. Oder haben die Nebel ihn tatsächlich zu dem Mann geführt, nach dem er insgeheim seit Jahren sucht. Wenn dies kein Traum ist, dann hatte Thallastam Recht und sein Vater verkaufte seine Seele, um… ja, um was?
„Ja, ich habe eine Entscheidung getroffen“, beantwortet der Halbteufel die unausgesprochene Frage. „Weil ich die Ohnmacht nicht ertragen konnte. Nicht ertragen wollte. Ein sterbliches Leben ist zu kurz, für alles was ich sein konnte und noch sein werde.“
Faust weicht unwillkürlich einen Schritt zurück. Was er sagt klingt wie ein Echo seiner eigenen Gedanken.
„Und ich kann dir das selbe Geschenk machen, Desmond.“
„Zu welchem Preis?“, fragt Faust tonlos. „Den Verrat an meinen Freunden?“
Sein Vater lächelt.
„Macht ist teuer, doch sie hat nicht für jeden den selben Preis.“
Zwiespalt scheint in seiner Hand zu zerbersten.
Er kann sie spüren, die sprühende Energie, die diesem Wesen innewohnt, und sie benebelt ihn. Er verzehrt sich danach, das hat er schon immer, und der Wunsch nach Macht und Ruhm und Unsterblichkeit wird ihn immer vorantreiben. Das ist sein Schicksal. Aber nicht so… Das ist nicht sein Weg.
„Nein.“ Das Wort kommt nicht leicht über seine Lippen.
Die lässige Fassade des Halbteufels beginnt zu bröckeln und enthüllt eine grässliche Fratze des Zorns und der Verbitterung.
„Dann wählst du also die Sterblichkeit?“
„Ja…“ Für jetzt.
Der Halbteufel zieht sein Flammenschwert.
„So sei es.“

Grimwardt
Auf der Traumebene.
„Ruhe in Frieden.“
Der Traum verflüchtigte sich, noch während Grimwardt das Totengebet für Jareth sprach, und enthüllte die wahre Gestalt der Traumebene: ein gigantisches, weißes Nebelmeer, das ihm bis zu den Hüften reichte. Er spürte keinen Boden unter den Füßen, doch es bereitete ihm auch keine Schwierigkeit, sich auf dem losen Grund fortzubewegen. Der Tempuspriester machte sich auf die Suche nach seiner Gefährten.
„Verdammter Nebel!“
Grimwardt seufzte.
Er folgte dem Fluchen und überraschte Faust dabei, wie er sich verdrießlich mit dem Schwert einen Weg durch die Dunstschlieren bahnte. Der Priester trat ihm mit verschränkten Armen in den Weg.
„Bist du jetzt dazu übergegangen, den Nebel zu zerhacken, statt vor ihm davonzulaufen?“, knurrte er.  
„Grimwardt!“ Faust schien ehrlich überrascht. „Du hier?“
„Was soll das heißen, ‚ich hier’? Das war der Plan, oder nicht?“
„Dann… war das tatsächlich ein Traum?“
Faust schien darüber äußerst erleichtert zu sein. Grimwardt konnte nur den Kopf schütteln.
„Wenn du mir jetzt wieder was von der Hölle erzählst, könnte es gut sein, dass ich die Fassung verliere“, informierte er den Gefährten. „Sag mir lieber, ob du hier irgendwo eine Spur von Miu oder meiner Schwester gesehen hast?“
„Nein… hier nicht.“
Also wateten sie weiter durch das Nebelmeer, doch sie fanden keine der beiden. Stattdessen stießen sie nach kurzer Zeit auf ein seltsames, ovales Gebilde. Die schwarze Kapsel hatte etwa die Größe eines Sarges. Durch ein Glasfenster erblickten sie eine wunderschöne junge Frau, mit dichtem schwarzem Haar, die mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen in einem Bett aus Wolken ruhte. Nur ihr Busen, der sich sanft hob und wieder senkte, verriet, dass sie noch atmete.
„Ich küsse sie“, bot Faust sich eilfertig an.
Grimwardt bedachte die Ankündigung mit einem Stirnrunzeln.
„Und in wiefern soll das unsere Mission weiterbringen?“, fragte er nüchtern.
Faust grinste. „Kennst du nicht die alten Legenden? Die Herrin der Träume kann nur durch einen Kuss aus dem Schlaf erweckt werden.“
„Meinetwegen“, brummte der Kriegspriester. „Aber zuerst müssen wir an sie heran kommen.“
Sie fanden einen Mechanismus, der das Glasfenster öffnete. Kaum hatte sich der Traumnebel aus dem Gebilde verflüchtigt, verwandelte sich die Gestalt im Innern der Kapsel: Statt in das Antlitz einer schönen jungen Frau blickten die Gefährten in die grässliche Fratze einer alten Nachtvettel. Eitrige Furunkel prangten auf ihrer Stirn und aus der schiefen Nase wuchsen gräuliche Härchen.
Faust schrak angeekelt zurück.
„Dein Einsatz“, schmunzelte Grimwardt nicht ohne einen Hauch von Schadenfreude.
„Vielleicht irre ich mich auch“, versuchte der Krieger sich aus der Affäre zu ziehen. „Die Verwandlung verschweigen die Geschichten schließlich auch.“
„Aus verständlichen Gründen“, bemerkte der Priester. „Jetzt mach schon.“
Faust schluckte.
„Für die Mission“, seufzte er aufopferungsvoll und drückte der Vettel mit zugekniffenen Augen und geschürzten Lippen einen hastigen Kuss auf die Lippen. Ein Schaudern durchfuhr ihn und er versuchte den schalen Geschmack durch eiliges Spucken und Lecken wieder loszuwerden.
„Scheint nicht zu funktionieren“, bemerkte Grimwardt. „Vielleicht musst du die Sache leidenschaftlicher angehen.“
„Leck mich.“
„Dann auf meine Art.“
Grimwardt packte die alte Hexe grobschlächtig bei den Schultern und begann zu rütteln. Mit Erfolg: Ein krötiges Krächzen drang über die Lippen der Traumherrin und sie öffnete blinzelnd die Augen.
„Wer seid Ihr, dass Ihr es wagt, in mein Reich einzudringen und mich aus dem Schlaf zu rütteln?“, krakeelte sie.
„Wir haben Fragen, die nicht warten können.“
„Was könnte wichtiger sein, als die Träume der Schlafenden?“
„Aus diesem Grund sind wir hier. Wir brauchen Informationen, die nur Ihr uns geben könnt, Herrin.“
„Na gut“, grummelte die Alte. „Aber beeilt Euch. Solange ich wache, sind die Schlafenden ohne Träume.“
„Zuerst wüssten wir gerne, was mir unseren beiden Gefährtinnen passiert ist“, erklärte Faust.
„Sie konnten ihre Träume nicht besiegen. Den eigenen Tod kann man nicht träumen, darum sind sie aufgewacht und haben die Traumebene verlassen.“
„Aber es geht ihnen gut?“
„Ich töte nicht. Ich zeige den Schlafenden nur ihre Ängste und Begehren durch den Spiegel ihrer Seelen.“
„Dann könnt ihr in die Seele eines jeden Sterblichen blicken?“
„Eines jeden Wesens, das schläft“, berichtigte die Nachtvettel.
„Habt Ihr auch in den Geist des Drachens gesehen, der die Bastion der ungeborenen Seelen besetzt?“, erkundigte sich Grimwardt.
„Die Bastion, schon wieder“, grummelte die Alte. Offenbar hatte der Nachtkönig von Westtor tatsächlich einen menschlichen Boten geschickt, um Informationen über den Seelenquell zu sammeln. „Ja, ich habe Ashardalons Träume gesehen. Sie handelten meist von den ungeborenen Seelen, die er verzehrte, um sein krankes Herz am Leben zu erhalten.“
„Sein krankes Herz?“
„Er stahl es von einem Dämon, nachdem Gen Soleilon von Westtor sein eigenes Herz durchbohrt hatte. Das falsche Herz tötet ihn langsam und schleichend, darum flüchtete er sich in die Bastion, um dem sicheren Tod zu entgehen.“
„Habt Ihr in den letzten Monaten eine Veränderung in seinen Träumen bemerkt?“, fragte Grimwardt weiter.
„Sie brachen ab“, krächzte die Alte. „Seit etwa zwei Monaten habe ich keine Träume mehr von Ashardalon empfangen.“
Grimwardt und Faust warfen sich einen viel sagenden Blick zu. Das ließ darauf schließen, dass Orlaks Eroberungspläne geglückt waren und er den Drachen besiegt hatte. Oder der Drache hatte den Nachtkönig dazu gebracht, ihn in einen Vampir zu verwandeln. Auch in diesem Fall wären seine Träume abgebrochen, denn Untote schlafen nicht.
„Wie gelangte Ashardalon vor zweitausend Jahren in die Bastion?“, wollte Faust wissen.
„Er war im Besitz eines Splitters des Seelensteins“, sagte die Traumherrin und erklärend fuhr sie fort: „Vor vielen Millionen von Jahren, ehe der erste Sterbliche geboren wurde, erschuf Ao, der Göttervater, die Bastion der ungeborenen Seelen. Er verfügte, dass kein Gott den Seelenquell jemals betreten solle. Nach ihrer Fleischwerdung und noch im Tod mochten die Götter um die Seelen der Sterblichen werben und feilschen, doch auf die präinkarnierten Seelen sollten sie keinen Einfluss haben. So entstanden das Prinzip des freien Willens und der Bann der ungeborenen Seelen, der die Götter an Aos Verfügung bindet. Desayeus jedoch, der Gott der Zeit, setzte sich über das Verbot hinweg und erschuf den Seelenstein, um sich Zugang zu Bastion zu verschaffen. Als die anderen Götter davon erfuhren, fürchteten sie, dass Desayeus den Bann der ungeborenen Seelen brechen und Aos Zorn auf sie alle herab beschwören könnte. Darum verbannten sie Desayeus in ein Gefängnis auf einer der Äußeren Ebenen. Den Seelenstein versuchten sie zu zerstören, doch es gelang ihnen nur ihn in drei Teile zu zersplittern. Einen der Splitter behielt Desayeus in seinem Gefängnis, die anderen beiden verstreuten die Götter im Multiversum. Mit einem dieser beiden Splitter gelangte Ashardalon in die Bastion, der Aufenthaltsort des anderen ist mir nicht bekannt. Er blieb lange verschollen, ehe ich ihn vor einigen Monaten im Geist Eurer rothaarigen Freundin sah. Dann verschwand er wieder. Jeder der Splitter vermag, als Komponente für einen Ebenenwechsel gebraucht, den Träger zur Bastion zu führen. Ein anderer Weg in die Bastion ist mir nicht bekannt.“
Einen Splitter hatte Ashardalon, mit dem anderen musste Orlak in die Bastion gelangt sein. Solange der Splitter in Immerschwinge gewesen war, war er den Augen der Traumherrin verschlossen geblieben, denn Elfen schlafen nicht. Und als der Vampirklon ihn gestohlen hatte, war er wieder aus ihrem Blickfeld verschwunden. Somit blieb den Gefährten nur eine einzige Möglichkeit, in die Bastion der ungeborenen Seelen zu gelangen: Sie mussten den dritten Stein finden, jenen, den der gefallene Gott behalten hatte.
„Die Götter verbannten Desayeus auf eine der Äußeren Ebene, sagtet Ihr?“, fragte Faust nach.
„Nach Agathion, den Mittelpunkt einer Ebene namens Pandämonium, ja“, erklärte die Nachtvettel. „Sein Gefängnis wird von einem mächtigen Erzengel bewacht, einem Solar… Erlaubt Ihr nun, dass ich mich wieder zur Ruhe lege?“, grantelte die Traumherrin. „Ihr habt lange genug die Zeit der Träumerin in Anspruch genommen.“
„Eine Frage noch“, bat Grimwardt. Für den Fall dass Ashardalon – in welcher Form auch immer – noch immer in der Bastion weilte, blieb da noch die Frage nach seiner Bezwingung. „Um den Drachen Ashardalon zu besiegen, so heißt es, ist die Hilfe eines Erben des Soleilon nötig. Wir kennen da zwar jemanden, aber dieser Jemand versteht sich recht gut darauf, sich nicht aufspüren zu lassen. Könnt Ihr uns wohl sagen, wo wir einen gewissen Drake finden?“
„Drake was?“, blaffte die Vettel.
„Seinen Nachnamen hat er uns nie verraten. Er ist ein Auftragsmörder, der in den Silbermarken und an der nördlichen Schwertküste sein Unwesen treibt.“
„Ein Erbe des Soleilons?“ Sie dachte nach. „Ihr meint wohl Drake Noar… Ihr kommt häufig in seinen Träumen vor. Ihr und Eure Schwester.“
Na hoffentlich bereiten wir ihm Albträume, dachte Grimwardt grimmig.
„Derzeit ist er in der Stadt Tiefwasser, auf der Suche nach seinem alten Lehrmeister. Er hat ein Zimmer im Gasthaus Zum Gähnenden Portal.“
„Ich danke Euch. Das war sehr hilfreich.“
„Nun dann, auf Wiedersehen in Euren Träumen“, gnatzte die Alte und sank zurück in ihre Schlafkapsel. Als sie den Mechanismus betätigte, füllte sich der Boden mit Traumnebel und die Nachtvettel nahm wieder das Aussehen der jungen Träumerin an.
Als Grimwardt an Drake dachte, konnte er sich ein hämisches Grinsen nicht verkneifen.
„Sieht so aus, als ob wir diesmal die Überraschungsgäste sein werden.“
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 19. Juli 2010, 00:15:15
Schön! Wieder eine tolle Passage. Toll im Abenteuer umgesetzt und toll nacherzählt! Und es macht Lust auf mehr und neugierig, was sich daraus noch entwickeln könnte...  :thumbup:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 13. August 2010, 16:46:16
Oh, fast einen Monat ist es wieder her...  ::)
Haste im Moment auch wieder einiges an Arbeit am Hals, oder kam die Muse noch nicht vorbei bisher?
Bin ja mal gespannt wie die Woche in Italien wird... Sonja hat etwas Sorge, ich könnte an Realitätsverlust erkranken  :wink:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 13. August 2010, 17:21:21
Beides, fürchte ich...
So ein bisschen Realitätsurlaub tut hin und wieder ganz gut :-)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 11. September 2010, 16:17:12
Kapitel V: Die Spiegel der Zukunft

Faust
In der darauf folgenden Nacht im Gasthaus zum Gähnenden Portal, Tiefwasser.
Im Schankraum der schmuddligen Hafenabsteige fanden sich zu dieser späten Stunde nur noch ein paar Dauergäste, die mit glasigen Blicken und hängenden Schultern über ihren Bierkrügen brüteten. Grimwardt und Miu waren zu Bett gegangen, während Winter und Faust von einem Fenstertisch, der einen guten Blick auf die Straße bot, Wache hielten, um Drake abzufangen, sollte er tatsächlich hier auftauchen. Fahrig trommelte Faust mit den Fingern gegen die Tischkante, bemüht sich nicht von Winters niedergedrückter Stimmung anstecken zu lassen. Seit zwei Stunden kauerte seine Gefährtin mit angezogenen Beinen auf ihrem Platz und sah nur auf, wenn das Geräusch der aufschwingenden Tür einen neuen Gast ankündigte.
„Dein Traum?“, unternahm Faust einen letzten Versuch ihr dahinvegetierendes Schweigen zu brechen. Doch wie die beiden Male zuvor zuckte sie nur stumm mit den Schultern.
„So übel?“
„Nein… ich weiß nicht.“ Fröstelnd verstärkte sie den Griff um ihre Knie. „Es fing so schön an.“
„Dann war er besser als meiner“, murmelte Faust düster und nahm einen tiefen Zug aus seinem Bierkrug.
Die Frage nach seinem Vater hing wie ein dunkles Omen über ihm. Würde er je herausfinden, was damals geschehen war? Vielleicht sollte er… Nein, er konnte nicht zu den Neun Schwertern zurückkehren. Noch nicht. Nicht bevor er die dunkle Prophezeiung seines Lehrmeisters widerlegt und bewiesen hatte, dass er nicht enden würde wie… Tja, wie wer? Wer war das Phantom, vor dem er seit zwölf Jahren davonlief?
Die Tür schwang auf und eine vermummte Gestalt trat auf die beiden Gefährten zu.
„Winter Fedaykin und Faust, nehme ich an.“
Die Fremde lüftete die Kapuze und enthüllte ein hübsches, sommersprossiges Mädchengesicht, das von einer Flut goldblonder Locken umrahmt wurde. Das niedliche Ding konnte nicht älter als siebzehn Jahre sein. Doch der ungerührte, leicht amüsierte Blick, mit dem sie Fausts Musterung standhielt, verriet, dass sie es gewohnt war, von Männern angestarrt zu werden.
„Und Ihr seid…?“
„Lady Feyleen, sehr erfreut“, stellte sie sich vor. Winter zog eine Augenbraue in die Höhe und Fausts Schwerthand fuhr an den Knauf seiner Waffe. Feyleen quittierte beides mit einem spöttischen Lächeln: „Ihr habt von mir gehört?“
Faust kniff die Augen zusammen, um seinen Geist zu fokussieren und hinter die Maske des Taliser Bauernmädchens zu blicken. Für die Dauer eines Blinzelns überlagerte die Realität Feyleens Zauber und enthüllte die ebenso sinnliche wie verstörende Gestalt der Dämonin. Ihr makelloser Frauenkörper aus Perlmutt-Schuppen schillerte golden im Zwielicht der Talgkerzen, ein schmaler Echsenschwanz schlängelte sich grazil um ihre bloßen Fußknöchel und aus ihren Schulterblättern wuchsen eindrucksvolle, blassrote Lederschwingen, die von durchscheinenden Adergeflechten durchzogen waren. Die gespaltene Zunge, die gefährlich zwischen den Zähnen der Sukkubus hervorblitzte, machte ihr Lächeln nur umso verführerischer.
„Wo-u“, entfuhr es Faust und er pfiff leise durch die Zähne.  
Aus den Erzählungen der Fedaykin-Geschwister wusste er, dass die Sukkubus eine mächtige Fürstin des Abgrunds war, die eine offene Rechnung mit Drake hatte, die sie in abgetrennten Gliedern zu begleichen pflegte. In der Absicht dem Spuk ein Ende zu bereiten, hatte der Assassine Winter in einen Hinterhalt gelockt und ihrem Bruder den Schwur abgepresst, ihm bei nächster Gelegenheit im Kampf gegen die Dämonenfürstin beizustehen. Bislang hatte ihn nur Feyleens Unauffindbarkeit daran gehindert, den Ehrenschwur des Priesters einzufordern.
„Ich weiß, wonach ihr sucht, und ich habe euch ein Angebot zu unterbreiten.“ Die Vision war verschwunden, doch Faust war es unmöglich das Mädchen, das nun am Tisch Platz nahm, mit denselben Augen zu sehen wie zuvor. „Auch ich bin seit langem auf der Suche nach Ashardalon und der Bastion der ungeborenen Seelen. Ich war dabei, als der letzte Erbe Soleilons von der Cathezar angegriffen wurde. Es erzürnte mich damals, dass die Marilith mich um meine Rache an Drake gebracht hatte, darum machte ich sie in ihrem Versteck ausfindig und tötete sie. Dabei stieß ich auf ihre Aufzeichnungen. Ihr Auftraggeber war Demogorgon. Um den Seelenkrieg zu beenden, den seine beiden Persönlichkeiten gegeneinander führen, benötigt der Dämonenprinz Ashardalons falsches Herz, dass dieser einem mächtigen Balor entriss. Denn Demogorgon ist halb Teufel und halb Dämon und nur das mächtige Herz eines Dämons, angereichert mit Seelenenergie, vermag den teuflichen Teil seiner Persönlichkeit zu bezwingen. Ich suchte Demagorgon auf und wurde zur Nachfolgerin der Cathezar. Mit mäßigem Erfolg, wie ich gestehen muss. Mehrmals versuchte ich Klone des letzten Erben zu erschaffen, doch keine meiner Schöpfungen überlegte lange. Und auch bei der Suche nach den Seelensplittern hatte ich wenig Glück. Von der Herrin der Träume erfuhr ich, wo der letzte der drei Seelensplitter zu finden ist, doch meine… gottlose Natur macht es mir unmöglich, das Gefängnis des Desayeus zu betreten.“  Die Dämonin sprach all diese Scheußlichkeiten, die keinen Zweifel an ihrer Verderbtheit ließen, ohne jede Scham, dafür aber mit einem Hauch von Ironie aus.
„Und warum sollten ausgerechnet wir Euch dabei helfen, dieses Herz zu beschaffen?“, knurrte Faust. Feyleens Geschichte passte zu dem, was er und seine Freunde in Erfahrung gebracht hatten. Ihr Versuch einen Klon des Soleilon-Erben zu erschaffen erklärte ihre Angriffe auf Drake und ihr Scheitern ließ vermuten, dass Orlaks Klone allein durch die vampirische Umwandlung hatten überdauern können. Allerdings erschien es ihm wenig rühmlich, einem Dämonenprinzen bei der Beschaffung eines gestohlenen Herzens zu helfen. Außerdem ahnte Feyleen offenbar nicht, dass Ashardalon womöglich bereits besiegt oder zum Vampir geworden und sein Herz damit verdorben war.
„Das alles mag Euch fremd und widerwärtig erscheinen. Doch meines wie Euer Anliegen ist der Tod Ashardalons, darum gibt es keinen Grund, weshalb wir uns bekämpfen sollten, anstatt uns ihm gemeinsam entgegen zu stellen. Seit mehr als 1500 Jahren nährt sich der Drache bereits von den präinkarnierten Seelen der Bastion und seine Macht wächst von Tag zu Tag – glaubt mir, Ihr und ich, wir werden jede Hilfe nötig haben, wenn wir ihn aus dem Weg schaffen wollen.“ Und mit einem anzüglichen Lächeln, das an Fausts Adresse gerichtet war, fügte sie hinzu: „Rettet ihr nur die Seelen der ungeborenen Kinder und überlasst mir das Herz des Drachens. Dieser kleine Schandfleck muss ja nicht unbedingt in die Annalen Eurer Heldentaten eingehen.“
Es wäre auch nicht der erste, ergänzte Faust in Gedanken.
Er traute der Sukkubus nicht weiter als er spucken konnte, doch er konnte sich auch nicht ganz den süßen Verheißungen ihrer latenten Tändeleien entziehen.
„Meinetwegen seid unsere Begleitung“, sagte er darum. „Winter, was meinst du?“
Die Zauberin starrte eine Weile versonnen aus dem Fenster.
„Schön“, entschied sie schließlich, doch sie betrachtete die Dämonenfürstin mit abweisendem Blick. „Kommt wieder, wenn wir den Seelensplitter haben. Und zeigt Euch nicht vor Drake, falls wir ihn bis dahin gefunden haben sollten.“

Winter
Kurz darauf.
Grimwardt stützte stöhnend den Kopf in eine Hand und rubbelte sich die Schläfen.
„Ihr habt was getan? Ihr habt euch mit der rachsüchtigen Dämonenfürstin verbündet, die ich Drake geschworen habe zu vernichten?“
So wie er es ausdrückte, klang es wirklich nicht gerade vernünftig.
„Verbündet kann man das eigentlich nicht nennen.“
„Jetzt sagt bloß, ihr habt ihr diese haarsträubende Geschichte auch noch abgekauft?“
„Vermutlich hat sie uns nur die halbe Wahrheit erzählt.“ Winter zuckte gleichmütig mit den Schultern. „Ich nehme an, sie wird versuchen sich an Drake zu rächen, sobald er seinen Nutzen für sie verloren hat. Aber was kümmert uns das?“
Der Priester hob den Kopf und sah seine Schwester durchdringend an und sie versuchte ihr Unbehagen hinter einem müden Blinzeln zu verbergen. Sie wollte ihn nicht sehen lassen, dass sie hoffte, auf diese Weise zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Es war kein besonders netter Zug, Drake auf solch hinterhältige Art loswerden zu wollen ohne sich selbst die Hände schmutzig zu machen. Aber solange das gefährliche Interesse des Assassinen an ihrer Familie anhielt, würde Scarlet nirgendwo sicher sein. Aber warum sollte sie versuchen, Grimwardt das verständlich zu machen? Ihre Bemühungen wären ja doch vergeblich und sie war zu niedergeschlagen und zu müde, um mit ihm zu streiten.  
Grimwardt und Miu waren gekommen, um ihre beiden Gefährten abzulösen. Inzwischen war auch der letzte Säufer mit dem Kopf auf der Tischkante eingenickt und der Wirt hatte ihnen bereits zum wiederholten Mal auf unflätige Weise zu verstehen gegeben, dass er nicht gedenke, die ganze Nacht hinter dem Tresen zu verbringen. Doch ein paar Silbermünzen hatten ihn gnädig gestimmt.
Winter glaubte nicht mehr daran, dass Drake noch auftauchen würde, doch sie wurde eines Besseren belehrt.
„Er kommt“, vermeldete Grimwardt, als Faust und sie bereits den Treppenabsatz erreicht hatten.
Grimwardt blies die Kerze aus. Faust belegte den Raum eilig mit einem Dimensionsanker und stellte sich mit gezücktem Knüppel hinter die Eingangstür. Und Winter sprach einen Schutzzauber, der Drakes Dolche wirkungslos von ihrer Haut abprallen lassen würde, falls er ihnen Ärger bereiten sollte. Der Wirt, der lange genug in diesem Viertel überlebt hatte, um zu wissen, wann es ratsam war, das Weite zu suchen, beließ es bei einem Fluch und dem Hinweis, dass er sie für demolierte Wirtshausgegenstände haftbar machen würde, und sah zu, dass er von der Bildfläche verschwand. Dann schwang die Tür auf.
„Tempus zum Gruße, alter Freund“, brummte Grimwardt mit schulmeisterlich gekreuzten Armen, während Faust sich vor die Tür warf, um Drake den Fluchtweg abzuschneiden. „Wir müssen reden.“
Der Albino brauchte keine Sekunde, um zu erkennen, dass Flüchten zwecklos war. Winter kannte diesen halb lauernden, halb gehetzten Ausdruck, als er seinen Blick durch den Raum schweifen ließ, und ahnte, was er vorhatte.
„Nur zu.“ Mokierend breitete sie die Arme aus. „Nimm mich als Geisel, wenn du dich dann besser fühlst.“
Deine Dolche können mir ohnehin nichts anhaben.
Drake hob halb belustigt, halb verärgert eine Augenbraue. Dann schnellte die Spitzte eines Dolches aus seinem Lederhandschuh. Doch einen Lidschlag ehe er Winter erreichte, tauchte er zur Seite weg, unter ihrem Arm hindurch und auf Miu zu, die am Fenstertisch wartete. Lautlos klappte die Ordensschwester zusammen, als Drake ihr den Knauf seines Dolches in den Nacken rammte.
„Für wie blöd hältst du mich?“, zischte er. „Und jetzt sagt, was ihr zu sagen habt, und keine faulen Tricks, oder die Kleine wacht nicht wieder auf.“ Es sollte abschätzig klingen, doch Winter entging nicht die Anspannung in seiner Stimme. Drake war kein Narr. Er wusste, wenn sie hier waren, um ihn für all die miesen Tricks büßen zu lassen, die er sich mit ihnen erlaubt hatte, standen seine Chancen schlecht. Und sie genoss es ihn noch ein Weilchen zappeln zu lassen.
„Raus mit der Sprache.“ Drake presste Miu, die langsam zu sich kam, den Dolch an die Kehle.
„Das solltest du besser bleiben lassen, Mann.“ Fausts grünes Auge blitzte gefährlich, während das blaue eiskalt blieb. Der Söldner kannte kein Pardon mit Kerlen, die sich an den Wehrlosen vergriffen: Drake hatte es wie immer auf Anhieb verstanden sich Freunde zu machen!
„Und wer ist der Kerl? Hat Bleichauge das Zeitliche gesegnet?“
„Hades ist in seine Heimat zurückgekehrt. Das ist Faust und glaub mir, du willst dich nicht wirklich mit ihm anlegen.“ Winter trat auf ihn zu. „Der Nachtkönig von Westtor hat eine Horde Klonvampire auf dich angesetzt. Wenn du es vorziehst, dich aus dem Staub zu machen, bitteschön, aber dann wunder dich nicht, wenn du demnächst eine äußerst denkwürdige Begegnung mit dir selbst haben solltest!“
Ihre Worte hatten den gewünschten Effekt: Drake war für einen Augenblick sprachlos.
„Ich habe keine Ahnung, wovon du da sprichst“, knurrte er schließlich.
Winter lächelte liebenswürdig.  
„Dann würde ich vorschlagen, du lässt Miu los und wir setzen uns.“
Wenn es eines gab, das Drake aus der Bahn werfen konnte, dann war es, die Kontrolle zu verlieren. Solange sie ihren Informationsvorsprung wahren konnten, half ihm weder seine Geisel noch sein Spott. Diesen Kampf hatten sie so gut wie gewonnen.

Faust
Pandämonium, am nächsten Tag.
Drake hatte um eine Bedenkzeit von einer Nacht gebeten. Als er am Morgen zurückgekehrt war, waren sie zu fünft zu den Äußeren Ebenen in das Labyrinth von Pandämonium aufgebrochen. Winter hatte einen Ortungszauber gewirkt, der sie nach Agathion, in den Mittelpunkt des Labyrinths führen sollte, in das außerdimensionale Gefängnis des gefallenen Gottes Desayeus. Das Portal nach Agathion, so hatten sie von der Herrin der Träume erfahren, wurde von dem Erzengel Eco bewacht.
Pandämonium war eine Welt im Fluss, ein lichtloses Höhlenlabyrinth, das sich auf keine Form festlegen mochte: Höhleneingänge sprossen plötzlich aus dem Nichts und vor den Augen der Gefährten entstanden wild verzweigte Tunnelgeflechte, während ein anderes Mal trutzige Höhlenwände aus dem Boden aufschossen und einen weit verzweigten Gang in eine Sackgasse verwandelten. Einmal wäre Grimwardt fast von zwei aus dem Boden brechenden Stalagmiten aufgespießt worden. Ein anderes Mal hatte Faust plötzlich den Boden unter den Füßen verloren und war in einen Abgrund gestürzt, der eine Sekunde zuvor noch nicht da gewesen war. Kein Wesen vermochte in dieser kargen, unsteten Landschaft zu überleben; ihre Herrscher waren allein die peitschenden Winde, deren ohrenbetäubendes Säuseln wie ein klagender Geist durch die Gänge spukte und jede Unterhaltung im Keim erstickte.  
Faust konnte nicht sagen, wie lange sie schon durch diese unberechenbare Unterwelt geirrt waren. Zeit war an diesem Ort ein ebenso unzuverlässiger Ratgeber wie Geographie. Winters Ortungszauber war mehrere Male einfach abgebrochen, nur um die Fährte dann in entgegen gesetzter Richtung wieder aufzunehmen. Faust hatte das Gefühl, als versuche der Mittelpunkt des Labyrinths ihnen davonzulaufen. Doch nach einer halben Ewigkeit begann die Umgebung stetiger zu werden und die eigentümlichen Umwälzungen blieben aus. Selbst das zornige Pfeifen des Windes verlor an Intensität und verebbte schließlich ganz. Das wechselhafte Labyrinth von Pandämonium schien wie erstarrt. Und im Zentrum dieses Vakuums ruhte reglos wie in Stein gemeißelt eine Gestalt und blickte den Gefährten entgegen.
Eco der Solar hatte den Körper einer überlebensgroßen Menschenfrau mit eindrucksvollen, schneeweißen Schwingen, doch ihr Gesicht war geschlechtslos, erhaben und hart, und scheinbar aus dem selben Silber geformt wie die blitzende Klinge an ihrer Seite. Einzig die Topasaugen des Engels wirkten lebendig: Es waren Augen, unter denen ein Sterblicher zu Stein erstarren mochte.
Faust spürte eine eigenartige Spannung, die seinen ganzen Körper erzittern ließ. Hass. Verblüfft stellte er fest, dass er dieses Wesen aus tiefstem Herzen verabscheute.
„Eco, Gesandte der Götter“, sprach Grimwardt und sank ehrerbietig auf ein Knie. „Wir sind gekommen, um Eure Hilfe zu erbitten.“
Miu senkte demütig den Kopf und selbst Winter und Drake wandten die Blicke zu Boden. Allein Faust rührte sich nicht. Nur mit Mühe gelang es ihm ein verächtliches Schnauben zu unterdrücken.
„Sprecht, Priester.“
Grimwardt erhob sich.
„Ist es richtig, dass Ihr das Portal zu Desayeus’ Gefängnis bewacht?“
„Ich bin das Portal“, erwiderte der Engel.
„Als Priester des Tempus ersuche ich Euch um Einlass für mich und meine Gefährten. Der Gott Desayeus ist im Besitz eines Schlüssels, der uns Zugang zur Bastion der ungeborenen Seelen gewähren kann. Dort labt sich ein vampirischer Parasit an den Seelen der Sterblichen. Es ist unser Anliegen, ihn aus der Bastion zu vertreiben, um die göttliche Ordnung wiederherzustellen.“
„Mein Zorn gilt diesem Ungeheuer“, erklärte die Wächterin, doch ihre versteinerten Züge zeigten keine Regung. „Doch ich kann Euch nicht einlassen. Es liegt nicht in meiner Macht.“  
Töte sie.
Fausts Hand bebte und er erkannte voller Befremden, dass sie das Heft seines Schwertes fest umklammert hielt. Endlich begriff er: Es war Zwiespalts Stimme, Zwiespalts Hass. Das Schwert hatte das Prinzip, das in sein Metall geschmiedet war – die Vernichtung aller Ordnung und derer, die für deren Erhalt einstanden – in eine menschliche Regung übersetzt, um Faust zu seinem Vollstrecker zu machen. Der Kämpfer spürte, wie sich eine dünne Schweißschicht auf seiner Stirn bildete. Er widerstand der Versuchung, Zwiespalts Drängen nachzugeben, doch der schwelende Hass, der ihn wie eine Blase umgab, wollte nicht weichen.  
„Wäre es wohl möglich, dass Ihr dem Gefangenen unser Anliegen vortragt?“, hörte er Grimwardt sagen, doch es klang unwirklich in seinen Ohren, meilenweit entfernt.
„Ich bin das Portal“, wiederholte Eco. „Es ist mir nicht möglich, Agathion zu betreten, und ich stehe auch nicht in Verbindung zu Desayeus.“
„Könnte Euch denn ein göttlicher Befehl dazu bewegen, das Portal zu öffnen?“, versuchte der Priester es weiter.
„Gewiss“, antwortete der Engel. „Doch obliegt ein solcher Befehl nicht einem Gott allein. Zu groß wäre die Gefahr, Aos Zorn heraufzubeschwören.“
Plötzlich spürte Faust eine Veränderung, wie einen unsichtbaren Schutzschild, der sich um seinen Körper legte. Und dann sprang Zwiespalt in seine Hand. Abrupt, wie eine zum Leben erweckte Statue, fuhr der Engel herum und zog seinerseits blank. Miu stellte sich schützend vor die Wächterin und mahnte Faust mit einem vorwurfsvollen Blick zur Mäßigung.
„Ihr erhebt Euer Schwert gegen einen Diener des Pantheons?“ Die Stimme der Gottesdienerin war wie erkaltetes Metall.
„Da Ihr Euch weigert, uns durchzulassen, bleibt mir keine andere Wahl.“
Der Blick der goldenen Augen bohrte sich in seinen Geist, versuchte Fausts Absichten zu ergründen, doch der Schutzschild seines Schwertes wehrte den Versuch ab. Zwiespalt vibrierte ungeduldig in seiner Hand.
„Faust, beherrsch dich“, knurrte Grimwardt und legte ihm mäßigend die Hand auf den Arm. Der Anflug einer Drohung klang in seiner Stimme mit. „Sie hat keine göttliche Befugnis, uns einzulassen. Ich werde zu Tempus beten, damit er Sie uns erteilt.“
„Spar dir die Mühe“, murmelte Faust, den Blick auf den Gegner gerichtet. Seine Bewegungen spiegelten die des Engels. Grimwardt hatte vermutlich Recht. Aber er wollte angreifen, er wollte den Zorn der Götter heraufbeschwören. Vielleicht war es Wahnsinn, doch er hatte nie verstanden, mit welchem Recht die Götter den Sterblichen ihre Ordnung aufzwangen. Sind sie wirklich so viel besser als wir? Oder sind sie nur Teil einer Hierarchie, die so allgegenwärtig ist, dass sie noch nie jemand in Frage gestellt hat? Möglich, dass Zwiespalt diesen Hass in ihm geweckt hatte, doch in ihm geschlummert hatte er schon lange.
„Bei Veiros’ Ungestüm, Faust, du gottloser Narr!“ Die Zornesader auf Grimwardts Stirn trat pochend hervor, als er erkannte, dass der Gefährte sich nicht würde belehren lassen. Mit gezückter Axt stellte er sich ihm in den Weg, doch Faust wich der Bewegung aus und griff an.
Einen Augenblick, bevor er den Engel erreichte, sah er aus dem Augenwinkel, wie Miu diesen am Arm berührte. Seine Klinge stieß oberhalb des Herzens durch Ecos Rüstung, doch die Wunde war kleiner als die Wucht des Stoßes vermuten ließ. Im selben Moment ging Miu in die Knie und eine blutige Wunde klaffte an der der gleichen Stelle oberhalb ihres Herzens. Ihr Gesicht war bleich, doch von unumstößlicher Entschlossenheit: Wenn du sie tötest, musst du mich auch töten. Faust verfluchte die Karaturianerin und ihren stummen, aufopferungsvollen Widerstand. Es war eine Art des Kampfes, gegen den er machtlos war. Doch diesmal würde er nicht zulassen, dass sie den Sieg davontrug! Während er den Hieben des silbernen Engelsschwertes auswich, das ganz von alleine zu tanzen begann, steckte er Zwiespalt zurück in die Scheide. Ohne auf das protestierende Vibrieren des Schwertes einzugehen, griff er nach seiner gepolsterten Keule. Sie würde genügen, um den Engel bewusstlos zu prügeln, ohne Miu in Lebensgefahr zu bringen. Doch es erwies sich als gar nicht so einfach, zu dem Gegner vorzudringen. Von rechts hatte sich mit grantiger Miene Grimwardt zwischen ihn und die Gottesdienerin gedrängt und seine schmetternden Axthiebe ließen keinen Zweifel daran, wem seine Loyalität galt. Zu seiner Linken hörte Faust Winter magische Worte murmeln. Welchen Zauber sie auch entfesselt hatte, er verfehlte ihn. Doch bei der Erkenntnis, dass selbst Grimwardts Schwester, die gerade so viel Gottesfürchtigkeit besaß wie ihrem Opportunismus dienlich war, sich gegen ihn gewandt hatte, sank ihm der Mut. Doch er erhielt Unterstützung von unerwarteter Seite: Plötzlich tauchte Drake hinter Winter auf und in jeder seiner Fäuste blitzte ein Dolch. Die Zauberin durchschaute die Finte, konnte dem Angriff jedoch nicht mehr rechtzeitig ausweichen, um zu verhindern, dass Drake eine hässliche Wunde in ihren Hals riss.
„Du verdammter Bastard!“, rief sie empört.
Es sah dem Assassinen ähnlich, sich an dem verwundbarsten „Gegner“ zu vergreifen, statt zu riskieren, den göttlichen Zorn des Engels heraufzubeschwören. Doch Faust, den Grimwardts zorniger Angriff in arge Bedrängnis brachte, konnte es sich im Augenblick nicht erlauben, wählerisch zu sein. Immerhin verschaffte Drakes Angriff ihm genug Luft, um zu dem Engel durchzudringen. Und er ergriff die winzige Gelegenheit, die sich ihm bot, und versetzte seinen Körper in jenen Zustand innerer Ruhe, der der Stille im Auge eines Sturms glich, wenn die Zeit für einen Herzschlag stillstand, ohne dass die Welt um ihn herum es bemerkte: Götterdämmerung, wie der Samurai Nakamura das Manöver genannt hatte. Der Engel ging unter der Wucht der eilig aufeinander folgenden Keulenangriffe zu Boden – und Miu mit ihm.
Doch Faust hatte sich zu früh gefreut. Er hatte sich bereits abgewandt, als er den bohrenden Blick der Topasaugen in seinem Rücken spürte. Dann wurde er von einer Schockwelle göttlicher Energie erfasst und gegen die Höhlenwand geschleudert.

Grimwardt
„Untersteh dich!“, knurrte Grimwardt und versuchte Drake zu fassen zu bekommen. Doch der Schurke entwand sich seinem Griff und tauchte flink unter seinen Armen hindurch. Nach dem Angriff auf Faust war Eco wieder zu Boden gesunken. Drake schlitzte dem wehrlosen Gegner die Kehle auf und eine Blutfontaine ergoss sich über die Rüstung des Tempuspriesters. Als die Wächterin von Agathion zu Boden ging, brach ein gleißendes Licht aus der tödlichen Wunde, gefolgt von einer Druckwelle, die alle Umstehenden zu Boden warf. Als Grimwardt wieder sehen konnte, war der Engel verschwunden. An ihrer Stelle hatte sich ein strahlend weißer, schmuckloser Torbogen materialisiert.
Grimwardt rappelte sich auf und betete im selben Atemzug um Vergebung in welchem er den Engelstöter mit einem Schwall äußerst profaner Flüche überschüttete.
„Hör schon auf“, höhnte Drake, der seelenruhig seine Dolche reinigte. „Ihr brauchtet jemanden, der für euch die Drecksarbeit macht und siehe da: Das Tor ist offen.“
Die letzten Worte hatte er brüllen müssen, denn mit Ecos Tod hatte das Labyrinth von Pandämonium seinen ruhenden Mittelpunkt verloren und mit den unvorhersehbaren Veränderungen der Umgebung waren auch die heulenden Winde zurückgekehrt: Das Chaos forderte zurück, was der Engel in Schach gehalten hatte. Fausts launisches Schwert würde das freuen.
Der Kriegspriester hatte nicht übel Lust, die beiden Abtrünnigen Tempus’ heiligen Zorn spüren zu lassen, bevor er wieder verflog. Doch er musste seinen beiden bewusstlosen Gefährten helfen, ehe sich ein Stalagmit entschied Miu oder Faust aufzuspießen oder ihnen allen die Decke auf den Kopf fiel. Nachdem er die Karaturianerin geheilt hatte, setzte diese sich zu Faust und legte ihm die Hand auf die Stirn. Der Kämpfer stöhnte, doch es war wohl weniger sein angeschlagener Kopf als Mius leidvoller Blick, der ihm zu schaffen machte.
„Es ging nicht anders, Miu…“, versuchte er sich zu rechtfertigen. Er merkte offenbar selbst, wie mager und erbärmlich diese Entschuldigung klang, denn plötzlich veränderte sich sein Gesichtsausdruck. „Verflucht, hast du erwartet, dass ich ewig nach deiner Pfeife tanze, Täubchen?“, fragte er grantig und rappelte sich auf. Miu zuckte merklich zusammen und Grimwardt sah die fromme Ordensschwester zum ersten Mal schockiert.  Für einen Augenblick lieferten sich die beiden ein stummes, regloses Duell, dann formten Mius Hände einen Zauber und sie verschwand.
„Mach doch, was du willst.“ Faust biss sich auf die Lippen und vermied es, irgendwen anzusehen. „Du kommst ja doch wieder zurück.“
„Wir sollten gehen, solange das Portal noch offen ist“, grummelte Grimwardt. Und bevor wir anfangen, uns gegenseitig an die Gurgel zu gehen, fügte er in Gedanken hinzu.
Der Priester schritt als erster durch den Torbogen und gelangte in einen gigantischen Saal mit Spiegeln an allen vier Wänden und einer Kuppel, die ebenfalls aus Spiegelglas bestand. Der Raum war leer bis auf einen Lehnsessel, so hoch wie ein Haus, auf dem, ihnen den Rücken zugekehrt, eine verschleierte Gestalt harrte.
Irgendwas stimmt hier nicht, dachte er. Und dann stürzte es auch schon auf ihn ein.

„General Grimwardt.“
Er erwidert den Gruß der Wachen mit einem mürrischen Grummeln und betritt eiligen Schrittes das Gemach seines Dienstherrn. Es ist ihm gleich, ob ihn alle hier für einen Finsterling halten, solange sie dem Emblem auf seinem Mantelrevers Respekt zollen: der schwarzen Feder, gekreuzt mit dem schwarzen Schwert auf feurig rotem Grund. Abfällig mustert Grimwardt die komfortable Einrichtung des Gemachs, die kostbaren Diwane aus Turmisch, die kunstvollen calimshitischen Wandteppiche und die Weingläser aus elfischem Kristallglas auf dem Tisch. Er tritt ans Fenster und lässt den Blick vage über die fliegende Stadt, den dunklen See und die Dünenlandschaft dahinter gleiten. Irgendwer hat einmal gesagt: Nirgendwo ist der Horizont so fern wie in der Wüste von Anauroch.
Das leise Rascheln der Türvorhänge kündigt die Ankunft des Prinzen an. Wie immer ist der Arkanist in schwere, weinfarbene Roben gekleidet.
„Mein Prinz“, murmelt Grimwardt und neigt leicht den Kopf. Seine Hand ruht auf dem Heft seines schwarzen Obsidianschwerts. „Ihr habt Neuigkeiten?“
„Allerdings!“ Der Prinz lässt einen Pagen Wein in die elfischen Kristallgläser einschenken und stößt mit Grimwardt an. Ein schiefes, unheilvolles Lächeln lauert in den Mundwinkeln des schattigen Umbrantengesichts. Es heißt, es habe schon Menschen im Angesicht dieses Lächelns der Tod ereilt. Grimwardt hält das für Unsinn – der Prinz ist ein Schwächling, der lediglich das Glück hat, mit genug List und Tücke gesegnet zu sein, um seine Brüder über seine unzulänglichen magischen Fähigkeiten hinwegzutäuschen. Ihm ist es gleich – er ist des Krieges wegen hier, nicht um des Prinzen willen.
„Wir konnten zwei der Verbündeten der Sandfürstin identifizieren“, erklärt der Umbrant. „Es scheint, dass sie dem Imperium schon einmal einen schweren Schlag versetzt haben.“
Er vollführt eine magische Geste und lässt zwei Trugbilder entstehen: ein Mann und eine Frau. Ersteren hat Grimwardt noch nie zuvor gesehen: ein Kämpfer mit breiten Schultern, einer Eisenfaust und verschiedenfarbigen Augen. Beim Anblick der Frau dagegen erstarren seine Gesichtszüge für einen Augenblick.
„Sie ist meine Schwester“, murmelt er. „Aber ich nehme an, das wisst Ihr bereits.“
Das lauernde Lächeln gräbt sich tiefer in die Wangen des Umbranten. „Ist das ein Problem, General?“
Grimwardt kneift die Augen zusammen und blinzelt in die untergehende Sonne, die hinter den Dünen versinkt, ohne ihr Spiegelbild im trüben Wasser des Schattensees zu hinterlassen. Dann sieht er seinem Dienstherrn in die Augen.
„Nein“, sagt er.


Die Vision verschwand aus dem Spiegel und dieser zeigte ihm nur noch seine Reflektion, tausendfach reproduziert durch die Spiegelungen der gegenüberliegenden Wand, sodass der Raum von unendlicher Weite erschien.
„So ein Humbug“, knurrte Grimwardt kopfschüttelnd. Ein schwarzes Schwert und ein fremdes Emblem. Sicherheitshalber sah er nach, ob er noch seine Streitaxt und den Schild mit dem Zeichen des Feindhammer bei sich trug. Alles am rechten Fleck. Dann sah er sich um.
Neben ihm harrten Winter und Faust mit schockstarren Mienen und weit aufgerissenen Augen. Allein Drake hatte der eigenartige Zauber der Spiegel nicht in seinen Bann geschlagen. Grimwardt packte seine Schwester beim Arm und schüttelte sie und Drake versuchte Faust durch einen angedeuteten Faustschlag zum Blinzeln zu bewegen, doch ohne Erfolg.
„Wie in der Zeit gefroren“, bemerkte der Albino mit einer Mischung aus Faszination und Schadenfreude.
„Wie kommt’s dass du nicht dastehst wie ’ne Salzsäule“, grummelte Grimwardt. „Was haben sie dir vorgegaukelt, die Spiegel?“
Drake runzelte die Stirn.
„Nichts…?“ Es klang wie: Worauf willst du hinaus?
Doch Grimwardt ging nicht näher auf das Thema ein, sondern trat auf die Gestalt auf dem Lehnsessel zu. Als er das Gebilde umrundet hatte, stellte er fest, dass der erste Blick ihn getäuscht hatte: Die Gestalt war ein greiser Mann und was er zunächst für einen Schleier gehalten hatte erwies sich als schütteres Kopf- und Barthaar, das wie feinstes Lametta den gesamten riesenhaften Körper des gefallenen Gottes einhüllte und noch über die Lehnen des Thronsessels hinaus wuchs. Desayeus schien dasselbe Schicksal ereilt zu haben wie Grimwardts Gefährten: Seine Pupillen waren schockgeweitet und starr auf sein Spiegelbild gerichtet. In den Falten seines Greisengesichts hatte sich der Staub von Jahrtausenden angesammelt.
„Ziemlich… ernüchternd“, befand Drake respektlos.
Grimwardt brummte etwas Unverständliches – immerhin war Desayeus noch immer ein Gott und sollte als solcher behandelt werden. Allerdings siegte am Ende doch sein Pragmatismus und er begann auf der Suche nach dem Seelensplitter mit seiner Axt wie mit einer Heusense durch das dichte Gestrüpp von Gotteshaar zu pflügen. Nach einer halben Stunde schweißtreibender Arbeit jedoch musste der Kriegspriester feststellen, dass die silbrigweiße Pracht schneller wuchs als er sie zurechtzustutzen vermochte. Auf diese Weise würden sie in einem göttlichen Schuppenmeer versinken, ehe er auch nur bis zum Kinn vorgedrungen war. Auch der Versuch Desayeus mit einer Augenbinde aus Gotteshaar die Augen zu verbinden, um ihn aus seiner Starre zu erlösen, fruchtete nicht, und die Spiegel erwiesen sich als gänzlich unzerstörbar.
„Zieh ihm die Lider über die Augen“, knurrte Grimwardt schließlich entnervt an Drake gewandt, der gerade damit beschäftigt war, die göttliche Ohrmuschel in Augenschein zu nehmen.
„Eklig, aber einen Versuch ist es wert“, bemerkte Drake, dessen Hang zum Absurden ihn die Sache mit Humor nehmen ließ.
Und tatsächlich hatten sie Erfolg: Desayeus blinzelte träge aus trüben, rauchgrauen Augen, musste einmal heftig niesen, sodass Drake von seiner Schulter purzelte und blickte schließlich schläfrig auf die beiden Sterblichen herab.
„Ihr… seid gekommen“. Die heisere Stimme des göttlichen Greises schien sich aus einer Vielzahl anderer Stimmen zusammenzusetzen.
Grimwardt weckte eilig seine beiden Gefährten auf die selbe Weise. Zu spät fiel ihm ein, dass es sich vermutlich gehört hätte, vor dem Gott auf die Knie zu sinken. Allerdings schien Desayeus auf derlei Respektbekundungen keinen Wert zu legen. Kaum war der Bann der Spiegel gebrochen und die unnatürliche Starre von ihm abgefallen, da sackte er in sich zusammen wie ein Sack Reis und schien einzudösen.
„Ähm… Desayeus?“ Wie, bei den Neun Höllen, sprach man einen Gott an?
Träge hob der Greis noch einmal den Kopf.
„Wie lange habe ich darauf erwartet, dass sich die Vision der Spiegel erfüllt? Ich sah euch kommen, die Erlöser, die mich aus den Klauen meiner Zukunft befreien… Es gibt im ganzen Multiversum nur noch eine Handvoll Sterblicher, die meinen Namen noch nicht vergessen haben. Zu wenige, um mich am Leben zu halten… Wir Götter sterben mit dem Glauben an uns und ich bin… entsetzlich müde.“
Er drohte wieder einzunicken, doch Winters helle Stimme holte ihn in die Wirklichkeit zurück. „Was sind das für Visionen… in den Spiegeln, meine ich?“ Sie klang zittrig und erst jetzt bemerkte Grimwardt, dass seine Schwester kreidebleich war.
„Sie zeigen die Zukunft desjenigen, der in sie hineinsieht“, murmelte Desayeus. „Die wahrscheinlichste Zukunft….“
Winter schluckte heftig.
„Was… was heißt das, die wahrscheinlichste Zukunft?“
„Die Zeit entzieht sich selbst dem Auge der Götter“, erklärte Desayeus. Eine Erinnerung schien ihn zu streifen und was auch immer sie in ihm berührte, es bewirkte, dass seine Augen sich klärten und seine Schultern sich strafften. „Sie ist wie ein reißender Strom, der ausnahmslos jeden erfasst, der in ihm weilt. Niemand weiß genau, wohin die Reise führt, doch es ist wahrscheinlich, dass sie bei jeder Flussgabelung dem Strom mit der stärksten Strömung und des geringsten Widerstands folgt. Diesen Weg zeigen die Spiegel… den Weg des geringsten Widerstands.“
„Die Spiegel zeigen die wahrscheinlichste Zukunft, sagt Ihr?“ Faust runzelte die Stirn. „Ihr meint… eine einzige?“
„Aber gewiss.“
Faust schien verwirrt, doch ehe er weiterfragen konnte, ergriff Winter wieder das Wort.
„Und was… kann man tun, um diese Zukunft abzuwenden?“ Grimwardt sah seine Schwester forschend an, doch sie wich seinem Blick aus.
„Quäl dich nicht mit den Visionen der Spiegel, mein Kind“, seufzte Desayeus schwermütig. „Begehe nicht denselben Fehler, den ich begangen habe. Die Spiegel sind meine Schöpfung … und mein Untergang. Ich bin… war der Gott der Zeit und bin ihrem Geheimnis näher gekommen als jeder andere vor mir, doch am Ende hat die Zeit mir ein Schnippchen geschlagen… mich mit meinen eigenen Waffen geschlagen.“
„Dann habt Ihr versucht, Eure Zukunft zu ändern?“
„Das habe ich.“ Bei der Erinnerung sackte der Gott erneut in sich zusammen und verstummte. Es bedurfte ihrer vereinten Schnipskünste, um Desayeus aus seiner Lethargie zu reißen. Als er sprach, schien er zu sich selbst zu sprechen als habe er die Sterblichen zu seinen Füßen völlig vergessen. „Ich sah meinen Tod in den Spiegeln – diesen Tod. Und ich beschloss ein Zeitportal zu bauen, um in die Zukunft zu reisen und mich selbst aus diesem Gefängnis zu befreien. Doch ein Zeitportal kann nur außerhalb der Zeit bestehen und es gibt nur zwei Orte, die unberührt sind vom Strom der Zeit. Der eine ist die Stadt der Seelen, wohin es die Seelen der Sterblichen nach dem Tode zieht; der andere ist die Bastion der ungeborenen Seelen, woher sie kommen. Die Stadt der Seelen kann kein Gott betreten außer dem Herrn der Toten und seinen Dienern; wir anderen können nur bis zu ihren Häfen vordringen. Darum erschuf ich den Seelenstein, der mir Einlass in die Bastion verschaffen sollte. Dort begann ich mit der Errichtung des Zeitentors. Doch mein Schaffen erregte das Misstrauen der anderen Götter. Sie glaubten, ich sei in die Bastion eingedrungen, um den Bann der ungeborenen Seelen zu brechen und die Herrschaft über die präinkarnierten Seelen an mich zu reißen, und sie fürchteten, dass Aos Zorn ob meiner Machtgier sie alle treffen könnte. Darum verbannten sie mich… hierher. Ich war ein Tor – das Opfer meiner eigenen Prophezeiung. Und so holte mich die Ironie des Schicksals ein.“
Grimwardt räusperte sich.
„Was uns zum Grund unseres Kommens bringt.“ Offenbar war er der einzige hier, der über all den hellseherischen Unfug nicht völlig vergessen hatte, weshalb sie hier waren. „Ein Parasit ist mit einem der Splitter des Seelensteins in die Bastion eingedrungen. Wäret Ihr so gütig, uns Euren Splitter zu überlassen, damit wir dorthin reisen und ihn stellen können.“
„Nehmt ihn nur“, murmelte Desayeus. „Das grässliche Ding hat mir nichts als Ärger bereitet. Ich will nur noch eines… schlafen.“
„Aber Ihr müsst uns noch sagen, wo er ist… Desayeus? Desayeus!“
Doch es war zu spät: Der Kopf des alten Gottes war vornüber gesunken und diesmal vermochte ihn nichts aus seinem lange ersehnten Schlummer zu reißen. Der Gott der Zeit verblasste einfach - so wie die Erinnerung an ihn verblasst war. Als die Gestalt auf dem Thronsessel nur noch ein durchscheinendes Schemen war, ging ein breiter Riss durch die Spiegelkuppel. Der Sprung spaltete sich in vier Risse, die sich mit klirrendem Kreischen durch das Glas der vier Spiegelwände fraßen, und der Raum zerbarst in einem Hagelgewitter aus Spiegelsplittern. Grimwardt suchte Deckung unter seinem Schild und stimmte den magischen Betgesang an, der die Gefährten von hier fortbringen würde. Gerade noch rechtzeitig erspähte Faust das kristallene Amulett zwischen den Trümmern.

Winter
Am Abend in Whispers Braustube, Myth Drannor.
„Was habt ihr in den Spiegeln gesehen?“, fragte Winter. Eine lähmende Kälte hatte sich in ihren Gliedern festgesetzt und es war allein dem Weinbecher in ihren Fingern zu verdanken, dass sie nicht zitterte wie Espenlaub.
„Viel!“, entgegnete Faust und blinzelte wie geblendet. „Und nichts davon ergibt einen Sinn. Es war wie ein wilder Ritt durch ein… Meer von Realitäten. Ich sah mich auf einem Schlachtfeld inmitten eines Heers von Titanen – vielleicht Göttern – und als sie gegeneinander stürmten schien die Welt unterzugehen. Dann Miu…. Sie war tot oder bewusstlos und ich beugte mich voller Entsetzen über sie. In einer anderen Vision sah ich mich gar mit meinem alten Meister sorglos durch einen Wald schlendern…. Und sofern sich nicht meine Vergangenheit ändert, ist das ziemlich unwahrscheinlich, denn er ist schon seit Jahren tot und selbst wenn nicht, wäre er… vermutlich nicht besonders gut auf mich zu sprechen. Dann wieder sah ich ein Licht auf mich zukommen und dann Dunkelheit, vermutlich mein eigener Tod… Das alles ähnelte eher einer abstrusen Traumsequenz als einer Zukunftsvision. Also wenn ihr mich fragt, mit diesen Spiegeln stimmt etwas nicht.“
„Das ist doch ohnehin alles nur Blendwerk“, knurrte Grimwardt. „Kein Grund sich den Kopf darüber zu zerbrechen.“
„Was hast du denn gesehen?“, fragte Winter so beiläufig wie möglich. Doch sie konnte ihrem Bruder dabei nicht in die Augen sehen.
Was er daraufhin erzählte, bestätigte ihre Befürchtung.
„Du meinst, du hast einem anderen Herrn gedient und noch dazu für die Umbranten gearbeitet?“, fragte Faust und pfiff durch die Zähne. „Na so was, der standhafte Grimwardt!“, feixte er.
„Wie ich schon sagte, alles Unfug“, brummte der Priester. „Ich würde niemals meinem Gott abschwören. Und seit wann ist dieses kleine Schattenreich inmitten der Ödnis bitteschön ein ‚Imperium’?“
„Trugst du… vielleicht zufällig ein schwarzes Schwert?“, fragte Winter beklommen.
„Ja... Als ob ich für so ein unhandliches Ding meine treue Axt aufgeben würde.“ Er runzelte die Stirn. „Woher weißt du das?“
Winter holte tief Luft und begann zu erzählen.  
„Ich sehe mich selbst auf einem Schlachtfeld in der Wüste.“ Die Vision, die sich im Spiegelsaal in einer Endlosschleife vor ihrem Auge wiederholt hatte, war so lebendig, als sei sie bereits real. „Vermutlich die Wüste von Anauroch, denn im Hintergrund sehe ich eine fliegende Stadt. Um mich herum wird gekämpft, doch ich achte nicht auf die Kämpfenden, die Schlacht ist wie etwas, das weit entfernt von mir stattfindet. Ich… bin in Panik und rufe immer wieder Scarlets Namen. Dann wirke ich einen Zauber und fliege hoch, um das Schlachtfeld besser überblicken zu können. Irgendwann entdecke ich sie zwischen den Kämpfenden. Sie ist älter, eine junge Frau, obwohl ich selbst nicht älter aussehe als jetzt. Und sie trägt ein seltsames, fließendes Gewand, das ihre Haare bedeckt, wie die Beduinen in der Wüste es manchmal tragen. Sie wirkt irgendeine Art von Zauber – schwarze Strahlen schießen aus ihrer Handfläche. Plötzlich kommt von der Seite ein Kämpfer auf sie zugestürmt.“ Winter musste heftig schlucken, als die Erinnerung den Moment vorwegnahm: Eine schwarze Klinge ragt aus Scarlets Brust. Der unbekannte Reiter wendet ihr sein Gesicht zu. Sie riss sich zusammen und sah ihrem Bruder unverwandt in die Augen. „Ich rase auf sie zu, aber ich bin nicht schnell genug. Er erreicht sie vor mir und rammt ihr sein Schwert in die Brust. Kurz bevor sie stirbt, blickt er zu mir auf und ich… ich sehe in dein Gesicht, Grim.“
Grimwardt konnte ein Schaudern nicht unterdrücken, doch dann schüttelte er ungeduldig den Kopf. „Das glaubst du doch nicht im Ernst, oder?“
Winter zuckte hilflos mit den Schulten.
„Desayeus’ Zukunftsvision hat sich erfüllt“, erinnerte sie ihn leise.
„Weil er versuchte sie zu ändern“, bemerkte Faust. „Vielleicht ist das der springende Punkt. Eine Art Test der Zeit… Sofern wir ihr nicht auf den Leim gehen, lässt sie uns vermutlich in Ruhe.“
Winter bedachte ihn mit einem zweifelnden Blick. Sie konnte die Sache nicht so leicht nehmen wie ihre beiden Gefährten. Welche Mutter, die ihr eigenes Kind sterben sah, könnte das? Sie wusste, sie würde in Zukunft keinen Schritt mehr tun können ohne auf verräterische Zeichen zu achten: ein schwarzes Schwert, das Feder-und-Schwert-Emblem, die geheimnisvolle Sandfürstin aus Grimwardts Vision...
„Hey, Schneeweißchen“, rief Faust und stieß Drake unsanft in die Seite, der mit einem giftigen Zischen zusammenfuhr. Offenbar beabsichtigte Faust, für ein wenig Wirbel zu sorgen, um zu verhindern, dass Winter wieder in ihr düsteres Brüten verfiel. „Bist verdammt ruhig… Hast du in den Spiegeln gesehen, wie ich dir die Eier zertrete?“
Der Assassine maß ihn mit einem abschätzigen Blick und erwiderte dann: „Ich habe gar nichts gesehen.“
„Sicher.“
Drake achtete nicht auf Fausts Hohn.
„Auch nicht mein eigenes Spiegelbild. Es war als wäre ich unsichtbar für die Spiegel.“ Sein Blick traf Winters und als sie den gehetzten Ausdruck in seinen neblig-roten Albinoaugen sah, wusste sie, dass er die Wahrheit sagte. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem sarkastischen Lächeln. „Ich schätze, es ließe sich darüber streiten, welche Vision nun die düsterer ist.“
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 12. September 2010, 02:23:58
Das ist toll! endlich wieder was Neues!  :thumbup:
Wie immer sehr cool! War auch mal schön sich gegen seine Gruppe zu stellen  :twisted:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 12. September 2010, 11:33:29
Du hast diese schwierige Passage sehr souverän gemeistert - ich hatte mir schon Sorgen gemacht, wie man das plausibel und stimmig schreiben will, aber es passt einfach! Freue mich auf weiteres :-)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 15. September 2010, 19:51:22
Puh, hab grad mal alles in ein Word Dokument kopiert... sind jetzt bereits 180 Seiten! Bald wird echt ein Buch draus!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 15. September 2010, 20:06:50
Warum haste nicht Bescheid gesagt? Ich habe zu jedem Abenteuer eine (teilweise editierte) Wordversion der SH, das wäre vermutlich weniger Arbeit gewesen ;-). 180 Seiten... das ist etwa 2,5x soviel in Buchseiten: also schon bald mehr als ein Buch  :o
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 15. September 2010, 20:10:50
Ja... wenn das ganze irgendwann mal endet, dann lassen wir alles binden und haben dann ein zehnbändiges Werk oder so... und wir sind dann alle um die 80... :D
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 15. September 2010, 20:12:29
Das nennt man dann ein Lebenswerk  :lol:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 21. September 2010, 20:08:15
Mehr haben will  :) :) :)
Der nächste Abschnitt wird ja tricky, aber die Meisterin packt das schon!!!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 22. September 2010, 02:30:01
Hab da auch vollstes Vertrauen  :wink:
Cool finde ich, dass es eigentlich fast genau so geschehen ist, wie es dort geschrieben steht... wir haben schon einen Hang zum Cineastischen, oder?  ::)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 07. Oktober 2010, 05:36:06
Kapitel VI: Ins Licht

Winter
Nachts in Silbrigmond.
Fausts Alarmruf riss Winter aus einem unruhigen Schlaf. In der Mitte des Schlafraums harrte eine Gestalt mit halb geöffneten Schwingen. Sie erkannte Feyleen sofort, obgleich sich die Sukkubus ihr noch nie in ihrer wahren Gestalt gezeigt hatte.
Ihr?“ Irritiert ließ Faust sein Schwert sinken. Im Gegensatz zu Winter besaß er keine magische Dunkelsicht. Vermutlich hatte er die Dämonin im Dunkeln schlicht nicht erkannt.
Der Schaden war nicht mehr abzuwenden. Von Fausts Weckruf aus dem Schlaf gerissen, war Drake aufgesprungen und an die Wand zurückgewichen. Mit gezückten Dolchen und angespannten Kiefermuskeln bewegte er sich rückwärts in Richtung Tür. Die halb verhohlene Panik, die sich im Angesicht seiner Nemesis auf seinem Gesicht abzeichnete, verschaffte Winter weniger Genugtuung als sie geglaubt hatte. Die Spiegel hatten vieles verändert...
„Drake…“ Sie seufzte „Lady Feyleen wird uns in die Bastion begleiten.“
„Ihr verfluchten Bastarde!“, presste er hervor.
„Du weißt genau, dass wir dich brauchen, um Ashardalon zu besiegen. Warum sollten wir dich vorher verraten?“
Drakes Panik verwandelte sich in Argwohn, dann in fassungslose Abscheu.  
„Ihr habt…? Ihr seid doch nicht recht bei Trost!“
„Sie ist nicht deinetwegen hier. Sie braucht das Herz des…“
„Ich will ihre Lügen nicht hören“, schnaubte der Albino. „Leere Spiegel, du erinnerst dich?“ Sein Blick glitt fieberhaft durch den Raum und blieb schließlich an Winters Bruder hängen. „Grimwardt, ich fordere hiermit die Einlösung des Schwurs, den du mir vor einigen Monaten gegeben hast!“
Grimwardt verschränkte die Arme.
„Siehst du vielleicht ein Schwurmal auf meiner Stirn?“ Er tippte mit dem Finger gegen seine Stirn. Das magische Mal, das Drake ihm als Loyalitätsanreiz verpasst hatte, hatte er sich vor einiger Zeit von einem Bannmagier entfernen lassen.
„Das macht dein Wort nicht ungültig“, erwiderte Drake. „Hältst du deine Nichte für so unantastbar hinter den Mauern deiner Abtei?“
Der Priester lachte dumpf auf.
„Wenn die Spiegel die Wahrheit sagen, wovon du ja offenbar überzeugt bist, dann bist du ihr geringstes Problem“, konterte er mit einer Nüchternheit, die Winter den Atem verschlug. Doch ihr entging nicht, dass ihr Bruder mit sich rang. Erpressung hin oder her, er hatte dem Albino sein Wort gegeben. Abgesehen davon hätte Grim die Sukkubus ebenso gerne tot gesehen wie Drake. Trotzdem schüttelte er den Kopf: „Es macht dich zu einem ehrlosen Schuft, mich mit diesem Schwur an einen Kodex zu binden, den du selbst mit Füßen trittst.“
Drakes Mundwinkel zuckten vor Zorn und sein Blick glitt zu Feyleen hinüber, die es sich auf dem Fenstersims bequem gemacht und den Schlagaustausch mit scheinbar unbeteiligter Neugier beobachtet hatte. Winter wusste jedoch genug über verborgene Magieanwendung, um das konzentrierte Flackern, das gelegentlich in ihre Augen trat, richtig zu deuten: Falls es zu einem Kampf kommen sollte, war die Sukkubus gerüstet. Ein herausforderndes Glitzern trat in ihre Augen, als sie Drakes Blick erwiderte. Doch wie meistens siegte der Überlebensinstinkt des Albinos über seinen ersten Impuls.
„Beshaba sei Euch gnädig, ihr verfluchten Narren“, zischte er. Einen Lidschlag später schlug die Tür hinter ihm zu.
„Großartig.“ Grimwardt stieß entnervt die Luft aus.
„Ich regle das“, erklärte Winter und eilte dem Assassine nach.
„Drake!“
Er drehte sich so abrupt um, dass sie beinahe mit ihm zusammengestoßen wäre.
„Wie habt ihr euch das vorgestellt?“, grollte er. „Hattet ihr vor sie unauffällig in die Bastion zu schleusen und von der Leine zu lassen, sobald Ashardalon besiegt ist? Oder ist diese ganze Geschichte nur ein Vorwand, um mich ihr ans Messer zu liefern?“
„Was hast du erwartet, nach allem, was du uns angetan hast?“
Schnaubend setzte Drake seinen Weg fort.
Sie blieb stehen.
„Wir greifen sie an“, sagte sie in seinen Rücken. „Du und ich – jetzt gleich.“
Argwöhnisch wandte Drake den Kopf.
„Grimwardt war nie damit einverstanden, sie an Bord zu holen“, fuhr Winter fort. „Und Faust… Sie werden uns – mich – nicht hängen lassen. Gemeinsam können wir sie besiegen.“
„Woher der Sinneswandel?“, knurrte Drake voller Misstrauen.
Weil unsere Schicksale miteinander verknüpft sind, dachte Winter. Ohne Grimwardts konnte ihre eigene Vision nicht wahr werden. Wer sagte, dass dasselbe nicht auch für Drake galt? Am Abend zuvor hatte sie die Bibliothek von Silbrigmond aufgesucht, um nach Hinweisen auf das Feder-und-Schwert-Symbol und die ominöse Sandfürstin aus Grimwardts Vision Ausschau zu halten – doch ohne Erfolg. Sie konnte nicht stillsitzen und abwarten, was die Zukunft bereithielt. Sie musste sich beweisen, dass das, was sie in Desayeus’ Spiegel gesehen hatte, nichts weiter war als das perfide Gespinst eines sterbenden Narren. Und falls es Scarlet das Leben rettete, wenn sie Drake dabei half, sein eigenes Schicksal abzuwenden, dann war sie nur allzu bereit, ihre Rachepläne gegen ihn zu begraben.
Doch diese Gedanken behielt sie lieber für sich. Zu oft hatte sie dem Assassine erlaubt, Profit aus ihren Ängsten zu schlagen.
„Willst du die Gelegenheit ergreifen und Feyleen stellen?“, fragte sie stattdessen. „Oder willst du weiter vor ihr davonlaufen?“
Drake maß sie mit abschätzenden Blicken.
„Also schön“, entschied er schließlich. „Gehen wir es an.“

Faust
„Verzeiht mein übereiltes Kommen“, schäkerte Feyleen mit einem koketten Seitenblick. „Ich hatte nicht bedacht, welche Wirkung mein plötzliches Auftauchen auf Euch haben würde.“
Faust hob schmunzelnd eine Augenbraue.
„Ich wüsste da etwas, das mich mit Euch versöhnen könnte“, warf er den Ball zurück. „Wenn sich die Wogen geglättet haben, könnt Ihr gerne mein Bett beziehen.“
„Es wäre mir eine…“
Die Tür flog auf und hinein stürmte Drake mit gezückten Waffen, dicht gefolgt von Winter, in deren Augen jener Ausdruck düsterer Konzentration stand, der das letzte war, was die meisten ihrer Gegner zu Gesicht bekamen. Geduckt schnellte der Assassine auf Feyleen zu. Die Sukkubus machte nicht einmal den Versuch seinen Hieben auszuweichen und seine Dolche perlten von ihren verzauberten Schuppen ab wie Wassertropfen. Für einen Augenblick trafen sich die Blicke der beiden Erzfeinde und ein triumphales Hohnglitzern streifte Feyleens Augen, dann wirbelte der Assassine um die eigene Achse und entschwand in die Schwärze seines eigenen Schattens. Derweil hatte Winter zu einer Zauberformel angesetzt, die eine Farbspirale in ihrer Handfläche entstehen ließ. Doch ehe der Zauber Gestalt annehmen konnte, schnellte Feyleens Echsenschwanz vor und legte sich wie eine schlingernde Peitsche um Winters Arm. Fasziniert beobachtete Faust das mentale Tauziehen der beiden Zauberinnen: Die Spirale erzitterte unter der Spannung, die nun von beiden Seiten auf sie einwirkte, doch Winter widerstand dem magischen Druck, der den Effekt auf sie umzulenken versuchte, und der Zauber verpuffte im Entstehen. Sogleich richtete sie mit der freien Hand ihren Zauberstecken auf die Dämonenfürstin und eine weiße Nebelschicht überzog ihre Augen. Die Sukkubus stieß einen absyssalischen Fluch aus und antwortete mit einem mächtigen Schildzauber, der ihren Körper in ein prismatisches Energiegewand hüllte, das mit knisternden Strahlen um sich griff: Die Pergamentverkleidung, die über den Fensterrahmen hinter ihr gespannt war, wurde innerhalb eines Lidschlags von fräsenden Flammen verzehrt, während eine Säure-Explosion die Wand zu ihrer Rechten verätzte und sich Eiszapfen an der Decke bildeten.
„Oh, Scheiße.“
Faust sprang zurück und riss Winter mit sich.
„Würdet Ihr Eure Freundin wohl zur Vernunft bringen, oder muss ich noch deutlicher werden?“, drang Feyleens zornige Warnung durch den Schutzschleier.
 „Was ist das?“, schrie Grimwardt, der die Regenbogensphäre mit seinem Schild abwehrte, während er in Angriffsstellung ging.
„Das würde ich an deiner Stelle bleiben lassen!“, brüllte Faust über das Knistern des Zaubers hinweg. „Durch den Schutzschild kommt nichts lebend hindurch!“
„Ah ja?“, brummte der Priester verdrießlich. „Ist das deine Meinung oder lässt du wieder dein Schwert für dich denken?“
Die Bemerkung entbehrte nicht einer gewissen Mehrdeutigkeit. Und wie meistens lag Grimwardt nicht ganz falsch. Zwiespalt hegte ohne Zweifel Sympathien für die ruchlose Fürstin des Abgrunds. Doch Faust war nicht auf den Zuspruch seines Schwertes angewiesen, um einen Vorwand zu suchen, es sich mit Feyleen nicht gar zu sehr zu verscherzen. Seine Vorliebe für exotische und zuweilen gefährliche Liebesnächte war ein Laster, das ihm auch Mius maßregelnde Blicke nicht austreiben konnten. Trotzdem war seine Vorsicht begründet.
Doch während Grimwardt noch nach einem Weg durch den Schutzzauber suchte,  erschien Drake plötzlich auf der anderen Seite des Raums. In seinen Händen hatte sich der schattige Umriss einer Armbrust materialisiert, mit der er dunkle Geschosse auf die Dämonenfürstin abfeuerte. Und woraus auch immer die Bolzen bestanden, sie drangen unbeschadet durch die acht Schichten des magischen Schutzschilds und ein zorniger Schmerzenslaut aus dem Zentrum der Regenbogensphäre verriet, dass sie ihr Ziel nicht verfehlt hatten.
Das brachte das Fass zum Überlaufen. Feyleen trat aus der Deckung und ihre Blicke aus rot glühenden Augen verbargen nicht länger ihren lodernden Hass. Ein grüner Zauberstrahl schnellte aus ihrem ausgestreckten Finger, teilte sich kurz bevor er sein Ziel erreicht hatte und schlug mit doppelter Wucht in die Brust des Albinos ein. Drakes Rückrat brach krachend, als er gegen die Wand geschleudert wurde, wo Feyleens Zauber ihn festnagelte, ehe sie ihn mit einer verächtlichen Handbewegung fallen ließ. Der Schmerz raubte ihm die Besinnung und ersparte ihm das Grauen, Zeuge zu werden, wie seine Gliedmaßen anfingen zu Staub zu zerfallen.
„Verdammt, wir brauchen ihn noch!“, fuhr Winter die Sukkubus an.
Feyleen stieß ein grausames Lachen aus.
„Wenn ich wirklich daran interessiert wäre, mich an diesem widerwärtige Stück Dreck zu rächen, dann würde ich es sicher nicht so kurz und schmerzlos machen!“
Grimwardt sprach eilig ein Regenerationsgebet, um Drake vor dem sicheren Tod zu bewahren. Winter kniete sich neben ihn und nahm dem Bewusstlosen seine magischen Gegenstände ab.
„Was hast du vor?“, fragte Faust.
„Ich verzaubere ihn, solange sein Geist zu schwach ist, den Zauber abzuwähren“, erwiderte Winter. „Er wird keine Ruhe geben, solange sie dabei ist.“ Und wer könnte es ihm verübeln?, schien ihr patziger Unterton zu sagen.
Ein wenig beschämte es Faust, dass er ihren kleinen Hinterhalt nicht unterstützt hatte. Tatsächlich wäre es wohl besser, Feyleen lieber früher als später unschädlich zu machen. Das hatte ihr wahnwütiger Angriff auf Drake gerade bewiesen… in gleichem Maße wie er Fausts Verlangen danach gesteigert hatte, sie erst nach dieser Nacht loszuwerden!
Winter sprach ihren Beherrschungszauber. Drake kam langsam zu sich und wollte sich aufrichten.
„Bleib liegen“, befahl die Zauberin und der Albino sank wider Willen zurück. Wortlos gab sie ihm sein Schutzamulett gegen geistige Beeinflussung zurück.
„Ihr schaufelt euch euer eigenes Grab“, murmelte er düster.
Winter seufzte, als wolle sie ihm zustimmen.
„Das wäre dann wohl geklärt.“ Ein verheißungsvolles Lächeln huschte über Feyleens Gesicht, als sie sich Faust zuwandte. „Gilt Euer Angebot noch?“
„Nehmt euch gefälligst ein Zimmer“, knurrte Grimwardt. „Und für uns am besten ein neues“, fügte er mit einem Blick auf die Verwüstung hinzu, die Feyleens Schutzzauber angerichtet hatte.
Faust nahm ihn beim Wort. Der Hausherr kam ihm mit grantiger Miene auf der Treppe entgegen, weil sich Gäste über den Krach und den Gestank nach Verbranntem beschwert hatten. Anstandslos erstattete er dem Mann die horrende Summe, die dieser für die Reparaturen verlangte, und ließ sich neue Zimmer geben.
Als er das Liebesnest zur Inspektion betreten wollte, stellte er fest, dass Feyleen ihm zuvor gekommen war. Reglos harrte sie am Fenster. Mondlicht floss über ihre Perlmutt-Schwingen und verfing sich in den Strähnen ihres goldenen Haars, während die Nacht ihr Gesicht in Schatten hüllte. Faust folgte der einladenden Geste und zog sie mit sich aufs Bett, während seine Bewegungen sich den ihren anzupassen begannen. Plötzlich spürte er, wie etwas mit eisigen Klauen nach seinem Geist griff.
„Hey!“
Er packte sie bei den Handgelenken und riss sie herum.  
„Was sollte das werden?“
„Nichts das du bereut hättest.“
Streifen silbrigen Mondlichts krochen wie Vipern über ihr Gesicht und für einen Augenblick meinte Faust ein verräterisches Glitzern in ihrem Auge zu sehen. Doch Feyleens Echsenschwanz verstand es seine Gedanken in andere Sphären zu lenken…

Winter
Abtei des Schwertes, bei Sonnenaufgang.
Scarlet wirkte klein und schutzlos auf dem kargen Strohlager im Schlafsaal des Ersten Jahrgangs. War sie schmaler geworden oder erweckte die einfache Rekrutenkleidung diesen Eindruck? Die Sommersprossen auf ihrer Nase sagten Winter, dass sie viel im Freien arbeiten musste. Wie es ihr hier wohl erging, als einziges Mädchen unter all den Knaben? Noch dazu ein verwöhntes kleines Mädchen ohne viel Erfahrung mit Haus- und Stallarbeiten… Vermutlich waren es nicht Pferdemist und Besenkammern gewesen, die sie im Sinn gehabt hatte, als sie es sich in den Kopf gesetzt hatte, eine große Axtkämpferin zu werden. Ob sie wohl einsam war?
Sieh den Mond am Himmel steh’n…
Das alte Schlaflied, das sie ihrer Tochter früher oft vorgesungen hatte, kam Winter in den Sinn und es stimmte sie traurig. Plötzlich verspürte die den Drang, Scarlet aufzuwecken und ihr die Verse ins Ohr zu summen – so als sei jetzt die letzte Chance dazu. Dann musste sie über den sentimentalen Wunsch schmunzeln. Ihre Tochter würde ihr die Hölle heiß machen, wenn sie ihr vor versammelter Knappschaft ein Wiegenlied trällerte! Doch ein Hauch von Beklommenheit blieb, als sie sich auf leisen Sohlen aus dem Schlafsaal schlich und einen letzten Blick auf ihre schlafende Tochter warf.
Sie teleportierte zurück nach Silbrigmond, wo ihre Gefährten bereits auf sie warteten. Miu war nachts in aller Stille zurückgekehrt, so wie Faust es vorhergesagt hatte. Ihren Schützling in den Armen einer Fürstin des Abgrunds vorzufinden, hatte nicht eben dazu beigetragen, die Wogen zwischen den beiden unfreiwilligen Eheleuten zu glätten.  Und die Ordensschwester war nicht die einzige, deren Sympathien für die neue Gefährtin sich in Grenzen hielten. Grimwardts Plan sie durch einen übereilten Aufbruch auszumanövrieren, war daran gescheitert, dass die Sukkubus Faust nicht mehr von der Seite gewichen war, was es ihnen unmöglich machte, ihn in ihre Pläne einzuweihen. So würde ihnen nichts anderes übrig bleiben als vorerst mit ihrer Anwesenheit zu leben und Faust die Pest an den Hals zu wünschen… oder an andere Körperteile.
Vor dem Aufbruch in die Bastion standen noch einige magische Besorgungen aus. Wie immer war die Schimmernde Schriftrolle ihre erste Anlaufstelle. Xara Tantlors aufgeflogener Hinterhalt hatte sich als äußerst profitabler Dienst erwiesen: Für das Versprechen ihren guten Namen nicht in den Dreck zu ziehen, hatte die angesehene Geschäftsfrau ihnen ein paar saftige Festrabatte gewährt. An diesem Tag jedoch war Xara nicht gut auf ihre besten Kunden zu sprechen. Ihr Haar war strähnig und stumpf und ihr Gesicht von einem ungesund käsigem Teint. Auch das Wiedersehen mit Drake, der sie so schamlos für seine Zwecke ausgenutzt hatte, war ihrer guten Laune nicht eben zuträglich.
„Keine Rabatte mehr“, erklärte sie, als sie ihnen ihre Einkäufe über den Ladentisch schob: ein Illusionsring für Drake, für Grimwardt ein kostbarer Leidfaden für Führungspersönlichkeiten, magische Stiefel für Faust und einige Schriftrollen, die sie alle vor der überschüssigen Lebensenergie auf der positiven Ebene schützen sollten: Sie hatten wieder einmal ordentlich zugeschlagen! „Posaunt meine Verfehlungen meinetwegen in der ganzen Stadt herum, aber diese Geschichte muss aufhören, wenn mein Laden nicht vor die Hunde gehen soll.“
Xaras untypische Launenhaftigjkeit schröpfte die Ressourcen der Helden, doch ihre jüngsten  Plünderungen hatten eine beträchtliche Goldsumme eingefahren. Außerdem lag es in ihrem Interesse, die Zauberdiebin nicht in den Ruin zu treiben. Ihre Beschaffungsmaßnamen mochten von zweifelhafter Art sein, aber ihr Konzept ging auf: Kein anderer Magier hätte ihnen eine Großbestellung derart mächtiger magischer Gegenstände auf Vorrat liefern können.
„Nehmt Euch einen freien Tag“, riet Faust der jungen Frau, nachdem Winter ihr den Gesamtpreis in Edelsteinen ausgezahlt hatte. „Ihr habt schon mal besser ausgesehen.“
Die Magierin fuhr zusammen.
„Ich erwarte ein Kind!“, sagte sie gekränkt.
Sie bereute ihre Worte sofort: Wie auf Kommando richteten sich alle Blicke auf Drake, der Stirn runzelnd einen Schritt zurück wich.
„Nicht von ihm“, stöhnte Xara und bedeckte vor Scham ihr Gesicht.
„Nun, meine Glückwünsche“, unternahm Faust einen Versuch, sie aus ihrer misslichen Lage zu erretten. Doch der düstere Blick, den sie ihm zuwarf, ließ vermuten, dass Gratulationen hier eher fehl am Platz waren.
Winter gab noch ein Schutzamulett in Auftrag, dann verließen die Gefährten den Laden. In einer ruhigen Seitengasse wirkte sie die Schutzzauber und Grimwardt bereitete das Ritual vor, das sie auf die positive Ebene bringen sollte. In eine Schale goss er geheiligtes Wasser und tauchte den Seelensplitter des Desayeus hinein. Dann stimmte er einen magischen Betgesang an und die Welt wurde in ein strahlendes Licht getaucht.
Vergeblich wartete Winter darauf, dass der Schleier sich lüftete. Doch das blendende Weiß wich nicht aus ihrem Blickfeld. Sie fühlte keinen Boden unter den Füßen, jedoch schien sie auch nicht zu fallen. Die gestaltlose Welt um sie herum pulsierte wie ein riesiges pochendes Herz und ihr Körper begann im Einklang mit seinem Rhythmus anzuschwellen. Eine eigenartige Euphorie ergriff Besitz von ihr. Gerade als sie an dem Gefühl zu zerbersten glaubte, entfaltete der Schutzzauber seine Wirkung und das irrwitzige Glücksbeben verebbte. Mit einer Augenbinde ließ sich die blendende Helligkeit ertragen. Doch mehr als einen grenzenlosen Raum aus weißem Nichts gab die Umgebung nicht preis. Faust, der den Seelensplitter trug, der ihnen den Weg wies, führte die kleine Gruppe an. Winter bildete mit Drake das Schlusslicht.
Sie nutzte die Gelegenheit um das Gespräch mit dem Assassine zu suchen. Er war noch immer unter ihrer Kontrolle und die Chance ihn ins Verhör zu nehmen würde sich ihr vermutlich kein zweites Mal bieten…
„Sag mir die ganze Wahrheit, Drake“, befahl sie. „Warum hast du Scarlet entführt und uns diese Falle bei Silbrigmond gestellt?“
„Hatten wir das nicht schon?“, entgegnete der Assassine gelangweilt. „Im ersten Fall brauchte ich das Artefakt des Baelnorn und im zweiten Begleitschutz – die Gelegenheit bot sich und ich ergriff sie“, fasste er knapp zusammen.
Das war der Teil der Geschichte, den Winter schon kannte. Doch die Wahrheit, nach der sie suchte, verbarg sich hinter Drakes Worten. Der Zauber, der ihn ihrem Willen unterwarf, machte es ihm nicht nur unmöglich, zu lügen, er offenbarte ihr auch Drakes Gedanken und Gefühle: Furcht vor dem, was der Zauber ihr enthüllen mochte, Zorn darauf, ihr auf diese Weise ausgeliefert zu sein, und Bitterkeit, weil er sein Schicksal besiegelt glaubte. Doch halb verschüttet unter diesem Schutzschild oberflächlicher Regungen lag noch etwas anderes: Reue? Zuneigung? Sehnsucht?... Was es auch war, Drake hatte es in der Vergangenheit immer verstanden, es in etwas umzuwandeln, das seinem Beruf zuträglicher war.
Winter seufzte.
„Du bist wirklich ein Meister darin, dich selbst zu betrügen.“
Er verzog spöttisch die Mundwinkel. „Nichts im Gegensatz zu dir.“
„Was willst du damit sagen?“
Drake schwieg.
„Red’ schon.“  
„Schon mal dran gedacht, dass du mit deiner mütterlichen Empörung bloß deine Selbstsucht kaschierst? Was ist etwa… mit den Nachtmasken? Du weißt, die können es nicht besonders gut leiden, wenn man ihnen ans Bein pisst und mit Entführung käme dein kleiner Rotschopf da wohl noch billig davon. Aber ihre ach so besorgte Mutter jagt ja lieber den grausamen Kindesentführer, während sie sich munter die mächtigsten Großorganisationen des Nordens zum Feind macht. Nicht sehr konsequent, wenn du mich fragst.“  
Sie schnaubte. „Machst du mir etwa Vorhaltungen darüber, wie ich mein Leben führe?“
„Wie käme ich dazu!“ Drake lächelte schal. „Mir ist nichts so gleichgültig wie dein Leben oder die Sicherheit deiner Tochter… Aber Ihr wolltet ja die ganze Wahrheit, Herrin.“
Winter hätte sich selbst geißeln mögen vor Ärger darüber, dass sie sich auf diese Unterredung eingelassen hatte. Warum erlaubte sie ihm immer wieder, sie in die Defensive zu zwingen?
Zu ihrer Erleichterung unterbrach Grimwardt in diesem Moment das Gespräch.
„Wir sind fast da. Ich kann die Bastion sehen.“

Grimwardt
Aus der Ferne ähnelte der Quell der Seelen einer Schneeflocke von den Ausmaßen einer Stadt. Doch bei näherer Betrachtung verwandelte sich das formlose Gebilde am Horizont in eine sternförmige Kristallstruktur aus Bögen und Pfeilern, in deren Zentrum eine Kuppel aus purem Licht im Einklang mit dem schlagenden Herzen der Ebene pulsierte.
Grimwardt hielt für einen Augenblick inne.
Endlich, achteinhalb Jahre nachdem sie zum ersten Mal von diesem Ort gehört hatten, waren sie angekommen. An dem Ort, den Ao selbst erbaut hatte und den nur ein einziger Gott je betreten hatte. Tempus’ allsehender Blick vermochte ihn hier nicht zu fassen und Grimwardt blieb die Wärme Seiner göttlichen Nähe verwehrt, sodass ihm, trotz allen Lichts, eine schleichende Kälte die Beine hinauf kroch.
Sie mussten das weitläufige Kristallgebilde einmal zur Hälfte umrunden, ehe sie den Eingang fanden: einen kreisrunden Torbogen, dessen Hohlraum von einer glatten weißen Schicht mit unregelmäßigen Maserungen überzogen war. Die Musterung in der Mitte der eisartigen Schicht spiegelte die Kristallstruktur des Seelensteins und als Faust ihren Teil des Artefakts gegen das Muster hielt, verblasste die Tür zu Nichts.
Sie traten hindurch, ehe das Tor sich wieder schloss, und standen in einem breiten Weg aus weißem Kieselstein, der von einer Allee von Kristallbäumen gesäumt wurde. Die brillantfarbenen Bäume waren beladen mit „Früchten“ aus strahlendem Licht und die vibrierenden Bewegungen ihrer tränenförmigen Blätter erfüllten die Luft mit lautem Glockengeläut. Hin und wieder fiel eine herangereifte Lichtfrucht zu Boden und verschwand.
Zu beiden Seiten der Kristallallee zweigten schmalere Kieswege ab und ihr Ende verlor sich in einem gleißenden Licht. Jenem Strahlen war es zu verschulden, dass die Helden erst auf den zweiten Blick die Überreste des zerstörten Zeltlagers in der Mitte der Allee erspähten. Neben den Überresten von Planen und Feuerstellen fanden sich ein halbes Duzend Kadaver von exotischen Kreaturen unterschiedlichster Herkunft: Einen Kobold, einen Schreckensbär und sogar eine Chimäre vermeinte Grimwardt unter den Toten zu entdecken. Sie alle wiesen an einigen Körperstellen Hautunregelmäßigen in Form von roten Schuppen auf: Drachenbrut! Sie waren über Ashardalons Begrüßungskommando gestolpert. Und da waren sie nicht die einzigen. Dem Gestank nach zu urteilen, rotteten die Leichen schon eine ganze Weile vor sich hin. Doch was hatte sie umgebracht? Ein paar Brandwunden und Hautverätzungen deuteten auf magische Todesursachen hin. Aber die meisten der Leichen wiesen aufgeschlitzte Hälse und Kratzspuren auf. Vampirklauen verursachten solche Wunden…
„Orlak und seine Klonarmee waren hier“, teilte Grimwardt den anderen seine Schlussfolgerungen mit. „Und es deutet alles darauf hin, dass sie siegreich waren.“
„Das muss nicht heißen, dass er auch gegen Ashardalon den Sieg davongetragen hat“, gab Faust zu bedenken.
„Wo ist Feyleen?“, fragte Drake plötzlich.
Sie sahen sich um.
„Ich wette, das war nicht das letzte, was wir von ihr gesehen haben“, knurrte der Priester.
Sie beschlossen, durch das Strahlen am Ende der Kristallallee zu gehen. Der Weg musste ins Herz der Bastion führen, zu jenem pulsierenden Licht, das die Gefährten von außen gesehen hatten. Wenn die Kuppel der Ort war, an dem die Seelen geboren wurden, dann würden sie Orlak – oder Ashardalon – dort am ehesten finden. Je näher sie dem Strahlen kamen, desto körperlicher wurde das Licht und desto mühevoller das Fortkommen: eine unsichtbare Kraft, ein Energiefeld, schien sie zurückzudrängen.
Und dann plötzlich ein Déjà-vu: Grimwardt blinzelte verdutzt, als das Zeltlager vor ihm auftauchte. Das Strahlen musste sie an den Anfang der Allee zurückgestoßen haben. Einen jedoch hatte es durchgelassen: Winter war nicht mehr bei ihnen…
Ratlos blickten die Zurückgebliebenen einander an.
„Versuchen wir es eben noch einmal“, schlug Faust vor.
Diesmal fassten sie sich an den Händen, als sie auf das Licht zu liefen. Doch wieder wies das Strahlen alle bis auf einen zurück: Als sie vor dem Eingang auftauchten, war Faust verschwunden.
„Hältst du es für klug, es noch einmal zu versuchen?“, fragte Drake. „Wer weiß, ob Winter und Faust es tatsächlich durch das Strahlen geschafft haben. Womöglich sind wir gerade im Begriff, uns hoffnungslos zu zerstreuen.“  
Grimwardt musste ihm zustimmen und so suchten sie die Umgebung nach den beiden verlorenen Gefährten ab, doch ohne Erfolg. Der Priester begann unruhig zu werden: Was, wenn Winter oder Faust gerade Auge in Auge mit dem Vampirkönig standen?
„Miu, vielleicht solltest du…“, begann er. Dann bemerkte er, dass Drake irritiert die Stirn runzelte und in sich hinein zu horchen schien.
„Was ist los?“
„Sie ist weg.“
„Von wem sprichst du?“
„Winter. Sie ist aus meinem Geist verschwunden. Ich spüre ihre magische Kontrolle nicht mehr.“
„Was hat das zu bedeuten?“
„Das bedeutet, sie ist entweder tot oder sie will uns etwas mitteilen.“
„Kann sie sich nicht klarer ausdrücken?“, blaffte Grimwardt ohne Drakes Alternative in Betracht zu ziehen. „Miu, kannst du nach ihnen suchen?“
Die Ordensschwester deutete ein Nicken an. Dann kniete sie sich in den Kies und versank in einer kurzen Trance. Ihre Hände waren zu einer Schale geformt, in der sich eine dünne Schicht Wasser bildete. Miu wartete, bis sich die Oberfläche geglättet hatte und blies dann sachte darüber. Grimwardt, der ihr über die Schulter schaute, erkannte schattenhafte Schemen in den Wellenkreisen. Schließlich erhob sich Miu und deutete nach links.
Sie folgten der linken Abzweigung am Eingang und gelangten in einen Hain von Kristallbäumen. In westlicher Richtung wurde der Hain immer dichter, während zu ihrer Rechten das strahlende Licht aus dem Zentrum zwischen den Bäumen aufblitzte: Sie mussten sich im ersten Arm der Eissternkonstruktion befinden und wie die Allee war das Gelände zur Mitte des Sterns – zum Herzen der Bastion hin - geöffnet. Als nächstes folgte ein Raum, der ebenso aufgebaut war wie der vorherige, und während sie von Kristallhain zu Kristallhain hasteten, kam es Grimwardt so vor, als ebbe das Strahlen allmählich ab. Vielleicht war das des Rätsels Lösung: Jede Minute, die verstrich, brachte ihre Körper ein wenig mehr in Einklang mit dem leuchtenden Pulsieren im Zentrum der Bastion. Womöglich mussten sie lediglich abwarten.
Es waren etwa zwanzig Minuten vergangen, seitdem Miu ihren Ortungszauber gewirkt hatte, als die Karaturianerin stehen blieb und nach vorn deutete. Zwischen den Bäumen erspähte der Priester Winters Feuerhaar. Und dann wurde er Zeuge der anstandslos schrägsten Szene seiner bisherigen Abenteurerkarriere: Reglos wie ein Steingolem harrte seine Schwester inmitten der klebrigen Überreste einer riesigen Wurmkreatur, während Faust vor den Augen seiner unbewegten Zuschauerin einen beschwingten Stepptanz aufs Parkett legte.
Grimwardt schüttelte den Kopf erst in die eine, dann in die andere Richtung und kniff schließlich die Augen zusammen, doch die Vision wollte weder weichen noch einen Sinn ergeben.
Tempus, warum hast du mich verlassen?
Faust drehte eine ballettreife Pirouette und beendete die Tanzvorstellung mit einer schwungvollen Verbeugung.
„Scheiße!“, fluchte er ungehalten und rammte weniger ballettreif sein Schwert in den Boden.
Grimwardt und Drake warfen sich einen konspirativen Blick zu, der so viel bedeuten sollte wie „Fliehen wir, solange wir noch können?“ Dann schloss der Kriegspriester die Augen, rieb sich die Stirn, um seine berühmt-berüchtigte Zornesader zu beruhigen, und stieß verdrossen die Luft aus.
„Könnte mir mal jemand erklären, was, bei allen neun Höllen, hier los ist?“

Winter
Kurz zuvor.
Licht floss Winter in die Augen und sie spürte, wie sich die Dimensionen überlagerten.
„Grim?“
Ein Wald aus Kristallbäumen. Und keine Spur von ihren Gefährten. Unsicher machte Winter ein paar Schritte ins Unterholz.
Bringen sie Euch nicht auch in Versuchung, Winter?, hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf.
Kurz darauf erspähte sie Feyleen zwischen den Bäumen. Sie trug die Maske des Taliser Bauernmädchens, doch den schlangenartigen Bewegungen, mit denen sie sich auf Winter zu bewegte, haftete wenig Menschliches an. In ihrer ausgestreckten Hand hielt sie eine der pulsierenden Lichtfrüchte.
„Es sind Seelen“, sagte sie. „Kostet.“
Winter wich angewidert zurück. Verflucht, wo waren ihre Freunde? Lautlos wirkte sie einen Teleportationszauber, doch die Formel schlug fehl.
„Ihr versucht vor mir davon zu laufen?“ Feyleens Mädchengesicht gaukelte ihr einen gekränkten Schmollmund vor. Wenn sie der Grund für das Fehlschlagen des Zaubers war, war es vermutlich kein Zufall, dass sie hier aufeinander trafen. Alarmiert ließ Winter den Kontrollzauber fallen, der sie mit Drakes Geist verband, und hoffte, dass der Albino ihren Hilferuf richtig deutete.
Mit einem genießerischen Lächeln führte die Sukkubus die Seelenfrucht zum Mund und Winter erhaschte einen Blick auf die kleinen, scharfen Fangzähne, mit denen sie die zarte Seelenschale aufbrach, um von der milchig-weißen Seelenflüssigkeit zu schlürfen. Die Schale färbte sich schwarz, als die neugeborene Seele aus ihr entwisch. Achtlos ließ die Dämonin sie zu Boden fallen, wo sie klirrend zerbrach.
Eine weitere verlorene Seele, dachte Winter betroffen. Ein weiteres Kind, das ohne Seele geboren wird.
„Eine einzige Seele würde Euer Leben um ein ganzes Menschenleben verlängern.“
„Was wollt Ihr, Feyleen?“, fragte Winter, während sie versuchte, ihre Chancen gegen die Sukkubus einzuschätzen. „Wo sind die anderen?“
„Ich kann Euch zu ihnen führen“, sagte die Dämonenfürstin. „Gegen einen kleinen Gefallen, versteht sich…“
„Was für ein Gefallen?“
„Helft mir Faust dazu zu bewegen, mir den letzten Seelensplitter auszuhändigen.“
„Also darauf wart Ihr die ganze Zeit aus.“ Nicht, dass die Erkenntnis sie sonderlich überrascht hätte. „Ihr brauchtet uns, um an den Splitter heranzukommen.“
„Was ich euch erzählte, war nicht einmal gelogen. Ich war tatsächlich Demogorgons Unterhändlerin, aber Orlak machte mir ein besseres Angebot.“
 „Was habt Ihr vor?“
Seufzend lehnte Feyleen sich gegen einen Seelenbaum und fuhr mit dem Finger die feine Musterung der Kristallrinde nach.
„Wisst Ihr, das hier ist keine Verkleidung“, sagte sie versonnen. „Das war mein Gesicht – vor nicht allzu langer Zeit. Meine Eltern unterhielten ein kleines Gestüt im Eggental. Ich kam gerade von einem Abenteuer zurück - mit Nimoroth und Kalith… Drake war uns zuvorgekommen. Das Haus stand in Flammen; meine Mutter war schon tot, mein Vater starb in meinen Armen. Mit seinem letzten Atemzug gestand er mir, dass mein ganzes Leben eine Farce gewesen war; dass ich nicht die Tochter meiner Mutter war, und dass er mich all die Jahre belogen hatte… In diesem Augenblick verlor dieses Mädchen, das ich war, nicht nur seine Zukunft… sondern auch seine Vergangenheit.“
„Dann ging es Euch tatsächlich nie um etwas anderes als um Eure Rache an Drake…“
„Es geht um viel mehr“, brauste Feyleen auf. Ein wahnhaftes Zucken bohrte sich in ihre Mundwinkel und zeichnete eine Schneise des Hasses durch ihr Gesicht. „Ich werde ihn auslöschen, so wie er mich ausgelöscht hat. Und in diesem einen Augenblick, wenn alles vergeht, was er einmal war und was er sein könnte, werde ich ungeschehen machen, was er mir angetan hat!“
Winter erschauderte beim Anblick dieser keifenden Furie, doch Feyleens Wahnsinn verflog so schnell wie er gekommen war.
„Überlegt nur“, schnurrte sie anbiedernd. „Ich kann auch alles ungeschehen machen, was er Euch angetan hat, Winter.“
„Und dazu braucht Ihr den letzten Seelensplitter?“
Wieder änderte sich das Gemüt der Sukkubus innerhalb eines Lidschlags.
„Ich habe Euch schon viel zu viel gesagt“, schnaubte sie ungeduldig. „Also: Helft Ihr mir oder wollt Ihr Euer Wiedersehen mit Euren Freunden als Leiche feiern? Ihr glaubt ja wohl nicht ernsthaft, dass sich Eure mit meiner Zauberkunst messen könnte?“
Winter war sich da nicht so sicher. Selbstüberschätzung und Tollkühnheit waren weit verbreitete Übel unter Magiern, die wie Feyleen ihre Seele für ihre Ambitionen verkauften. Doch hier und jetzt war die Dämonenfürstin im Vorteil, denn im Gegensatz zu Winter hatte sie sich auf diese Konfrontation vorbereiten können.
„Also gut“, sagte sie darum in der Hoffnung, dass ihr auf dem Rückweg ein besserer Einfall kommen würde.
„Schön.“ Die Sukkubus lächelte unheilvoll. „Dann wehrt Euch nicht!“
Sie sah sie kommen, die eisige Klaue, die nach ihrem Geist griff, doch sie war zu überrumpelt, um den Zauber abzuwehren. Und im nächsten Moment fühlte sie sich wie eine Ausgestoßene in ihrem eigenen Körper: Feyleen hatte ihr die Kontrolle entrissen.

Faust
Nicht weit entfernt.
Als das Licht aus seinen Augen floss, fand er sich Auge in Auge mit zwei großen, wurmartigen Kreaturen wieder. Violette Adergefäße schimmerten durch die halbtransparenten Hautsegmente der Wesen und ihre aufgeplusterten Nackenschilde drückten Feindseligkeit aus. Vor Fausts unverhofftem Erscheinen hatten sie sich offenbar an einem Festschmaus gelabt: Im Halbkreis um die beiden Würmer lagen zerbrochene Seelenschalen, aus denen die helle Flüssigkeit herausgesaugt worden war.
„Störe ich?“, fragte der Neuankömmling ironisch.
Er zog sein Schwert. Der erste Hieb teilte den ersten Wurm in zwei. Doch anstatt aus dem Schicksal seines unglücklichen Kumpanen zu lernen, richtete sich der zweite zu seiner vollen Größe auf, sodass er den Angreifer um eine ganze Mannslänge überragte, riss sein Maul auf, das den Blick auf zwei Reihen keilförmiger Zähne freigab, und stieß ein markerschütterndes Kreischen aus. Faust schien es, als rolle ihm etwas die Fußnägel auf, während es gleichzeitig seine Glieder zu Glibber verarbeitete. Er musste zweimal kräftig schlucken, ehe das nachklingende Pfeifen in seinen Ohren nachließ, dann wirkte er einen Stillezauber, um einer weiteren Kreischattacke vorzubeugen. Seines mächtigsten Angriffes beraubt,  schien sein Gegner verunsichert und zog sich schlängelnd aus der Stillezone zurück. Doch Faust setzte ihm mit wenigen Schritten nach und Sekunden später zog er Zwiespalt aus dem gespaltenen Schädel des Wurms, während er sich ein paar Tropfen Hirnflüssigkeit von der Wange wischte.
 „Das war… unbefriedigend“, befand er.
Aus den Augenwinkeln gewahrte er eine Bewegung.
„Winter!“ Das Geläut der Kristallbäume hatte ihre Schritte übertönt. „Wo sind die anderen? ...Winter?“
Irgendetwas stimmte nicht: Ihr Gesicht war kalkweiß und wirkte eigenartig konzentriert. Und dann begann sie plötzlich… zu tanzen: Mit gekrümmtem Oberkörper und geschlossenen Augen hüpfte sie wie in Trance um einen unsichtbaren Mittelpunkt und murmelte magische Worte.
„Äh… Alles in Ordnung?“
Faust kannte den Zauber: Chultanische Schamanen hatten ihn entwickelt, um über weite Distanzen eine emotionale Verbindung zueinander aufrecht halten zu können. Winter wendete ihn manchmal an, wenn sie Scarlet nah sein wollte. Dass er diesmal das Ziel ihres Kreistanzes war, stimmte ihn misstrauisch. Warum fragte sie ihn nicht einfach, wie es ihm ging? Versuchte sie ihm etwas mitzuteilen?
Eine Bewegung am Rande seines Sichtfelds.
Bevor sein Verstand ein Bild erfassen konnte, schnellte Faust vor und griff an. Als sein Geist endlich mit dem Denken hinterherkam, steckte sein Schwert bereits in Feyleens Schulter.
„Verdammt, was ist hier los?!“
Japsend torkelte die Sukkubus gegen einen Baumstamm und hielt sich die blutende Wunde. Doch nicht Faust sondern Winter galt das gallige Grollen, das aus ihrer Kehle drang.
„Sehr gewitzt, du kleine Schlampe“, zischte sie. „Ich meinte nicht diesen Tanzzauber. Also noch ein Versuch: Belege Faust mit dem Zauber, mit dem du mich gestern im Gasthaus gängeln wolltest. Und dann halt still.“
Es tut mir so leid, sagte Winters reuiger Blick, als sie auf ihn zutrat. Diesmal gab es kein Entkommen: Knirschend sprach sie den Zauber und wie in der Nacht zuvor beobachtete Faust, wie ihr eine Farbspirale aus der Handfläche spross. Als sie ihn am Arm berührte, sprang der Zauber auf ihn über und er verspürte ein eigenartiges Kribbeln in den Fingerspitzen. Ein euphorisches Rucken und Zucken durchlief seine Glieder und füllte seinen Geist mit dem unwiderstehlichen Drang sich die Seele aus dem Leib zu tanzen: Seine Hände klatschten, seine Hüften begannen im Einklang mit seinen Schultern zu kreisen, seine Füße vollführten kleine Luftsprünge und seine Hacken stießen klackend gegeneinander.
Es war entwürdigend.
Feyleen lachte gehässig, als sie auf Faust zutrat.
„Ich darf doch noch mal?“
Sie ließ sich Zeit damit, seine Hosen zu durchsuchen, und ihre Berührungen trugen nicht eben dazu bei, ihm seine verlorene Würde zurückzugeben. Flüchtig verspürte Faust den Drang, sie zu erwürgen, als sie den Seelensplitter aus seinem Stiefelschacht zog… aber die Perfektionierung seines Hüftschwungs war jetzt wichtiger.
„Gehabt euch wohl“, spottete die Sukkubus zum Abschied. „Es war mir ein Vergnügen mit euch zusammenzuarbeiten….“
Als Faust seine Tanzwut überwunden hatte, war sie längst über alle Berge.
„Scheiße!“ Er hätte sich in den Arsch beißen mögen.
„Könnte mir mal jemand erklären, was, bei den neun Höllen, hier los ist?“, drang in diesem Moment Grimwardts verdrießliches Brummeln an sein Ohr.

Grimwardt

Kurz darauf.
„Jetzt komm’ mir nicht mit ‚Ich hab’s euch ja gleich gesagt’“, knurrte Faust, nachdem er seinen Bericht beendet hatte.
Drake hob blasiert eine Augenbraue.
„Warum das Offensichtliche aussprechen? Sag mir lieber, was Feyleen vorhat?“
„Das solltest du Winter fragen.“
Betretene Blicke streiften Grimwardts Schwester, die sich gemäß Feyleens Anweisungen nicht mehr gerührt hatte seit sie Faust zum Tanzen gebracht hatte. Miu hatte versucht, ihren Geist aus der Knechtschaft zu befreien, doch gegen Feyleens Magie konnten die Zauber der jungen Ordensschwester nichts ausrichten.
„Wir sollten sie bewusstlos schlagen“, murmelte Drake.
„Hast du den Verstand verloren!“
„Sie ist ein leibhaftiger Ausspähungszauber!“, zischte der Assassine mit gesenkter Stimme. „Feyleen kann alles sehen, was sie sieht. Sie hört jedes Wort, das wir hier sprechen. Vermutlich hat sie ihre Geisel überhaupt nur deshalb hier zurückgelassen: als Spion.“  
Grimwardt erhob sich.
„Bevor hier irgendwer meine Schwester zusammenschlägt, habe ich auch noch ein Wörtchen mitzureden“, brummte er. Der Priester hatte wenig Hoffnung, den Bann zu brechen, der Miu bereits an ihre Grenzen gebracht hatte. Doch einen Versuch war es immerhin wert. Er legte seine Hände an Winters Schläfen, schloss die Augen und bat Tempus um die Kraft, ihren Geist von der Fremdherrschaft zu befreien. Als er in die geistige Bastion seiner Schwester einzudringen versuchte, stieß er gegen eine Barriere und eine fremde Kraft drohte ihn zurückzudrängen. Schweiß rann über seine Stirn, als er sich gegen den Druck des Zaubers stemmte. Doch er widerstand lange genug, um Feyleens mentaler Barriere einen Riss zuzufügen. Genug für Winter, um den Wall mit ihrem Willen einzureißen und den Zauber abzuschütteln.
Mit einem erleichterten Keuchen sank sie gegen Grimwardts Schulter.
„Die Schlampe war von Anfang an nur auf den Splitter aus“, sagte sie bitter. „Vermutlich war sie schon einmal hier – mit Orlak und seiner Klonarmee. Darum wusste sie, was passieren würde, wenn wir durch das Licht gingen. Sie brauchte nur darauf zu warten, dass die Bastion uns voneinander trennen würde.“
„Wozu braucht sie den Splitter?“
Ihr Motiv ist Rache, doch was Orlak vorhat, weiß ich nicht.“
Es war die eine Frage, auf die sie noch keine Antwort hatten: Welches Interesse konnte ein Unsterblicher an den ungeborenen Seelen haben? Ashardalon hatte mit ihnen sein krankes Herz genährt, doch welchen Nutzen hatten sie für den Vampirkönig?
Die Gefährten verließen den Wald, um dem Mittelpunkt wieder näher zu kommen. Das Strahlen war deutlich schwächer geworden und hinter dem Schleier aus Licht vermeinte Grimwardt verschwommene Schemen zu erkennen.
„Wir sind nicht allein!“, sagte Faust.
Grimwardt folgte seinem Blick und erkannte, kaum sichtbar gegen den reflektierenden Hintergrund, die körperlose Gestalt einer rochenartigen Kreatur. Dann formten sich weitere Wesen aus dem Licht – silbrig geschuppte Luftfische, eine schwebende Qualle... Der Priester zückte seine Axt, denn er spürte die Feindseligkeit, die von diesen Wesen ausging. Doch sie griffen nicht an. Etwas schien sie zurückzuhalten.
Und auch dieses Etwas trat schließlich aus dem Licht: Es hatte die Umrisse einer menschlichen Gestalt, doch seine Züge verschwammen in gleißender Unkenntlichkeit.
Die Luft, die ihr atmet, schmeckt nach Vergänglichkeit, zitterte eine gestaltlose Stimme durch Grimwardts Geist. Dies ist kein Ort für Sterbliche. Solange ihr hier seid, altert die Bastion.
„Sie altert?“ Fausts Frage sagte Grimwardt, dass er nicht der einzige war, der die Stimme hörte. „Jemand erzählte uns, dass es an diesem Ort keine Zeit gäbe.“
So sollte es sein, erwiderte der Schemen. Wir sind die Seelengärtner. Wir säen die Seelenbäume und ernten ihre Früchte. Doch die Ernte war mager in letzter Zeit… Die Zeit ist hier fehl am Platz. Der Drache hat sie mitgebracht. Er trank aus dem Seelenquell im Zentrum. Wir konnten nichts gegen ihn ausrichten. Dann kamen die Bleichen – in ihnen war Zeit, aber kein Leben. Ihr König kämpfte mit dem Drachen, doch der Drache war stärker. So schien es jedenfalls. Doch nachdem er den König und die meisten der Bleichen vernichtet hatte, schlief er ein. Und als er aufwachte, war er ohne Leben wie sie. Und nun wohnt der König in seinem Geist. Er trinkt keine Seelen mehr. Die restlichen Bleichen hat er zurückgeschickt. Er versucht, das Tor wiederzuerrichten. Ihm fehlt nur noch der letzte Stein. Doch das Tor verbraucht Seelenenergie – viel Seelenenergie. Es darf nicht wieder benutzt werden. Aber wir können ihn nicht vertreiben. Wir hoffen, dass ihr es tut.
Gebannt hatten die Gefährten den Worten des Gärtners gelauscht: Das also war des Rätsels Lösung. Nun hatten sie Gewissheit: Orlak hatte im Augenblick seiner Vernichtung den Körper des Drachens eingenommen – und mit ihm die Bastion. Und das alles für ein Portal?  
„Von welchem Tor sprecht Ihr?“, fragte Grimwardt.
Von dem Zeitentor des vergessenen Gottes.
Die Helden wechselten alarmierte Blicke. Sie hatten nicht geahnt, dass das Zeitportal des Desayeus noch existierte… und dass Orlak davon wusste.
„Er will in der Zeit reisen?!“, fragte Faust perplex.
Über diese Dinge wissen wir nichts.  
„Nun… seid versichert, dass wir uns der Sache annehmen werden“, bescheinigte Grimwardt den Lichtkreaturen. „Das heißt, sobald das Strahlen es zulässt…“
Es wird nicht mehr lange dauern, erklärte der Schemen. Eure Seelen sind nun eingestimmt auf das Strahlen im Zentrum.
Dann kehrte er zurück ins Licht, denn es gab nichts mehr zu sagen. Und seine Kreaturen folgten ihm.
„Was hat das zu bedeuten?“, fragte Winter verwirrt. „Wohin hofft Orlak durch das Portal zu gelangen?“
„Wohl eher wannhin“, bemerkte Faust.
Drakes’ Gesicht wirkte wie eine Fassade, die jeden Moment zu zerbröckeln drohte.
„Leere Spiegel“, murmelte er mit belegter Stimme. „… weil es mich niemals gegeben haben wird.“
Niemand sagte etwas.
Sie nutzten die restliche Zeit des Wartens, um sich mit Schutzzaubern einzudecken. Das Strahlen war fast vollständig verebbt und die Schatten hinter dem Lichtschleier nahmen immer deutlichere Formen an: Aus der Lichtkuppel im Mittelpunkt entsprang ein Wasserfall aus der gleichen milchig-weißen Flüssigkeit wie das Innere der Seelenfrüchte. Dort, wo sich die Seelenenergie schäumend in einen kleinen See ergoss, erhob sich ein portalartiges Gebilde und Grimwardt meinte davor die Umrisse des Vampirkönigs zu erkennen.
„Es ist soweit“, sagte er.
Und gemeinsam stürmten sie ins Licht.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 07. Oktober 2010, 12:59:39
"Flüchtig verspürte Faust den Drang, sie zu erwürgen, als sie den Seelensplitter aus seinem Stiefelschacht zog… aber die Perfektionierung seines Hüftschwungs war jetzt wichtiger"
 :D Sehr schön!
Auch sonst wieder sehr gelungen! Macht große Lust auf den Showdown!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 07. Oktober 2010, 21:44:34
Traumhaft, dieser Hüftschwung! Da klappte dieser Zauber mal, und dann ausgerechnet beim Faust *g*
Hab mich riesig gefreut, als ich eben gesehen habe, dass es ein neues Kapitel gibt. Bin halt ein Junkie!
Und harre gespannt der nächsten Passagen...Danke!!!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 08. Oktober 2010, 18:17:04
Pfff, wenn du Berührungs RK 10 verfehlt hättest, dann hätte ich aber auch nochmal über Winters Konzept nachgedacht ;) War aber auch ne schöne Idee :D
"Mach diesen Tanzzauber!"
...OK... Kreistanz!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 26. Oktober 2010, 01:14:22
"Die Bemerkung entbehrte nicht einer gewissen Mehrdeutigkeit"

Oh man, ich habe erst jetzt die Anspielung bemerkt...  :D
Freu mich auf mehr! ...und auf Samstag!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 26. Oktober 2010, 17:29:17
:wink:

Ich mich auch. Gibt es eigentlich inzwischen eine Entscheidung, welche Kampagne es am Samstag wird?
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 26. Oktober 2010, 18:05:10
Ich meine, dass der Herr Zwerg dabei sein wird. Jedenfalls ist das mein letzter Stand der Dinge. Da würde es sich - storytechnisch was die FR-Kampagne angeht - anbieten, wenn wir Nachtmonds Kampagne spielen. Auch, wenn dann Queen Eliza etwas schmollen wird, aber sie kann leider definitiv nicht am Samstag.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Sirius am 27. Oktober 2010, 22:56:34
Nur mal als kurzes Feedback - ich habe diesen Thread gestern entdeckt und mich bis Seite 3 vorgelesen. Sehr spannende Geschichte und sehr gut geschrieben, macht Spaß eure Abenteuer zu verfolgen. Ich freue mich schon auf die folgenden 7 Seiten und alle die da vielleicht noch folgen werden.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 28. Oktober 2010, 00:29:42
...Und es wird immer besser!  :D
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 28. Oktober 2010, 01:33:21
... dank solch motivierender Feedbacks :-)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 07. November 2010, 19:49:00
...Oh Großmutter, bitte erzähle uns wie die Geschichte endet! einen Monat schon warten wir darauf!  :D
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 19. November 2010, 08:49:41
Kapitel VII: Das Zeitentor

Faust

Dem sperrigen Gebilde, das die Wasser des Seelenfalls teilte, haftete wenig Göttliches an: Das schmucklose, dunkle Portal verschwand beinahe unter dem Sammelsurium erstarrter Zahnräder, die sich wie ein rostiges Geschwür um drei seltsame weiße Scheiben mit aufgemalten Ziffern rankten. Die Längsseiten des Portals zierte eine Tafel mit eingemeißelten Zahlen: die Schriftrolle der Jahre - Faerûns Vergangenheit und seine Zukunft. Das ganze mutete eher an wie ein irrwitziges Monument gnomischer Baukunst als ein göttliches Artefakt. Unter dem Torbogen harrte die hagere Gestalt des Vampirkönigs im knietiefen Seelensee: Orlak III. hatte dem Drachen nicht nur seinen Geist sondern auch seine Gestalt aufgezwungen.  Nur die gelben Augen, die mit echsenhafter Intensität aus den pechschwarzen Höhlen starrten, waren Ashardalons.
Doch all das – das Portal, den Seelenfall, den Drachenvampir – nahm Faust nur am Rande wahr. Seine Aufmerksamkeit galt der Gestalt, die beinahe zeitgleich mit ihm aus dem Lichtschleier tauchte: Feyleen raste im Flug von der gegenüber liegenden Seite heran und erreichte das Portal ein paar Flügelschläge vor dem heranschnellenden Kämpfer. Im Herzen des Labyrinths erstarrter Zahnräder klaffte eine Vertiefung mit einem fein gearbeiteten Mosaik, das an die Kristallmaserung am Eingang erinnerte. Zwei Seelensplitter steckten bereits in der Halterung und als Feyleen im Flug den letzten Splitter einfügte, verschwanden die Risse, entlang welcher der Seelenstein zerbrochen war, und der Edelstein fügte sich zu einem Ganzen. Die Wiederherstellung des Artefakts ließ die Portalkonstruktion erbeben und die Zahnräder erwachten mit einem schrillen Quietschen zum Leben. Ihr Ticken und Rasseln steckte auch die kleinen schwarzen Pfeilpaare an, die geschäftig über die drei weißen Zifferblätter zu kreisen begannen.
Orlak schenkte den Abenteurern, die beherzt auf ihn zustürmten, nicht mehr Aufmerksamkeit als er einer lästigen Fliege entgegen gebracht hätte. Mit bang gefalteten Händen harrte er der Instandsetzung des Zeitentors. Als diese vollbracht war, huschte ein schmallippiges Lächeln über seine hageren Züge. Dann sprach er ein paar Silben in einer fremden Sprache. Die Zahnräder erstarrten, die Zeiger beendeten ihren fiebrigen Tanz und auf der Schriftrolle der Jahre erstrahlte eine Zeile in blutroter Schrift:
-137 TZ – Jahr der blutigen Dämmerung.
Im selben Moment katapultierte sich Faust in die Luft und schon im Augenblick des Sprungs erkannte er die tödliche Wucht seines Schwerthiebs. Bereits sein erster Hieb hätte Orlaks Niederlage besiegeln müssen: Die Klinge drang tief in die Kehle des Nachtkönigs, doch anstatt ihm den Kopf von den Schultern zu säbeln, hinterließ sie lediglich eine klaffende Wunde, die noch im selben Augenblick zu verheilen begann.
Immerhin bescherte ihm das Orlaks Aufmerksamkeit.
Mit einem leisen, beherrschten Lachen wandte sich der Vampirkönig zu ihm um. Im taghellen Licht des Seelenquells wirkte sein bleiches Gesicht merkwürdig verzerrt wie Wachs, der in der Sonne schmolz. Trotz aller Schutzzauber schien es dem Vampir schwer zu fallen, der sengenden Kraft des Strahlens zu trotzen.
„Ihr kommt zu spät“, sagte er. „Sobald ich durch dieses Tor trete, ist dieser Moment niemals geschehen.“
Er wollte sich abwenden, um durch den Torbogen zu treten.
 „Erinnere dich an das Blut, das durch deine verdorrten Venen fließt, und spüre den Schmerz des Drachenherzens, das bereits durchstoßen ward!“
Drake hatte die Worte gesprochen, doch ihr düsteres Pathos entlarvte Soleilons Erbe hinter seinem Fluch. Eine schmerzhafte Erinnerung zeichnete einen Ausdruck des Grauens in die glühenden Drachenaugen des Nachtkönigs: Ashardalons Blut gefror in seinen Adern. Vergeblich versuchte er den Blick von Soleilons Erben abzuwenden. Faust, Winter und Grimwardt nutzten Orlaks Ohnmacht, um den Vampir mit ihren Angriffen zu überziehen. Feyleen stieß einen Schwall abyssalischer Flüche aus, als sie erkannte, dass ihr Komplize mit der Macht des Drachen auch dessen Schwächen übernommen hatte, und überzog die Gefährten mit einem Netz tödlicher Energiestrahlen, doch Winters Schutzzauber hielten ihnen stand. Blut sprudelte aus den unzähligen Wunden, die Schwert, Axt und Zauber in den erstarrten Körper des Vampirkönigs rissen, bis sich die gräuliche Haut des Untoten wie Pergament über seinen blutleeren Körper spannte, doch noch immer blieb Orlaks Kopf stur zwischen seinen Schultern sitzen. Schließlich  gelang es dem Nachtkönig, den Fluch mit einem zornigen Brüllen abzuschütteln… und er floh schwer verletzt durch Desayeus’ Portal in den Strudel der Zeit.
Vielleicht geht in diesem Augenblick die Welt unter, durchzuckte es Faust.
Dann sprang er hinterher.

Winter
-137 TZ, irgendwo in Faerûn.
Orlak war verschwunden, ebenso wie das Portal. Kühle Gebirgsluft schlug ihnen entgegen und im Osten färbten die ersten Sonnenstrahlen den Wolkenhimmel rot.
„Das Jahr der blutigen Dämmerung“, murmelte Faust und begann aus einer Chronik zu rezitieren, die ihm irgendwann einmal in die Hände gefallen sein musste. Schon früher war Winter aufgefallen, dass der Söldner ein erstaunliches Erinnerungsvermögen besaß. „Am Morgen des fünfzehnten Tages des Tarsakh endete die Belagerung Westtors durch die Ritter der Morgenröte und Sir Gen Soleilon führte seine Streitmacht in die Schlacht gegen den Nachtkönig Orlak I. Indem die Lathander-Krieger ihre vampirischen Gegner mit Zaubern und Feuer ans Tageslicht trieben, erkämpften sie den Sieg und das Jahr -137 TZ ging als Jahr der blutigen Dämmerung in die Geschichte Faerûns ein.“
„Orlak will die Niederlage der Nachtkönige aus der Geschichte tilgen. Die Niederlage, die seine Blutverwandten den Thron kostete und zu einem Leben im Schatten verdammte.“ Drake war wieder er selbst, doch er klang erschöpft. Die mystische Verbindung zu seinem legendären Vorfahren hatte an seinen Kräften gezehrt. „Vermutlich beabsichtigt er auch seinen Blutsverwandten aus dem Weg zu räumen ….“
„… und als Orlak I. die Welt zu erobern und die Geschichte umschreiben“, schloss Faust.
„Wie fühlt es sich an, das Nichts?“
Die Gefährten fuhren herum.
Lady Feyleen war hinter Drake aufgetaucht. Hass, Schmerz und fiebrige Erwartung zuckten im Wechsel über ihr Gesicht. Das war der Moment, auf den sie all die Jahre gewartet hatte. „Du wirst nicht einmal eine Erinnerung sein, Drake! Wenn Soleilon tot ist, wirst du niemals geboren und all deine Schandtaten werden niemals geschehen! Meine Eltern werden leben und das Mädchen, das ich einmal war, wird niemals seine Unschuld verlieren!“
Zwei grüne Strahlen schnellten aus ihren Fingern auf die Umstehenden, doch wieder retteten Winters Bannzauber ihre Freunde vor der tödlichen Magie.
„Kommt!“, rief Winter und setzte zu einer Zauberformel an.
Ihr Teleportationszauber brachte sie vor die Tore der Stadt Westtor.
Soleilons Streitmacht bot ein Bild der Zerstörung. Das Grauen war gleichermaßen über Belagerer wie Verteidiger hereingebrochen: Einige hatte die Furcht gelähmt, während andere in Panik geflohen oder in den Wehrgraben gesprungen waren. Von jenen, die geblieben waren, litt etwa die Hälfte an verheerenden Brandwunden. Belagerungsmaschinen standen ebenso in Flammen wie die Baumwipfel des umliegenden Waldes. Und über allem schwebte  der Verursacher der Verwüstung: ein roter Wyrm von so gewaltiger Größe, dass er das gesamte Schlachtfeld in seinen Schatten hüllte. Der Nachtkönig hatte keinen Grund mehr, Ashardalon in seinem geistigen Gefängnis festzuhalten, denn in diesem Moment wollten sie beide dasselbe. Ihr vereinter Zerstörungswille richtete sich gegen die kleine Gestalt, die mit erhobener Sonnenklinge inmitten der Verwüstung harrte. Gen Soleilon war nicht der strahlende Ritter, den die Barden und Geschichtsschreiber aus ihm gemacht hatten. Das ergraute Haar und die tiefen Gesichtsfurchen ließen ihn älter erscheinen, als er war, und erzählten von dem Grauen eines Mannes, der seinen Seelenfrieden für die gute Sache geopfert hatte. Schicksalsergeben harrte der Paladin dem Angriff der Kreatur, der er nur wenige Monate zuvor  das Herz durchstoßen hatte. Doch Ashardalon, für den dieser Kampf mehr als 1500 Jahre zurücklag, hatte seither um ein Vielfaches an Macht dazu gewonnen. Sein Schwanzstreich schleuderte den Ritter zehn Mannslängen gegen den Stadtwall, wo der Drache ihn mit seiner Klaue festnagelte.
„Auf diesen Augenblick habe ich verteufelt lange gewartet, Mensch“, grollte er mit einer Stimme, die Berge erzittern lassen mochte.
Winter reagierte schnell und teleportierte ins Gefecht.
„Vertraut mir!“
Sie berührte den Ritter am Arm und wirkte blitzschnell einen weiteren Dimensionszauber. Ehe Ashardalon realisiert hatte, dass sie ihm sein Spielzeug buchstäblich unter der Nase weggeschnappt hatte, hatte sie den Ritter hinter der Linie ihrer Gefährten in Sicherheit gebracht. Wutschnaubend wirbelte der Drache herum, sodass sein peitschender Schwanz ein mannsgroßes Loch in die Wehrmauer riss.
„Ihr!“, knurrte er. „Ein Jammer, dass die Sukkubus euch nicht vernichtete, als sie die Gelegenheit dazu hatte – ein Jammer für euch!“
Zusammen mit den Worten spie der Drache den heranstürmenden Helden seinen feurigen Atem entgegen. Die rasende Brunst verschluckte die drei Kämpfer innerhalb eines Lidschlags und Winter verlor ihre Freunde aus den Augen. Natürlich hatten sich die Helden vor dem Kampf mit Feuerschutzzaubern eingedeckt, doch als sie den schwelenden Atem der Feuerzungen auf ihrem Gesicht spürte, erkannte sie, dass ihre Zauber nicht ausreichen würden, um der sengenden Kraft Einhalt zu gebieten. Geistesgegenwärtig warf sich die Zauberin zu Boden und entrann der tödlichen Macht des Feuers. Soleilon jedoch hatte weniger Glück und auch Miu, die herangeeilt war, um den Verletzten zu heilen, erlag dem Drachenodem. Winter packte die beiden Schwerverletzten und teleportierte sie aus der Gefahrenzone.
Winters geschichtliche Kenntnisse waren, gelinde gesagt, dürftig. Wozu sich mit Dingen beschäftigen, die schon eine Ewigkeit zurücklagen? Nun ja, zum Beispiel um nicht geradewegs in einen Vulkanschlund oder einen aufgewühlten Ozean zu teleportieren, wenn man einem 2000 Jahre alten Drachen durch ein Zeitportal in seine Vergangenheit folgte – aber wer hätte so etwas auch ahnen können? Und Winter hatte Glück – zumindest wirkte die Steppe, in die sie der Zauber führte, auf den ersten Blick friedlich. Und sie hatte keine Zeit, um wählerisch zu sein: Eilig flößte sie dem bewusstlosen Paladin einen Heiltrank ein. Stöhnend wälzte dieser sich auf die Seite und krallte eine Hand ins Gras, um dem sengenden Schmerz Herr zu werden.
 „Wo… bin ich?“, presste er hervor. „Bringt mich zurück! Mein Heer, der Drache… ich muss…Ich habe ihn einmal besiegt, ich kann es auch ein zweites Mal!“
Winter hielt ihm ihre Feldflasche an die Lippen und schüttelte den Kopf.
„Er ist nicht mehr der Drache, den Ihr besiegt habt. Außerdem geht die Welt unter, wenn Ihr sterbt und die Geschichte nicht verläuft wie sie… verlaufen soll… denke ich.“
Sie wies den verwirrten Paladin an, sich um die verletzte Miu zu kümmern, und teleportierte eilig zurück nach Westtor.
Nebelschwaden raubten Winter die Sicht: Ashardalons Feuerodem musste die Wasseroberfläche des Wehrgrabes gestreift und so den Wasserdampf produziert haben. Mithilfe ihres Flugzaubers ließ sie die Hitzedämpfe unter sich. Schon bald erspähte sie Ashardalon und Faust, die hoch über der Stadt in einen Kampf verwickelt waren. Als der Vampirdrache die Zauberin erblickte, ließ er von seinem Gegner ab, und raste auf sie zu. Der Hieb seiner riesigen Pranke schleuderte Winter zu Boden. Zwei Krallen, so lang wie ihr Unterarm, streiften rechts und links ihre Wangen und bohrten sich einen Fingerbreit vor ihrem Gesicht in die Erde.
„Wo ist der Ritter?“, fauchte das Urwesen und Rauch trat aus seinen bebenden Nüstern, während er Winter mit seiner Pranke zu Boden drückte. Sie rang nach Atem und kämpfte gegen die drohende Ohnmacht, doch zugleich berührte Ashardalons Überheblichkeit jenen Teil ihrer Seele, der sie kalt und furchtlos und unerbittlich machte.
Du glaubst, du hast leichtes Spiel mit mir. Zauberer sind ungefährlich, wenn man sie erstmal in die Krallen bekommt – denkst du!
Winter hätte nicht so lange in Hlondeths Unterwelt überlebt, wenn sie nicht früh gelernt hätte, dass sich magische Gesten auch im Geiste vollführen ließen. Sie brauchte nicht ihre Hände, um sich aus dem Haltegriff des Drachen zu befreien. Ein wenig verdutzt starrte Ashardalon kurz darauf auf die aufgewirbelte Erde zwischen seinen Pranken.
Winters List verschaffte Faust eine gute Angriffsposition. Während Ashardalon der Entflohenen nachsetzte, attackierte der Kämpfer den Vampirdrachen von hinten. Im Sturzflug hielt er auf den Hals des Kolosses zu, durchdrang seine schillernde Schuppenrüstung und stieß Zwiespalt tief in die blutlose Kehle des Monsters. Fauchend schüttelte der Drache den Angreifer ab und richtete sich mit gespreizten Flügeln auf die Hinterläufe auf. Sein Rückenkamm und die Schläfenkämme waren aufgerichtet, das Maul mit den scharfen Eckzähnen entblößt und die Pupillen geweitet.  Drohend fiel sein Schatten über die kleine Gestalt zu seinen Füßen. Zischende Silben drangen aus seiner Kehle und schwarze Rauchschwaden brachen um Faust herum wie freigelegtes Wurzelwerk aus dem Boden: ein Zauber, doch keiner, den Winter jemals gesehen hatte. Faust schnappte keuchend nach Luft, als seine Haut sich zu zersetzten begann, wo die Schattenmaterie unter seine Haut kroch und das bloße Muskelgewebe darunter freilegte. Ashardalons Zauber schien ihn buchstäblich aufzufressen, doch bevor seine zerstörerische Kraft sein Inneres erreichen konnte, gelang es ihm, den Zauber abzuwehren und die Rauchschwaden zurück zu drängen.
„Ist das alles, was du draufhast?“, knurrte der Kämpfer, während er sich mühsam auf den Beinen hielt.
Der Drache holte mit seiner Pranke aus, um ihm den Gnadenstoß zu verpassen, doch Faust war schneller. Brüllend stieß er sich ab und sprang, die Klinge über den Kopf erhoben, der entblößten Brust des auf ihn zuschnellenden Monsters entgegen. Zwiespalt drang tief durch das Gewebe bis in Ashardalons untotes Herz. Und diesmal gab es kein Entrinnen. Noch einmal bäumte sich der Riese auf und sein markerschütternder Todesschrei schallte über den Ozean. Dann zerstob er in einer Nebelwolke.
Erschöpft ließ sich Faust zu Boden sinken.
„Alles in Ordnung?“, fragte Winter, die herbei geeilt kam.
„Geht schon“, log Faust und versuchte erfolglos sich aufzurichten. „Es ist noch nicht vorbei… Der Nebel, wir müssen Orlak einen Pflock ins Herz rammen …. verdammte Vampire!“
Der Rauch hatte sich verflüchtigt und so war die gigantische Nebelwolke, die nun auf die Stadt zuwaberte, kaum zu übersehen. Doch während Winter noch nach Grimwardt Ausschau hielt, der für solche Fälle stets gerüstet war, wurde die Nebelwolke plötzlich von einer Welle aus goldenem Licht ergriffen, die die Überreste des Vampirs hinfort wusch wie die Flut einen Fußabdruck im Sand. Als das Licht auf sie zufloss, verspürte Winter ein wohliges Kribbeln, das ihre Glieder von aller Erschöpfung befreite, und Fausts Gewebe begann sich zu regenerieren, wo Ashardalons Zauber es zerstört hatte. Als die Gefährten sich umblickten, erkannten sie, unscharf gegen das Licht der aufblitzenden Morgensonne, die Überreste des zerschlagenen Heers des Soleilon, das von einer geflügelten Gestalt angeführt wurde.

Grimwardt
Kurz zuvor.
Sein Bart begann sich in der Hitze zu kräuseln und er spürte, wie seine Rüstung in den Flammen zu schmelzen drohte. Doch seine Bannzauber hielten dem Drachenodem stand. Unbeschadet stürmte er an der Seite seiner beiden Gefährten durch die Flammenwand. Während die Feuerschwaden an ihm vorbeizogen, spürte er wie der Eifer ihn packte, der ihn in Momenten des Kampfes durchströmte, wenn er sich Tempus am nächsten fühlte; der Eifer, der ihn zu archonischer Größe anschwellen ließ.
Doch je näher er dem Drachen kam, desto größer wurde der blendende Effekt der blutroten Schuppen. Ashardalons Blendwerk war es zu verschulden, dass der erste Schlag seiner Axt ins Leere ging. Drakes Dolche waren nahezu wirkungslos gegen die dicke Schuppenhaut des Ungeheuers und selbst Fausts Geisterklingenzauber war kein sicheres Hilfsmittel gegen sie. Schließlich verlegte der Drache den Kampf auch noch zu allem Überfluss in die Lüfte. Wenn es eines gab, das Grimwardt hasste, dann war es, beim Kampf den Boden unter den Füßen zu verlieren!
Neeeiiiiin!“, schallte in diesem Moment Feyleens Schrei über das Schlachtfeld.
Die Sukkubus war gerade noch rechtzeitig gekommen, um Zeuge zu werden, wie Winter Gen Soleilon in Sicherheit teleportierte und damit Feyleens Hoffnung zunichte machte, ihr Schicksal zu ändern und Rache zu nehmen an dem Mann, der sie zu dem gemacht hatte, was sie war. Ihr verzweifelter Zauberangriff erreichte Winter nicht mehr. Daraufhin ging sie dazu über, Drake aus der Luft zu attackieren: Wenn sie ihn nicht aus ihrer Vergangenheit löschen konnte, so wollte sie ihn doch zumindest in der Gegenwart vernichten. Da Drake durch die Erfahrung im Gasthaus wusste, dass seine Angriffe gegen ihr magisches Schutzschild nicht ankommen würden, blieb ihm nichts weiter übrig als im Spießrutenlauf auf den nahen Waldrand zuzuhalten, um zwischen den Bäumen Deckung zu suchen. Als Feyleen zur Landung ansetzte, weil die Baumkronen ihr die Sicht nahmen, kam Grimwardt eine Idee.
Sprintend hielt er auf die Dämonin zu, während er Tempus um einen seiner mächtigsten Zauber bat: die Außerkraftsetzung des magischen Gewebes. Augenblicklich spürte er, wie alle übernatürliche Energie ihn verließ; nichts, das die Götter nicht selbst erschaffen hatten, konnte in dem magischen Vakuum bestehen, das ihn umgab. Statt die Sukkubus mit seiner Axt anzugreifen, schlang der Priester seine Arme um seine Gegnerin und verdrehte ihr die ihren auf dem Rücken. Als sie versuchte, sich aus seinem Griff zu teleportieren, musste sie feststellen, dass all ihr magisches Können hier so nutzlos war wie ein Schwert gegen die Flut. Angst trat in den Blick der Zauberin, als sie erkannte, was geschehen war. Fluchend bäumte sie sich in seinem Haltegriff auf, doch ihre kraftlosen Flügelschläge fühlten sich an wie der schwächliche Versuch eines Kükens, sich aus der Faust eines Riesen zu befreien. Ihre Furcht schlug in Panik um, als sie Drake zwischen den Bäumen erspähte.
„Auge um Auge“, sagte der Assassine boshaft und rammte ihr einen seiner Dolche in den linken Augenballen.
Feyleen heulte auf.
„Spiel nicht mit ihr!“, schalt ihn Grimwardt.
Drakes nächster Hieb war gegen ihr Herz gezielt. Doch anstatt den Dolch herauszuziehen, als sie in Grimwardts Armen zusammenbrach, ließ er ihn stecken, bis sie Blut spuckte. Dann erst schnitt er seinem hilflosen Opfer die Kehle durch. Der leblose Körper der Dämonin zerstob in den Armen des Priesters zu Asche.
„Zufrieden?“, knurrte Grimwardt. „Sind wir jetzt quitt?“
„Ich betrachte Eure Schuld als beglichen, Priestergeneral“, spottete Drake mit einer pathetischen Imitation ritterlicher Ehrbarkeit. Doch die Erleichterung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Elender Rotzbengel, dachte Grimwardt.
Auf dem Rückweg wurden sie von einer Heilwelle erfasst. Ein Engel tauchte mit Soleilons zerschlagener Streitmacht aus dem Morgenlicht. Etwa zeitgleich kamen sie bei Faust und Winter an.
„Soleilon?“, fragte die Lathander-Gesandte, die – wenn man den Chroniken glauben wollte –schon bald Soleilons Geliebte werden und mit ihm die Blutslinie begründen würde, aus der Drake hervorgegangen war
Winter versicherte dem Engel, dass es dem Ritter gut ginge. Dann verschwand sie und tauchte kurz darauf mit dem Paladin und Miu wieder auf. Der Streiter des Lathander bedankte sich mit einem feierlichen Kniefall für seine Rettung. Und als seine Soldaten ihren Befehlshaber das Knie vor den Helden beugen sahen, taten sie es ihm gleich.
„Wie konnte Ashardalon dem Tod entgehen?“, fragte Soleilon schließlich. 
„Lange Geschichte“, erklärte Faust, während er sein grässliches Schwert ruhig zu halten versuchte, das offenbar wieder einmal nach Engelsblut gierte. „Zusammengefasst: Drache pflanzt sich Dämonenherz ein, flieht in den Seelenquell, frisst Seelen, wird unheimlich mächtig, sein Geist wird von Vampirkönig übernommen, Drache reist durch Zeitportal in die Vergangenheit, wir hinterher, töten Drachen und die Welt ist wieder einmal gerettet.“
Auch wenn Grimwardt fand, dass die epische Dimension ihrer acht Jahre währenden Suche durch diese Verknappung ein wenig schlecht zur Geltung kam, hatte sie doch den erwarteten Effekt.
„Ihr kommt… aus der Zukunft?“ Selbst der hartgesottene Heerführer konnte nicht ganz sein ungläubiges Staunen verbergen. Dann zeichnete sich ein Lächeln in seinem von Narben entstellten Gesicht ab. „Und? Gewinne ich die Schlacht?“
„Die Zukunft sollte im Verborgenen bleiben“, sagte seine Engelsgefährtin. Ihr Blick glitt von einem zum anderen und blieb schließlich an Drake hängen. Erkenntnis streifte ihre ehernen Züge, doch sie sagte nichts. Sekundenlang starrten die beiden sich an, in eine Unterredung vertieft, die alle anderen ausschloss und eine unbehagliche Stille hinterließ. Drakes Gesicht blieb so verschlossen wie das seiner Vorfahrin, doch Grimwardt entging nicht das angespannte Zucken seiner Kiefermuskeln, nachdem der Engel das telepathische Band zwischen ihnen gelöst hatte.
Die Sonne stand inzwischen weit im Osten.
„Es wird Zeit, den Angriff zu wagen, solange die Vampire sich vor der Sonne verstecken und die menschlichen Verteidiger der Stadt sich noch nicht wieder gesammelt haben“, erklärte Soleilon.
Grimwardt trat vor und sank auf ein Knie.
„Es wäre mir eine Ehre an Eurer Seite gegen Orlaks Brut zu kämpfen“, sagte er.
Soleilon wollte sein Angebot annehmen, doch der Engel schüttelte den Kopf.
„Die Ehre ist auf unserer Seite, Priestergeneral“, erklärte sie. „Aber Ihr solltet der Geschichte ihren Lauf lassen.“
Als er über ihre Worte nachdachte, erkannte Grimwardt, dass sie Recht hatte. Er wusste Dinge, die das Schicksal Westtors grundlegend verändern konnten. Würde er sich zurückhalten können, obwohl er wusste, dass es einer Schar von Blutsaugern gelingen würde, durch einen unterirdischen Geheimgang der Ausräucherung zu entgehen? Würde er nicht versuchen zu verhindern, dass Orlaks Bluterbe die königlichen Insignien stahl und die Linie der Nachtkönige im Geheimen fortführte? Würde seine Priesterpflicht ihn nicht unabwendbar mit seiner Verantwortung der Nachwelt gegenüber in Konflikt bringen? Mit einem Mal wurde ihm die monströse Tragweite ihres Ausflugs in die Vergangenheit bewusst. Was immer sie hier taten, würde Auswirkungen auf ihre Gegenwart haben. Grimwardt erschauderte.
„Könnt Ihr uns sagen, wie wir in unsere eigene Zeit zurückkehren können?“, wandte sich Winter an den Engel. „Das Portal, durch das wir hierher gelangten, war ein einseitiges Portal.“
„Die Mysterien der Zeit entziehen sich selbst den Göttern“, erwiderte die Botin.
Winter starrte sie ungläubig an.
„Soll das heißen, es gibt kein Zurück?!“

Faust
Wenig später in Oreme, Anauroch.
„Hältst du das für eine gute Idee?“, brummte Grimwardt, während er missmutig eine Stechmücke vertrieb. „Der Sarrukh war schon das letzte Mal nicht besonders gut auf uns zu sprechen.“
Faust hob die Schultern.
„Kennst du sonst noch jemanden, der schon vor Anbeginn der Zeitrechnung lebte?“
Die Wüste der Anauroch war im Jahre -137 erst zweihundert Jahre alt, die Stadt Oreme dagegen war schon seit vielen Jahrtausenden eine Ruine. Jedoch führte das Wadi, an dem das Gründervolk einst die Stadt der weißen Türme erbaut hatte, noch genug Wasser, um den Ort zu einer blühenden Oase zu machen. Farne sprossen dicht an dicht neben stachligen Palmen und blutroten Blütengewächsen aus dem Boden. Gierige Kletterpflanzen und großflächige Moosflechten verdeckten die Überreste der Stadt und erschwerten den Gefährten die Suche nach dem Eingang zum unterirdischen Reich des Sarrukh-Leichnams. Und über allem lag das klaustrophobische Kreischen und fiebrige Flirren der unzähligen Kreaturen, die hier lebten. Der ganze Ort schien zu atmen.
Und dann griff er an.
Eine peitschende Liane schnellte an Faust vorbei auf Winter zu, die erschrocken aufschrie, packte die Zauberin am Fußgelenk und ließ sie kopfüber von einer Dattelpalme baumeln.
Seufzend wandte sich Faust an die Oase.
„Wir sind es“, rief er. „Hört auf mit den Spielchen, Ihr wisst doch, weshalb wir hier sind.“
Die Liane entließ Winter unsanft aus ihrer Umklammerung.
„Was wollt ihr?“
Faust wandte sich  um. Der muskelstrotzdende Fremde, der sich vor ihm aus einer Gaswolke materialisierte, hatte dunkle Haut wie ein Chultaner und einen schwarzen Kinnbart, der wie eine Verlängerung seines spitzen, vorstehenden Kinns wirkte. Seine Augen waren von strahlendem Blau. Ein Dschinn! Faust frohlockte. Es hieß, wer einen adligen Dschinn zu fassen bekam, dem musste der Geist drei Wünsche erfüllen!
„Wir suchen König Oreme.“
„König?“ Der Dschinn lachte humorlos. „So habe ich noch niemanden von meinem Meister sprechen hören.“
Faust war enttäuscht. Dschinni waren freiheitsliebende Kreaturen. Wenn er den Sarrukh-Leichnam seinen Meister nannte, dann konnte das nur bedeuten, dass er bereits gebunden war. Soviel zu den drei Wünschen.
„Unter welchem Namen kennt denn Ihr Euren…“, wollte er fragen. Doch in diesem Moment tat sich unter ihm und seinen Gefährten die Erde auf. Faust war nicht sonderlich überrascht. Er widerstand dem Impuls, sich am Rand der Grube festzuhalten und beschränkte sich auf einen Zauber, der den Fall abfedern würde. Denn er wusste, die Laune des Sarrukh hing entscheidend davon ab, wie viel Spaß ihm ihr „Wiedersehen“ bereitete. Kurz darauf brachen sie durch die Decke einer unterirdischen Grotte.
„Hier entlang.“
Der Dschinn tauchte aus seiner Gaswolke und wies ihnen den Weg.
König Oreme, wie er sich den Helden bei ihrem letzten Abenteuer vorgestellt hatte, empfing sie in seinem Thronsaal. Der Echsenleichnam mit dem schiefen Kiefer und den hellseherischen Fähigkeiten war „ganz der Alte“, obgleich sein Gerippe noch nicht gar so staubig und trocken wirkte wie bei ihrer letzten Begegnung.
„Man nennt mich Arthindol, den Weltenseher, das Orakel von Oreme“, antwortete der Leichnam auf Fausts Frage. „Hatten wir eine Verabredung? Ihr seid ein wenig früh.“
„Unwesentlich“, sagte Faust trocken. Nur etwas mehr als 1500 Jahre. „Und? Haben wir Euch überrascht?“
„Unwesentlich“, keckerte Schiefkiefer und sah in die Runde. „Datteltee?“
„Äh… sicher.“
„Ariel?“
Der Dschinn befolgte die Befehle seines Meisters mit grantiger Miene. Erst wenn er seinem Herrn alle drei Wünsche erfüllt hatte, wusste Faust, war er frei. Und er schätzte, dass jemand, der die Wüste selbst befehligen konnte, es sich erlauben konnte, sparsam mit seinen Wünschen umzugehen. Vermutlich ging es dem Sarrukh nicht einmal um die Wünsche sondern vielmehr um die Gesellschaft des Flaschengeists. Der Dschinn konnte einem wirklich leid tun.
„Köstlich.“ Der Leichnam sog genießerisch den Duft des Tees ein ohne jedoch davon zu kosten. „Es gab eine Zeit, als ich heiße Steinbäder im Sonnenschein liebte. Ist schon eine Weile her, dass ich Wärme gespürt habe, aber riechen, hehe, riechen kann ich sie noch!“
„Ähm, das ist großartig“, sagte Winter ungeduldig. „Aber eigentlich sind wir hier, weil…“
„Die Antwort lautet nein“, klapperte der Sarrukh. „Ich kann euch nicht zurückbringen in eure Zeit.“
„Dann… müssen wir für immer hier bleiben?“
„Auch darauf ist die Antwort nein“, krächzte der Leichnam. „Die Zeit kann es nicht besonders gut leiden, wenn man ihr in den Rücken fällt. Sie hat so etwas wie eine natürliche Resistenz gegen Logiklöcher und je länger ihr im Jetzt bleibt, desto größer ist die Gefahr, dass irgendwo zwischen meiner und Eurer Gegenwart ein Paradoxon entsteht, darum wird sie euch früher oder später aufspüren und in Eure Zeit zurückschicken.“
„Oh.“ Die Erleichterung stand Winter ins Gesicht geschrieben. „Dann brauchen wir also nichts weiter zu tun als abzuwarten…?“
„… und Tee zu trinken“, kicherte der kauzige alte Echsenmensch. Dann zog er verschwörerisch den Kopf zwischen die Schultern und die Gefährten mussten näher an seinen Thron heran treten, um sein klappriges Wispern zu verstehen. „Normalerweise schon, aber ich glaube, ihr habt euch und mich gerade vernichtet. IST DAS NICHT AUFREGEND?“
Sie schreckten zurück. Es war beachtlich, wie Arthindol das Kunstwerk vollbrachte, sich innerhalb eines Augenblicks von einem kauzigen Gelehrten in einen Risiko-lechzenden Irren zu verwandeln. Doch Faust kannte den Sarrukh inzwischen gut genug, um zu wissen, dass seine Launen weniger vom Wahnsinn als von einer diebischen Faszination für menschliche Gefühlsregungen bestimmt wurden.
„Äh, könntet Ihr das vielleicht näher erläutern?“, tat er ihm den Gefallen.
Eilfertig drückte Arthindol dem Dschinn seinen Teebecher in die Hand und kraxelte umständlich von seinem Thron, um wie ein Schulmeister vor den Gefährten auf und ab zu laufen.
„Ihr wisst, meine zukünftigen Freunde, dass ich, technisch gesehen, nicht in die Zukunft blicke, sondern verschiedene Versionen der Zukunft gegeneinander abwiege?“
„Ihr werdet so etwas erwähnen.“
„Die Zukunft wird klarer je näher sie rückt. Wäret ihr heute nicht hier aufgetaucht, so hätte es noch Jahrhunderte gedauert, bis ihr an meinem geistigen Horizont aufgetaucht wärt. Durch euer Auftauchen habt ihr eine Zukunft definitiv gemacht, die mir noch lange ein Rätsel geblieben wäre. Ergo werde ich keinen Grund haben, euch in 1520 Jahren zu helfen, denn ich weiß ja, wie die Geschichte ausgeht. Ergo werdet ihr vermutlich an eurer Mission scheitern. Ergo ist es unmöglich, dass ihr heute hier vor mir steht.“ Er klatschte vergnügt in die Hände. „Ist das nicht großartig?“
„Aber wir stehen heute hier“, erinnerte ihn Faust. „Der Zeitstrom kann uns also noch nicht vernichtet haben.“
„Guter Einwand.“ Enttäuscht, seiner unwiderruflichen Vernichtung entgangen zu sein, sank Schiefkiefer in sich zusammen. Dann sah er auf und seine Miene hellte sich auf (sofern man das vom Totenschädel eines Jahrtausende alten Leichnams behaupten konnte). „Es sei denn…“
„Was?“
Sein Kopf schnellte zwischen seinen Schultern hervor und er sah Faust mit zusammengekniffenen Augen an.
„Du!“ Faust schrak überrumpelt zurück. „Komm mit. Ich glaube, ich habe einen Weg gefunden, uns doch nicht zu vernichten.“
„Das… ist gut, nehme ich an?“ Bei Schiefkiefer konnte man nie wissen…
Ohne abzuwarten, ob Faust seiner Aufforderung Folge leistete, setzte sich Arthindol in Bewegung und durchquerte die gegenüber liegende Wand als sei sie Luft. Von Neugier gepackt drückte Faust dem Dschinn sein Teegedeck in die Hand und tat es ihm gleich. Es folgte ein unsanfter Zusammenstoß mit der Steinwand. Schadenfrohes Kichern auf beiden Seiten. Dann ein magisches Befehlswort und die Steine veränderten rumpelnd ihre Position, um Faust durchzulassen.
„Verzeiht“, keckerte der alte Spaßvogel. „Ich vergesse stets, wie dickköpfig ihr Menschen doch seid.“
„Jedenfalls habt Ihr noch Euren Humor“, knurrte Faust.
„Schon, mein junger Freund, schon“, berichtigte ihn Schiefkiefer. „Eure Sprache ist schrecklich inadäquat für teletemporale Unterhaltungen.“ 
Nachdem sie ein undurchsichtiges Labyrinth unterirdischer Gänge durchquert hatten, führte der Alte ihn in eine riesige Krypta mit sechzig reich verzierten Sarkophagen.
Die Grabkammer der Sechzig!, durchfuhr es Faust. Unzählige Schatzsucher waren an der Suche nach dem Grab der Sarrukh-Leichname, die den Untergang Oremes überlebt hatten, gescheitert. Fausts Mund wurde trocken bei dem Gedanken an die unbezahlbaren Schätze, die diese Grabkammer barg.
„Nichts anfassen!“, warnte der Leichnam. „Meine schlafenden Gefährten können sehr ungemütlich werden, wenn man ihr Andenken nicht ehrt.“
Er selbst jedoch schenkte dieser Warnung herzlich wenig Beachtung. Achtlos öffnete er Gräber, durchsuchte wühlend die Grabbeigaben der Toten oder hievte ächzend den ein oder anderen Leichnam aus seinem Sarg, um eine geheime Bodenvertiefung zu inspizieren. Faust musste den Blick abwenden von all den Waffen, Stecken, Amuletten, Ringen und Rüstungen, die Arthindols Wühlorgie zu Tage förderte. Artefakte! Unmengen von Artefakten! Um nicht trotz aller guten Vorsätze einem schamlosen Plünderwahn zu erliegen, versuchte er sich auf Arthindols Lektion über die Schöpfung der Welt zu konzentrieren.
„Als Ao die Welt erschuf, hauchte er den Dingen Leben ein, indem er ihnen Namen gab“, dozierte der Sarrukh. „In der Sprache, mein Junge, liegt der Ursprung der Welt. Als Aoas Kinder die ersten Sterblichen schufen, lehrten sie uns diese Sprache. Doch die Sache fing an ihnen mulmig zu werden, als wir anfingen, ihre Autorität in Frage zu stellen. Ihnen wurde klar, dass sie im Grunde keine Abbilder, sondern Abklatsche von sich wollten. Diener, keine Gleichgesinnten. Darum vernichteten sie uns und schufen das Artefakt, das ihr die Nesserrollen nennt, und das Gewebe und diesen ganzen magischen Kinderkram... Ah, hier ist sie ja!“ Unter all dem unbezahlbaren Gerümpel hatte Schiefkiefer eine Schreibfeder zutage gefördert.
„Was ist das?“
Er dirigierte Faust zu einem der Gräber und wies ihn an, seinen Arm freizumachen und auf den Sargdeckel zu legen.
„Nicht den Eisenarm, den anderen… Stillhalten.“
Faust hätte sich fast auf die Zunge gebissen, als der Leichnam begann, in schwungvollen Linien fremdartige Schriftzeichen in seinen Unterarm zu meißeln. Obgleich die Feder zu keinem Zeitpunkt die Haut durchstieß, fühlte es sich an, als brenne er die Worte in sein Fleisch. Nein, nicht nur in sein Fleisch, es war sein Geist, der unter der Macht des Wortes, das Arthindol der Weltenseher in seinen Arm ritzte, erzitterte. Trotzdem dachte er nicht daran, ihm den Arm zu entziehen. Zu faszinierend war der Klang der Silben, die durch seine Gedanken zu geistern begannen. Wie Teile eines Puzzles, die, für sich genommen, noch kein Bild ergaben. Er würde sie erst ordnen, würde ihre Struktur enträtseln müssen, um ihren Sinn zu begreifen. Als der Sarrukh die Feder absetzte, fühlte er sich erschöpfter als nach einem harten Kampf, doch zugleich erfüllt von fiebriger Euphorie.
„Was bedeutet es?“
Das Wort nahm etwa die Hälfte seines Unterarms ein. Die hinteren Silben veränderten sich je nach dem wie er den Arm drehte; der vordere Teil des Wortes dagegen blieb gleich.
„Das“, erklärte Arthindol, „ist das Wort für ‚Zeit’ in der Sprache der Schöpfung. Niemand kann es aussprechen, denn es ist in ständigem Fluss. Es ist die Zeit. Es würde Wochen dauern, es aufzusagen und wenn man fertig wäre, hätte die Geschichte das Wort längst wieder umgeschrieben. Der Teil, der sich verändert, das ist die Zukunft. Jener, der gleich bleibt, ist die Vergangenheit. Wenn du lange genug lebst – und das wirst du dank der Tätowierung – dann  wirst du feststellen, dass Silben, die noch nicht geschrieben stehen, hinzu kommen werden – das ist jene ferne Zukunft, die noch zu weit entfernt ist, um Prognosen zu stellen. Dieses Wort, mein Junge, birgt alle Geheimnisse des Zeitstroms. Entziffere es und du wirst zu Macht gelangen, um die dich selbst die Götter beneiden werden.“
„Werde ich damit durch die Zeit reisen können?“
„Das kommt ganz auf dich an.“
„Ihr meint, ich werde den Göttern hiermit mächtig auf die Nerven gehen, ja?“
„Ganz gewaltig“, keckerte der Sarrukh.
„Und Ihr…?“
„Ich habe ein neues Experiment gefunden, ganz Recht.“ Er hob mahnend den Finger. „Enttäusch’ mich bloß nicht so wie dieses Fischervolk, dem ich die Nesserrollen vermachte, hast du gehört?“
„Ich werd’ mir Mühe geben.“
Auf dem Rückweg durch Oremes unterirdisches Labyrinth lauschte Faust dem Klang des fremden Wortes. Und plötzlich, er konnte nicht sagen weshalb, fühlte er sich an den Singsang der alten Geisterschamanin erinnert, die ihn einst in den Bergen von Wa prophezeit hatte, dass er der Auserwählte sei. Er blieb abrupt stehen. Konnte es sein? War dies das Schicksal, nach dem er auf der ganzen Welt gesucht hatte? Für das er durch die Nebel und wieder zurück gegangen war?
„Eines noch“, sagte er. „Warum ich? Warum habt Ihr mich ausgewählt? Weil ich der Auserwählte bin?“
„Unsinn“, klapperte der Sarrukh. „Weil du das aufregendste Ergebnis versprichst. Der Priester würde die Macht des Tattoos kaum nutzen, die Änderungen der Karaturianerin wären langweilig und vorhersehbar, der Bleiche würde es nur zu seinem eigenen Vorteil nutzen und die Rothaarige… da könnte ich gleich die Apokalypse einleiten. Deine Entscheidungen dagegen sind völlig unvorhersehbar.“
Faust dachte an die Bilder, die er in Desayeus’ Spiegeln gesehen hatte: sein wiederauferstandener Lehrmeister, der Kampf gegen die Götter, sein Wandel durch die Zeiten… Plötzlich ergab all das einen Sinn: Die Spiegel hatten sich auf keine wahrscheinlichste Zukunft festlegen können, weil sein Schicksal völlig in seiner Hand lag. Der Herr über Vergangenheit und Zukunft.
Faust schloss die Augen und atmete tief ein, um diesen Moment auszukosten.
Und ich bin doch der Auserwählte!

Winter
Zwei Stunden später bei Westtor.
Wenn sie schon nicht bei der Schlacht um Westtor dabei sein konnten, so hatte Grimwardt argumentiert, so wollte er sie wenigstens aus der Ferne beobachten. Immerhin war man nicht jeden Tag dabei, wenn Geschichte geschrieben wurde. Also hatten sie es sich mit Speis und Trank auf einem nahen Hügel bequem gemacht, während unter ihnen Menschenblut spritzte und Vampirfleisch in der Sonne verkohlte. Miu war es eine Qual untätig zuzusehen, wie Menschen ihr Leben verloren, doch sie sah ein, dass ihr Eingreifen in diesem Fall noch schwerwiegendere Folgen haben konnte. Winter dagegen genoss die unkonventionelle Geschichtsstunde und Grimwardts militärisches Fachgesimpel, gewürzt mit Drakes ironischen Kommentaren. Faust schenkte dem Treiben unter ihm kaum Beachtung. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem mysteriösen Schriftzug auf seinem Arm.
„Es ist also eine Art Magie?“, fragte Winter, nachdem er ihr die Geschichte erzählt hatte.
„Pah“, machte Faust abfällig. „Magie, dieser Kinderkram!“
Sie betrachtete ihn kopfschüttelnd.
„Faust, du wirst diesem irren alten Kauz immer ähnlicher… Er hat dir nicht zufällig verraten, wann der Zeitstrom uns zurückzuschicken ged…“
In diesem Moment spürte sie es, das Vibrieren in der Luft, das ein Überlagern der Dimensionen ankündigte. Sie kannte das Gefühl von Dimensionsreisen. Doch das hier war um ein Vielfaches stärker: Ein unsichtbarer Sog zog sie in einen Strudel aus schwarzem, gestaltlosen Nichts. Dann ein Rucken und Dröhnen und sie schwebte im luftleeren Raum. Doch ehe die Panik sie packen konnte, war da wieder der Malstrom, der sie mitriss, und dann war es vorbei.
Derselbe Hügel, dieselbe Stadt, nur 1520 Jahre später.
Doch irgendetwas war falsch.
„Ist… Westtor nicht eine Hafenstadt?“
Das Meer. Es lag viel zu weit im Norden. Die Gefährten wechselten erschrockene Blicke und Winter sah ihre eigene Befürchtung reflektiert in den Augen der anderen.
Nein! Nicht ernsthaft!
Sie flogen förmlich den Hügel hinab.
„Halt!“ Die beiden Torwächter kreuzten ihre Lanzen. Hatte sie dieses Wappen schon einmal gesehen? „Was wollt Ihr so schwer bewaffnet in der Stadt, Fremde?“
„Wir wollen nicht in die Stadt“, sagte Winter atemlos. „Sagt uns nur, welches Jahr wir haben!“
Die Soldaten lachten.
„War wohl ’ne harte Nacht, he? Wir haben den fünften Tag des Ches.“
„Das Jahr!“
„Eine verdammt harte Nacht, wie? 1395 Taliser Zeitrechnung, na, klingelt’s?“
Und wie es klingelte. Es stürmte geradezu in Winters Ohren. Zwölf Jahre! Sie hatten zwölf Jahre verpasst! Scarlet war inzwischen eine erwachsene Frau! Das hieß, wenn sie noch…
Die Schlacht in der Wüste. Scarlet als junge Frau. Der Fremde mit dem schwarzen Schwert. Grimwardt, der sich über ihre sterbende Tochter beugt.
Winters Herz setzte für einen Augenblick aus.
„Was… gibt es für Neuigkeiten aus dem Imperium?“, fragte sie beklommen.
„Netheril?“, fragte die Wache. „Das alte Lied. Ein stummes Kräftemessen zwischen dem Imperium und der Westallianz. Seit der Wiederkehr der Magie bewegt sich im Westen doch nichts mehr. Die einzigen, die wirklich etwas unternehmen, sind die Sandfürsten. Aber was können die schon ausrichten?“
Wie betäubt wandte Winter sich um.
Fast erwartete sie, Grimwardt mit einem schwarzen Schwert neben sich stehen zu sehen.



Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 19. November 2010, 17:49:25
YEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEESSSSSSSSSSSSSSSS!!!
Das Warten hat sich gelohnt! Fast eine Wiedergabe meines Kopfkinos!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 19. November 2010, 18:54:38
Sehr passendes Bild ;-)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 20. November 2010, 02:23:40
Ja, das hab ich schon seit nem Monat etwa vorbereitet ;)
Fürs nächste Kapitel wirds sicher etwas schwerer passende und gleichzeitig verschiedene Bilder zu finden, aber irgendwas geht immer  :D
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 24. November 2010, 21:50:07
GENIAAAAL, ich habs erst jetzt gesehen, wenn ich das gewusst hätte, dass es schon was neues gibt...es ist so toll geworden!!!!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 26. November 2010, 17:03:03
Hab eingestellt, dass ich ne Email bekomme, wenn in diesem Threat was neues gepostet wird. ...Das gilt natürlich auch für das ganze gespame von mir ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 27. November 2010, 19:49:39
Ja, Tom hat das auch eingestellt, und er sagt mir dann immer wenn es was neues gibt Bescheid, nur hat es diesmal wohl irgendwie nicht funktioniert.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 03. Dezember 2010, 00:31:04
Hm, hast du eigentlich die Werte von Feyleen und Ashardalon zur Hand? würde gerne mal wissen was die alles konnten ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 03. Dezember 2010, 06:55:12
Na, ich kann doch nichts wegwerfen  :D

Ashardalon, HG 28
Roter Drache/Halb-Dämon/ Vampir (Großer Wyrm)
CB Kolossaler Untoter
Vorbereitung
INI: +5
Sinne: Dunkelsicht 36m, Blindgespür 18m, Rauchsicht
Aura: Unheimliche Ausstrahlung (108m, WILL 34), Feueraura (2W6 Feuer in 2F-Radius)
Sprachen: Drakonisch, Gemeinsprache, Abyssal
ST 54, GE 12, KO -, IN 28, WE 25, CH 30 (CH ersetzt KO)
Verteidigung:
RK: 64, Berührung 19 (58*), auf dem falschen Fuß 62 (natürlich 46, GE 1, Magierrüstung 6, Ausweichen 1,  *Schillernde Schuppen)
TP: 1000
Schadensreduzierung: 20/Magie oder 10/Silber+Magie
Schnelle Heilung: 15
Immunitäten: Feuer, Schlaf, Lähmung, Untoten-Immunitäten
Resistenzen:  Säure 20, Kälte 20, Elektrizität 20, Vertreiben +4
Zauberresistenz: 39
Rettungswürfe: ZÄH +38, REF +31, WIL +35; +8 gegen Zauber
Angriff:
Bewegungsrate: 12m, fliegen 60m (unbeholfen)
Angriffe:
Voller Angriff + Rasende Attacke (oder Schreckenssturm): Biss  +50 (4W8+22) + Klauen +50/+50/+45 (4W6+11) + Flügel +50/+50 (2W8+11) + Schwanzschlag +50 (4W4+31) + Energieentzug (2 Stufen) (mit Geisterschlag gegen Berührungs-RK; dann heftig)
Schwanzstreich: (alle Kreaturen in einem Halbkreis von 12m) +50 (4W4+31, REF halb)
Ringkampf + Schnappen + Bluttrinken: Klaue +50 (4W6+11)  Ringkampf +78  Bluttrinken: 1W4 KO jede Runde (heilt 5 TP)
Odemwaffe (ÜF): Feuerkegel, 21m, alle 1W4 Runden, 24W10, REF (SG 34) halbiert
Zauberähnliche Fähigkeiten (ZS 21, CH)   
Beliebig: Magie entdecken, Einflüsterung, Feuerball, Weg finden, Aufspüren
3x/Tag: Teleportieren,Ansteckung, Dunkelheit, Verdorren, Vergiften, Zerstörung
Hexenmeisterzauber (ZS 21)
10.Grad (1)
Mächtige Zerstörung (42W6 negative Energie)
9.Grad (7)
Meteoritenschwarm
Zeitstopp
Monster beherrschen

8.Grad (7)
*Gedankenleere (24h)
Polarstrahl (kein RW, Ber. auf Entfernung, 21W6)
*Schutz vor Zaubern (+8, 10min/St)

7.Grad (7)
Fehlerfreier Ebenenwechsel
Regenbogenspiel
Fehlerfreies Teleportieren

6.Grad (8 )
Mächtige Magie bannen
Knochenbrecher
Wahrer Blick

5.Grad (8 )
Zone der Aufhebung
Fortschicken
Umarmung der Nacht
Teleportieren

4.Grad (8 )
Selbstverwandlung
*Strahlablenkung
Dunkelmantel
Schnelligkeit (sofortige Standard-Aktion)

3.Grad (9)
Verbesserte Magierrüstung
Blitz
Wasser atmen

2.Grad (9)
Sengender Strahl
Schillernde Schuppen (SC) (1Min/St)
Spiegelbilder
Geisterschlag

1.Grad (9)
Schild
Magisches Geschoss
Sprachen verstehen
Zielsicherer Schlag 

0.Grad (beliebig)
Magie entdecken
Magierhand
Magie lesen

*vor dem Kampf gewirkt
Talente: Ausweichen, Blitzschnelle Reflexe, Heftiger Angriff, Schneller Zauber, verbesserte Initiative, (Verbesserter) Mehrfachangriff, Schweben, Spontanes Zauber maximieren, Schnappen,  Schreckenssturm (voller Angriff nach Sturm), Sonnenlicht ertragen (12 R), Odem maximieren (+3 Runden), Rasende Attacke, Epischer Zauber
Fertigkeiten: Bluffen +51, Diplomatie +39, Einschüchtern +55, Entdecken +51, Entfesslungskunst +44, Konzentration +53, Lauschen +51, Motiv erkennen +49, Schätzen +31, Suchen +51, Wissen (Arkanes) +51, Wissen (Ebenen) +51, Wissen (Religion) +51, Zauberkunde +51
Vampireigenschaften (ÜF): Blut saugen, Gasförmige Gestalt (beliebig und nach Tod), Gestalt verändern (Wolf), Kinder der Nacht, Beherrschen, Energieentzug, Spinnenklettern, Vampirschwächen (Sonnenlicht (Tod), fließendes Wasser, Knoblauch, Spiegel, Türschwelle)
Fluch des Soleilon (ÜE): Betäubt für 1 Runde (keine Aktionen, -2 RK, kein GE und Ausweichen), kann Erbe des Soleilon nicht angreifen
Epische Immunität: Immunität gegen eine außergewöhnliche, übernatürliche oder zauberähnliche Fähigkeit oder einen Zauber; augenblickliche Aktion, 14 Runden ab Aktivierung, 1x/Tag
Magische Gegenstände: 2 Splitter des Seelensteins, Zauberwendering, Dunkelmantel/ Dunkelschuppen

Feyleen
CB mittelgroßer Externar (Sukkubus)
Magier 6 /Incantatrix 10/ Erzmagier 4
Vorbereitung
INI: +11 (mit Zeichen)
Sinne: Telepathie 30m, Dunkelsicht 18m, Wahrer Blick
Sprachen: Zungen
ST 10, GE 16, KO 22, IN 36 (38), WE 14, CH 30
Verteidigung:
RK: 26, Berührung 19, auf dem falschen Fuß 23 (Mächtige Magierrüstung +6, Schild +4, GE +3, Ablenkung +4, natürlich +9)
TP: 255 (26 TW)
Schadensreduzierung: 10/+2
Immunitäten: Elektrizität, Gift
Resistenzen:  Säure 10, Kälte 10, Feuer 10 
Zauberresistenz: 38
Rettungswürfe: ZÄH +24, REF +13, WIL +24; Gedankenleere
Angriff:
Bewegungsrate: 19m, fliegen 15m
Nahkampf: +16
Fernkampf: +20 (Kern- und Präzisionsschuss)
Besondere Angriffe: Lebenskraftentzug (ZÄH 43)
Zauberähnliche Fähigkeiten (ZS 12, CH)   
Permanent: Gutes entdecken , Zungen
Nach Belieben:Hellsehen/ Hellhören, Dunkelheit, Entweihen, Gedanken wahrnehmen, Einflüsterung, Monster bezaubern, Ätherausflug (nur selbst), Fehlerfreies Teleportieren (nur selbst)
1x/Tag: Person beherrschen, Vampirgriff
Magierzauber (ZS 22)
9.Grad (6)
Zeitstopp
Eisenwacht (schnell)
Realitätsloch (4F-Radius (WILL 33) + 8F-Radius (REF 33) um den Punkt, um nicht in Loch gesogen zu werden) (still)
Wehgeschrei der Todesfee  (1Kreatur/St tot, ZÄH 34)
°Regenbogensphäre (10min/St)

8.Grad (5)
*Gedankenleere (24h)
Auflösung (maximiert) (44W6  ZÄH 31: 5W6)
Polarstrahl (still) (22W6, kein RW, Ber. a. Entf.)
Eisenwacht
°Klingenbarriere (maximiert + ausgedehnt, 15W6 bei Durchgehen, 3m hoch, REF halb)

7.Grad (5)
Ebenenwechsel, still
°Wahrer Blick, still + ausgedehnt
Person beherrschen (WIL 31) (still + gestenlos)
Sengender Strahl (schnell + verstärkt) (3x6W6, kein RW, Ber. auf Entf.) (2x)

6.Grad (7)
*Schild (dauerhaft)
Person beherrschen (fortified) (WIL 37)
Dimensionsanker (gestenlos + still) (2x)
Knochenbrecher (1.R: sofort betäubt, außer Ziel hatte gleiche Stufe/TW, 2.R: ZÄH 27 oder 15W6 Schaden + 1W4R Übelkeit)
Auflösung (gespalten)
Mächtige Magie bannen 

5.Grad (5)
Energiekugel (still + gestenlos)
Umarmung der Nacht (15W6 Schaden + 1W6 Konstitution (ZÄH)) (2x)
Mächtige Spiegelbilder (still + gestenlos)
Person beherrschen

4.Grad (7)
Säurekugel (15W6, kein RW, ZÄH oder 1R Übelkeit) (2x)
Dimensionsanker
Erweiterte Unsichtbarkeit
Bewegungsfreiheit (gestenlos)
°Strahlablenkung

3.Grad (7)
Verbesserte Magierrüstung
Unauffindbarkeit
Feuerball

2.Grad (8 )
Unsichtbarkeit
Portal analysieren

1.Grad (8 )
*Zeichen (ausgedehnt)
Schild (2x)
Magisches Geschoss (stll) (3x)
Alarm
Federfall (still)

0.Grad (beliebig)
Magie entdecken
Magierhand
Magie lesen

*24h aktiv
°vor dem Kampf gewirkt
Talente: Eiserner Wille, Zauberndes Wunderkind, Fertigkeitsfokus (Zauberkunde), Zauberfokus (Verwandlung), Mächtiger Zauberfokus (Verzauberung), Schnell zaubern, Gestenlos zaubern, Zauberstrahl spalten, Zauber maximieren, Zauber verstärken, Zauber ausdehnen, Dauerhafter Zauber, Fortify Spell, Stiller Zauber, Verbesserte Initiative, Schriftrolle herstellen, Kernschuss, Präsizionsschuss, Große Zähigkeit
Fertigkeiten: Bluffen +33, Diplomatie +33, Entdecken +21, Entfesslungskunst +14, Konzentration +29, Lauschen +16, Motiv erkennen +25, Wissen (Arkanes) +37, Wissen (Ebenen) +37, Wissen (Geschichte) +37, Zauberkunde +39
Sukkubus-Eigenschaften:
Selbstverwandlung (Mensch, Elf, Zwerg)
Profanes Geschenk (kann einen Auserwählten +2 auf ein Attribut geben)
Klassenfähigkeiten:
Augenblickliche Metamagie (ÜF): 2/Tag kann Feyleen das metamagische Talent Schnell Zaubern anwenden, ohne den Zauber in einem höheren Grad vorzubereiten.
Große Arkana: Zaubermacht (effektive Zauberstufe +2), Meister der Gegenzauber (alle Gegenzauber wirken wie zurückgeworfene Zauber), Meister der Elemente (kann Energieart von Zaubern ändern)
Kooperative Metamagie (ÜF): 13/Tag kann Feyleen einen Zauber, den ein neben ihr stehender Verbündeter wirkt, während des Wirkens mit einem metamagischen Talent modifizieren, wenn ihr ein Zauberkundewurf gegen SG 18+(3x Zauberslot, den der Zauber belegen würde, wenn er mit dem jeweiligen metamagischen Talent verstärkt worden wäre) gelingt.
Verbesserte Metamagie (ÜF): Feylen bereitet alle mit einem metamagischen Talent modifizierten Zauber einen Zauberslot unter demjenigem vor, den sie eigentlich belegen würden.
Zauber wegschnappen (ÜF): Feyleen kann versuchen einen magischen Effekt eines anderen Magiers zu übernehmen. Dazu muss ihm ein konkurrierender Zauberstufewurf gegen den Urheber des betreffenden Zaubers gelingen. Göttliche Magieanwender erhalten einen Bonus von +2 auf diesen Wurf. Gelingt die Übernahme, so wirkt der Zauber so, als hätte Feyleen ihn gewirkt und der ursprüngliche Anwender kann von seinem eigenen Zauber betroffen werden, erhält aber einen Umstandsbonus von +2, falls der Zauber einen RW erfordert.
Zauberresistenz überwinden: Feyleen erhält einen Bonus von +2 auf alle Zauberstufewürfe, um ZR zu überwinden.
Magische Gegenstände: Schutzring +4, Resistenzweste +2, Stirnreif des Intellekts +6, Konstitutionsarmschienen +6

Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 03. Dezember 2010, 12:23:23
Da haste ja echt n paar nette Viecher zusammengezimmert  :boxed: ...und dann diese Immunität des Drachen gegen mein Henkersschwert... aber sonst wäre der Kampf auch schnell um gewesen ;)
...oh, und die Übersetzung gefällt mir auch sehr, ist aber in den deutschen Büchern auch immer so  :D : Profanes Geschenk...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 03. Dezember 2010, 19:23:08
Ja... wie profan, so eine Attributssteigerung, fällt mir ja jetzt erst auf *g*
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 15. Dezember 2010, 11:46:08
Arbeitest du eigentlich schon am nächsten Kapitel? Und wie wird es heißen?
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 19. Dezember 2010, 19:06:39
So, wollt nur nochmal sagen, dass mir die Sitzung am Samstag sehr gefallen hat. Vor allem ab dem Kampf gegen den Dämon wurde es immer spannender, weshalb wir uns ja auch irgendwie zwingen mussten morgens abzubrechen, obwohls so spannend war! Bin schon echt heiß drauf, wie es weiter geht... was natürlich auch die Geschichte angeht ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 20. Dezember 2010, 00:54:13
Hm, irgendwie funktinoniert die Mailfunktion bei mir auch nicht mehr...

Ja, ich fands auch super spannend und lustig ("Bin ich der einzige, der hier keinen kennt???" *g*). Das nächste Kapitel ist in der Mache, sollte im Laufe der nächsten Woche fertig werden, vielleicht ja zu Weihnachten ;-)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 21. Dezember 2010, 23:54:51
VIERTES BUCH
INSEL DER RÄTSEL



Prolog

Drake
Silbrigmond, Ches 1395 TZ.
„Was wollte die Engelsfrau von dir“, fragte Winter, als sie auf dem Weg zur Schimmernden Schriftrolle die Mondbrücke überquerten, „als sie im Geist mit dir sprach?“
Die Erinnerung warf einen düsteren Schatten.
„Wenn sie gewollt hätte, dass es alle erfahren, hätte sie es vermutlich laut gesagt“, erwiderte Drake einsilbig.
Zu seinem Erstaunen beließ es Winter dabei.
„Versprich mir, dass du uns in Ruhe lassen wirst“, sagte sie nach einer Pause.
Er hob spöttisch eine Augenbraue.
„Und welchen Wert hätte das Versprechen eines Entführers und Attentäters?“
„Lass die Spielchen, Drake... bitte.“
Bitte? Drake maß sie mit durchdringenden Blicken. Wo war Winters Kampfgeist geblieben? Hatte ihre Mutlosigkeit etwas mit dem Besuch bei ihren Schwiegereltern zu tun? Nachdem die Gefährten den ersten Schock überwunden und sich wohl oder übel damit abgefunden hatten, zwölf Jahre in der Zukunft gelandet zu sein, hatte Grimwardt darauf gedrängt, so schnell wie möglich zur Abtei zu reisen. Winter hatte ihren lächerlichen Such-Tanz aufgeführt, um ihre Tochter aufzuspüren, doch ohne Erfolg. Drake hatte sie schließlich überreden können, ihn zuerst in Silbrigmond abzusetzen. Bei dieser Gelegenheit hatte sie einen kurzen Abstecher zu den Dantés’ gemacht, von dem sie mit bedrückter Miene zurückgekehrt war.
Plötzlich blieb Winter wie vom Donner gerührt stehen.
„Das ist ja wohl nicht ihr Ernst!“
Sie waren bei der Schimmernden Schriftrolle angelangt, doch anstelle des vertrauten Geruchs nach Fledermausdung, Binsenkraut und alchemistischen Substanzen quoll ihnen aus dem Eingang des kleinen Zauberladens eine Duftwolke aus Minze, Honig und Amber entgegen und ein Blick durch die geöffnete Eingangstür gab eine Reihe von Tischen und Stühlen preis, an denen fleißig Tee geschlürft und über Politik und Stadtgeschehen lamentiert wurde.
„Eine Teestube?“
Das Innere des Ladens hielt noch eine weitere Überraschung bereit: Anstelle von Xara Tantlor trafen sie hinter dem Ladentisch einen kleinen Jungen an, der in ein Buch vertieft schien. Als er sich der Ankunft der Gäste bewusst wurde, schreckte er ertappt auf und versuchte seinen rot-gezackten Teufelsschwanz hinter dem Rücken zu verbergen.
„Ja, bitte?“, fragte der Tieflingsjunge schüchtern.
Drake pfiff leise durch die Zähne. Was Xaras zwielichtige Liebschaften anging, rangierte er offenbar nicht so weit an der Spitze wie er angenommen hatte. Nun ja, immerhin klärte der verräterische Teufelsschwanz die Vaterfrage. Nach seiner letzten Begegnung mit Xara war er sich dessen nicht so sicher gewesen. Der Gedanke hätte ihm Genugtuung verschaffen sollen. Doch das Wissen, dass sein Verschwinden nicht einmal diese kleine Narbe hinterlassen hätte, hatte einen bitteren Beigeschmack…
Als Xara von ihren Besorgungen zurückkehrte, war sie nicht schlecht erstaunt, ihre einstmals besten Kunden völlig unberührt von den zwölf Jahren, die zwischen ihrer letzten Begegnung lagen, in einer der Sitznischen anzutreffen.
„Was ist hier passiert?“, fuhr Winter sie an. „Sagt bloß, Euer Laden ist Bankrott gegangen? Ich habe mehrere Anzahlungen geleistet, für die noch die Lieferungen ausstehen!“
Xara schien aus allen Wolken zu fallen.
„Alle Welt hielt Euch für tot!“, erklärte sie. „Die Barden haben Nachgesänge auf die Helden von Immerschwinge verfasst… Meinen Laden musste ich natürlich schließen. Ohne Magie macht ein Zauberladen nicht viel Sinn.“
„Was soll das heißen, ohne Magie?“, fragte Faust.
Xara schüttelte noch immer fassungslos den Kopf.
„Ihr habt tatsächlich keine Ahnung, oder? Vor elfeinhalb Jahren wurde das magische Gewebe zerstört. Ganz Faerûn war magisches Ödland. Uns im Westen hat es noch vergleichsweise milde erwischt. Im Südosten gibt es Gegenden, die magisch völlig brach liegen oder noch immer von der Zauberpest verseucht sind.“
Zauberpest? War das die Erklärung dafür, dass sie in der falschen Zeit gelandet waren? Hatte sich das zerstörte Gewebe auch auf den Zeitstrom ausgewirkt? Elfeinhalb Jahre ohne Magie! Welch einen Rattenschwanz an politischen Umwälzungen das nach sich gezogen haben musste!
„Es waren harte Zeiten für Magier“, fuhr Xara fort. „Was hätte ich tun sollen? Ich musste meinen Sohn ernähren. Die Teestube läuft gut, aber bis hierhin war es ein harter Weg. Riven hat schließlich niemanden außer mir… und er hat es schwer genug.“
Verlegen und ein wenig verdrossen darüber, dass seine Mutter so ungeniert über seine Unzulänglichkeiten sprach, strich sich der Tieflingsjunge das Haar in die Stirn, um die kleinen Hörner zu verbergen, die dort sprossen. Drake entging auch nicht, dass sein verhaltenes Husten in verräterisch kontrollierten Abständen erfolgte – vermutlich nur eine Entschuldigung für den dicken Schal. Was er wohl verbarg? Striemen, Kratzer, Würgemale? Kinder konnten bemerkenswert grausam sein, wenn es darum ging, die Hackordnung auf dem Spielplatz festzulegen. Und Teufelsschwänze und Stirnhörner waren nicht gerade Statussymbole.
Genauso wenig wie rote Augen und leichenblasse Haut…
Aber dies war immerhin Silbrigmond – eine Stadt, die für ihre weltbürgerliche Toleranz bekannt war – anders als das dreckige Söldnerloch in den Herzlanden, in dem Drake aufgewachsen war. Und Riven war auch nicht der Bastard einer schwindsüchtigen Straßenhure.
Drake blinzelte den unliebsamen Erinnerungsfetzen hinfort.
„Ich nehme an, das bedeutet, wir können unsere Anzahlungen vergessen.“ Er erhob sich. „Dann sehe ich keinen Grund, der mich hier noch hält.“
Mit einer mokanten Verneigung verabschiedete er sich. Doch vor der Tür hielt er inne. Wohin sollte er gehen? Ob seine Verbindungen im Hafenviertel noch bestanden? Unwahrscheinlich - in seinem Geschäft waren Kontaktleute von geringer Haltbarkeit. Vermutlich würde er sich einen neuen Kundenkreis aufbauen müssen. Dasselbe galt für seine Geldanlagen. Fast war es, als hätte Feyleens perfider Plan Erfolg gehabt. Zwölf Jahre im Zeitstrom hatten ausgereicht, um alle Spuren seiner Existenz zu tilgen. Unsichtbarkeit war immer seine Verbündete gewesen, doch nun fühlte er sich mit einem Mal von ihr verraten und der Rückweg in sein altes Leben erschien ihm düster und trüb. Doch wohin sonst sollte er gehen? Es war das einzige Leben, das er kannte.
Nicht GANZ das einzige…
Dass das Abenteurerdasein seine Vorzüge hatte, war keine bahnbrechende Erkenntnis: Selbst durch vier geteilt, brachte die Plünderung eines Drachenhorts noch mehr ein als er in einem Monat verdienen konnte. Was ihn stets abgeschreckt hatte, war der Gedanke, dass sein Überleben von anderen abhängen könnte. In seiner Welt war Freundschaft eine Maske, die Leute hin und wieder aufsetzten, um andere für ihre Zwecke einzubinden, und Vertrauen eine Illusion, die zerbrach, sobald ihre Ambitionen sich änderten. Soweit die Theorie - doch sie erklärte nicht, weshalb die Fedaykin-Geschwister sich nicht an ihm gerächt hatten, als sie die Gelegenheit dazu hatten…
Sein Blick glitt zurück.
Faust saß breitbeinig auf seinem Schemel und versuchte dem Tieflingsjungen Mut zuzureden. Drake hielt ihn für einen ruhmsüchtigen Draufgänger – begabt, exzentrisch, polarisierend. Der Typ Mann, den Drake hasste, weil er alles mit Leichtigkeit meisterte – naja, alles bis auf den Krieg gegen die Nebel, die seinen Verstand hin und wieder umwölkten. Miu, Fausts ewiger Schatten, war vielleicht die einzige, die durch den Dunst zu blicken vermochte. Doch die Ordensschwester war eingeschnürt in ein Korsett aus Regeln und Vorschriften, an dem sie eines Tages ersticken musste…
Grimwardt stand ein Stück abseits, wie stets ein wenig skeptisch gegenüber allem, was sich nicht um Kriegstaktiken und Schlachtordnungen drehte. Er war der ruhende Mittelpunkt der Gruppe, unbeirrbar seiner einen, bedingungslosen Leidenschaft verpflichtet. Vielleicht ein wenig zu unbeirrbar, um zu erkennen, dass der Grat zwischen Glaubenseifer und Fanatismus, auf dem er wandelte, immer schmäler wurde.
Und Winter? Seit ihrer ersten Begegnung war Drake fasziniert von dem, was er hinter den zahlreichen Masken der Heiratsschwindlerin gesehen hatte: eine Frau, die mit naiver Hingabe liebte und mit skrupellosem Egoismus für diejenigen kämpfte, die sie liebte. Nun da Winters Fassade zu bröckeln begonnen hatte, kam immer mehr von diesem dunklen Kern zum Vorschein…
Nein, erkannte Drake. Er würde nicht mit ihnen gehen. Sie stehen am Abgrund, hatte der Engel gesagt. Die Frage war nur, wer von ihnen zuerst fiel. Er würde zurückkehren in seine Schattenwelt – und überleben. Mochte das Schicksal, das der Engel ihm prophezeit hatte, ihn einholen, wenn es soweit war…


Kapitel I: Der Auserwählte


Grimwardt
Abtei des Schwertes, wenig später.
Die Nachtpforte wurde geöffnet und ein kahlköpfiger Geweihter im Rang eines Schildpriesters, gefolgt von einem einfachen Soldaten, trat vor die Wehrmauer. Grimwardt erkannte den Soldaten als einen ehemaligen Rekruten. Doch der Priester war ihm fremd.
„Seid Ihr Euch sicher?“, hörte er den Priester leise fragen.
Der Soldat nickte mechanisch, während er Grimwardt mit offenem Mund anstarrte.
„Was soll der Unfug?“, brummte Grimwardt. „Weshalb verwehrt man mir den Einlass in meine eigene Abtei? Und warum ist das Tor verrammelt? Erwarten wir einen Angriff?“
„Verzeiht“, sprach der Kahlkopf, doch seine Augen blieben kalt und misstrauisch. „Ich wurde angewiesen, Eure Identität zu überprüfen, ehe man Euch Einlass gewährt.“  
„Auf wessen Geheiß?“
„Auf Geheiß des Priestergenerals.“
ICH bin der Priestergeneral, du Orknase!
Grimwardts Zornader pochte ganz gewaltig hinter seiner Stirn, doch um dem Grund für dieses rätselhafte Treiben so schnell wie möglich auf die Schliche zu kommen, ließ er sich seinen Unmut nicht anmerken und wehrte sich auch nicht, als der Fremde ihn mit einem Aufklärungszauber belegte. Der Geweihte nickte ihm knapp zu und bedeutete ihm mitzukommen. Als Faust, Winter und Miu Anstalten machten ihnen durch die Pforte zu folgen, gebot er ihnen Einhalt.
„Der Priestergeneral wünscht mit Grimwardt Fedaykin allein zu sprechen.“
Faust verschränkte provokativ die Arme vor der Brust und traktierte Kahlkopf mit Blicken als versuche er zu ermessen, wie hart er wohl zuschlagen müsse, um ihn Dreck schlucken zu lassen ohne ihn gleich ins Jenseits zu prügeln. Grimwardts mäßigender Blick beendete das stumme Kräftemessen und Faust zuckte mit den Schultern.
„Wie du meinst.“
„Vergiss nicht, nach Scarlet zu fragen“, hörte Grimwardt Winters bange Bitte in seinem Rücken, während er auf das Hauptgebäude zuschritt. Unerhört! – So wie die beiden Wächter ihn flankierten, hätte man meinen können, er sei ein Gefangener in seiner eigenen Abtei. Seinem magisch geschulten Blick entgingen nicht die subtilen Veränderungen am magischen Schutzsystem der Abtei. Eine Teleportationsbannmauer, ein Schutzschild vor Ausspähung, ein magisches Warnsystem – alles Neuerungen, für die Grimwardt seit fast zehn Jahren sparte. Woher hatte die Abtei plötzlich das Geld dafür? Und weshalb begegnete er keinem einzigen vertrauten Gesicht? Grimwardt legte beleibe keinen Wert auf Willkommensfanfaren und Trommelwirbel, doch man hätte meinen sollen, dass die Ankunft eines verschollenen Abteileiters für ein wenig mehr Aufregung gesorgt hätte.
Wortlos führte Kahlkopf ihn in die große Gebetshalle.
Auf der Empore vor dem Schildaltar erwartete ihn Sir Silas von Arkhem, der Taliser Ritter, der sich beim Turnier zu Ehren des gefallenen Jareth Burlisk den Rang des Ersten Schwertbruders erkämpft hatte. Der goldbärtige Ritter trug die zeremonielle Rüstung, die dem Priestergeneral gebührte. Als Grimwardt eintrat, neigte er ehrerbietig den Kopf. Der Kriegspriester kam nicht umhin, die widersprüchliche Symbolik dieses Auftritts zu bemerken. Die demonstrative Zurschaustellung der Insignien des Priestergenerals schien zu sagen „Du hast deine Stellung verwirkt; ich gebe sie nicht wieder her“, doch Silas’ demütige Haltung, in der Grimwardt keinen Spott erkennen konnte, sprach eine andere Sprache. Fast hätte er so etwas wie Mitleid für seinen „Nachfolger“ verspürt, für den die Situation vermutlich nicht weniger unangenehm war als für ihn selbst – wäre da nicht die Gestalt im Schatten gewesen. Die Dunkelheit umgab sie wie ein Tarnzauber, sodass Grimwardt sich ihrer Gegenwart erst bewusst wurde, als sie sich bewegte, um an Sir Silas’ Seite zu treten: Sie war eine hagere Frau um die Fünfzig. Ihr Haar war so streng zurückgebunden, dass es ihr Gesicht zu straffen schien. Alles in diesem Gesicht – die stark geschminkten Augen, die lange Nase, die strengen Wangenfalten -  warf riesige Schatten, die ihr Antlitz zu verschleiern schienen.
Eine Umbrantin, erkannte Grimwardt. Eine Schattenmagierin.
 „Grimwardt Fedaykin.“ Ein verhaltenes Lächeln streifte Silas’ Gesicht, zu steif, um den Argwohn aus seinen Zügen zu stehlen. „Tempus wirkt Seine Wunder, wenn wir sie am wenigsten erwarten. Vor elf Jahren beweinten wir Euch wie einen Toten und trugen einen leeren Sarg zu Grabe. Und heute steht Ihr vor den Toren der Abtei und scheint Euch um keinen Deut verändert zu haben.“
„Anders als meine Abtei, Sir Silas“, entgegnete Grimwardt mit einer Ruhe, die bei jedem, der ihn kannte, die Alarmglocken läuten ließ. „Wollt Ihr mir nicht Eure neue Gefährtin vorstellen?“
Das Lächeln des Ritters erstarb. ‚Meine Abtei’ hatte Grimwardt gesagt und der Paladin hatte verstanden: Er gedachte nicht, auf seinen Anspruch auf den Rang des Priestergenerals zu verzichten.
„Das ist Lady Zia.“ Silas’ Blick flackerte unstet. „Sie hält die arkanen Verteidigungsanlagen der Abtei instand und steht uns im Kampf gegen die Horden des Nordens bei.“
„Die Horden des Nordens?“ Grimwardts Zornader bohrte sich tiefer in seine Stirn. Für wie einfältig hielt ihn dieser Schnösel? Die Orkbarbaren vom Grat der Welt waren keine Bedrohung, die ein ausgeklügeltes magisches Verteidigungssystem erforderlich machten. „Lassen wir doch die Masken fallen, Priestergeneral. Was hat Euch bewogen, einer Umbranten-Spionin die Tore der Abtei zu öffnen?“
Sir Silas sog betroffen die Luft ein, während Lady Zia keine Miene verzog. Stumm und lauernd wie ein Geier auf Beuteflug harrte sie im Schatten.
„Grimwardt Fedaykin.“ Die Stimme des Ritters zitterte vor unterdrückter Brüskierung. „Als ich vor zwölf Jahren in diese Abtei eintrat, leistete ich den Schwur, Tempus zu dienen und die Menschen der Talländer mit Seiner Hilfe vor Unglück zu bewahren. Diesem Schwur bin ich immer treu geblieben. Verzweifelte Zeiten erfordern ungewöhnliche Maßnahmen. Aber mir zu unterstellen, die Abtei verraten zu haben, verletzt meine Ehre aufs Schärfste! Wo wart Ihr in all den Jahren, könnte ich Euch fragen? Woher nehmt Ihr das Recht meine Entscheidungen in Frage zu stellen?“
Grimwardt musterte ihn eindringlich.
Er hat Angst, erkannte er. Aber er sagt die Wahrheit.
Und trotzdem – irgendetwas stank hier gewaltig. Er musste dringend mit jemandem sprechen, dem er vertraute.
„Wo ist Borgo der Zwerg?“, fragte er barsch. „Ich will ihn sprechen.“
Lady Zia stieß ein missgünstiges Zischen aus, doch Sir Silas gab nach einem kurzen Zögern seine Einwilligung. Auf seinen Befehl führte der Schildpriester Grimwardt in den zweiten Stock. Vor der Tür zur Bibliothek hielt er an. Grimwardt wandte sich misstrauisch um.
„Was soll das?“
„Ihr wolltet Borgo, den Bibliothekar, sprechen.“
Den BIBLIOTHEKAR?! Tempus steh uns bei!
„Herr!“ Der Zwerg schien Grimwardt bereits erwartet zu haben. Eilig zerrte er seinen Kameraden und ehemaligen Dienstherrn in den Raum. Dann schob er rumpelnd ein Regal vor die Tür und begann mit Hilfe eines Zaubers die Wände nach verborgener Magie zu untersuchen.
 „Sie beschattet uns, da bin ich mir sicher! Man kann in diesen Mauern keinen Schritt mehr tun, ohne von ihren ausspähenden Augen belauert zu werden!“
„Du sprichst von Lady Zia?“
„Von wem sonst?“, schnappte der Zwerg mit gewohnter Ruppigkeit.
„Bei Veiros’ Ungestüm, Borgo, was ist hier eigentlich los?! Wann hat dich die Erkenntnis ereilt, dass Bücher noch zu etwas anderem taugen als zur Morgentoilette?“
„Seit die Welt nicht mehr die ist, die sie einmal war“, brummte der Zwerg.
Der Kleriker und Waffenmeister war schon in rüstigem Alter gewesen, als Grimwardt noch ein Knappe in der Ausbildung gewesen war, doch man hatte es ihm niemals angesehen. Doch nun hatte sich auch die letzte Strähne seines knielangen Bartes grau gefärbt und ohne Rüstung offenbarte sein Rücken den Ansatz eines Buckels.
Nachdem Grimwardt ihm kurz erläutert hatte, weshalb ihm jegliche Erinnerung an die letzten zwölf Jahre fehle, begann der Zwerg zu erzählen.
„Einige Tage nach Eurem Verschwinden wurde ganz Faerûn von der Zauberpest heimgesucht. Wir alle wurden zum Opfer einer göttlichen Intrige: Angestiftet von Shar tötete Cyric, der Gott des Verrats, die Göttin Mystra. Durch ihren Tod geriet das magische Gewebe außer Kontrolle und stürzte die Welt ins Chaos. Weit im Süden, in Halrua, nahm die magische Apokalypse ihren Anfang. Dort zogen magische, zyklonenartige Wettergebilde – genannt Zauberleuchten - über das Land und zerstörten alles auf ihrem Weg. Die Welt hat sich verändert, Grimwardt; einige Landstriche verschwanden völlig, während anderswo ganze Kontinente wie aus dem Nichts auftauchten. Die Magie spielte erst verrückt; dann verschwand sie völlig. Erst seit zwölf Monaten etwa erholt sich das Gewebe langsam. In den Jahren, als das Zauberleuchten wütete, kamen viele Magier durch ihre eigene Magie um, während andere dem Wahnsinn anheim fielen. Beinahe die gesamte magische Elite der Reiche wurde ausgelöscht. Auch die Sieben Schwestern erlagen dem zerstörten Gewebe und Elminster vom Schattental zog sich in seinen Turm zurück und empfängt seit einem Jahrzehnt keine Besucher mehr. Die einzigen, die von den Pestjahren profitierten, waren die Arkanisten von Netheril.“
„Demnach wurde das Schattengewebe also von der Zauberpest verschont?“
„Nicht direkt. Shar hatte natürlich darauf spekuliert, durch Mystras Tod die Herrschaft über alle sterbliche Magie an sich zu reißen. Doch sie hatte sich verkalkuliert. Es gelang ihr nicht, die Kontrolle über das Schattengewebe zu bewahren, als Mystras Gewebe zusammenbrach. Hochprinz Telamont Thantul muss von der göttlichen Intrige gewusst haben und entging der Vernichtung seiner Stadt wie bereits zu Karsus’ Zeiten: Er versetzte ganz Umbra auf die Schattenebene. Shar konnte die Schattenmagie bändigen, ehe es dem Rest des Pantheons gelang, ein neues Magiegewebe zu erschaffen. Darum erlangten die Arkanisten von Umbra schneller als alle anderen Völker ihre magischen Fähigkeiten zurück. Das war die Chance, auf die der Hochprinz und seine elf Söhne gewartet hatten. Sie besiegten ihre alten Feinde, die Phaerimm, die sich durch die Erschütterung des Schattengewebes aus ihrem Gefängnis unter der Anauroch befreit hatten. Dann bauten sie zwei weitere der gefallenen Städte ihrer Vorfahren wieder auf und riefen das Königreich von Netheril aus. Als nächstes begann Netherils Magokrat seine imperialistischen Ziele in die Tat umzusetzen. Die Zhentarim-Söldner der Anauroch hatten sich während der Phaerimmkriege mit diesen Kreaturen verbündet, darum mussten die Zhentarim als erstes dran glauben. Außerdem war den Umbranten wohl der Einfluss Fzoul Chembryls auf die Handelswege der Anauroch lästig. Wie auch immer – die Zhentilfeste fiel fast widerstandslos und das Schwarze Netzwerk wurde zerschlagen.“
„Die Zhentarim sind geschlagen? Bei Hammer und Helm!“
„Das könnt Ihr laut sagen. Es ist dem Eingreifen der Elfenkönigin von Myth Drannor zu verdanken, dass der Mondsee nicht völlig in die Hände der Umbranten fiel. Sie stationierte ihre Truppen in der Zhentilfeste, um die Bevölkerung vor der Willkür der netheresischen Eroberer zu schützen. Allein hätte sie natürlich keine Chance gegen Telamont Tanthul, doch der Elfenhof wird von den Silbermarken, Cormyr und der Allianz der Talländer unterstützt. Es existiert ein loser Verteidigungspakt, die Westallianz. Der Hochprinz ist ein vorsichtiger Mann, der die offene Konfrontation scheut. Er ließ die Elfen gewähren und setzte stattdessen auf Handelsimperialismus. Die netheresischen Handelskompanien fassten in Sembia Fuß und kontrollierten schon bald den gesamten Würzhandel des Sternregenmeers. Heute ist Sembia nur noch ein Vasallenstaat des Wüstenimperiums – Umbras Seehafen und Tanthuls Verbindung zur Außenwelt. Die Anauroch bleibt weiter gegen normale Magie abgeschottet. Thantul gewährt keinen Ausländern Zutritt zu seinen Städten – zu groß ist seine Furcht vor Spionage. Nach Sembia wird sich sein Augenmerk nun vermutlich auf die Talländer richten: Wir liegen schließlich genau zwischen der Anauroch und Sembia – sämtliche seiner Handelskarawanen müssen hier durch. Dass die Fürsten der Täler untereinander zerstritten sind und unsere Städte keine magischen Verteidigungsschilde haben, macht uns außerdem zum verwundbarsten Mitglied der Allianz.“
„Darum hat der Herr von Umbra also Lady Zia in die Abtei eingeschleust: um die militärische Verteidigung der Talländer zu kontrollieren, ohne die Bevölkerung gegen sich aufzubringen“, brummte Grimwardt düster. Was Borgo erzähle, ließ nichts Gutes hoffen. „Welcher Teufel hat Silas geritten, dass er der Schattenhexe die Tore zur Abtei öffnete?“
„Er hat das Schlottern bekommen, unser Sir Hasenherz“, schnaubte Borgo verächtlich. „Als Ihr verschwunden bliebt, übernahm er die Leitung der Abtei. Er machte seine Sache zunächst auch ganz gut und führte Euer Freundschaftsbündnis mit den Steinschilden von Sundabar und der Schule der Natur in Myth Drannor fort - das Projekt trug dazu bei, dass das Bündnis der Talländer mit dem Elfenhof erneuert wurde. Doch Silas’ Zuversicht schwand, je mehr Netherils Macht wuchs. Er glaubt, dass die Talländer nicht zu retten sind und dass wir als Tanthuls Marionette noch die größte Überlebenschance haben. Darum nahm er Lady Zias Arbeitsgesuch an, obwohl jeder Ork erkennen kann, welches Spiel sie treibt. Gewiss hat sie bereits Kunde von Eurer Rückkehr an ihre wirklichen Dienstherren gesandt. Wundert Euch also nicht, wenn demnächst ein netheresischer Assassine bei Euch anklopft. Ohne Elminster und die Sieben Schwestern seid Ihr und Eure Gefährten die mächtigsten Verteidiger der ‚Achse des Guten’. Dazu kommt, dass Telamont Tanthul gewiss nicht vergessen hat, was mit seinem jüngsten Sohn geschehen ist…“
„Hm“, brummte Grimwardt. Hadrhune Tanthul war ein gefährlicher Gegner gewesen, doch im Gegensatz zu Telamont war er ungeduldig gewesen in seinem imperialistischen Streben und seinem Eifer, dem mächtigen Vater zu imponieren. Das hatte ihn angreifbar gemacht. Hochprinz Telamont dagegen schien Grimwardt ein kluger Stratege zu sein. Sein erster Schachzug hatte sich nicht etwa gegen Myth Drannor oder Silbrigmond, seine eigentlichen Konkurrenten, gerichtet, sondern gegen die Zhentarim: Meuchler und Schwarzkünstler, die den Westen Jahrzehnte lang terrorisiert hatten. Und was tat er dann? Er gründete Handelskompanien statt seine Position auszunutzen und über seine Feinde herzufallen und sorgte dafür, dass die Anauroch für alle Welt ein Mysterium der Schatten blieb. Vielleicht war es seine gefährlichste Waffe, dass er so wenig dem Bild des herrschsüchtigen Tyrannen entsprach. Welcher Herrscher machte nicht lieber Geschäfte mit Handelspartnern als Geld und Leben in der Schlacht zu riskieren? Freiheit war ein verzichtbares Gut, wenn man kaum merkte, wie sie einem entglitt. Sir Silas war genau wie die Herrscher von Sembia auf die Maskerade des Hochprinzen hereingefallen. Und wer sagte, dass andere nicht folgen würden?
„Wie viele von Silas’ Männern wären ihm loyal, wenn es zur Konfrontation käme?“, fragte Grimwardt.
Der Zwerg schnalzte unschlüssig mit der Zunge.
„Auf mich könnt Ihr natürlich zählen. Auch Lady Lucia ist Silas’ neuem Kurs alles andere als zugetan, aber sie hat ihm bei seinem Amtsantritt die Treue geschworen, darum würde ich nicht auf sie zählen. Diejenigen Eurer Leute, die zu laut ihren Unmut über Lady Zias Anwesenheit kundgetan haben, hat die Hexe rausgeworfen. Aber so oder so würdet Ihr mit einem Kampf riskieren, die Taliser gegen Euch aufzubringen. Sir Silas ist nicht unbeliebt in der Gegend. Viele Adlige denken wie er, müsst Ihr wissen. Und für die Bauern bedeutet Krieg nur Tod und erhöhte Steuern: Die sind um jeden froh, der ihnen beides vom Hals hält.“
„Was rätst du mir also?“
„Ihr solltet Silas zum Duell herausfordern.“
Grimwardt nickte nachdenklich in seinen Bart hinein.
Tempus’ Kriegsgesetz besagte, dass die Ehre des Heerführers dem besten Kämpfer gebührte und die Abteihierarchie war nach demselben Prinzip strukturiert. Ein Duell würde klären, wer in den Augen Tempus’ die Abtei leiten sollte. Und Silas konnte eine Herausforderung nicht ablehnen, ohne sich zum Gespött der Abtei zu machen.
Grimwardt beschloss, sofort Nägel mit Köpfen zu machen. Keine fünf Minuten später harrte er wartend in seinem alten Arbeitszimmer und betrachtete verdrossen die Medaillensammlung, um die Sir Silas die Wand über seinem Arbeitstisch bereichert hatte. Die Nagellöcher würden nie wieder rausgehen. Kurz darauf trat der Turniermeister ein.
„Morgen bei Sonnenaufgang auf dem großen Turnierplatz“, sagte der Kriegspriester ohne Umschweife.
Sir Silas seufzte ergeben, schien aber nicht sonderlich erstaunt.
„Möge der Bessere von uns beiden siegen.“
Grimwardt brummte seine Zustimmung.
„Und nun lasst uns bei einem Becher Met über die Ereignisse der letzten Jahre plaudern.“
 
Winter
Schule der Natur, Myth Drannor, wenig später.
Der zwergische Austauschschüler aus Sundabar machte ein Gesicht, als halte ihn nur seine Zwergenehre davon ab, schreiend davonzulaufen. Es war Geschichtsstunde in Nimoroths Tempelschule. Unter dem farbenfrohen Gewölbe der blühenden Frühlingsbäume saßen elfische und menschliche Schüler beisammen und während die einen aufmerksam den Worten der Lehrerin lauschten, übten sich andere mit Hingabe im Spiel Zwick-den-Zwerg. Die Lehrerin, eine Halbelfe mit goldenen Locken und einem freundlichen Grübchenlächeln, beschränkte sich lediglich auf ein paar mahnende Worte, wenn ihre Schützlinge es allzu weit trieben. Während Faust und Miu aufmerksam ihrer Lektion über den Rückzug der Elfen aus Faerûn lauschten, harrte Winter ungeduldig der Heimkehr ihres alten Mitstreiters. „Fürst Nimoroth“, wie die Halbelfe ihn betitelt hatte, war inzwischen Mitglied des Elfenrates und gerade bei einer Versammlung.
Nachdem Grimwardt seinem Konkurrenten die Duellforderung überbracht hatte, waren auch seine Freunde eingelassen worden. Winter hatte von Borgo erfahren, dass Scarlet unter Silas’ fragwürdigem Regime bereits vor zwei Jahren durchgebrannt war. „Dieser elfische Taugenichts aus Myth Drannor muss sie dazu angestiftet haben“, hatte der Zwerg gebrummt. Und wenn sie sich den lockeren Lehrstil an Nimoroths Tempelschule anschaute, fiel es Winter nicht schwer zu erraten, wer damit gemeint war: Wenn Scarlet tatsächlich mit Nimoroths Sohn Laguna durchgebrannt war, dann wusste sein Vater vielleicht, wo die beiden steckten.
Endlich erblickte Winter zwischen den Bäumen das leuchtende Fell von Nimoroths Tigergefährten. Der hochtrabende Titel schien den Waldelfen um keinen Deut verändert zu haben. Nicht einmal von den religiösen Hennazeichnungen auf seinem Oberkörper hatte er abgesehen und sein hüftlanger Haarschopf erweckte wie meistens den Anschein, als hätte er schon sämtlichen Vögeln der Cormanthorischen Wälder als Nistplatz gedient. Mit einem heiteren Lächeln reichte der Druide der alten Gefährtin beide Hände zur Begrüßung.  
„Ich wusste, dass ihr noch am Leben sein müsst, als ich vom Rückgang der seelenlosen Geburten hörte“, begrüßte er sie. „Du musst mir alles erzählen.“
„Das werde ich.“ Winters Sorgen erschienen ihr mit einem Mal leichter. Es musste an Nimoroths Gabe liegen, die Welt in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. „Aber zuerst muss ich wissen, wo meine Tochter ist.“
Nimoroth nickte – ernst, aber nicht beunruhigt.
„Scarlet ist bei Laguna, es geht ihnen gut. Aber ich kann hier nicht darüber sprechen.“
Winter fiel ein Stein vom Herzen. Nachdem er die Zauberin und ihre Begleiter in sein Haus in der Krone einer alten Eiche geführt und ihnen elfisches Gebäck angeboten hatte, fuhr Nimoroth fort.
„Die beiden haben sich den Sandfürsten angeschlossen, um die Expansionspläne der Hochfürsten zu vereiteln.“
„Sie haben was?“ Winters Erleichterung schlug schlagartig in Entsetzen um. In Grimwardts Vision waren die Hochfürsten von Umbra gegen eine „Sandfürstin“ in den Krieg gezogen. „Was soll das heißen? Und wer sind diese Sandfürsten überhaupt?“
„D’Tairig-Rebellen, die sich gegen die netheresische Fremdherrschaft auflehnen“, erklärte Nimoroth. „Ein paar idealistische Sympathisanten und ehemalige Zhent-Söldner haben sich ihnen in letzter Zeit angeschlossen. Ihre gelegentlichen Anschläge auf netheresische Handelskarawanen und Oasen-Stützpunkte sind zu unbedeutend, als dass Hochfürst Telamont sie wirklich ernst nehmen würde. Aber für die Westallianz sind sie wertvolle Informanten und im entscheidenden Moment könnten sie sich als wichtige Verbündete herausstellen. Myth Drannor unterstützt sie darum inoffiziell mit Waffenlieferungen und magischen Schutzgegenständen.“
Winter fiel aus allen Wolken.
„Nimoroth, wie kannst du zulassen, dass dein Sohn bei diesem Wahnsinn mitmacht?!“
Der Druide seufzte.
„Du hast schon Recht, die Rebellen nehmen bei ihren Anschlägen nicht selten den Tod von Unschuldigen in Kauf. Aber…“
„Nicht moralisch!“ Nimoroth war wirklich unverbesserlich. „Ich meine, wie kannst du zulassen, dass sich Laguna solchen Gefahren aussetzt? Wie alt ist er? Siebzehn?“
Der Waldelf runzelte leicht die Stirn.
„Laguna setzt sich für eine gute Sache ein, Winter, so wie ich es ihn gelehrt habe. Wieso sollte mich das mit etwas anderem als Stolz erfüllen? Sicher ist es gefährlich, was er tut. Aber diejenigen, die in dieser Welt überleben, sind jene, die sich an ihre Gefahren angepasst haben. Es wäre verantwortungslos von mir, wenn ich ihn darüber im Dunkeln ließe, denn ich werde nicht immer da sein, um ihn zu beschützen. Ich kann ihm nur helfen, die Welt in eine bessere zu verwandeln und das tue ich, indem ich im Elfenrat für die Unterstützung der Sandfürsten kämpfe.“
Winter erkannte, dass sie gegen Windmühlen anredete.
„Wie haltet Ihr den Kontakt zu den Sandfürsten?“, erkundigte sich Faust derweil. „Sind die D’Tairig nicht Nomaden?“
„Ich stehe in telepathischer Verbindung zu Laguna. Auf diese Weise können wir Treffen in der Wüste mit den Leuten von Sandfürst Zarif Abu Sayama arrangieren, wenn neue Lieferungen anstehen.“
Winter horchte auf.
„Kannst du ein solches Treffen auch für uns arrangieren? Ich habe Scarlet seit fast zwölf Jahren nicht mehr gesehen.“
Nimoroth zögerte kurz, doch dann nickte er.
„Aber nur dieses eine Mal, Winter.“
Ein Mal muss reichen, um Scarlet da raus zu holen, dachte Winter lakonisch. Wenn nötig mit Gewalt.
„Jede Kontaktaufnahme birgt ihre Gefahren. Natürlich ist Zarifs Zelle gegen Ausspähung geschützt, aber wir können nicht sicher sein, dass die Hochfürsten nicht in der Lage sind, magische Kommunikationen innerhalb des Schattengewebe-Gebiets aufzudecken.“
„Vielleicht kann Grimwardts Abtei die Sandfürsten ja ebenfalls mit Waffenlieferungen unterstützen“, warf Faust ein. „Vermutlich wären die D’Tairig uns freundlicher gesonnen, wenn wir Geschenke mitbringen.“
„Dann ist die Abtei des Schwertes also wieder… ähm…“
„Von Ungeziefer befreit? Noch nicht, aber bald“, erklärte Faust zuversichtlich.
„Gut.“ Nimoroth nickte. „Ich gebe euch Bescheid, sobald Zeit und Treffpunkt feststehen. Richtet euch auf etwa einen Monat ein.“
Faust sah aus dem Fenster und rieb sich grübelnd das stoppelige Kinn.
„Genug Zeit, um etwas zu tun, das ich schon vor Langem hätte tun sollen….“

Faust
Am späten Nachmittag in Rabenklippe am Drachengriff.
„Ich wusste gar nicht, dass du noch Familie hier hast“, sagte Winter belustigt, während sie den alten Mann am Arm durch das Villenviertel von Rabenklippe führte. Miu war bei Nimoroth in Myth Drannor geblieben.
„Es gibt auch so einiges, was ich von dir nicht weiß, Mädchen“, tatterte Faust seiner Rolle gerecht. Bei jedem Schritt spürte er die Gischt in seinen Knochen und sein rasselnder Atem sagte ihm, dass seine Lungen es auch nicht mehr lange machen würden. Die Alterungsfunktion war mit Abstand die gruseligste der Fähigkeiten, die er seiner neuen Tätowierung bisher entlockt hatte, und sie warf brennende Fragen auf: Wenn er zu jedem Punkt seiner körperlichen Entwicklung vor- oder zurückspulen konnte, bedeutete dies, dass er nicht mehr altern würde, wenn er seinen Körper einfach jeden Abend um einen Tag in die Vergangenheit „teleportierte“? Wie dem auch sein, im Moment kamen ihm die schmächtigen Greisenbeine durchaus gelegen. Immerhin war es nicht auszuschließen, dass er hier einem der Neun Schwerter über den Weg lief, doch dass seine Häscher ihn als achtzigjährigen Tattergreises erkennen würden, war mehr als unwahrscheinlich.
Fausts Heimatstadt war auf einer gewölbten Klippe über dem Drachengriff erbaut, sodass es von fern aussah, als harre sie auf einem Rabenschnabel, von dem sie jeden Moment ins Meer abzurutschen drohte. So tollkühn wie ihre Lage waren auch Rabenklippes Bewohner. „Exzentrisch“, sagten die Romantiker, „am Rande des Wahnsinns“, behaupteten die Spötter. Vielleicht war das der Grund, weshalb es so viele ehemalige Abenteurer in die Stadt am Drachengriff zog. Keine andere Stadt an der See des Sternregens konnte mit so vielen verfeindeten Ritterorden, Diebesgilden und Glaubenszirkeln aufwarten wie Rabenklippe und nirgendwo glich ein nächtlicher Spaziergang so sehr einem Selbstmordversuch wie hier. Doch ungeachtet ihrer inneren Unruhen war Rabenklippe in ihrer langen Geschichte von allen politischen Umwälzungen verschont geblieben, denn nicht einmal der expansionswütigste Tyrann war so größenwahnsinnig, sich mit einer Stadt voller streitbarer Abenteurer anzulegen.
Die MacLancastors hatten ihren Familiensitz im Ostviertel der Stadt, in dem rund um die Uhr Wachen patrouillierten, die Rabenklippes Straßengesindel von den Stadtpalais’ fernhielten. Ein Dienstmädchen empfing Winter und Faust, der wieder seine normale Gestalt angenommen hatte. Fausts Name sagte ihr nichts, darum bat sie die beiden in die Empfangshalle und eilte davon, um die unerwarteten Gäste anzukündigen.
„Faust!“ Winter klatschte entzückt in die Hände, als sie all die Büsten und Gemälde erblickte. „Du hast vergessen zu erwähnen, dass deine Familie reich ist!“
„Mein Stiefvater ist reich“, erwiderte Faust achselzuckend. „Meine Mutter stammt aus eher ärmlichen Verhältnissen.“
Es war eigenartig wieder hier zu sein. Der Ort roch nach zerbrochenen Vasen und schallenden Ohrfeigen.
„Du solltest dir dein Erbe ausbezahlen lassen“, bemerkte die Heiratsschwindlerin mit beiläufigem Kalkül, während sie ihre Finger über einen silbernen Kandelaber gleiten ließ.
Faust warf ihr einen befremdeten Blick zu.
„Ich habe meine Mutter seit 22 Jahren nicht gesehen“, sagte er. „Soll ich sie etwa mit den Worten ‚Wo ist mein Geld?’ begrüßen? Außerdem bezweifle ich, dass mein Stiefvater das Wort ‚Erbe’ je in Zusammenhang mit meinem Namen verwendet hat. Neben mir und meiner Schwester hat er noch sechs leibliche Söhne, die in der Erbfolge vor mir kommen.“
Winter zuckte mit den Schultern.
„Dann nimm dir einfach, was dir zusteht“, schlug sie vor und ihre Gesten unterstrichen das Unausgesprochene.
 „Mann“, sagte Faust fassungslos. „Da hab’ ja selbst ich ein größeres Ehrgefühl.“
Sie zog unbeeindruckt eine Augenbraue in die Höhe.
„Sechs Brüder, sagst du? Sind die verheiratet?“
Faust blieb ihr die Antwort schuldig, denn in diesem Moment kehrte das Dienstmädchen zurück, um ihn zur Dame des Hauses zu geleiten.
Lady Helena MacLancastor erwartete ihn in der Bibliothek. In ihrer Jugend war sie eine Schönheit gewesen. Nicht so sehr, weil ihre Lippen weicher oder ihre Taille schlanker gewesen wären als die anderer junger Frauen, sondern wegen der unbeugsamen Würde, die sie ausstrahlte. Diese Würde hatte sie sich bewahrt und sie hielt sie auch im stattlichen Alter von sechzig Jahren noch kerzengerade in ihrem Lesesessel. Ihre Haltung strahlte eine gewisse zynische Nüchternheit aus, die durch ihre schlichte schwarze Trauerkleidung noch betont wurde.
„Desmond“, sagte sie so unbewegt als begrüße sie ihren Stallmeister und nicht einen zwei Jahrzehnte lang verschollenen Sohn. „Ich dachte schon, das Mädchen hätte sich verhört.“
„Ich freue mich auch, dich zu sehen, Mutter“, erwiderte Faust ihren Sarkasmus. „Wie ich sehe, hast du einen Verlust zu beklagen.“
„Keine falschen Mitleidsbekundungen.“
„Nur eine Feststellung.“
Faust war tatsächlich nicht allzu betrübt über das Dahinscheiden seines Stiefvaters. Lord MacLancastor hatte ihn und seine Schwester nur adoptiert, weil Helena dieser Ehe sonst nie zugestimmt hätte, doch er hatte sie bei jeder Gelegenheit spüren lassen, dass sie den Namen MacLancastor in seinen Augen nicht verdient hatten. Seine Mutter hatte es für sie getan, wusste Faust – um ihnen die Schande zu ersparen, als Bastarde aufzuwachsen…. und wohl auch deshalb, weil sie nach dem Verschwinden seines Vaters befunden hatte, dass es sich mit gebrochenem Herzen reich besser leben ließ als arm. Und wie nicht anders zu erwarten hatte sie die Rolle der gelangweilten Aristokratin zur Perfektion gebracht.
„Tee?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ Lady Helena das Dienstmädchen mit zwei Teegedecken anrücken und für eine Weile war nur ein dezentes Schlürfen zu hören. Als Faust feststellte, dass er bereits angefangen hatte, die Titel der Buchrücken zu lesen, um das bedrückende Schweigen mit Worten zu füllen, erkannte er, dass es höchste Zeit war, irgendetwas zu sagen.
„Und? In letzter Zeit etwas von meiner Schwester gehört?“
Lady Helena vermochte selbst die unverfänglichste Frage in eine Spitze zu verwandeln: „Lass mich nachdenken. Ihr letzter Brief aus Narbental-Stadt erreichte mich vor etwa einem Jahr. ‚Geht es gut, Claire’. Offenbar bin ich ihr nicht einmal ein Pronomen wert. Aber ich sollte mich glücklich schätzen. Vier Worte pro Jahr sind besser als zweiundzwanzig Jahre stumme Ungewissheit, meinst du nicht?“
„Autsch.“ Alles klar. Sie würde es ihm nicht leicht machen. Und er kannte nur ein Mittel gegen süffisante Dünkelhaftigkeit – schonungslose Ehrlichkeit. „Ich hatte ja vor mich eher zu melden. Aber der Orden war mir auf den Fersen, weil ich einen von denen abgemurkst hatte. Dann kamen die Nebel und ich verlor mein Gedächtnis, dich eingeschlossen. Tja, und dann musste ich ein paar Mal die Welt retten und wegen der Zauberpest saß ich fast zwölf Jahre im Zeitstrom fest.“
Beherrscht führte seine Mutter ihren Tee zum Mund, um seinen Worten Zeit zu geben, ihren aufmüpfigen Nachklang zu entfalten, bis sie selbst in seinen Ohren wie das störrische Ausrede eines jugendlichen Ausreißers klangen.
Verdammt, sie kennt mich gut.
„Und? Hatte er es verdient?“, fragte sie schließlich. „Der Mann, den du ‚abgemurkst’ hast?“
„Nicht wirklich“, gab Faust zu. „Er… hat sich abfällig über Vater geäußert.“
Zum ersten Mal stahl sich der Anflug eines Lächelns in ihre Augen.
„Dann hatte er es vielleicht doch verdient.“
„Glaubst du das wirklich?“ Faust sah seiner Mutter fest in die Augen. „War Vater wirklich so ein Held?“
„Was hast du gehört, das dich daran zweifeln lässt?“
Er erzählte ihr von den Anschuldigungen, die Thallastam gegen seinen Vater vorgebracht hatte: dass er seine Freunde verraten und seine Seele an einen Teufel verkauft hatte.
Lady Helena schwieg lange und schien in eine Vergangenheit zu blicken, an die Faust sich nicht erinnern konnte. Als sie endlich sprach, war aller Spott aus ihrer Stimme verschwunden: „Er war sicher kein Lamm, dein Vater. Aber ist die Geschichte nicht voll von Männern, die schwere Entscheidungen getroffen haben, um… wie nennst du es… die Welt zu retten?“
Faust sah auf. Ihr unumstößlicher Glaube an den Mann, der sie verlassen hatte, gab ihm Hoffnung … Vielleicht hatte sein Vater einen guten Grund gehabt. Vielleicht war die Wahrheit noch nie erzählt worden…
Lady Helena erhob sich, bevor die Stimmung ins Sentimentale umschlagen konnte.
„Zeit fürs Abendessen“, kündigte sie an. „Vielleicht willst du mir ja nun endlich deine Begleiterin vorstellen, die du so unschicklich in der Empfangshalle hast warten lassen.“
Wenige Minuten später saßen sie zusammen mit Winter um den großen Tisch im Esssaal. Fausts Mutter schien eine diabolische Freude am Herumscheuchen von Dienstpersonal entwickelt zu haben – offenbar hatte sie vergessen, dass sie einst selbst zur Dienerschaft dieses Hauses gezählt hatte – und Winter kam aus dem schwärmerischen Beschreiben von Möbeln und Kunstgegenständen gar nicht mehr heraus. Der Umstand, dass die beiden Frauen sich offenkundig prächtig verstanden, verursachte leichtes Magengrummeln bei Faust. Und das grüne, schwabbelige und vermutlich sündhaft teure Ding, das in seiner Suppe schwamm, machte die Sache nicht besser.
„Denkst du nicht auch, Desmond?“
Faust fuhr zusammen.
„Hm? Ich war gerade zu beschäftigt mit dem grünen schwabbeligen Ding in meiner Suppe.“
„Naganiere“, erklärte Lady Helena unbeeindruckt. „Winter erzählte mir gerade, dass du kürzlich den Bund für Leben geschlossen hast. Es kam dir nicht zufällig in den Sinn, dass ich mich freuen würde, meine Schwiegertochter kennenzulernen?"
Er warf Winter einen bitterbösen Blick zu, den seine Gefährtin mit einem koketten Grinsen erwiderte.
„Ich bin nicht verheiratet“, knurrte er. „Wenn ich jedes Mal ein Gelübde abgelegt hätte, wenn eine Scheiß-Welle über meinem Kopf zusammengebrochen wäre, dann wäre ich schon in Ehefrauen ertrunken. Es war ein Versehen – ein missverstandenes Inselvolk-Ritual, weiter nichts.“
„Du hast also unfreiwillig geheiratet.“
Irgendwie brachte sie es fertig, alles als lächerlich hinzustellen, was er sagte.
„Was ist mit Euch?“, wandte sie sich an Winter. „Seid Ihr vergeben?“
Winter dachte fieberhaft nach. Offenbar wurde ihr gerade bewusst, dass sie keinen blassen Schimmer hatte, was mit dem Piratenkapitän geschehen war, den sie sich zuletzt geangelt hatte.
Schließlich entschied sie sich für: „Ich denke nicht. Mein letzter Ehemann kam vermutlich während der Zauberpest ums Leben.“
„Der letzte? Dann war er nicht der erste? Was ist mit den anderen passiert?“
Jetzt war es an Faust zu grinsen.
„Mein… äh… mein vorletzter Ehemann kam ebenfalls ums Leben.“
„Oh“, sagte Lady Helena amüsiert. „Hörst du das, Desmond. Wenn du das nächste Mal unfreiwillig heiratest, solltest du Acht geben, dass Winter nicht deine Braut ist.“
„Das werde ich, keine Sorge.“
„Dann lasst uns anstoßen.“ Sie erhob ihr Glas. „Auf tote und unerwünschte Ehegatten!“

Grimwardt
Abtei des Schwertes, am nächsten Morgen.
Keuchend hielt sich Sir Silas mit dem Eisenhandschuh an der Umzäumung des Übungsplatzes fest und Grimwardt konnte aus den Augenwinkeln erkennen, wie sich die Lippen des Verwundeten im stummen Gebet bewegten. Während Grimwardt zum nächsten Hieb ansetzte, sammelte der Ritter noch einmal all seine Kraft und stieß sich mit einem Kapfesruf von der Umzäumung ab. Er bewegte sich schnell und sein Schwerthieb war auf die ungeschützte Armhöhle des heranstürmenden Gegners gezielt. Doch in diesem Moment trafen sich die ersten Sonnenstrahlen im Eisenblatt der erhobenen Streitaxt des Kriegspriesters. Geblendet verfehlte Sir Silas seinen Gegner. Beinahe im selben Augenblick krachte Grimwardts Streitaxt gegen seinen Schwertarm und brach ihm den Unterarm. Seine Waffe fiel klirrend in den Staub. Im nächsten Moment ließ ein Kniehieb in die Magengrube den Ritter zusammenbrechen.
„Ich… erkenne Euren Sieg an“, winselte der Besiegte mit schmerzverzerrter Grimasse. „Tempus hat entschieden: Ihr seid… Priestergeneral der… Abtei.“
Grimwardt beugte sich mit einem zufriedenen Grummeln zu ihm herab und legte ihm die Hand auf den gebrochenen Arm, um den Bruch zu heilen. Dann half er dem Besiegten auf die Füße. Sein Blick glitt zu einem der Fenster im zweiten Stock des Hauptgebäudes, doch Lady Zia, die den Kampf aus sicherer Entfernung beobachtet hatte, war verschwunden.
Lass dich hier bloß nie wieder blicken, dachte der Priester düster.  
Dann fiel ihm auf, dass etwas nicht stimmte. Wieso war es so still? Die Kunde vom Zweikampf zwischen dem alten und dem neuen Priestergeneral hatte sich natürlich wie ein Lauffeuer herumgesprochen und niemand in der Abtei schien an diesem diesigen Frühlingsmorgen etwas Besseres zu tun zu haben als um den Übungsplatz herumzustehen und die Kämpfenden zu begaffen. So sehr sich Grimwardt auch über die lasche Arbeitsmoral ärgerte, die sich unter Sir Silas’ Leitung in den Abteialltag geschlichen hatte, so seltsam erschien es ihm doch, dass der lästige Applaus, der für gewöhnlich auf ein Duell folgte, ausblieb. Und das Licht! War das wirklich die aufgehende Morgensonne, die so hell erstrahlte, dass sie alle Umstehenden blendete?
Plötzlich ging ein Raunen durch die Menge und einer nach dem anderen fiel auf die Knie. Sir Silas war der erste, der, den Blick auf etwas hinter Grimwardt gerichtet, einen heißeren Schrei ausstieß und dann zu Boden sank, und alle anderen taten es ihm gleich, bis Grimwardt der einzige war, der noch stand. Selbst Faust, der das Bein für gewöhnlich vor nichts und niemandem neigte, sank – wenn auch nicht ganz freiwillig, wie es Grimwardt schien – in eine tiefe Reverenz.
Der Priester wandte sich um: Die Gestalt bewegte sich schweren, metallenen Schrittes von Norden her auf die Abtei zu. Nichts in ihrem Weg, weder die Bäume noch die Wehrmauer, konnte ihren Trott bremsen – selbst der Wald und die Steine wichen voller Ehrfurcht vor ihr zurück. Sogar die Gesetze der Perspektive schienen für sie nicht zu gelten, denn sie wurde kleiner statt größer, je näher sie kam: Als sie am Waldrand auftauchte, überragte sie noch die Baumwipfel, doch als sie schließlich ihr Schild neben Grimwardt in den Boden rammte, befanden sie sich auf Augenhöhe. Der schwer gepanzerte Kämpe riss sich den Helm vom Kopf: Eine dichte, schwarze Mähne fiel auf seine Schultern hinab und umrahmte ein Gesicht, das so von Narben entstellt war, dass es der Kraterlandschaft von Kriegersruh glich. Und aus dieser Kraterlandschaft blickten zwei stahlblaue Augen geradewegs in Grimwardts Seele.
Sein Herzschlag setzte aus und er verlor den Boden unter den Füßen.
Er hat den Helm abgenommen! Er hat mich in sein Gesicht blicken lassen!
„Erhebe dich, Grimwardt Fedaykin.“
Seine Beine gehorchten, während er noch in einem Rausch aus Ehrfurcht und banger Erwartung gefangen war.
„Grimwardt Fedaykin“, sagte Tempus mit einer Stimme, die schon ganze Landstriche zerklüftet hatte. „Du bist der treuste und mächtigste meiner Diener, die derzeit auf Faerûn wandeln. Die Welt hat sich verändert in den Jahren, in denen du im Strom der Zeit gefangen warst. Die Zuversicht in die Götter schwindet seit Mytras Tod. Die Auserwählten der Götter, ob gut oder böse, haben diese Welt verlassen. Die Zeit ist gekommen für neue Helden, um die Geschichte Faeruns zu formen. Du wirst einer dieser Helden sein. Ich will dich zu meinem Auserwählten machen und einen Teil meiner Göttlichkeit auf dich übertragen. Doch mein Geschenk kann auch zum Fluch werden. Mein Ruhm wird deiner sein, doch sollte ich vernichtet werden, so wirst du mit mir fallen und das Schicksal der Sieben Schwestern teilen. Ich frage dich darum: Grimwardt Fedaykin, Priestergeneral der Abtei des Schwertes, bist du bereit mein Gesandter auf Erden sein, sodass deine Entscheidungen zu meinen werden, dein Ruhm zu meinem und deine Niederlagen zu meinen?“
Wenn ich in diesem Moment sterben würde, ich würde es nicht einmal merken, war der einzige Gedanke, zu dem Grimwardt fähig war.
Doch er sagte mit fester Stimme: „Ja, Herr, ich bin bereit. Und ich werde Euch nicht enttäuschen.“
„So sei es.“
Tempus legte ihm die Hand auf die Schulter und Grimwardt spürte, wie die Berührung sein ganzes Wesen erfüllte und etwas Göttliches von ihm Besitz ergriff, das ihn auf alle Zeit mit dem Gott verband. Er keuchte auf.
Als er die Augen öffnete, war Tempus verschwunden. Kein Lüftchen rührte sich und niemand regte sich. Starre, ehrfurchtsvolle Blicke waren auf Grimwardt gerichtet.
„Aber…“, durchbrach in diesem Moment Fausts irritierter Einspruch die Stille. „Ich bin der Auserwählte!“
Das löste die Anspannung. Irgendwer verpasste dem Querkopf einen Schlag in die Rippen und tosender Jubel brandete auf.
„Was kniet ihr hier alle im Staub?“, knurrte Grimwardt, als der Rummel sich ein wenig gelegt hatte. „Los, zurück an die Arbeit, aber plötzlich!“

Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 22. Dezember 2010, 02:42:48
Hihi! Seeeeeehr cool! Hätte nicht gedacht, dass du daraus so viel machen kannst! Echt, toller Beginn. Und auch die "Achse des Guten" taucht auf!  :wink:
Lustiger Weise könnte sogar das nächste Buch mit Drake anfangen, fällt mir grade auf...
Bin gespannt auf mehr!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 22. Dezember 2010, 21:53:50
Boah, Wahnsinn, ist das gut geworden!!!

Ich musste hier im Drake-Prolog lachen:
"Selbst durch vier geteilt, brachte die Plünderung eines Drachenhorts noch mehr ein als er in einem Monat verdienen konnte."
Der Gedanke, dass ein durchschnittlicher Drachenhort gute vier Drake-Monatsgehälter beinhaltet...*ggg*
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 22. Dezember 2010, 23:14:24
Ja, haben ja jetzt ein paar Drachennamen und grobe Richtungen herausbekommen  :twisted:
Mir ist gerade die (bewusste oder unbewusste) Parallele zum Irakkrieg und so aufgefallen. Andererseits liest man das natürlich in sehr viele Sachen rein. (vor ner Woche noch in Geschichte auf 300 angewandt)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 23. Dezember 2010, 14:47:51
Naja, ist halt so allgemein einer "flag follows trade" Strategie nachempfunden: Staaten durch Handelsdominanz so abhängig machen, dass die politische Übernahme (ob tatsächlich oder inoffiziell) nur noch ne Formsache ist. Aber durch das Setting und die Sandfürsten hats natürlich wirklich viel vom Irakkrieg ;-)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 27. Dezember 2010, 17:16:17
Ich freu mich schon auf mehr... :)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 05. Januar 2011, 02:58:54
Oh ja... dann gehts jetzt bald ab in die Wüste, hm? Oder kam da noch was dazwischen? Die Abenteuer von Grimmi in Rabenklippe kamen doch danach...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 09. Januar 2011, 21:41:29
Kann ich mir ne Fortsetzung der Geschichte schonmal zum Geburtstag wünschen? ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 10. Januar 2011, 02:26:36
Also dann: Alles Gute zum Geburtstag, Nightmoon  :)

Kapitel II: Seelenmelodie  

Winter

Vier Wochen später im Nordosten der Anauroch.  

Sie weiß, was geschehen wird, doch sie kann es nicht aufhalten. Sie folgt dem Handlungsfaden ihrer Vision wie eine Marionette. Die Kämpfenden sind gesichtslose Schatten im Sand, der Schlachtenlärm ein verschwommenes Hintergrundrauschen. Ihr Blick findet Scarlets roten Haarschopf und sie ruft ihren Namen. Ihre Tochter wendet sich um - im selben Moment, als aus der entgegengesetzten Richtung der schwarze Reiter heranrast und sein Schwert stoßbereit über die Schulter hebt.
„Winter!“
Keuchend fährt Winter herum. Die plötzliche Bewegung reißt sie aus ihrer Vision. Blinzelnd blickt sie sich um: Sie steht in Desayeus‘ Spiegelsaal. Dorien harrt neben ihr, den Blick starr auf die Bilderfolge im Spiegelglas gerichtet. Die Schatten ihrer Vision huschen über sein Gesicht wie Schlangen aus rotem und gelbem Licht.
„Du musst etwas tun“, sagt er tonlos. „Sie ist unsere Tochter.“
„Ich kann nicht“, erwidert sie hilflos. „Nicht ohne Magie…“
Abrupt wendet er ihr den Blick zu.
„Sieh hin“, fordert er.
Sie schließt kurz die Augen, dann zwingt sie ihren Blick zurück auf die Bilder im Spiegel. Ihr zukünftiges Ich rennt auf Scarlet zu, wie Dutzende Male zuvor. Doch diesmal ist etwas anders als sonst. Sie ist schneller als zuvor und erreicht ihre Tochter einen Lidschlag eher. Als das schwarze Schwert auf Scarlet niederfährt, murmelt sie einen Zauber und Mutter und Tochter verschwinden und tauchen an einem fernen Strand wieder auf. Als Scarlet sich zu ihrer Retterin umdreht, wendet diese den Kopf ab… und Winter blickt in zwei schwarze, pupillenlose Augen.

Schweißgebadet fuhr Winter aus dem Schlaf. Es war nicht der erste Traum dieser Art seit sie die Wüste betreten hatten.... Vorsichtig, um Miu nicht zu wecken, die eingeigelt neben ihr schlummerte, hob sie die Zeltöffnung an und kletterte ins Freie.
„Du bist zu früh“, bemerkte Faust, der vor dem Männerzelt Wache hielt und sein Schwert wetzte.
„Geh ruhig...“, murmelte sie. „Ich kann ohnehin nicht wieder einschlafen.“
Offenbar hatte sie nicht ganz das Zittern aus ihrer Stimme bannen können, denn Faust hielt in seiner Arbeit inne und hob stirnrunzelnd den Kopf. „Alles in Ordnung?“
Sie nickte matt. „Nur schlecht geträumt.“
Er begriff, dass sie allein sein wollte, und verzog sich in sein Zelt.
Winter stützte den Kopf auf die Knie und versuchte sich auf die Stille der Wüstennacht zu konzentrieren, um das Hämmern in ihrer Brust zu beruhigen. Jenseits des Lichtkegels, den das Lagerfeuer warf, war die Nacht rabenschwarz - schwärzer als Winter sie in Erinnerung hatte. Für gewöhnlich verlieh ihr magischer Blick ihr die Fähigkeit im Dunkeln zu sehen. Doch nicht hier in der Wüste, wo das magische Gewebe zu beschädigt war und die Schattenmagie der Umbranten jede andere Form von Magie unterdrückte. 
Blind, dachte Winter. Hier bin ich eine Blinde.
Es war nicht gerecht! Ihre Magie war Teil ihres Wesens - dieser magielose Ort nahm ihr die Seele! Faust hatte sein Schwert und sein Glück, Grimwardt seine Axt und seinen Glauben und Miu ihr Vertrauen in ihre Mission, aber sie… sie war nichts an diesem Ort. Und ausgerechnet hier würde sich ihr Schicksal – ihres und das ihrer Tochter – entscheiden. Der Gedanke erfüllte sie mit ohnmächtigem Zorn.
Heimlich, ohne das Wissen ihrer Freunde, hatte sie versucht, das Schattengewebe anzuzapfen. Sie spürte seine Präsenz instinktiv, so wie sie Mystras Gewebe immer gespürt hatte, doch wann immer sie sich auf die Strukturen des Schattengewebes zu konzentrieren versuchte, verwirrten sich ihre Gedanken, zogen sie tiefer und tiefer in einen Strudel der Trugbilder und Illusionen. Und dann waren da die Träume… Shars Art, ihr das unbefugte Eindringen in ihr Schaffenswerk heimzuzahlen. Doch sie konnte sich nicht Shar verschreiben. Lange hatte sie geglaubt, es sei ihre Abscheu vor dem, wofür die Göttin der Finsternis stand, der sie daran hinderte. Doch das stimmte nicht, erkannte sie nun. Schon dadurch, dass die Göttin ihr den Schlüssel zum Schattengewebe verwehrte, beschnitt sie die Macht, die Winter für sich beanspruchte. Es war ihr Verdienst, ihre Magie… Shar hatte keinen Anteil daran. 
Plötzlich spürte sie, dass sie nicht mehr allein war. Ein menschlicher Schatten hatte sich lautlos in das tanzende Muster gestohlen, das die flackernden Flammen auf den Sandboden malten. Ein Umbrant! Winter sprang auf, doch ehe sie einen Warnruf ausstoßen konnte, trat der Fremde ins Licht. Behutsam, ohne Hast, hob er die Hände zum Zeichen, dass er unbewaffnet war. 
„Nicht, Winter“, sagte er ruhig. „Ich bin hier, weil ich mit Euch sprechen will.“
Ihre erste Einschätzung bestätigte sich nicht: Der Fremde hatte weder die gräuliche Haut noch die glühenden Augen eines Umbranten. Er war breitschultrig und groß, größer als die Bewohner Netherils, und hatte schwarzes, schulterlanges Haar, das sich am Ansatz leicht keilförmig in seine Stirn fraß. An den Seiten zogen sich silberne Strähnen durch sein Haar, die ihm Autorität verliehen, ohne ihn alt wirken zu lassen. Der Lichtschein, der unruhig in seinen Augen tanzte, bildete einen seltsamen Kontrast zu der bedächtigen Gelassenheit, die er ausstrahlte. Etwas Gefährliches, Rastloses lag in diesem Kontrast, fand Winter, ohne dass sie hätte sagen können, ob es einschüchternd oder einnehmend auf sie wirkte.
„Wer seid Ihr?“, hörte sie sich selbst fragen.
Sie wusste, es wäre klüger gewesen, seine Beteuerung zu ignorieren und die anderen zu wecken. Wer sagte, dass er nicht ein Schattenmagier in Verkleidung war? Wie, wenn nicht durch Magie, sollte er sie gefunden haben und hierher gelangt sein, mitten in die Sandwüste, ohne Reittier und Ausrüstung? Doch das, was sie misstrauisch stimmte – sein mysteriöses Auftauchen, die Aura des Machtvollen – war zugleich das, was ihre Neugier weckte.
„Mein Name würde Euch nichts sagen“, sprach der Fremde. „Aber seid versichert, dass ich weder Netheril noch der Schattengöttin diene. Ich beobachtete Euch und Eure Gefährten schon seit langem, denn ich… nun, sagen wir, ich habe ein besonderes Interesse am Wohlergehen dieser Gemeinschaft.“ Sein Blick glitt zu den beiden Zelten und ein eigenartig hartes Lächeln ließ seinen rechten Mundwinkel zucken.
„Was meint Ihr damit? Welche Art von Interesse?“
Statt zu antworten, musterte er sie lange und eindringlich, ehe er sagte: „Eure Träume sind düster in letzter Zeit. Die Unbeständigkeit der Magie bereitet Euch Angst. Ich bin hier, um Euch ein Geheimnis zu verraten, dass Eure Sorgen mindern kann… wenn Ihr es hören wollt.“
Argwöhnisch zog sie die Schultern hoch. „Zu welchem Preis?“
Wieder dieses unheimliche Zucken in seinem rechten Mundwinkel. „Den Preis bestimme nicht ich, Winter…“ Er trat näher ans Feuer. „Das Schattengewebe ist nur ein Medium, das es den Göttern ermöglicht, sterbliche Magie unter Kontrolle zu halten. Wir können uns dieser Kontrolle nicht entziehen, aber wir sind frei, was die Wahl des Mediums betrifft. Gewebe und Schattengewebe sind nicht die einzigen magischen Netzwerke. Es gibt andere Wege, Magie zu kanalisieren.“
„Wovon sprecht ihr?“
„Seelen“, sagte er an die Flammen gewandt. „Seelenmagie ist eine Art von Magie, die mit der Schattenmagie verwandt ist. Richtig angewandt ist sie mächtiger als Gewebemagie, weil die Götter wenig Einfluss darauf haben, aber sie erfordert auch größere Opfer. Es ist nicht ungefährlich, Seelen von den Göttern zu stehlen, denn wer einmal von dieser Macht gekostet hat, findet es für gewöhnlich schwer, ihr zu wiederstehen. Und maßloser Seelenverzehr kann dazu führen, dass sich die eigene Seele… verändert.“
„Seelenverzehr…“ Winter schluckte. Plötzlich war ihr Mund staubtrocken. „Wie…?“
„Wollt Ihr es wissen?“ Er hob den Kopf und sah sie unverwandt an. „Dann kommt mit.“
Zaudernd blickte sie auf die ausgestreckte Hand, die der Fremde ihr darbot.
Seelenverzehr, die Götter bestehlen…. Sie wusste, dieses ungeheuerliche Angebot, vorgetragen mit solch unverhüllter Kaltblütigkeit, hätte sie erschüttern oder abstoßen sollen. Doch ein Teil ihres Wesens – jener Teil, der heimlich frohlockte, wenn ihre Zauber das Leben aus den Körpern ihrer Gegner saugten – erzitterte bei dem Gedanken an die Macht, die das Angebot des Fremden verhieß.
Meine Seele HAT sich bereits verändert - unwiederbringlich.
„Wartet“, sagte sie mit belegter Stimme.
Während der Fremde zurück in den Schatten glitt, weckte sie Miu und wies sie an, ihre Nachtwache zu übernehmen. Ohne auf den verdatterten Blick der Ordensschwester einzugehen, entschwand sie ebenfalls in die Nacht.
Der Fremde teleportierte mit Winter auf ein windgepeitschtes Hochplateau. Die Steine unter ihren Füßen waren scharfgeschliffen vom Wind und der Neumond enthüllte wage die Umrisse von drei kegelförmigen Felsen, die vor ihr aus dem Boden stachen. Zwischen den Felsen fand der Fremde den Eingang zu einer windgeschützten Schlucht. Etwa in der Mitte des Engpasses lagerte eine Gruppe von Strauchdieben. Nach dem Untergang der Zhentarim hatten sich viele ehemalige Zhent-Söldner zu Räuberbanden zusammengeschlossen, die von Karawanenüberfällen lebten und sich bei Anbruch der Dunkelheit in das Höhlenlabyrinth auf der Ebene der Stehenden Steine zurückzogen. Geschützt durch einen Unsichtbarkeitszauber harrten Winter und ihr Begleiter am Eingang der Schlucht und lauschten dem rauen Gelächter der angetrunkenen Banditen. Als sich einer der Männer von der Gruppe entfernte, weil er austreten musste, schnellte der Seelenmagier plötzlich vor. Ein einziger präzise ausgeführter Schlag in den Nacken ließ den Mann besinnungslos in seine Arme sinken.
„Die Seele eines Sterblichen ist unantastbar, selbst für die Götter“, erklärte der Fremde, nachdem er sein Opfer in eine Felsnische geschleift hatte. „Sie verbirgt sich im Schatten ihres Körpers – darum ist der Schatten die Schnittstelle zwischen Schatten- und Seelenmagie. Wenn ihr Träger an der Schwelle zum Tod steht, ist die Seele für die Dauer seines letzten Herzschlags orientierungslos und wird sichtbar… oder vielmehr hörbar. Und in diesem winzigen Augenblick ist es möglich sie zu binden.“ Er murmelte einen magischen Befehl und eine kleine Flamme erschien in seiner Hand und warf flackernd drei Schatten an die Felswand. Dann zückte er einen Dolch und hielt ihn Winter mit dem Griff zuvorderst hin. „Töte ihn.“
Ohne zu zögern griff sie nach der Waffe und drückte sie dem Bewusstlosen an die Kehle.
„Nicht so schnell“, hielt der Fremde sie zurück. „Sonst verpasst du den Moment. Konzentrier dich auf seinen Schatten. Wenn du seine Seelenmelodie hörst, ist es soweit. Dann trink seinen Schatten!“
Sie hob irritiert den Kopf. „Wie…?“
Wieder zuckte sein rechter Mundwinkel, doch diesmal war das Ergebnis ein beinahe sanftes Schmunzeln. „Du wirst schon sehen…“
Als sie ihrem Opfer den Dolch in die Brust stieß, gab sie Acht nicht das Herz zu treffen, damit der Tod nicht zu schnell kam. Er riss die Augen auf und stieß ein ersticktes Röcheln aus – halb zornig, halb panisch -  doch sie achtete nicht darauf. Eine betäubende Ruhe hatte Besitz von ihr ergriffen, die sie alle Empfindungen ausblenden ließ, bis sie nur noch das Pochen seines sterbenden Herzens vernahm. Als die Abstände zwischen den Herzschlägen kürzer wurden, wurde das Pochen von einem anderen Geräusch überlagert. Es erinnerte sie an das Geläut der Seelenfrüchte in der Bastion der ungeborenen Seelen, nur viel zaghafter, fast scheu. Es war wunderschön und es schien aus der Richtung des Schattens zu kommen, der schemenhaft und dreifach vergrößert über die Felswand kroch. Plötzlich ergriff sie ein düsteres, zügelloses Verlangen – sie musste dieses Klangs, dieser Seelenmelodie, habhaft werden! Etwas, das wie ein inhalierendes Zischen klang, brodelte in ihrer Kehle.  Der Schatten floss aus der Wand in ihre Augen und hinter ihrer Stirn explodierte die Wüste in einem Feuerwerk aus Farben, die sie nur aus Träumen kannte. Sie hatte nicht gewusst, dass die Nacht so bunt sein konnte! Es waren die Farben der Magie, die Zellstrukturen des Schattengewebes. Die Magie durchströmte ihren Körper wie ein wohltuender Sirup und als es in ihren Fingerspitzen knisterte, hatte sie das irre Gefühl, die Welt zerstören zu müssen, um diesem Hochgefühl standhalten zu können.
Einen Herzschlag später sank sie besinnungslos zu Boden. 

Faust
Ruinen von Phelajarama, nordöstliche Anauroch, zwei Tage später. 
 Die Sandhügel folgten ihnen. Schon als sie die alte Stadtruine betreten hatten, war Faust die erstaunliche Mobilität der sechs Dünen aufgefallen, darum war er nicht sonderlich überrascht als ein halbes Dutzend Bedinenkämpfer aus den Wanderdünen sprang, kaum dass sie den Treffpunkt – das einzig intakte Gemäuer in Phelajarama – erreicht hatten. Drei der Männer hielten Armbrüste auf die Neuankömmlinge gerichtet; der Rest zückte Schwerter und Krummsäbel. 
Nessaja“, nannte Faust ihnen das Losungswort.
Augenblicklich ließen die Bedinen ihre Waffen sinken und ein junger Halbelf trat hinter den windschiefen Mauertrümmern hervor. Er hatte rindenbraune Haut, lebhafte schwarze Augen und trug ein Federbarett, das an diesem Ort ebenso fehl am Platze wirkte wie sein höfischer Aufzug.
„Es ist also wahr!“ Die Augen des Jungen leuchteten vor Aufregung, als er in schwungvoller Kavaliersmanier seinen Hut lüftete und sich mit der Hand auf der Brust vor den Gefährten verneigte. „Die Bezwinger des Hadhrune Tanthul sind von den Toten zurückgekehrt!“
 „Laguna Lyrail, nehme ich an?“
„Derselbe“, sagte der junge Halbelf großspurig. „Welch eine Ehre, meinen Namen aus dem Munde des großen Faust zu vernehmen!“
Faust schmunzelte geschmeichelt. „Der Mund des ‚großen Faust‘ hat seit heute Morgen kein Wasser mehr zu schmecken bekommen – diesmal mussten wir leider auf die Gesellschaft eines zwergischen Kampftrinkers mit nimmerleerem Humpen verzichten…“
„Es ist nicht weit“, erklärte Laguna eilfertig. „Zarif erwartet Euch bereits mit Ungeduld… und Scarlet auch, denke ich“, fügte er ohne besonderen Nachdruck hinzu.
Die Erwähnung ihrer Tochter riss Winter aus ihrer traumtänzerischen Verklärung. Seit zwei Tagen wandelte sie durch die Gegend wie eine erleuchtete Heilige – mit unnatürlich geweiteten Pupillen und einem gruseligen Glückseligkeitslächeln auf den Lippen. Faust fand diese neuste Masche seiner Mitstreiterin noch unheimlicher als ihr düsteres vor sich hin Brüten. Es wunderte ihn ein wenig, dass Grimwardt, der doch sonst der Kritischste von ihnen war, noch keinen seiner schroffen Kommentare dazu abgegeben hatte. Doch der gestrenge Priester hatte eine erstaunliche Verdrängungsgabe, wenn es darum ging die Launen seiner Schwester zu ignorieren…
Das Versteck des Sandfürsten lag etwa fünfzehn Minuten von der Ruinenstadt entfernt inmitten der Sandwüste. Nichts wies hier auf eine menschliche Siedlung hin. Doch auf ein Pfeifsignal des Halbelfen kam plötzlich Bewegung in die Dünen, eine Zeltplane wurde zurückgeschlagen und enthüllte ein halblingsgroßes Loch im Sand – den Eingang zu einem Lager von der Größe eines Dorfes. Keine Magie stützte die Stadt im Sand, sondern nur eine ausgefeilte Pavillonkonstruktion aus Zeltplanen und Stützbalken. Faust vermutete, dass sich die D‘Tairig die häufigen Sandstürme dieser Gegend zunutze gemacht hatten: Wer kurz vor einem solchen Sturm ein Lager in der Wüste aufschlug, der musste nur abwarten, bis die Wüste ihre verhüllende Sanddecke darüber ausbreitete. So hatten der Sandfürst und seine Leute im Bestreben, den gefürchteten Luftpatrouillen der Netherim ein Schnippchen zu schlagen, das Land zu ihrer Komplizin gemacht.
Gebückt betraten die Gefährten die geheimnisvolle Welt der D‘Tairig: Dicht an dicht standen hier bunte Zelte, zwischen denen Wäscheleinen gespannt waren, an denen neben Kleidungsstücken auch klimpernde Glastalismane baumelten. Männer saßen vor den Zelten, tauschten Waren, gingen ihrem Handwerk nach oder betrachteten mit argwöhnischer Neugier die Neuankömmlinge.
Laguna führte die Gefährten zu einem geräumigen Kommandantenzelt, vor dem eine Wache postiert war. Innen saßen auf einem Teppich drei D’Tairig mit Säbeln und leichten Rüstungen. Als die Gefährten eintraten, steckten die Rebellen gerade die Köpfe über einer Landkarte zusammen, die entfaltet vor ihnen auf dem Boden lag, während sie ein wohlriechendes schwarzes Gebräu aus niedrigen Bechern schlürften. In einem mit Tüchern abgetrennten Bereich im hinteren Teil des Zelts waren drei mit Seidenschleiern verhüllte Frauen mit Mörser und Stößeln zugange: Sie zerstießen kleine dunkle Bohnen zu Pulver, das sie dann mit Wasser über einer kleinen Flamme erhitzten. Es gab nur ein schmales Abzugsrohr über der Feuerstelle – eine größere Öffnung wäre von außen zu auffällig gewesen – sodass eine beständige Dunstwolke unter dem Zeltdach hing, die alles mit ihrem nebligen Film überzog. Darum erspähte Faust erst auf den zweiten Blick eine weitere Person: Sie saß mit dem Rücken zu den Neuankömmlingen vor einer der Landkarten. Als die vier Freunde näherkamen, erhob sie sich zögernd und trat ihnen in den Weg.
Winter erstarrte für einen Augenblick, ehe sie wortlos vortrat und ihre Tochter in die Arme schloss.
Trotz aller Bemühungen, ihre weiblichen Reize unter der sandfarbenen Tarnkleidung der Rebellen zu verbergen sah Scarlet hinreißend aus. Sie war nicht gar so hochgewachsen wie ihre Mutter und von üppigerer Statur mit einem herzförmigen Gesicht, strahlend blauen Augen, sinnlichen Lippen und einer unbändigen roten Lockenmähne, die sich trotzig gegen das Quastentuch auflehnte, das sie wie Zarifs Männer zum Schutz gegen die Sonne trug.
„Mutter…“  Steif befreite sich die junge Tempus-Priesterin aus der mütterlichen Umarmung.  Ihre Miene drückte kühle Reserviertheit aus. Winter war für sie eine Fremde geworden und sie schien nicht so ohne Weiteres bereit, ihrer Mutter den Schmerz zu vergeben, den ihr Verschwinden ihr einst bereitet haben musste. „Wir sollten draußen weiterreden.“
Nachdem Mutter und Tochter das Zelt verlassen hatten, hieß Zarif seine Gäste mit einem ehrerbietigen Handgruß willkommen und ließ ihnen von dem schwarzen Gebräu einschenken, das er Kaffee nannte. Befremdet beobachtete Faust die Art, wie die D’Tairig-Frauen sich  lautlos und unbeachtet wie Geister zwischen den Männern bewegten, um den Wünschen des Sandfürsten nachzukommen.
„Wir bringen neue Lieferungen aus Myth Drannor.“ Grimwardt breitete die Edelsteine, die Nimoroth ihnen mitgegeben hatte, vor den drei Männern aus. „Die Abtei des Schwertes im Schlachtental, deren Vorsteher ich bin, könnte Euch ebenfalls Unterstützung anbieten. Ich dachte dabei vor allem an Eisenwaren, wenn Ihr mir sagen könntet, welche Art von Rüstungen und Waffen Ihr benötigt.“
Es folgte eine kurze Besprechung zwischen den Rebellen, die darin bestand, dass Zarif einen kurzen, prägnanten Kommentar in seiner Muttersprache abgab, woraufhin seine beiden Berater einvernehmlich nickten.
„Wir danken Euch für Euer großzügiges Angebot.“ Der Bedine wählte seine Worte mit Bedacht und sprach mit respektvoller Ernsthaftigkeit. „Jede Hilfe ist und willkommen. Kurzschwerter und Säbel eignen sich am besten für den Kampf in der Wüste – schwere Rüstungen dagegen sind in der Hitze nur eine Last. Aber was wir noch dringender benötigen sind erfahrene Kämpfer. Nur die wenigsten meiner Männer sind im Kampf geschult – die meisten sind Handwerker oder Viehtreiber. Die größte Ehre würdet Ihr uns erweisen, wenn Ihr Euch uns anschließen würdet. Hier in der Wüste sind Eure Namen Legenden. Nichts, was wir tun, kann sich mit dem messen, was Ihr bereits erreicht habt.“
„Ihr meint die Vernichtung der Netherrollen?“ Grimwardt schnalzte mit der Zunge. „Hm… das waren andere Voraussetzungen. Solange der Hochprinz von Umbra und seine Söhne sich in ihrer fliegenden Stadt verschanzen, gibt es an sie kein Herankommen. Telamonts Luftfestung ist praktisch uneinnehmbar. Eine Belagerung kommt nicht in Frage – nicht allein wegen ihrer Lage, sondern auch weil genug Vorfälle bekannt sind, bei denen Telamont die Stadt einfach an einen anderen Ort versetzte.“
„Man müsste ihm einen Schlag versetzten, den er nicht ignorieren kann…“, sagte Faust versonnen. So wie der Tod seines Sohnes. Der Sandschlund, den der Herr von Umbra ihnen damals als Antwort geschickt hatte, war ein Zeugnis purer arkaner Wut gewesen. Wenn es ihnen noch einmal gelänge, ihn derart herauszufordern, wäre das womöglich ein Anfang…
„Wenn es jemanden gibt, der Telamont aus der Reserve locken kann, dann seid Ihr das“, nahm Zarif den Gedankenfaden auf. Er sprach ein paar kurze Sätze in seiner Muttersprache, worauf er auch dieses Mal das notorische Nicken seiner beiden Marionetten erntete, und wandte sich wieder an die Gefährten. „Es gibt womöglich etwas, das Ihr tun könnt, um sein Augenmerk auf Euch zu ziehen. Vor zwei Tagen misslang ein Anschlag meiner Männer auf einen hochrangigen Kriegsherrn und Diplomaten der Netherim. Wir hatten die Kampfstärke des Ziels unterschätzt. Einer meiner Männer, mein Bruder Sayid, wurde gefangengenommen und in eine Garnison nahe der Oase Siab verschleppt. Vermutlich wird man ihn dort foltern, um unser Versteck ausfindig zu machen. Eigentlich war beschlossen, dass wir Scarlet und den Halbelfen mit dieser Sache betrauen. Doch wenn Ihr – Telamonts alte Widersacher - meinen Bruder befreien und den Diplomaten ausschalten könntet, würde Telamonts Ansehen in Umbra in größerem Maße darunter leiden.“
Ehe einer der beiden Freunde darauf eingehen konnte, hörten sie von draußen Scarlets wütenden Protestruf: „Was hast du dir gedacht?! Dachtest du, du kannst nach zwölf Jahren hier aufkreuzen und mir vorschreiben, wie ich mein Leben zu leben habe?“ Faust und Grimwardt wechselten einen nüchternen Blick: Das Mutter-Tochter-Gespräch verlief offenbar ganz wie erwartet.
Kurz darauf wurde die Zeltluke geöffnet und Winter stapfte mit hochrotem Kopf herein und warf Zarif einen kleinen Beutel vor die Füße, der prall mit Edelsteinen gefüllt war. Stirnrunzelnd sah er auf.
„50,000 Gold“, sagte Winter. Sie war so aufgebracht, dass sie alle Regeln der Ehrbarkeit fahrenließ. „Dafür, dass Ihr meine Tochter gehenlasst. Sagt Ihr, sie wird hier nicht länger gebraucht.“
Die Züge des Bedinen verhärteten sich und er erhob sich mit steifer Würde. 
 „Dass wir die Hilfe von Freunden annehmen, bedeutet nicht, dass wir käuflich sind.“ Er maß Winter mit abschätzigen Blicken. „Ich verfüge nicht über Eure Tochter.“
„Oh, aber über Eure eigenen Frauen verfügt Ihr schon, wie?“, konnte Faust sich nicht verkneifen zu murmeln und erntete dafür einen missbilligenden Blick von Grimwardt.
„Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun!“
„Ihr spracht gerade von Eurem Bruder“, beeilte sich der Priester das Gespräch wiedereinzurenken, ehe ein handfester Streit aus Winters Erpressungsversuch erwachsen konnte. „Was könnt Ihr uns zu dem Umbranten sagen, der das Ziel des Anschlags war?“
Nur widerwillig folgte der Sandfürst dem Themenwechsel und sein Tonfall machte deutlich, dass es mit seiner Hochachtung für die Helden nicht mehr weit her war. „Sein Name ist Fürst Xantes Faredad, ein Streiter der Schattengöttin. Als meine Männer ihn überfielen, war er gerade auf dem Rückweg von einer diplomatischen Mission in den Talländern.“
Grimwardt erhob sich.
„Wir werden Euren Bruder aus den Händen dieses Mannes befreien und sicherstellen, dass Euer Versteck unentdeckt bleibt“, versprach er. 

Grimwardt
Kurz darauf.
„Lass das Hüpfen sein, Kleiner“, kommentierte Faust Lagunas hoffnungslos überambitionierte Imitation eines Faust’chen Schwertmanövers. Der junge Halbelf ließ sich von der Kritik nicht aus dem Konzept bringen. Konzentriert preschte er vor, den Säbel stoßbereit über die Schulter erhoben. Und er war gut! Nicht nur führte er seinen Stoß blitzschnell und kraftvoll aus, es gelang ihm sogar, aus Fausts Reichweite zu tänzeln, ehe der erprobte Kämpfer zurückschlagen konnte.
„Nicht schlecht“, lobte Faust. „Austeilen kannst du – jetzt wollen wir mal sehen, wie viel du einstecken kannst.“
Laguna strahlte vor Stolz – doch das Strahlen verging ihm, als Faust mit seiner gepolsterten Keule auf ihn zu schnellte und ihn mit einer schonungslosen Prügelserie überzog, die ihm vor Übelkeit einen blassen Ring um die Nase zeichnete, ehe er besinnungslos in den Sand sank.   
„Wollt Ihr sein Können testen oder ihn vor dem ganzen Lager demütigen?“, rief Scarlet erbost, die beim Übungskampf mit ihrem Onkel weitaus glimpflicher davongekommen war. Besorgt beugte sie sich über ihren ohnmächtigen Freund und begutachtete – fürsorglicher als sie es sich gestattet hätte, wäre er bei Bewusstsein gewesen – Lagunas malträtierte Gliedmaßen.
„Sprich nicht so mit einem Vorgesetzten“, wies Grimwardt seine Nichte zurecht. Doch insgeheim gab er ihr Recht. Komm bloß nie auf die Idee, diesen Irren auf deine Rekruten loszulassen, mahnte er sich selbst. Mit einem nüchternen Räuspern klopfte er Faust auf die Schulter.
„Ich schätze, du wirst den Jungen tragen müssen, wenn wir die Sache heute noch erledigen wollen. Den weckt so schnell nichts wieder auf.“ 
Der Sandfürst hatte vorgeschlagen, dass die beiden jungen Leute sie auf ihrer Mission begleiten sollten, da sie sich besser in der Umgebung auskannten. Sogar Winter hatte dem zugestimmt – offenbar beruhigte es sie, Scarlet in ihrer Nähe zu wissen. Bis zur Oase Siab, wo Zarifs Bruder gefangen gehalten wurde, war es etwa ein Tagesmarsch. Sie brachen sofort auf, denn sie wollten noch in der kommenden Nacht angreifen. Grimwardt ergriff die Gelegenheit, die der lange Marsch ihnen bot, um seine Nichte von den neusten Ereignissen in der Abtei zu unterrichten. Nur die Episode, da Tempus ihm erschienen war und ihn zu seinem irdischen Vollstrecker gemacht hatte, ließ er aus. Das ehrfürchtige Schweigen, das für gewöhnlich auf diese Offenbarung folgte, war nicht gerade gesprächsfördernd.
„Manchmal bereue ich es, dass ich fortgegangen bin, ohne meine Priesterweihe empfangen zu haben“, gestand ihm Scarlet ein wenig wehmütig. „Aber… ich hatte das Gefühl, dass es nicht Tempus‘ Wille ist, dass ich dortbleibe und zusehe, wie Silas und diese Hexe die Talländer ans Messer liefern. Er würde feige Kapitulation niemals dem offenen Kampf vorziehen.“
„Du hast richtig gehandelt“, sagte Grimwardt nicht ohne Stolz auf die priesterliche Klarsicht seiner Nichte. Dann räusperte er sich. „Scarlet…ähm… was hat deine Mutter dir erzählt?“
„Das Übliche“, sagte sie säuerlich. „Dass ich in Gefahr sei und sie mich am liebsten in Watte packen und in das Kloster dieser schweigenden Ordensschwester irgendwo ans Ende der Welt verfrachten würde... Nicht mit diesen Worten, aber darauf läuft es wohl hinaus.“
„Hat sie dir auch gesagt, weshalb sie glaubt, dass du in Gefahr bist?“
„Seit wann braucht sie einen Grund, um hinter jedem Sandhügel einen Attentäter zu wittern?“
„Deine Mutter glaubt, ich werde dich töten.“
Jäh blieb Scarlet stehen und wich unwillkürlich einen Schritt zurück.
„J-jetzt gleich…?“, stotterte sie vor lauter Verwirrung.
„Orkdreck“, brummte ihr Onkel, legte ihr den Arm um die Schulter und zog sie mit Nachdruck weiter. „Es ist diese vermaledeite Prophezeiung.“ Und er erzählte ihr von den Spiegeln des Desayeus und Winters Furcht vor dem, was sie ihr offenbart hatten.
Scarlet zog grübelnd die Stirn in Falten, ehe sie entschieden den Kopf schüttelte. „Das ist absurd. Wir führen einen Krieg gegen das mächtigste Imperium Faerûns. Ich bin hier jeden Tag in Lebensgefahr, aber dass ausgerechnet du mein Schicksal besiegeln solltest, ist einfach… lächerlich.“
„Das habe ich ihr auch gesagt.“
„Na dann verstehen wir uns ja“, brummte Scarlet und der störrisch-verschlossene Ausdruck, mit dem sie die Nase krauszog, erinnerte ihn so sehr an sich selbst, dass Grimwardt schmunzeln musste.
„Sag mal“, wechselte er ungelenk das Thema. „Wie … ähm… sieht es eigentlich aus mit dir und den Männern?“
Sie verzog verdrießlich das Gesicht.
„Oh, bitte, nicht du auch noch… Weißt du, wie viel Mühe es mich gekostet hat, von den D‘Tairig nicht als Frau, sondern als Sandkämpfer wahrgenommen zu werden. Eine Liebesaffäre ist wirklich das letzte, was ich gebrauchen kann, wenn ich nicht entweder unter dem Schleier oder unter der Peitsche enden will… Ich hatte eigentlich vor, ein Keuschheitsgelübde abzulegen, so wie du, aber ich habe mich dagegen entschieden. Ich meine, vielleicht ist es mal von Vorteil zu heiraten… politisch, meine ich.“
Grimwardt sah sie überrascht an. „Sicher, dass du die Tochter deiner Eltern bist?“
Zwei Stunden nach Einbruch der Dunkelheit erreichten sie ihr Ziel.
Die Ebenheit der Steinwüste an diesem Ort machte es notwendig, dass sie Deckung hinter einem Hügel suchten, sodass sie die Oase in der Ferne nur erahnen konnten. Die Garnison am Ufer des Wasserlochs, die wohl als Zollstation für vorbeiziehende Karawanen genutzt wurde, war kaum mehr als ein fensterloser Steinklotz. Die Zinnen erhoben sich keine drei Mannslängen über dem Boden. Mehr war nicht nötig, um das kahle Umland zu überblicken, auf dem allenthalben ein paar niedrige Wüstensträucher Sichtschutz boten.
„Wie gut ist der Stützpunkt bewacht?“, fragte Grimwardt.
„Zwei bis vier Schützen auf dem Dach und vielleicht ein oder zwei Shar-Priester“, erwiderte Scarlet. „Für mehr bietet die Garnison keinen Platz. Ich war ein paar Mal bei der Eroberung eines Oasen-Stützpunktes dabei. Die Einnahme ist der einfachste Teil. Schwierig wird es erst, wenn die Umbranten mit ihren Veserab-Luftpatrouillen anrücken, um den Stützpunkt zurückzufordern.“
„Und das Ziel?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich sehe keine Zelte, darum wird Fürst Xantes wohl im Gebäude sein. Die Gefängniszellen sind im Keller.“
Faust blickte abschätzend zu den Zinnen hinüber, dann stieß er Laguna an.
„Hey, Kleiner. Wie schnell kannst du rennen?“
Der Halbelf blinzelte ihn unsicher an. Er war immer noch ein wenig grün um die Nase.
„Was hast du vor?“, brummte Grimwardt.
„Die Brustwehr ist so niedrig, dass ich springend dort hochkommen sollte. Ich schlage vor, ich lenke mit Laguna die Schützen ab, während du die Tür einrennst und dir diesen Botschafter vorknüpfst.“
So wurde es beschlossen.
Pfeile hagelten surrend durch die Nacht, kaum dass Faust und Laguna die Deckung verlassen hatten. Die anderen warteten, bis die beiden im Schatten der Garnison verschwunden waren, dann gab Grimwradt das Zeichen und sie rannten los. Mit einem Axthieb zerschmetterte der Kriegspriester das Eisenschloss des Eingangstors und fiel sprichwörtlich mit der Tür ins Haus. Ein Kerl in Mönchskutten, der ihm in den Weg trat, wurde gnadenlos niedergemäht. Irgendwer stieß einen Fluch aus und als Grimwardt seinen Kopf in Richtung der Stimme ruckte, erblickte er einen kahlköpfigen Umbranten, der über eine am Boden liegende Bettrolle hinweg nach seinem Schwert griff. Die Bewegung fegte die Kerze von dem niedrigen Tisch, an dem er gearbeitet hatte, und es wurde stockfinster. Plötzlich spürte Grimwardt einen surrenden Luftzug an seiner Kehle und dann… Ihm blieb nicht einmal Zeit für einen letzten Atemzug oder die Erkenntnis, dass etwas im Begriff war, seinen Kopf vom Rumpf zu trennen.

Faust
Nachlässig zog Faust einen Pfeil aus seiner Schulter. Das Geschoss war nicht einmal bis zum Muskel vorgedrungen. Dann verschränkte er die Arme zu einer Räuberleiter und half Laguna mit einem Ruck über die Brustwehr. Faust nahm Anlauf, sprang ihm nach und hievte sich mit einem kraftvollen Klimmzug über das Gemäuer. Als er sich auf die andere Seite gleiten ließ, hatte Laguna bereits seinen ersten Gegner überwältigen können. Zwei weitere versuchten den jungen Schwertkämpfer in die Zange zu nehmen, doch es gelang ihm immer wieder, die geöffnete Luke im Boden zwischen sich und seine Gegner zu bringen. Faust beschränkte sich aufs Zuschauen und darauf einen der Soldaten im Nacken zu packen und gegen das Mauerwerk zu stoßen, als er zufällig in seine Reichweite stolperte. Nach wenigen Augenblicken war der Kampf vorüber.
„Du hast echt was drauf, Junge“, bescheinigte Faust dem jungen Kämpfer. „Aber du musst unbedingt dieses Rumhüpfen sein lassen.“
Scarlets entsetzter Schrei, der von unten zu ihnen herauf drang, ließ ihn jäh innehalten: „Onkel Grim!“ Es folgte undeutliches Gemurmel und dann war es für einen Moment totenstill. Die Stille wurde vom Geräusch schwerer Schritte durchbrochen und wenige Augenblicke darauf tauchte der kahle Kopf eines Umbranten in der Bodenluke auf. Ohne erkennbare Hast trat Xantes Faredad aufs Dach und zog eine schwarze Schwertklinge aus der Scheide, die von einem magischen Knistern umspielt wurde. Eine handgroße Narbe, die sich quer über sein Nasenbein zog, und ein kostbarer Umhang, auf dem Shars schwarze Sonne prangte, zeichneten den Umbranten als gestanden Gotteskrieger aus.
„Wer seid Ihr und was wollt Ihr?“, fragte der Fürst mit tiefer, emotionsloser Stimme.
„Euch“, knurrte Faust und packte sein Schwert fester. Keine Zeit, sich auf ein Verhör einzulassen. Er musste herausfinden, was dort unten geschehen war. Wo waren die anderen?
 „Mach, dass du verschwindest“, raunte er Laguna zu und griff an.
Schon nach dem ersten Schlagabtausch spürte er, dass er seinem Gegner unterlegen war. An jedem anderen Ort wäre es umgekehrt gewesen: Die Schwerthiebe des Umbranten waren kraftvoll und von finsterer, göttlicher Energie beseelt und seinem Schwert schien mächtige Schattenmagie innezuwohnen, doch in der Verteidigung verließ er sich völlig auf seine magisch verstärkte Ritterrüstung. Hätte er seine Zauber zur Hand gemacht, so wäre es Faust ein Leichtes gewesen, diesen Schwachpunkt seines Gegners gegen ihn zu verwenden. Doch unter den gegebenen Umständen konnte er nicht verhindern, dass die Angriffe des Umbranten ihn immer weiter zurückdrängten, bis er schließlich mit dem Rücken gegen die Brustwehr stieß. Ein gut gezielter Hieb in die Nierengegend besiegelte schließlich seine Niederlage. Als er mit der freien Hand nach der Wunde tastete, spürte er, wie ein warmer Blutschwall zwischen seinen Fingern hervorquoll. Faust bekam weiche Knie und musste sich am Gemäuer abstützen, um gegen den Schwindel anzukämpfen. Im selben Moment erspähte er aus den Augenwinkeln den jungen Halbelfen, der von der Seite heran schnellte, um den Umbrantenfürsten aus dem Hinterhalt zu attackieren.
„Laguna, nicht!“, brüllte Faust. Vor Schreck vergaß er die Hand auf die Wunde zu pressen. Ein weiterer Blutschwall trat aus und das Schwindelgefühl obsiegte.
Verdammter kleiner Trottel, dachte er, während er der Dunkelheit entgegen schlitterte.

Winter
Nordwestlicher Hochwald.
„Miu, tu irgendwas!“, rief Winter in Panik.
Während ihr eilig gewirkter Teleportationszauber ausklang, zog Winter den Kopf ihres Bruders in ihren Schoß und versuchte verzweifelt die Blutung zu stillen, doch der Blutstrom, der sich aus seiner aufgeschlitzten Kehle ergoss, wollte einfach nicht abklingen. Miu blinzelte ein paar Mal orientierungslos, ehe sie die Situation erfasste und sich eilig zu Grimwardt ins Moos kniete. Stumm erbetete sie den mächtigsten Heilzauber, den sie kannte… und rettete ihm das Leben.
Grimwardt schwankte ein wenig, als er sich aufsetzte.
„Wo sind wir?“, fragte er matt. Sein Gesicht wirkte gespenstig weiß im Mondlicht.
„Die Frage ist wohl eher, ‚wie sind wir hierhergekommen?“ Scarlet vermied es, ihrer Mutter in die Augen zu sehen.
Der Kriegspriester runzelte misstrauisch die Stirn. „Was hat das zu bedeuten, Winter?“
„Wollt Ihr mich gleich vor Gericht zerren?“, murmelte sie. „Oder wollt Ihr wenigstens warten, bis Faust und Laguna in Sicherheit sind?“
Augenblicklich verschwand der überlegene Ausdruck aus Scarlets Zügen.
„Wir müssen zurück!“, flüsterte sie mit angstvoll geweiteten Augen.
„Du bleibst hier“, entschied Winter gebieterisch.
Ehe ihre Tochter Protest einlegen konnte, packte sie Grimwardt beim Arm und teleportierte mit ihm zurück in die Wüste. Sie tauchten im Nachtschatten der Garnison auf. Die Szene, die sich im Mondlicht zwischen den Zinnen abspielte, versetzte sie erneut in Schrecken: Faust lehnte leblos am Gemäuer, während Laguna mit leidenschaftlicher Wucht auf den Umbranten einschlug. Er schaffte es sogar, die Ritterrüstung des Gotteskriegers zu durchdringen, doch das entfachte nur dessen kalten Zorn. Erbarmungslos fuhr das Schwert des Umbranten auf den Jungen nieder.
Ein schwarzes Schwert…
Etwas regte sich in ihr, als die Vision die Wirklichkeit überlagerte. Ihre Panik war verschwunden und an ihre Stelle trat jenes Hochgefühl, das sie in der Nacht des Seelenraubs verspürt hatte. Sie wandelte wieder auf der anderen Seite – im Reich der Schatten – wo keine diesseitigen Regungen ihr etwas anhaben konnten. Ihre Umgebung wirkte verschwommen, doch ihre Gedanken waren niemals klarer gewesen. Entschlossen sprach sie die Worte eines Schutzzaubers, gefolgt von einer Illusion, die sie Platz und Aussehen mit Laguna tauschen ließ. Die schwarze Klinge prallte wirkungslos an ihrem Schutzzauber ab. Flüchtig streifte ein erstauntes Blinzeln die Augen des Streiters, der nicht damit gerechnet hatte, dass der schmächtige Junge seinem Angriff standhalten würde. Doch er reagierte schnell, indem er dem bewusstlosen Faust das Schwert an die Kehle presste, um ihn zu seiner Geisel zu machen. Faust sah hundeelend aus: Seine Lippen waren grau und seine Lider flackerten im Fieber. Er hatte so viel Blut verloren, dass es ein Wunder war, dass er überhaupt noch lebte.
„Waffe fallen lassen und zurücktreten“, befahl der Umbrant mit Nachdruck. Winter ließ ihren Zauberstab, der in den Augen des getäuschten Gegners die Gestalt von Lagunas Krummsäbel angenommen hatte, zu Boden gleiten und machte einen Schritt zur Seite. Schritte polterten auf der Treppe und einen Augenblick später erschien Grimwardt mit erhobener Axt auf dem Dach. Fürst Xantes verstärkte den Druck auf Fausts Kehle. „Du auch! Waffe runter! Wo sind die drei Frauen? Was wollt ihr und für wen arbeitet ihr?“
Keine Antwort.
Der Umbrant nickte grimmig. „Ich werde euch schon zum Reden bringen. Los, die Treppe runter. Schön langsam.“
Halb schleppte, halb zerrte er seine Geisel vor sich her, während er Winter und Grimwardt in den Keller des Gebäudes dirigierte. Dabei wich seine Klinge nicht von Fausts Kehle. Vor einer verriegelten, eisenbeschlagenen Tür hielt er inne. Umständlich durchtastete er seine Kleidung, fand den Schlüsselbund und warf ihn Grimwardt zu, der am vordersten stand.
„Aufschließen.“
In einer Ecke der Gefängniszelle harrte ein Gefangener, ein junger D‘Tairig mit schwarzem Bart und hohlwangigem Gesicht. Seine Augen waren geschwollen und sein rechtes Ohr war nur noch ein blutiger Beweis für Xantes‘ Folterkünste. Erst nachdem er Grimwardt und Winter in die Zelle manövriert hatte, stieß Fürst Xantes auch Faust zu ihnen in den Raum. Dann verriegelte er die Tür.
Ein düsteres Lächeln stahl sich auf Winters Lippen, als sie wieder ihre eigene Gestalt annahm. Mit einem Dimensionssprung setzte sie dem Umbranten nach, der jäh herumwirbelte.  Doch er war nicht schnell genug. Winters Verdorren-Spruch traf ihn unvorbereitet. Mit nie gekannter Heftigkeit schleuderte der Zauber den stählernen Kriegsherrn gegen die Wand und verwandelte ihn innerhalb eines Lidschlags in einen blutleeren Leichnam.
„Was… bist du?“, krächzte er, während sich seine Hände unkontrolliert zuckend im Mauerwerk verkeilten.
Mit blutunterlaufenem Blick beugte sich Winter zu ihm herab, um seinen Schatten zu trinken… Als sie wieder zu sich kam, stand ein Ausdruck des puren Grauens in den aufgerissenen Augen der Leiche.
„Winter? Ist die Luft rein?“
Lagunas banges Wispern holte sie in die Wirklichkeit zurück. Plötzlich war der Rausch verflogen und was blieb, war ein flaues Gefühl im Magen. Winter blinzelte, um die Schatten aus ihren Augen zu vertreiben.
Wie konntest du so unvorsichtig sein, schalt sie sich selbst. Wenn Grim dich dabei gesehen hätte!
Ihr Gesichtsausdruck verriet nichts von ihren Gedanken, als sie sich zu Laguna umwandte, der mit einer Schriftrolle auf dem Treppenabsatz erschienen war: „Alles in Ordnung?“
„Ich… ja“, antwortete der Junge zerstreut. „Grimwardt wies mich an, mich zwischen den Schlafrollen zu verbergen. Dabei fand ich etwas - ein Schreiben… Es ist auf Alt-Illuskisch verfasst, ich verstehe nicht alles, aber es klingt wichtig.“
Winter und Laguna befreiten die anderen aus ihrer Zelle und teleportierten mit ihnen zurück in den Hochwald, wo sie Scarlet und Miu zurückgelassen hatten. Nachdem sich Miu Fausts Wunden angenommen hatte, ließen sie sich von Sayid den Inhalt des Briefes übersetzen. Darin informierte Xantes seinen Vorgesetzten über das misslungene Attentat und Sayids Gefangennahme, um seinen ungeplanten Aufenthalt in der Oase Siab zu erklären. Doch es war der Teil, der darauf folgte, der Winter aufhorchen ließ. 
Die Audienz bei Fürst Myriam Buchenwald verlief wenig zufriedenstellend. Der störrische alte Mann verweigert sich nach wie vor einem Handelsbündnis mit dem Imperium. Euren Anweisungen folgend arrangierte ich darum ein Treffen mit dem Kapitän der Sturmhexe, um ihm einen Kaperbrief für einen Überfall auszustellen, der noch heute Nacht erfolgen soll. Das Narbental ist von den Pestjahren und der Zeit der Zhentarim-Besetzung gebeutelt und dem völligen Ruin nahe: Die Furcht vor den Freibeutern wird uns den Seehafen über kurz oder lang in die Hände spielen. Und wenn wir erst Narbental-Stadt gebeugt…“ An dieser Stelle brach das Schreiben ab.
„Der Kapitän der Sturmhexe?“, fragte Grimwardt stirnrunzelnd.
„Joe“, bestätigte Winter. „Mein Ehemann.“
„Seit wann lässt er seine Überfälle durch Netheril legitimieren?“
Sie zuckte die Schultern. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass Joe noch am Leben war, doch seine Machenschaften erstaunten sie nicht sonderlich. Der Piratenkapitän kannte weder Anstand noch Ehre, wenn es ums Geschäft ging. Der Grund, weshalb die Heiratsschwindlerin ihn zum Mann genommen hatte, waren die Schatzkartentätowierungen, die seinen Oberkörper schmückten. Vielleicht bot sich ja nun die Gelegenheit, Joes Geheimnis auf die Schliche zu kommen…
„Auf jeden Fall sollten wir uns beeilen“, murmelte Faust, der noch immer ein wenig schwankte. Ohne Winters Magie wäre diese Begegnung für sie alle tödlich ausgegangen, doch Winter ahnte, dass weder Grimwardt noch Scarlet diese Erklärung gelten lassen würden. „In dem Brief ist von einem Überfall die Rede – heute Nacht im Narbental. Was immer da vor sich geht, es passiert jetzt!“
„Wir kommen mit!“
Energisch packte Winter ihre Tochter beim Arm, um ihren Enthusiasmus zu zügeln.
„Oh nein!“, erklärte sie. „Siehst du die Lichter dort zwischen den Bäumen? Das ist Silbrigmond, dort wohnt deine Großmutter. Sie ist krank, alt und allein und sie hat ihre Enkelin seit zwölf Jahren nicht gesehen. Du wirst dir jetzt Laguna und den Bedinen schnappen und dann werdet ihr deine Großmutter besuchen!“
„Öhm…“, wagte Laguna zaghaft einzuwenden, doch Winters furioser Blick ließ ihn den Einwand hinunterschlucken.
„Nichts da, die drei kommen mit uns“, erhielten die jungen Leute unerwartete Unterstützung. Grimwardt trat an Scarlets Seite. „Unser Auftrag lautet, Zarifs Bruder zu befreien und ihn sicher ins Lager zurückzubringen. Ich werde den Jungen nicht aus den Augen lassen, ehe mein Wort dem Sandfürsten gegenüber eingelöst ist.“ Und mit einem grantigen Raunen, das nur für Winters Ohren bestimmt war, fügte er hinzu: „Und was deine neuen, magischen Fähigkeiten angeht: Darüber sprechen wir noch!“
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 10. Januar 2011, 03:16:51
 :thumbup:
DANKE!!! Wiedermal sehr schön! Der Shoppingtripp davor wäre auch echt nicht lesenswert gewesen  :D
...Ja, da hab ich glaube ich zum ersten Mal um Fausts Leben gebangt, aber zum Glück hat Winter ja ein unausschlagbares Angebot angenommen...  :wink:
Freue mich schon auf mehr!!!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 10. Januar 2011, 18:34:28
Uuuuhhhaaarrrg, das war eine gruselige Episode.
Sehr schön geschrieben! Wie praktisch, wenn ein Geburtstagsgeschenk nicht nur den Beschenkten erfreuen kann :-)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 20. Januar 2011, 17:41:40
Oha, die "Achse des Guten" hat einen neuen Look! Gefällt mir :-).
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 21. Januar 2011, 01:47:19
Yep, und n Gästebuch gibts jetzt auch ...oder n Blog, what ever...
Sag mal, wärs denn eigentlich echt OK für dich, wenn du nächste Woche wieder leitest? Ich liebe die Kampagne über alles, aber du warst jetzt ja so oft dran gewesen, also wenns dir zu viel wird, dann zieh ich noch irgendwas ausm Ärmel! Hast ja immerhin auch noch anderen Kram zu tun... z.B. schöne neue Kapitel schreiben ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 21. Januar 2011, 01:58:25
Eine Sitzung werde ich wohl noch füllen können, besonders da die Kämpfe ja immer ziemlich viel Zeit in Anspruch nehmen. Aber danach werd ich als SL erst mal ein paar Monate Pause machen, da ich noch kein neues Abenteuer und auch keine Zeit habe, eins auszuarbeiten... Kapitel schreiben geht immer  :D... aber auch das im Moment etwas langsamer...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 31. Januar 2011, 20:55:34
So! Das Spielen hat mir wieder sehr gut gefallen, auch wenn die Endschlacht nachher durch die voranschreitende Müdigkeit echt zäh war! Ja, und die Entwicklungen, auch die der Charaktere werden immer interessanter!  :twisted:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 03. Februar 2011, 06:50:37
Ich fand die Situation zu komisch, als Faust, Hades und Nimi zusammengetroffen sind. Wann hat man das schon mal, dass drei der eigenen Charaktere auf einem Fleck sind - zumal die unterschiedlicher nicht sein könnten.

Magie verdirbt den Charakter, möcht ich übrigens sagen. Für mich ist es so schwierig, Early einen auch nur halbwegs bösen Anstrich zu geben, und bei Winter lief es unweigerlich darauf zu, je mächtiger sie wurde. Das macht die Magie. Meine These.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 03. Februar 2011, 11:38:34
Ja, Hades und Nimi zusammen ist aber auch einfach schon toll denk ich. Die hätten riesen Spaß  :D
Zumindest wenn man viele Möglichkeiten der Magie hat. Durch dein Schicksal hast du ja schließlich jetzt auch Zugriff auf ne Menge Zauber. Und wenn man eh schon verdammt ist, naja, was solls. :twisted:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 03. Februar 2011, 12:38:37
Ich hätte da noch ne andere Theorie, was den moralischen Verfall in der Gruppe angeht: Macht korrumpiert... Gesinnungen zu Anfang der Kampagne: Nimoroth - neutral gut, Grim - chaotisch neutral (gut?), Winter - chaotisch neutral, Dorien - chaotisch gut. Gesinnungen gegen Ende der Kampagne: Faust - chaotisch neutral (Seele verkauft) , Winter - neural böse (Seelen getrunken), Grim - rechtschaffen neutral (leicht fundamentalistsch)... und wer weiß, in welchem moralischen Zustand ihr Miu zurück bekommt ;-). Und eure epischen Bekannten sind auch alle moralisch fragwürdig (Hades, Elijas, Tyrael, Nachtmond, Drake, der Sarrukh, Ares). Da fragt man sich, was aus der Welt noch werden soll *f-sl-g*
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 03. Februar 2011, 12:56:42
Tja, wenn wir uns nur noch in Gegenden mit Feen und Einhörnern aufhalten würden, ja, dann könnten wir wieder auf die gute Schiene rutschen, aber wenn man die retten will die man liebt, und das nur kann in dem man seine eigene Moral oder Seele opfert, dann muss das halt sein  :D
Bin ja mal gespannt, wie die Story demnach auch immer düsterer wird von Kapitel zu Kapitel ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 04. Februar 2011, 21:10:39
Ich werd hibbelig, sagen Sie mal, Frau Spielleiterin und Autorin, wann gehts denn weiter? So als vorgezogenes Karnevalsgeschenk?

Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 04. Februar 2011, 22:23:55
Seit wann gibts zu Karneval Geschenke? Glaubt ihr, das funktioniert jetzt jedesmal? ;-) Sorry, aber ich komm im Moment irgendwie überhaupt nicht zum Schreiben. Sieht in den nächsten Wochen erst mal mau aus...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: G4schberle am 04. Februar 2011, 22:39:05
Möp!
Ja schreib malwieder was. ^^
Hab die ersten 200-und Seiten schon durch. Liest sich gut zwischen Mathe-Prüfungsvorbereitung und E-Technik. >_-


Reinhaun.

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Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 04. Februar 2011, 23:06:28
Hat alles Niobe aus verschiedenen Bildern gebaut. Also auch ihr Verdienst! ...Ist aber auch wirklich sehr cool!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 04. Februar 2011, 23:19:09
Ja, keine Kostüme, nur ein gutes Bildbearbeitungsprogramm ;-)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 14. Februar 2011, 18:07:41
Oh, so lang ists her... und es dürstet uns doch so sehr nach der Fortsetzung der Geschichte...  :)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 14. Februar 2011, 20:56:04
Auf den Zug spring ich auf... ::)
Nicht, dass ich drängeln will, aber ich freu mich doch schon so auf das nächste Kapitel!!!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 23. Februar 2011, 11:25:20
Hach ja... Samstag wird wieder ein Kapitel enden... freu mich schon!
Oh, könntest du vielleicht auch noch die Werte von dem General in der Wüste posten? Der war ja kein Zuckerschlecken...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 23. Februar 2011, 17:53:46
Hey,
Ein neues Kapitel gibts noch nicht, aber es ist in Arbeit ;-)

Xantes Faredad, HG 22
Kämpfer 2/ Kreuzritter 16/ Kleriker 1/ Meister exotischer Waffen 1
RB Humanoider Externar (Umbrant)
INI: +1 (+5 mit Zeichen)
Sprachen: Handelssprache, Netherese
Sinne: Dunkelsicht
ST 30, GE 12, KO 22, IN 12, WE 13, CH 24
Defensive:
TP: 261
RK: 21 (23), Berührung 15, auf dem falschen Fuß 20 (22) (Rüstung 6, GE 1, Ablenkung 4, (Schildzauber 2))
Schnelle Heilung 2
Zauberresistenz 31
Immunität: kritische Treffer (Stellung, wenn keine Bewegung)
Rettungswürfe: ZÄH +27, REF +12, WIL +19  (1x/Tag ein RW neu; Mettle)  
Offensive:
Bewegungsrate: 9m
Voller Angriff
In der Anauroch (GAB(19) +Volk(2) + Counterstrike (5) +Waffenfokus (1) +Smite (7) +ST (10) +Heftig (9))
+25/+20/+15/+10 (1W10+56/19-20/x2)
Außerhalb der Anauroch (wie oben + Göttliche Anmut + Ergebenheit des Rechtschaffenen)
+32/+27/+22/+17 (1W10+63/19-20/x2)
GAB +19, RAB +29
Klerikerzauber (ZS 1)
1.Grad (3)
Schild des Glaubens (1min)
Zeichen (10min)
Zauberähnliche Fähigkeiten
Schattenweg (alle 2 Runden Dimensionstor als Bewegungsaktion)
Schattenbilder (3x/Tag wie Spiegelbilder)
Schattenwandel (1x/Tag Teleportation oder Ebenenwechsel auf Schattenebene)
Licht beeinflussen
Manöver und Stellungen
Stellung
Strength of Stone (ignoriert kritische Treffer)
Manöver
Ancient Mountain Hammer (+12W6 Schaden, keine SR)
Covering Strike (schnell, bei erfolgreichem Angriff können Gegner für 3 Runden keine Gelegenheitsagriffe machen)
Mountain Tombstone Strike (+2W6 KON)
Strike of Righteous Vitality (Heilung bei erfolgreichem Angriff)
Divine Surge (+8W8 auf einzelnen Angriff)
Talente: Umgang mit exotischen Waffen, Waffenfokus, Heftiger Angriff, Göttliche Anmut, Ergebenheit des Rechtschaffenen (+7 auf Angriff oder Schaden für 1min, ÜF), Zusätzliches Niederstrecken (7x)
Klassenfähigkeiten
Kleriker:
Untote vertreiebn (ÜF) 10x/Tag
Crusader
Steely Resolve (AF): damage pool 15
Furious Counterstrike (AF): +3 auf Angriff und Schaden, solange damage pool noch voll ist
Indominable Soul (ÜF)
Zealous Surge (AF)

Smite 16x/Tag (AF)
Fertigkeiten: Bluffen +14, Beruf (Waffenschmied) +5, Diplomatie +28, Entdecken +21, Konzentration +25, Motiv erkennen +21, Springen +27
Magische Gegenstände (Schattenmagie): Henkers-Bastardschwert des mächtigen Niederstreckens +1, Brustplatte +1, ST-Handschuhe +4
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 28. Februar 2011, 12:23:12
So, war ja ein schönes Ende des Abenteuers! Werde in Zukunft bestimmt auch noch oft durch das Portal gehen und etwas über die dortigen "Götter" erfahren...
Und jetzt freu ich mich erstmal auf den nächsten Hafen ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 28. Februar 2011, 13:13:44
Ich dachte, um was vom dortigen Chinesen zu holen... ;-)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 28. Februar 2011, 13:43:34
Oh ja, das vor allem! ...Vielleicht treffe ich da ja auch den Todd der Goten...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Zophael am 28. Februar 2011, 18:49:36
*lol* Das ist mal ein Pscho-Five wert  :lol:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 07. März 2011, 04:08:53
Es fehlt ein Abschnitt zwischen diesem Kapitel und dem letzten: Ich habe darum den letzten SH-Post editiert.


Kapitel III: Die Pestberührten  

Grimwardt
Narbental, Talländer.
Ein rotes Glühen lag über der Hafenstadt am Drachengriff. Rauchschwaden krochen schleichend durch die Gassen und überall erklangen die panischen Rufe der Fliehenden. Der Rauch wurde dichter, je näher die Gefährten dem Wasser kamen und das Atmen fiel zunehmend schwer. Grimwardt wies die Jüngeren an, die Stadtwache bei den Bergungs- und Löscharbeiten zu unterstützen. Den Rest belegte Winter mit einem Flugzauber.
Am Hafen erwartete sie ein Bild der Verwüstung. Die Handelsschiffe, die in der Hafenbucht vor Anker lagen, brannten ebenso lichterloh wie die Lagerhallen und Wirtshäuser, die sich um den Hafen drängten, und der flackernde Feuerschein erhellte den eigenartigen Kampf, der sich im Zentrum der Bucht abspielte: Flankiert von zwei schlanken Militärschiffen in Gefechtsstellung, harrte ein klobiges Gebilde im Wasser, das Grimwardt erst auf den zweiten Blick als das Wrack der Sturmhexe erkannte: Eine dicke Kruste aus Korallen und blau schimmernden Polypen zog sich über den Rumpf des Schiffes, die Masten und sogar die Überreste der Segel. Das Piratenschiff erweckte den Anschein, als sei es gesunken und habe jahrzehntelang auf dem Grund des Meeres gelegen, ehe es von einer übernatürlichen Kraft an die Oberfläche zurückgezerrt worden sei. Und es schien zu leben! Dort, wo die Geschosse der beiden Karacken die Bordwand durchdrangen, trat schwarzer Schleim wie Blut aus dem Rumpf des Schiffes, das sich mit Galionsstößen und Masthieben gegen die Angriffe der Hafenwache wehrte. Dabei ächzte und knurrte das Piratenschiff wie ein verwundetes Tier.
Winter zückte ihren Zauberstecken und schleuderte einen grünen Auflösungsstrahl auf das Ungetüm. Doch der zerstörerische Strahl zerbarst beim Auftreffen auf das blaue Leuchten des Korallenpanzers. Ein magischer Rückstoß traf eines der beiden anderen Schiffe und der Kampfeslärm wurde überlagert vom Getöse berstenden Holzes und den Schreien der Matrosen, die sich in Panik von dem sinkenden Schiff stürzten.
„Zauberleuchten“, murmelte Faust betroffen.
Offenbar waren Joe und seine Piraten der Zauberpest ein wenig zu nah gekommen. Unbändige Magie musste die Verwandlung bewirkt und Winters Strahl abgelenkt haben. Grimwardts Schwester kniff düster die Lippen zusammen und flog näher ans Geschehen heran, einen weiteren Zauberspruch bereits auf den Lippen. Grimwardt war für einen Augenblick zu fassungslos, um sie aufzuhalten. Was hatte sie vor? Hatte ihre Magie nicht gerade erst ein Schiff der Hafenwache versenkt? Winter kannte die Gefahren unbändiger Magie!
„Grim!“
Faust wies auf einen der Uferdämme, wo Grimwardt die Verursacher des Hafenbrandes entdeckte: Die Seehexe Sycorax,  ebenso pestverwandelt wie das Schiff, schwebte hoch über der Verwüstung und blies magischen Wind über die entflammten Hafengebäude in Richtung Stadtmitte. Ihre Augen waren hohle Löcher in einem entstellten Korallengesicht. Auf dem Kai unter ihr tobte ein wüster Kampf zwischen dem Rest der Piratenmannschaft und den Soldaten der Stadtwache. Die Piraten waren in der Unterzahl, doch dem Grauen, das die wahnwitzigen Gestalten in den Verteidigern entfachten, hatten die Soldaten nichts entgegen zu setzen.
Faust enthauptete die Seehexe mit einem einzigen Schlag seiner Henkersklinge, ehe er sich Joe vornahm, der wild und wirr mit zwei Scherenhänden um sich schlug. Grimwardt hielt derweil auf zwei Pestberührte mit unnatürlich vergrößerten Mäulern mit zwei Reihen messerscharfer Zähne zu: die Werhai-Zwillinge Ray und Roy. Sie kämpften wie im Wahn, ohne Koordination und Taktik, und nur die Korallenpanzer verhinderten, dass sie gleich beim ersten Schlag zu Boden gingen. Doch selbst als abzusehen war, dass er seinen Gegnern überlegen war, machten sie keine Anstalten sich zurückzuziehen. Plötzlich jedoch, wie auf ein geheimes Zeichen hin, hielten sie inne. Der Priester setzte den Werhaien nach, als sie über einen Anlegesteg zu fliehen drohten, doch sie retteten sich mit einem Sprung ins Wasser. Als er am Ende des Stegs innehielt, erkannte Grimwardt, woher der stumme Befehl gekommen war: Die Sturmhexe hatte begonnen sich in schwerfälligen Kreisen um die eigene Achse zu drehen. Die Bewegung ließ konzentrische Wellenringe durch die Hafenbucht zittern, die das Wasser zu den Dämmen abdrängten. Immer schneller grub sich das unförmige Schiff in die Tiefe, immer schräger ritt es auf den Wellen des Strudels, der nun auch die unversehrte Militärkaracke ergriffen hatte. Winter feuerte unablässig Zauber um Zauber auf den Schlund ab, der sich unter ihr auftat. Doch der Malstrom zog die beiden Schiffe in die Tiefe und die Wellen fluteten die Uferdämme und sogen alles und jeden ins Meer, der sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte. Grimwardt selbst blieb dank des Flugzaubers von den Wassermassen verschont.
„Magie?“, fragte er, als Winter schwebend neben ihm auftauchte. Sie nickte.
Der Priester brummte nachdenklich in seinen Bart hinein. Wenn ein mächtiger Meereszauber die Flucht der Sturmhexe ermöglicht hatte, wer hatte ihn gewirkt? Das Schiff selbst? Was hatte das zu bedeuten? War das Korallenschiff eine Art monströses Meerungeheuer mit eigenem Willen? Konnte die Zauberpest solch weitreichende Veränderungen bewirken?  
Sie kehrten fliegend zu Faust und Miu zurück. Der Kämpfer harrte im hüfttiefen Wasser der sich zurückziehenden Flut. Mit einer Hand umklammerte er einen Vertäuungsring, um nicht von der Strömung davon getrieben zu werden, mit der anderen hielt er den Haarschopf des bewusstlosen Piratenkapitäns über Wasser, den es wie einen nassen Sack zum Meer hinzog.
„Die Verwandlung ist unheilbar“, rief er ihnen entgegen. „Miu hat es versucht.“
„Erledige ihn“, sagte Winter. Ihre Stimme klang matt und erschöpft, doch ohne Bedauern.
Zwiespalt schnitt sirrend durch die Luft.
„Seht mal.“
Winter wies auf den abgetrennten Kopf in Fausts Griff: Mit dem Tod begannen sich die Pestbeulen zurückzubilden, die sein Gesicht in eine Korallenbank verwandelt hatten. Winter beeilte sich den davon treibenden Körper aus dem Wasser zu fischen und mit Fausts Hilfe auf einen der höher gelegenen Dämme zu hieven. Dann zückte sie Schreibfeder und einen Papierbogen und begann die drei eintätowierten Schatzkarten, die auf dem verstümmelten Leichnam sichtbar wurden, auf das Papier zu übertragen. Grimwardt wandte sich schaudernd ab.
„Grimwardt Fedaykin?“
Er hob den Kopf. Aus einer Traube von Wachsoldaten, die mit der Versorgung ihrer Verwundeten und der Bergung der Brand- und Flutopfer beschäftigt waren, hatte sich eine Axtkämpferin gelöst. Das göttliche Symbol auf ihrem Brustharnisch wies sie als Dienerin des Tempus aus.
„Ihr seid es wirklich! Der Erwählte des Tempus!“ Sie riss sich den Schutzhelm vom Kopf, unter dem ein Haarmopp wüster, meersalzverklebter Stoppeln hervorquoll, und sank in eine tiefe Reverenz. „Bitte, Herr, mein Name ist Ulara Axtheft Ich bin die Kaplanin von Narbental-Stadt. Wenn Ihr mir den Segen des Feindhammers erteilen würdet…“
„Gewiss...“ Grimwardt räusperte sich und sprach die rituellen Segensworte über das gebeugte Haupt der Kaplanin. Dem Segen ließ er eine Heilwelle folgen, die alle Überlebenden des Piratenangriffs ergriff, denn der Priester hatte die Erfahrung gemacht, dass die schlichte Erfahrung einer versiegenden Wunde inspirierender war als die Rede des eloquentesten Predigers.
Nachdem er seinen missionarischen Beitrag für diesen Tag geleistet hatte, ließ sich Grimwardt von der Kaplanin zum Fürsten der Stadt Narbental führen. Sie fanden Sir Myrian Buchenwald in einer der Seitengassen, die von der Hafenpromenade abzweigten. Die Flutwelle hatte die Brände in unmittelbarer Nähe zur Bucht gelöscht, doch noch immer standen zahlreiche höher gelegene Hafengebäude in Flammen. Der stämmige Ritter mit dem grausen weißen Haar koordinierte die Löscharbeiten und scheute sich nicht, selbst am Tatkräftigsten mit anzupacken. Der alte Fürst warf nur einen kurzen Blick auf Grimwardt, ehe er ihm mit einer schroffen Handbewegung einen Platz in der Löschlinie zuwies und einen Eimer zum Weiterreichen in die Hand drückte. Grimwardt schmunzelte: Der Mann gefiel ihm.
„Die verschollenen Helden“, rief ihm der alte Haudegen über den Lärm der Löscharbeiten hinweg zu. „Was verschafft uns die Ehre?“
„Der Zufall“, erwiderte Grimwardt. „Wir waren auf Mission in der Anauroch. Die Piraten wüten im Auftrag der Umbranten. Wir fanden einen Brief, der das belegt.“
„Die Umbranten!“, knurrte der Ritter. „Dachte ich es mir doch, dass Netheril dahinter steckt. Das war nicht der erste Angriff der Pestberührten, aber bei weitem der verheerendste. Zum ersten Mal wurde die Stadt selbst angegriffen. Bisher haben diese Halunken sich auf unsere Handelsschiffe beschränkt: eine Drohgebärde, wie mir scheinen will… Telamont zieht die Schlinge der Furcht enger.“
„Wieso Narbental?“, fragte der Kriegspriester. „Wenn Telamont es auf die Talländer abgesehen hat, wieso wählt er das Fürstentum aus, welches am weitesten von der Anauroch entfernt ist?“
Myrian Buchenwald lachte hart und bitter.
„Nun, was glaubt Ihr, Grimwardt Fedaykin vom Schlachtental? Weil wir das schwächste Glied der Kette sind – gebeutelt und von allen geächtet. Und noch dazu haben wir den größten Seehafen der Täler.“ Myrians Vorgänger Lashan hatte vor dreißig Jahren den gewaltsamen Versuch unternommen, die Talländer unter der Vorherrschaft Narbentals zu vereinen. Lashan hatte den Krieg verloren, doch in dessen Wirren war das Land von den Zhentarim besetzt worden, die der Fürst als Söldner angeheuert hatte. Es war Sir Myrian gewesen, der Narbental mit Hilfstruppen aus den übrigen Tälern von den Zhent-Besatzern zurückerobert hatte. Doch der Preis für die Unterstützung ihrer Nachbarn war hoch gewesen: Nach dem Befreiungskrieg hatten die Fürsten der übrigen Talländer das Fürstentum besetzt und aus Vergeltung für die erlittenen Verluste im Lashan-Krieg kaum weniger ausgebeutet als die Zhentarim vor ihnen. Seit einigen Jahren war Narbental wieder unabhängig, doch die langen Jahre der Fremdherrschaft hatten das Land an den Rand des Ruins gebracht.
„Telamont versucht, sich unsere wirtschaftliche Notlage zunutze zu machen“, erklärte Myrian. „Er lockt uns mit Handelsabkommen, um unseren Markt in Netherils Abhängigkeit zu zwingen. Das Imperium ist so verdammt reich, dass er uns den Himmel auf Erden versprechen kann. Schließlich hatte Netheril zehn Jahre lang das Monopol auf alle arkanen Produktionsgüter in Faerûn. Und ich weiß nicht, wie lange es mir noch gelingt, Telamonats Einflüsterungen zu widerstehen – erst recht nach diesen Angriff: Zwei ausländische Handelsfaktoreien sind vollständig abgebrannt, alle Güter futsch – das vertreibt uns unsere besten Investoren. Von unseren eigenen Verlusten ganz zu schweigen. Und ich habe meine Popularität beim Volk eingebüßt: Die Menschen sind die Zeit des Krieges und der Not überdrüssig und Netheril verspricht Frieden und Wohlstand.“
„Dann sind wir also zu spät gekommen“, brummte Grimwardt. „Wie können wir helfen?“
„Uns kann nur der Rat der Talländer helfen“, erwiderte der alte Fürst. „Ohne die Unterstützung der anderen Täler wird sich Narbental Netheril zuwenden. Ich kann nur hoffen, dass die Fürsten die Gefahr erkennen und das Kriegsbeil gegen uns begraben werden. Aber wenn ihr tatsächlich erpicht darauf sein solltet, einem Land zu helfen, dessen Geldspeicher so abgebrannt sind wie diese Spelunke hier, dann knöpft Euch dieses Piratenpack vor! Das letzte, was wir gebrauchen können, ist die Zauberpest in unserer Stadt!“
„Dann sind diese… Pestberührten also ansteckend?“
„Die Pestberührten nicht, nur das Zauberleuchten, wenn man in direkten Kontakt damit kommt.“
„Wer befehligt das Schiff?“, wunderte sich Grimwardt. „Die Pestberührten sind sosehr dem Wahn verfallen, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass sie sich um Kaperbriefe und Loyalitäten scheren.“  
Sir Myrian zuckte mit den Achseln. „So wie sie heute gewütet haben, könnte man meinen, Umberlee selbst gebe die Befehle.“

Faust
Am nächsten Morgen in der Vorstadt von Narbental.
Nirgendwo war Narbentals Not so offenkundig wie in den Armenvierteln vor den Toren der Stadt. Dicht an dicht drängten sich hier heruntergekommene Lehmhütten neben kümmerlichen Viehställen und vom Ufer des Flusses drang beißender Fäkaliengestank.
„Hier wohnt Eure Schwester…?“ Befremdet stakste Laguna durch den Unrat. „Erwähnte Winter nicht, dass Eure Familie wohlhabend sei?“
„Meine Familie ist… kompliziert“, murmelte Faust, während er nach dem Wirtshaus Zum Springenden Fisch Ausschau hielt. Ulara Axtheft hatte ihm geraten, in der Söldnerabsteige nach seiner Schwester zu suchen. „Wenn Ihr Claire findet, dann richtet Ihr aus, dass sie gefeuert ist“, hatte die Kaplanin grantig hinzugefügt. „Das ist schon das dritte Mal, dass sie zu einer Wachschicht nicht erschienen ist!“
Nun, da er sah, wie Claire lebte, wurde ihm flau Magen, und er bereute es, Laguna mitgenommen zu haben. Er mochte den tatendurstigen, jungen Sandkämpfer, doch wer wusste schon, in welchem Zustand er seine Schwester hier vorfinden würde. Er warf Laguna einen Seitenblick zu, um festzustellen, ob seine Bemerkung vorwurfsvoll gemeint war, doch der Junge schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Faust ahnte, was der melancholische Zug um seine Augen zu bedeuten hatte.  
„Was läuft da eigentlich zwischen dir und Scarlet?“, fragte er beiläufig.
„Hm?“ Laguna hob irritiert den Kopf und wandte ihn dann eilig wieder auf seine Stiefel, als er Fausts forschen Blick auffing. „Scarlet war nicht immer so… distanziert“, erklärte er dem Schlamm zu seinen Füßen. „Es ist diese Sache mit den Sandfürsten. Sie nimmt das alles so unglaublich ernst, dass sie darüber vergisst, wer ihre wahren Freunde sind… Für den Kampf gegen die Umbranten hat sie sich völlig den Wertvorstellungen der Sandleute verschrieben. Sie hat sogar aufgehört, ihre magischen Fähigkeiten anzuwenden, weil die Bedinen sie für Teufelswerk halten.“
„Was für magische Fähigkeiten?“
„Warum kann ich nicht einfach die Klappe halten!“, Laguna biss sich auf die Unterlippe. „Sagt ihr bloß nicht, dass ich euch davon erzählt habe!… Sie hat Zauberkräfte, doch sie muss keine Formeln oder Gesten dafür anwenden. Es sind auch keine eigentlichen Zauber, sie nannte es einmal… rohe magische Energie. Die Sandleute jedenfalls behaupten, dass das ein Zeichen für eine teuflische oder dämonische Blutlinie sei.“
Faust runzelte die Stirn. „Das ist blanker Schwachsinn! Vermutlich hat sie diese Kräfte, weil sie von zwei herausragenden Hexenmeistern abstammt. Da wäre es fast verwunderlich, wenn sie keinerlei magisches Talent zeigte.“
„Ich weiß“, seufzte Laguna.
Faust klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.
„Die bekommen wir schon wieder hin!“
Sie waren im Söldnerviertel angelangt. Vor dem Springenden Fisch musste Faust dem Inhalt eines Nachttopfs ausweichen, den eine alte Frau mit griesgrämiger Miene über das Gelände einer Seitentreppe kippte.
„Hey, pass doch auf!“, rief er zu ihr hoch. „Weißt du, wo wir eine gewisse Claire MacLancastor finden?“
„Ich hab‘ ihr doch gesagt, dass Männerbesuche tabu sind!“, geiferte die Alte. „Na was soll’s, wo ihr schon mal hier seid, könnt ihr dem Luder auch sagen, dass sie mir noch zwei Monatsmieten schuldet!“
Seufzend bezahlte Faust die ausstehende Miete und ließ sich von der Gastwirtin das Zimmer zeigen. Er musste dreimal klopfen, ehe er hinter der Tür schlurfende Schritte vernahm. Die Tür wurde einen Fingerbreit geöffnet.
„Na sag schon, wie viel schulde ich dir?“, klang eine schlaftrunkene Stimme von der anderen Seite.  
„Öhm… vielleicht eine Umarmung?“, schlug er vor.
Quietschend vergrößerte sich der Spalt. Einen Augenblick musterte Claire ihn misstrauisch aus zusammen gekniffenen, rotgeränderten Augen. Dann schien ihr Morgenkater mit einem Schlag geheilt.
„Scheiße…. Desmond?!“
„Ich fasse das mal als Ausdruck deiner Freude auf.“
Nachdem sich die Geschwister in die Arme geschlossen hatten, trat Faust zurück, um seine Schwester genauer zu betrachten. Zuletzt hatte er Claire gesehen, als sie ein kleiner Wildfang von zehn Jahren gewesen war, doch die Frau, die ihm nun gegenüber stand, war so alt wie er selbst. Sie hatte Helenas hochgewachsene Figur, doch mit den kantigen Gesichtszügen und den sehnigen, braungebrannten Oberarmen haftete ihr mehr von der derben Raubeinigkeit eines Seemanns an. Sie hielt einen Dolch gezückt, der vermuten ließ, dass sie wenig gute Erfahrung mit frühmorgendlichen Besuchern gemacht hatte. Lagunas höfische Verbeugung quittierte sie mit einem argwöhnischen Stirnrunzeln.
„Wofür hältst du mich, Kleiner?“ Dann wies sie mit einer fahrigen Geste auf das heillose Durcheinander ihres kleinen Mietzimmers. „Setzt euch.“
Faust und Laguna wechselten ein vielsagendes Stirnrunzeln: Zwischen all dem Schrott – den zerbeulten Töpfen, fadenscheinigen Kleidungsstücken, rostigen Waffen und zerfledderten Büchern – hätte nicht einmal ein ausgehungerter Halbling Platz gefunden, ohne sich einen rostigen Nagel in den Hintern zu rammen. Dennoch war Faust erleichtert: Claire schien weniger in Armut als im Chaos zu versinken – ein Familienleiden. Außerdem sah sie aus, als könne sie ein kräftigendes Frühstück vertragen.
„Lass uns ein Gasthaus suchen… Ich lad‘ dich ein.“
„Wie könnte ich da nein sagen?“
Claire füllte eine Waschschüssel, um sich prustend das kühle Nass ins übernächtigte Gesicht zu spritzen. Dann zog sie sich ungeniert vor den Augen der beiden Männer um, was Laguna die Schamröte ins Gesicht trieb.
„Wir sind auf dem Weg hierher der Gastwirtin begegnet“, erklärte Faust, der sich lässig gegen den Türrahmen lehnte. „Ich hab‘ deine Mietzahlungen übernommen.“
„Ich brauche keine Almosen, Desmond“, brummte Claire, während sie sich das nasse Haar trocken rieb.
„Sicher?“ erwiderte Faust mit einem Schmunzeln. „Die Kaplanin lässt ausrichten, dass du gefeuert bist. Du warst heute Nacht nicht da, als die Stadt angegriffen wurde.“
„Die Stadt wurde angegriffen?“ Seine Schwester hielt in der Bewegung inne. Doch dann zuckte sie flapsig mit den Schultern und fuhr mit dem Rubbeln fort. „Muss ich verschlafen haben.“
„Du hast verpennt, wie die halbe Stadt abgebrannt ist? Respekt! Das Zeug muss ich mir auch besorgen.“
„Was soll‘s! Ich bin noch immer über die Runden gekommen. Dann heuere ich eben auf einem der Handelsschiffe an oder versuche mich als Magiergehilfin. Hab‘ das Söldnerdasein ohnehin satt.“
Vielseitigkeit lag offenbar in der Familie.
„Es ist also wahr.“ Claire wandte sich zu Faust um und musterte ihn mit einem schiefen Lächeln. „Der große Held, der in Myth Drannor den Teufelsfürsten besiegte, ist nach zwölf Jahren aus der Versenkung getaucht. Weiß Mutter, dass… naja, dass sie den Grabstein wieder ausbuddeln kann?“
„Ich war bei ihr. Aber ich bezweifle, dass sie mir einen Grabstein gewidmet hat. Sie ist nicht gerade in Jubelstürme ausgebrochen.“
„Sie ist Amok gelaufen, nachdem ihr heißgeliebter Erstgeborener damals aus Rabenklippe verschwand…. Du bist wirklich ein Ork, Desmond!“ Claires derbes Lachen klang aufgesetzt, so als wolle sie damit ihre Unsicherheit kaschieren. Die Rückkehr ihres berühmten Bruders schien die flatterhafte Söldnerin in Verlegenheit zu bringen. „Du hättest sehen sollen, wie sie zum Orden lief und diesen Kelemvor-Priester zur Sau gemacht hat: Stell dir die Kollision zweier Eisberge vor, dann hast du eine ungefähre Vorstellung. Aber sie würde sich eher die Zunge rausreißen, als dir das auf die Nase zu binden, nachdem sie aus Heldengesängen erfahren durfte, dass du noch lebst! Naja, nicht dass ich es nicht nachvollziehen könnte… Scheiße, war ich froh, als ich alt genug war, diesem Tollhaus den Rücken zu kehren.“ Sie spuckte zur Bekräftigung in die Waschschüssel und blickte in die Runde. „Können wir gehen?“

Grimwardt
Kurz darauf im „Roten Reiher“.
Da der Rote Reiher eines der wenigen Gasthäuser war, die vom Feuer und der Flut verschont geblieben waren, war es hier an diesem Morgen proppenvoll. Zum Ärgernis des Wirtes, der sich bei diesem Ansturm bereits die Hände gerieben haben musste, hatte Grimwardt ein Heldenmahl erbetet, das die halbe Stadt verköstigt hätte. Mit Winter und Miu hatte er einen kleinen Fenstertisch ergattert, den sie Faust und seinen beiden Begleitern überließen, als diese im Gasthaus eintrafen. Scarlet und der junge Bedine waren noch nicht zu ihnen gestoßen. Während Fausts Schwester Claire kräftig zulangte, stand Grimwardt am Fenster und betrachtete skeptisch die drei Schatzkarten, die seine Schwester von der Leiche des toten Piratenkapitäns abgezeichnet hatte.
Die erste Karte zeigte einen Ausschnitt der Südküste Tays. Ein paar Seemeilen südlich der Hafenstadt Escalant war eine Insel markiert. Neben die Zeichnung hatte Winter zwei Verse gekritzelt:  „In der Nacht, da Nhalloth im Meer versank/ Küsste Himmelsmund das Meergesicht.“ Die zweite Zeichnung war eine Nahansicht der Insel aus der ersten: Demnach wurde der größte Teil des Eilands von den Ruinen einer alten Stadt eingenommen. Auch auf dieser Karte war ein Kreuz: Es markierte eine Stelle im Hof einer Gebäuderuine im Stadtkern. Um den Rand jener zweiten Karte wanden sich die Worte: „Nur wer falsch herum sieht, dem erschließt sich das Geheimnis von Nhalloth“ und eine Anmerkung Winters wies darauf hin, dass diese Verse im Original in Spiegelschrift verfasst waren. Die dritte Karte schließlich beschrieb den Weg durch ein unterirdisches Labyrinth zu einer Schatzkammer.
Grimwardt begriff nicht, was sich seine Schwester von diesen Karten versprach. Welches Ogerhirn ließ sich das Geheimnis um einen versunkenen Schatz auf den eigenen Leib tätowieren? Die einzige Erklärung, die Grimwardt dafür einfiel, war die, welche Joe selbst ihnen geliefert hatte: Die Karten waren ein schlechter Scherz, ein morbides Augenzwinkern, das an denjenigen adressiert war, dem die Leiche des Piraten in die Hände fiel. Allenfalls würde an dem Ort, der dort beschrieben war, eine Falle auf sie warten, aber gewiss kein Schatz! Und selbst wenn doch, war das ihrer Mission im Dienste Narbentals wenig dienlich, denn bei allem Irrsinn war die Mannschaft der Sturmhexe sicher nicht so hirnrissig, sich an einen Ort zurückzuziehen, zu dem der tote Leib ihres Kapitäns die Wegbeschreibung lieferte! Oder vielleicht doch? Spekulierten sie darauf, dass ein offensichtliches Geheimnis ihre Gegner zu genau dieser Schlussfolgerung führen würde? Andererseits war eines nicht von der Hand zu weisen: Die Tätowierungen waren im Moment ihr einziger Hinweis auf die Sturmhexe, denn die magische Ortung sowohl des Schiffes als auch der verbliebenen Mannschaft war erfolglos geblieben: Das Zauberleuchten lenkte jeden Zauber ab, der auf die Pestberührten traf.
„Nhalloth“, murmelte Grimwardt. „Was soll das sein? Ein Ort? Ein versunkenes Schiff? Wenn es sich dabei um die Stadt auf der Karte handelt, sollte sich leicht feststellen lassen, ob sie auf der markierten Insel liegt.“
„Wenn sich die Insel so einfach finden ließe“, wandte Winter ein. „Ich habe gestern Abend versucht, zu dem Ort auf der Karte zu teleportieren, doch der Zauber ist fehlgeschlagen.“
„Ein magischer Schutzschild?“
„Ich bin mir nicht sicher. Ich stieß beim Zaubern auf keine Barriere. Es war mehr so, als existiere der Ort gar nicht. Und als ich ein paar Matrosen nach einer Insel bei Escalant fragte, behaupteten sie, es gäbe an der tayanischen Südküste keine Inseln.“  
„Vielleicht ist es keine Insel mehr“, klinkte sich Fausts Schwester beiläufig in das Gespräch ein. Als sie die Blicke der anderen auf sich spürte, schluckte sie hastig einen Fleischklops herunter und fügte erklärend hinzu: „Sagtet ihr nicht, die Karte wurde vor der Zauberpest gezeichnet? Der Meeresspiegel ist gesunken, als das Zauberleuchten wütete. Escalant liegt heute meilenweit landeinwärts. Wenn der Ort vorher Teil einer Inselkette vor dem Festland war, kann es doch sein, dass er heute mit der Küste verbunden ist.“
Grimwardt warf Winter einen Blick zu und zog fragend die Brauen hoch.
„Auf die Idee bin ich noch nicht gekommen“, gab sie zu. Dann nahm sie ihrem Bruder die Zeichnung aus der Hand und reichte sie an Claire weiter. „Fällt dir sonst noch etwas dazu ein?“
Claire warf nur einen kurzen Blick auf die Karte, ehe sie den Kopf schüttelte.
„Meine Vermutung kann nicht stimmen. Die Insel ist zu weit vom Festland entfernt und das Meer ist dort zu tief. Deine Matrosen hatten recht, Winter: In dieser Gegend gibt es keine Inseln. Ich kenne die Gewässer; das müsste in der Nähe der Haifischbannmauer sein. Hab‘ vor ein paar Jahren als Gouvernante für einen aglarondesischen Handelsfahrer gearbeitet.“
„Gibt es irgendeinen Beruf, den du noch nicht ausgeübt hast?“, warf Faust scherzend ein.  
„Was ist die Haibannmauer?“, hakte Grimwardt nach. Die Welt der Seefahrer war ihm fremd und ein wenig suspekt. Er gehörte zu den Leuten, die überzeugt waren, dass die Götter den Menschen Flossen gegeben hätten, wenn sie gewollt hätten, dass sie sich die Meere Untertan machten.
„Oh, richtig, ihr ward ja die letzten zwölf Jahre…“ Claire blickte hilfesuchend zu Faust.
„…im Zeitstrom gefangen.“
„Richtig… wie auch immer. Die Haibannmauer existiert schon seit langem: Die Seeelfen von Myth Nantor errichteten sie, um ihr Reich gegen die Gewässer ihrer Feinde, der Sahuagin, abzugrenzen. Die Sahuagin brauchen den Druck der Tiefe und können in der Nähe der Wasseroberfläche nicht überleben, darum reichte die Mauer früher nicht über die Oberfläche hinaus. Kaum ein Mensch wusste überhaupt, dass sie existiert. Erst durch das Absinken des Meeresspiegels wurde die Mauer sichtbar und seither trennt sie die Alambersee von der See des Sternregens.“
„Seeelfen, Sahuagin, Myth Nantor…“, murmelte Faust. „Seit wann gehen die Völker der Meere so freizügig mit ihren Geheimnissen um?“
Claire grinste breit und schien im Stillen über ihren Bruder zu triumphieren. „Narbental ist ‘ne Hafenstadt, Desmond! Diese Dinge gehören hier nicht gerade zur Sorte ‚obskures Wissen‘. Jedenfalls nicht, seitdem die Seeelfen die Oberstadt von Myth Nantor zur freien Handelsstadt erklärt haben.“
Verblüffte Blicke. Grimwardt kannte sie sagenumwobene Unterwasserstadt der Seeelfen nur aus Mythen und Albenmärchen. Bis vor einigen Augenblicken hätte er bezweifelt, dass sie tatsächlich existierte… Die Zauberpest hatte tatsächlich die Welt verändert!
„Myth Nantor wurde an die Oberfläche gespült? Dann ist es möglich, dorthin zu gelangen?“
„Ja, viele Händler, Schmuggler und Piraten haben sich dort niedergelassen, weil die Seeelfen keine Zölle erheben und weil der Elfenschutzwall vor feindlicher Ausspähung schützt… Verdammt raues Pflaster, nach allem, was man hört.“
Die Gefährten wechselten einstimmige Blicke. Wenn es die geheimnisvolle Insel tatsächlich gab und wenn sie in der Nähe der Haibannmauer lag, dann mussten die Elfen von Myth Nantor mehr darüber wissen.
„Sieht so aus, als hätten wir ein neues Ziel!“
In diesem Moment erspähte Grimwardt Scarlets roten Lockenkopf. Mit Sayid im Schlepptau bahnte sie sich suchend einen Weg durch das überfüllte Gasthaus. Der Priester hob die Hand, um sie zu sich zu winken. Die beiden Sandkämpfer hatten ihre Ausrüstung angelegt und waren vollständig gerüstet als wollten sie noch in dieser Stunde in den Krieg oder zumindest auf Abenteuer ausziehen.
„Onkel“, begann Scarlet steif, als sie an ihrem Tisch angelangt war. „Wir brechen auf. Für deine Hilfe und die deiner Freunde möchten wir dir danken, auch im Namen Zarifs.“
Winter konnte nicht entgangen sein, dass ihre Tochter sie aus ihren Dankesworten ausschloss. Doch sie ließ sich nichts anmerken, als sie sich erhob: „Ich kann euch ins Lager teleportieren. Lasst mich nur eben…“
„Nein“, sagte Scarlet scharf. „Auf deine schwarze Magie können wir verzichten!“
„Auf meine…?“
Winter blieb die Spucke weg. Selbst Grimwardt erschreckte die kalte Verachtung, mit der Scarlet gesprochen hatte.
„Ziemlich heuchlerisch, deine Haltung, meinst du nicht?“ Faust hielt die Hände provokativ vor der Brust verschränkt und wippte leicht mit dem Stuhl nach hinten.
„Was soll das heißen?“
Faust kniff die Augen zusammen. „Bist du nicht diejenige, die vor ihren Freunden mit ihren Fähigkeiten hinter dem Berg hält, weil die sie für dunkle Magie halten könnten?“
„Was…?“ Vor Schreck wich Scarlet alle Farbe aus den Wangen und sie warf Laguna einen Blick zu, der ein Feuerelementar in Eis verwandelt hätte. „Laguna, wir gehen!“, sagte sie mit eisiger Stimme. Der junge Halbelf schluckte heftig und schien zu erwägen was schwerer wog: die Schmach, wie ein gescholtener Hund vor seiner Herrin den Schwanz einzuziehen, oder das Donnerwetter, das ihn später erwartete.
„Ihr geht nirgendwohin“, sagte Grimwardt bedächtig. „Ich habe Zarif Abu Sayama mein Wort gegeben und werde Sayid nicht aus den Augen lassen, ehe er sicher und wohlbehalten bei seinem Bruder angekommen ist.“
„Ist das ein Befehl?“, fragte Scarlet rebellisch. „Unterstützt Tempus plötzlich die Schergen Shars?“
Für einen Augenblick herrschte Stille.
Dann donnerte Grimwardt, sodass die Fenster zu erzittern schienen: „JA, DAS IST EIN VERDAMMTER BEFEHL!“
Stille.
Eingeschüchtert wandte seine Nichte den Blick zu Boden. Winter fasste ihren Bruder behutsam am Arm.
„Lass sie gehen“, sagte sie resigniert. „Ein Ritt durch die Talländer… was kann da schon passieren?“
Der Kriegspriester sah Scarlet eine Weile düster an, dann grummelte er einen Fluch und entließ sie wie einen Soldaten mit einer wegwerfenden Handbewegung. Unter den sensationslustigen Blicken der Wirtshausgäste verließen die jungen Leute den Schankraum wie drei Geächtete mit hängenden Köpfen und zittrigen Knien. Als die Tür hinter ihnen zugefallen war, schüttelte Grimwardt den Arm seiner Schwester ab und wandte den Blick zu Boden.  
„Und ist es wahr?“, brummte er mit verhaltener Stimme. „Bist du mit den Sharianern im Bund?“
„Was? Nein!“, rief Winter mit gestelzter Empörung.
Abrupt hob er den Kopf, um ihr in die Augen zu sehen.
„Dann sag mir, warum du in der Wüste deine Magie anwenden konntest!“
„Weil… keine Ahnung, ich…“ Winter schluckte. „Shar hat nichts mit meiner Magie zu tun.“
Er sah keine Lüge in ihren Augen. Oder wollte er sie nicht sehen? Plötzlich tat ihm sein Wutausbruch gegen Scarlet leid. Nicht sie hatte er…
„Wie auch immer“, brummte er. „Wir haben wirklich nicht die Zeit, uns mit diesem Kinderkram aufzuhalten!“
Damit ließ er Winter stehen und stapfte die Treppe zu ihren Quartieren hinauf.
„Scheiße nochmal“, hörte er Claire noch murmeln. „Und ich dachte, unsere Familie wäre verkorkst!“

Winter
Nachts.
Eine kalte Berührung riss Winter aus dem Schlaf. Über ihr schwebte ein Gesicht, das sie aus dunklen Augenhöhlen anglotzte. Joe! Blaue Blitze zuckten über die substanzlose Fratze des Piratenkapitäns, die sich laufend zu verändern schien, bis sie völlig von Pestnarben übersät war. Sie wollte schreien, doch sie brachte keinen Ton hervor. Sie spürte, wie der anklagende Blick der Geisteraugen bis in ihre Haarwurzeln fraß, wie er sie lähmte und dann… Eine körperlose Klaue griff nach ihrem Herzen. Wie aus weiter Ferne hörte sie Grimwardt, der einen Zauber wob. Die Magie stieß den Geist zurück und die lähmende Kälte zog sich aus der Gegend ihres Herzens zurück. Der Piratengeist stieß ein klagendes Kreischen aus, doch er widerstand dem mächtigen Priesterzauber. Eine übernatürliche Kraft presste Winter tiefer in die Kissen und sie spürte wie etwas ihren Kiefer auseinanderbog. Nun schrie sie aus Leibeskräften, doch sie konnte es nicht aufhalten: Der Geist schnellte in die Höhe und zerfloss zu weißem Nebel, der sich in ihren aufgerissenen Mund ergoss und ihr die Kontrolle über Körper und Geist entriss.

„Das ist Wahnsinn“, knurrt Ray unbehaglich und seine Stimme hallt gespenstig von den Wänden der Tropfsteinhöhle wider. Leise gleitet das schmale Beiboot mit dem Kapitän und den beiden Werhaizwillingen durch das Höhlenlabyrinth. Nur das rhythmische Plätschern der Ruder ist zu hören. Der Kapitän lässt sich seine Beunruhigung nicht anmerken, doch auch ihm steht der Angstschweiß auf der Stirn. An jeder Wegbiegung muss er sich zusammenreißen, um der Aura des Unheimlichen zu folgen, die ihn tiefer und tiefer ins Herz des Unterreiches führt. Was sie tun, IST Wahnsinn. Niemand, der bei klarem Verstand ist, wagt sich freiwillig ins Reich des Gedankenschinders. Aber Joe ist nicht bei klarem Verstand – er spürt, wie die Krankheit ihn auffrisst. Es reicht ihr nicht, dass sie seinen Körper in Besitz genommen hat: Nun greift sie nach seinem Geist – und er weiß nicht, wie lange er noch er selbst sein wird. Er hat nichts mehr zu verlieren. Doch er muss wenigstens versuchen, seine Mannschaft zu retten.
Schließlich läuft das Boot auf Grund und sie gehen an Land. Vor einer Höhle sind zwei Grimlock-Wachen postiert, die ihnen die Waffen abnehmen. Joe lässt es geschehen. Er hat nicht einmal einen Dolch im Stiefel versteckt. Er könnte ihn nicht schnell genug ziehen; die Kruste, die sich über seinen Körper zieht, hat seine Hände in  Krebsscheren verwandelt.
Die Wachen führen ihn und seine beiden Gefährten in ein unterirdisches Zauberlabor. Phosphoreszierende Flüssigkeiten, die zwischen eingelegten Körperteilen und dampfenden Tränken vor sich hin dümpeln, spenden dämmriges Licht. Im hinteren Teil der Höhle, ihnen den Rücken zugekehrt, beugt sich die große, schlanke Gestalt des Illithiden, von Schatten umflossen, über einen aufgeschlagenen Folianten. Die düstere Aura ist hier so stark, dass sie Joe die Kehle zuzuschnüren droht.
Joe. Die telepathische Stimme der Kreatur wird von einem sirrenden Fiepen begleitet, das ihm irrsinnige Kopfschmerzen bereitet. Was verschafft Uns die Ehre?
 „Morloch.“ Der Pirat räuspert sich. Trotzdem klingt seine Stimme heiser vor Angst, als er fortfährt. „Meine Mannschaft wurde von der Zauberpest überrascht. Sie hat sogar das Schiff betroffen. Und nun… Ich fürchte, dass das Zauberleuchten langsam den Weg in unsere Gedanken findet. Wenn es stimmt, was man über Euch sagt…. Wenn Ihr über Magie verfügt, die ohne das Gewebe auskommt, dann seid Ihr vielleicht der einzige, der ein Heilmittel kennt.“ Er macht eine Pause. Als die Kreatur noch immer keine Anstalten macht, sich zu ihm umzuwenden, fährt er unsicher fort. „Ich… Ich kann Euch das Geheimnis um die Karten von Nhalloth verraten. Heilt mich und ich gebe Euch den Schlüssel zu den Tätowierungen auf meinem Körper.“
Ohne Hast blättert Moloch mit den drei Tentakeln, die aus seinem Kiefer wachsen, in dem dicken Folianten. Erst als Joe glaubt, es in seiner Gegenwart nicht länger auszuhalten, wendet er sich langsam zu ihm um, doch die obere Hälfte seines Körpers bleibt weiter vom Schatten verdeckt. Kein magisches Wort dringt über seine Lippen, kein Luftflackern kündigt den Zauber an: Plötzlich gehen die Wehaizwillinge zu Boden. Lautlos sacken sie in sich zusammen.
„Bei Umberlee, was…!“
Joe schnellt vor, um dem niederträchtigen Verräter seine Scheren in den Leib zu stoßen, doch ehe er auch nur seine Anschuldigung vorbringen kann, spürt er die Berührung von zwei schleimigen Saugdrüsen an seiner Stirn. Die Augen des Piratenkapitäns erstarren in den Höhlen und seine Glieder erschlaffen. Er wütet gegen die Dunkelheit, die seinen Geist einzunehmen droht, doch er ist zu geschwächt – sein Geist zu zerfressen von der Zauberpest, um den übermächtigen Sog abzuschütteln.
Umberlee ist schon lange nicht mehr Unsere Göttin. Und den Schlüssel zu Nhalloth wirst du Uns so oder so geben, surrt die Stimme, ehe sie ihn verschlingt.

Keuchend sprang Winter aus dem Bett, die Hände bereits zu einer magischen Geste geformt. Doch da waren nur Grimwardt, der das heilige Symbol noch umklammert hielt, mit dem er den Geist vertrieben hatte, und Faust, der mit gezogenem Schwert in ihr Zimmer gestürmt kam.
„Alles in Ordnung?“, brummte Grimwardt.
Sie nickte stumm und ließ sich auf die Bettkante sinken.
„Scheint, als hätten wir ein Problem.“
Sie hob den Kopf. „Warum? Hast du Joes Geist nicht vertrieben?“
„Ich habe nur seine Verbindung zur materiellen Ebene durchtrennt“, sagte der Priester. „Geister können nicht zerstört werden. Meist sind sie gepeinigte Seelen, die eines gewaltsamen Todes gestorben sind. Sie können die Zwischenwelt, die astrale Ebene, nicht verlassen, um in die Stadt der Seelen einzugehen, solange ihre Erinnerung vom Schock ihres Dahinscheidens vereinnahmt wird. Der einzige Weg, einen Geist zu zerstören, besteht darin, das Unrecht wiedergutzumachen, das ihm widerfahren ist… oder von dem er glaubt, dass es ihm widerfahren ist.“
Klang da ein versteckter Vorwurf aus Grimwardts Stimme, weil sie keinen Versuch unternommen hatte, ihren Ehemann vor seinem Schicksal zu bewahren?
„Aber nicht wir haben Joes Schicksal zu verschulden“, sagte sie und berichtete von der Vision, die der Geist ihr eingegeben hatte.
„Hm“, brummte Grimwardt. „Offenbar will Joe dich zum Werkzeug seiner Rache an diesem Morloch machen.“
„Wieso setzt er dann alles daran, mich zu Tode zu erschrecken?“
„Geister denken nicht rational.“
„Jedenfalls erklärt das, wer die Sturmhexe und Joes dem Wahnsinn anheimgefallene Crew befehligt“, klinkte sich Faust in die Unterhaltung ein. „Vermutlich meinte Fürst Xantes den Illithiden, als er schrieb, dass er sich mit dem Kapitän der Sturmhexe getroffen habe. Aber welches Interesse könnte dieser Morloch an den Schatzkarten haben? Joe wäre ein schlechter Pirat, wenn er den Schatz nicht längst selbst eingesackt hätte.“
„Wir müssen herausfinden, was es mit diesem Nhalloth auf sich hat“, erklärte Grimwardt.
Er und Faust waren bald in eine Diskussion vertieft, die Winter nur halbherzig verfolgte. Ihr Blick hing an ihrem Bruder. Den Bruch mit Scarlet hatte sie erwartet. Vielleicht war es so das Beste: Wenn der einzige Weg ihre Tochter zu beschützen, darin bestand, sie auf Abstand zu halten, dann war der eisige Stich, den sie bei Scarlets unversöhnlichen Worten empfunden hatte, ein geringer Preis. Aber Grimwardt… Es waren nicht seine Worte, die ihr Angst einjagten, sondern die Dinge, die er unausgesprochen ließ. Er wich ihr aus – instinktiv schien er zu spüren, dass sie sich verändert hatte und dass diese Veränderung sie entzweien könnte. Als sie ihre erste Seele getrunken hatte, hatte sie an Desayeus‘ Vision gedacht, die sie verhindern musste. Sie musste ihre kleine Familie zusammenhalten, koste es was es wolle. Aber was, wenn Grimwardt herausfände, was sie war? Würde er sie verstoßen? Würde es… konnte es seinen Glauben zerstören? Würde er für sie seinen Gott verleugnen...?
… und einen neuen wählen, der ihn mit einem schwarzen Schwert durch die Wüste reiten lässt?
Plötzlich zog sich Winters Herz zusammen. Sie musste hier raus! Unter dem Vorwand, dass sie müde sei und sich in Fausts Zimmer schlafen legen wollte, verließ sie den Schlafsaal. Sie sprach einen Teleportationszauber, ohne wirklich zu wissen, wohin er sie führen würde…
Sie stand am Strand. Wellen leckten sanft nach ihren Füßen, schwollen an und wieder ab und eine sanfte Brise strich durch ihr Haar.
Meine Insel!
Der Zauber hatte sie auf die Insel im südlichen Sternregenmeer geführt, die Joe ihr zur Hochzeit geschenkt hatte. Winter schloss die Augen und atmete die warme Tropenluft ein. Es beruhigte sie, dass die Insel noch existierte… dass die Zauberpest wenigstens diesen kleinen Teil ihres Lebens unversehrt gelassen hatte…
Ziellos lief sie ein Stück am Strand entlang. Schon von weitem sah sie die beiden Holzstatuen. Aber was war mit ihnen geschehen? Sie zeigten nicht länger die Konterfeis Winters und Joes. Jemand hatte ihre Augen weiß und ihre Haut blau angemalt und ihnen spitze Ohren geschnitzt. Winter seufzte: Offenbar hatten die Eingeborenen neue Götter gefunden – nicht alles war hier beim Alten geblieben. Und was war…? Winter stutzte. Als sie das Monument erreichte, gewahrte sie landeinwärts ein eigenartiges, blaugrünes Licht. Sie teleportierte tiefer hinein ins Dickicht des Inseldschungels, näher an jenes eigenartige Leuchten…
Keuchend ging Winter zu Boden. Es war ihr Zauber – er drohte sich gegen sie zu wenden! In ihrer Vorstellung wuchs er zu etwas Monströsem an, eine Bestie, die sich brüllend ihrer Kontrolle entriss. Vor ihr, zwischen den Bäumen, schwebte eine riesige Erdscholle. Auch dort wuchsen Bäume, doch keine, die sie jemals zuvor gesehen hatte. Sie waren monströs und feindselig wie die Zauberbestie und wie sie schienen sie ganz und gar von jenem blauen Leuchten durchwoben zu sein.
Zauberleuchten!
Bevor die Bestie ihren Verstand vernebeln konnte, floh Winter zurück zum Strand. Sie hielt nicht an ehe sie den Sand unter ihren Füßen spürte und wob noch im Rennen einen Zauber, der sie zurück nach Narbental bringen sollte. Keuchend tauchte sie in der Nähe des Gasthauses wieder auf.
Vorsichtig tastete sie ihren Körper ab, doch ihr schien nichts zu fehlen… Dann gewahrte sie das kleine, sternförmige Mal auf ihrem Handballen.
Ein Pestmal.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 07. März 2011, 12:18:10
Es gibt nichts besseres, als an einem freien Tag zum Frühstückskaffee ein neues Kapitel vorzufinden. Vielen Dank :-) Morgen besorgen wir übrigens einen Rahmen für unser Kampagnenposter, und dann kommt es ins Treppenhaus...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 07. März 2011, 16:47:18
Seeeeeeeeeelfen...
Gefällt mir...wie immer ;)
Oh, und da freue ich mich auch schon wieder auf die kommenden Episoden... Grimwardts kulinarische Reise durch Rabenklippe... :D
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 23. März 2011, 19:26:07
Na, wat macht denn das nächste Kapitel so?  ::)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 24. März 2011, 08:21:51
Ist gerade im Hafen von Myth Nantor angekommen ;-)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 24. März 2011, 10:54:30
ah, dann geht sie da gleich n bisschen spazieren und finanzieren ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 05. April 2011, 19:07:32
Der Elminster-Roman den ich bei Norma gekauft habe ist leider gar nicht mal so gut. Jedes Kapitel neue Charaktere ist irgendwie blöd... dabei gibt es doch schon so eine kleine Indi-Roman-Reihe die total gut geschrieben ist und so, mit total tollen Helden und trotz höherer Machtverhältnisse als bei Elminster bleibt es die ganze Zeit spannend und gefährlich... frage mich wann diese Reihe endlich fortgesetzt wird... schmacht... :D
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 11. April 2011, 01:57:18
Kapitel IV: Krabbensalat

Faust
Eine Woche später auf der Eggenstolz, südwestliche See des Sternregens.
Hüstelnd stolperte Faust aus der Kapitänskajüte. Harte Nacht. Das Blitzen der Morgensonne, das im Osten auf den Wellen tanzte, brannte ihm in den Augen. Außerdem erinnerte sein pochender Schädel ihn unsanft an das halbe Fass Dunkelbier, mit dem er den bitteren Geschmack des Pfeifenkrauts zu betäuben versucht hatte. Dumpf zuckten wirre Bilderfolgen hinter seinen halbgeschlossenen Lidern vorüber: Die roten Gesichter der Matrosen beim Würfelspiel. Kapitän Guinges, der dicke Rauchringe in die Luft paffte. Seine Schwester, die mit jeder verlorenen Runde weniger am Leibe trug… Faust stöhnte auf und hielt sich an der Reling fest, ehe sich das Würgen, das ihn bei dieser Erinnerung packte, mit dem Grummeln in seinem Magen verbünden konnte.
„Auch endlich raus aus der Koje?“, dröhnte es aus Richtung des Bugs. Faust hob den Blick, senkte ihn jedoch schnell wieder, als der Schwindel ihn packte. Doch er musste nur dem stechenden Geruch des Pfeifenkrauts folgen, um Kapitän Guinges zu entdecken, der am Vordersteven stand und aufs Meer hinausblickte. Der alte Seebär paffte ihm einen Zug stinkende Luft ins Gesicht und klopfte ihm gönnerhaft auf die Schulter. „Hehe, hab‘ ich’s dir nich gesacht, Junge? S-tattlicher Bursche biste, aber an‘n alten Guinges kommste nich ran!“
„Ich verbeuge mich vorm Meister.“ Gerade noch rechtzeitig entsann sich Faust des osttalisischen Seemannsdialekts, den er sich von den Narbentaler Matrosen abgekupfert hatte, um dem Kapitän einen „Mann vom Fach“ vorzugaukeln. „Des Lantaner war da wohl doch was s-tärker als wie ich‘s gewohnt bin, nä?“
Die linguistische Maskerade war ein spontaner Einfall gewesen, den er allmählich zu bereuten begann. Da Myth Nantor gegen Teleportationen geschützt war, waren die Gefährten in die Stadt Sopra in Turmish gereist, um von dort aus die Überfahrt in die Elfenstadt anzutreten. Doch seit Turmish von einer Flüchtlingswelle aus den pestverseuchten Gebieten des Vilhongriffs heimgesucht worden war, herrschte im einst so gastfreundlichen Sopra eine fremdenfeindliche Stimmung. Winters fehlgeschlagener Versuch eine unfreundliche Torwache zu bezaubern, hatte sie in Konflikt mit der Stadtwache gebracht. Da kein Schiffsherr sich bereit erklärt hätte, vier stadtbekannte Unruhestifter auf seinem Schiff zu verstecken, hatten sie improvisieren und sich eine neue Identität zulegen müssen. So war es zu jener denkwürdigen Begegnung mit Kapitän Guinges gekommen. Seit Faust dem alten Haudegen aus Eggental auf dem Markt von Sopra getroffen und ihm weisgemacht hatte, etwas von Halblings-Pfeifenkraut zu verstehen, waren die beiden „dicke“ – nun ja, Faust war vor allem dicke zugedröhnt, seitdem er jede Nacht auf See in der verqualmten Kajüte des Kapitäns verbrachte. Der unerschöpfliche Vorrat an Dunkelbier aus der Familienbrauerei des Kapitäns machte die Sache nicht besser. Doch die preiswerte Reise und der Umstand, dass Faust seiner Schwester eine Stelle als Bootsmaat auf der Eggenstolz hatte ergattern können, machten den allmorgendlichen Kater wett.
„S-pürste, wie windstill es geworden is, Junge?“, paffte der alte Seebär. „Das isse Magie vonnie Elfen. Nu simma bald am Ziel.“
Faust stützte sich am Vorsteven ab und blickte aufs Meer hinaus. Kein Luftzug ging und der Himmel war so wolkenklar wie an einem Hochsommertag. Vermutlich ein Effekt des Mythals, der die Seeelfenstadt umgab.
„Puh, du muffelst ja wie ‘ne alte Halblingssocke.“
Mit gewohnt miesepetriger Laune erschien Grimwardt an Fausts Seite. Hinter ihm tauchten Winter und Miu auf. Winter hatte dunkle Ringe unter den Augen und zog sich fröstelnd ihren Umhang um die Schultern. Faust glaubte nicht daran, dass Joes Geist der Grund für ihre mysteriöse Krankheit war, wie sie behauptete. Der allnächtliche Geisterspuk hatte für allerlei neues Seemannsgarn an Bord der Eggenstolz gesorgt, doch für die Helden stellte der Geist keine wirkliche Gefahr dar und die Schrecken der ersten Nacht wichen langsam lästiger Routine. War Winters Unpässlichkeit vielleicht ein erstes Anzeichen der Zauberpest? Zwar hatte die Kaplanin von Narbental ihnen versichert, dass ein so kleines Zaubermal wie jenes, das Winter von ihrem nächtlichen Alleingang davon getragen hatte, keine große Gefahr darstellte, doch was mochte sonst hinter ihrem Leiden stecken?
Es dauerte nicht lange, ehe sich in der Ferne eine Luftspiegelung abzeichnete. Ein prismatisches Gebilde aus Lichtbögen und Farbfontänen. Erst als sie näher an das Schimmern herankamen, erspähte Faust die Stadt unter dem Schleier aus Licht. Doch es war keine Stadt wie Faust sie je unter Menschen oder Elfen gesehen hatte. Elfische Hochmagie hatte Myth Nantor aus einem einzigen riesigen Korallenriff erwachsen lassen: Farbenprächtige Polypen und permuttfarbene Muschelkolonien überwucherten Hausfassaden aus Korallenskeletten. Wunderliche Meeresgezüchte überspannten Straßenschluchten aus Kalkstein. Und über allem lag ein Dunstschleier aus feinem, magischen Sprühregen, der das Korallengezücht am Leben hielt und jenen Schleier aus Regenbögen wob, der die Stadt wie ein Schutzschild umspann. Faust erspähte weder Wachpatrouillen noch Verteidigungsringe, doch Kapitän Guinges erklärte, dass nur etwa ein Drittel der Seeelfenstadt aus dem Meer ragte. Jener Teil wurde von den Handelskompanien der menschlichen Seefahrernationen verwaltet, die in der Stadt Faktoreien und Lagerhallen unterhielten. Die elfische Unterstadt war für die meisten Menschen unzugänglich und verfügte über ihre eigenen Verteidigungssysteme.
Der Kapitän gesellte sich zu seinem Steuermann und umsegelte die Stadt in weitem Bogen, um nicht auf den verborgenen Teil des Korallenriffs aufzulaufen. Das Schiff hielt auf den Hafen von Myth Nantor zu. Der Hafengestank und die fiebrige Geschäftigkeit holten die Mannschaft der Eggenstolz mit entzaubernder Nüchternheit in die Wirklichkeit zurück. Die schwer bewaffneten Söldnertrupps, die über die Handelsflotten und ihre Ladungen wachten, ließen vermuten, dass es hier nicht immer so friedlich zuging wie die paradiesische Umgebung vermuten ließ.
„Ich sehe was, was du nicht siehst“, brummte Grimwardt an seine Schwester gewandt.
Winter folgte seinem Blick und machte große Augen.  
„Das ist… mein Boot!“
Verblüfft beobachtete Faust wie der Anblick eines kleinen Einmasters, dessen Segel ein schwarzes Blumenemblem zierte, Winters mysteriöse Krankheit mit einem Schlag heilte. Ihre Augen begannen zu leuchten, ihre Wangen röteten sich vor Freude und aller Trübsinn wisch aus ihren Zügen. Seit sie aus der Bastion der ungeborenen Seelen zurückgekehrt waren, war die Frage, was mit Winters Diebesgilde in Hlondeth geschehen war, unausgesprochen geblieben. Da Hlondeth von der Zauberpest von der Landkarte getilgt worden war, hatten sie angenommen, dass die Schwarze Dahlie mit der Stadt untergegangen sei. Doch weder Faust noch Grimwardt hatten diesen Verdacht auszusprechen gewagt. Irgendetwas stimmte nicht mit Winter – warum also in neuen Wunden stochern, wenn die alten noch nicht verheilt waren?
Offenbar hatten sie sich gründlich getäuscht!
Zu ungeduldig, um zu warten, bis die schwerfältige alte Eggenstolz vor Anker ging, ergriff sie ihre Gefährten bei den Händen, teleportierte auf den Anlegesteg und bahnte sich, ihre überrumpelten Freunde im Schlepptau, einen Weg durch das Gewusel von Söldnern und Hafenarbeitern. Grimwardt brummte eine Verwünschung, da Winters ungestüme Teleportation ihn beinahe Hafenwasser hätte schlucken lassen. Doch Faust entging nicht, dass Winters Verwandlung auch ein wenig auf ihren Bruder abgefärbt hatte.
 „Bregan!“
Der nachlässige Bootswächter fuhr mit einem erschrockenen Schnarcher von seiner Hängematte auf und riss die Armbrust in die Höhe, die ihm während seines Mittagsschläfchens in den Schoß gesunken war.
„Herrin… Winter?!“ Er ließ von der Waffe ab und rieb sich ungläubig die Augen. „Zwick mich der Krebs, Ihr seid es wirklich!“
„Zuverlässig wie eh und je!“, spottete sie, während sie leichtfüßig an Deck kletterte, um den alten Halunken in die Arme zu schließen.
Verlegen kratzte sich Bregan am Kopf.  
„Ihr seid noch am Leben! Und schöner denn je!“
„Du bist auch… noch am Leben. Erzähl, wie es dir ergangen ist!“ Winters Stimme überschlug sich vor Freude. „Wie bist du der Zauberpest entkommen? Und was ist mit den anderen geschehen?“
Bregan begann zu erzählen: „Als uns in Hlondeth die ersten Berichte aus Halrua erreichten, rief Tigil den Kriegsrat zusammen… äh, so nannte er den inneren Gildenzirkel. Eigentlich traf Tigil nach Eurem Verschwinden immer alle Entscheidungen allein, aber Ihr kennt ihn ja: Im Zweifelsfall tragen immer die anderen die Verantwortung! Er entschied sich dafür, den Vilhongriff zu verlassen. Eigentlich wollten wir nach Damara segeln. Tigil hatte dort ein paar Kontakte geknüpft. Aber Kapitän Folocer - ich bezweifle, dass er zuvor wirklich schon mal am Steuerrad eines Schiffes gestanden hatte - kam völlig vom Kurs ab. Irgendwo in der Nähe der Pirateninseln gerieten wir in einen Sturm, der vier Tage andauerte. Wir waren halb verdurstet und völlig am Ende, als wir von Seeelfen gerettet wurden. Wir waren nicht die einzigen, die sie nach der Zauberpest aus dem Wasser fischten und hierher brachten….“
Bregan hielt inne, als sich die Bodenluke öffnete. Aus einem kinnlosen Gesicht, so zerknittert wie eine alte Morchel, blinzelten zwei kleine tränende Augen ins Licht.  
„Brutus!“ Ein Hauch von Beklommenheit streifte Winters Blick, als sie den altersschwachen Ork erkannte, doch ein heiteres Lächeln wusch ihre Bestürzung sogleich hinfort.
„Dachte, ich hätte was gehört“, tatterte der altersschwache Ork fahrig. Er schien Winter nicht zu erkennen.
„Er ist fast blind und ohne seine Hörmuschel kann er nicht mal zwischen einem Möwenschrei und einem Steinschlag unterscheiden“, erklärte Bregan. „Er ist jetzt über Dreißig, ein stattliches Alter für einen Ork. Tigil hat das Boot restaurieren lassen und lässt ihn hier seinen Lebensabend verbringen.“
„Tigil ist auch in der Stadt?“
Bregan lachte und deute auf die Handelsflotte, die gleich neben Winters Hausboot vor Anker lag. Auch die Segel der vier dreimastigen Galeeren zierte das Emblem der schwarzen Dahlie.
„Tigil gehört die Stadt!“

Winter
Kurz darauf in der Faktorei der Handels- und Aktiengesellschaft „Schwarze Dahlie“.  
 „Winter! Welch freudige Überraschung! Dein Anblick versüßt meinen Tag!“
Mit etwas nervös anmutender Euphorie kletterte Tigil hinter dem aufwendig verzierten Monstrum von Alabastertisch hervor, der die Hälfte seines Arbeitszimmers einnahm. Immerhin schien seine Wiedersehensfreude nur so weit geheuchelt, wie er fürchten musste, dass Winter gekommen war, um ihr Boot zurückzufordern. Sie unterdrückte ein Niesen, als sie von der betörenden Duftwolke erfasst wurde, die den Halbling umwaberte. Passend zu einem himmelblauen Sakko trug er blaue Laschenschuhe, die in hautengen Strümpfen steckten (was die frappierende Ähnlichkeit zwischen seinen dürren O-Beinchen und den gedrechselten Beinen des Arbeitstisches unterstrich). Sein karottenrotes Haar türmte sich über seinem Kopf zu einem Gebilde auf, das einem explodierenden Kürbis glich. Und auch die pompöse Einrichtung des Arbeitszimmers ließ vermuten, dass Tigil nicht viel auf vornehme Zurückhaltung gab.
„Tigil!“ Winter war nicht nur metaphorisch geblendet von all dem Schnickschnack. „Meinen aufrichtigen Respekt, du bist… ganz offenbar ein großer Mann in dieser Stadt!“
Dem Halbling schwoll die Brust.
„Hehe, nicht nur in dieser Stadt!“ Tigil klatschte zweimal kurz in die Hände, woraufhin Diener mit Getränken und exotischen Appetithäppchen anrückten, um die Gäste zu bewirten. „Was gibt es Besseres als einen zollfreien Warenumschlagsplatz! Schätze, die Spitzohren werden irgendwann spitzkriegen, was sie sich hier durch die Lappen gehen lassen, aber bis dahin ist diese Stadt das reinste Steuerparadies! Und meine Investoren gewähren großzügige Kredite, solange ich einmal im Jahr eine saftige Dividende ausschütte. Ich handele mit allem, was sich zu Geld machen lässt! Magie, Rohstoffe, Textilien, Skl… äh Schlachtrösser. Außer in Myth Nantor habe ich noch Niederlassungen in Damara und Tay und gerade lasse ich eine neue Flotte bauen, um nach Süden zu expandieren!“
Winter verstand nur die Hälfte von all dem kaufmännischen Kauderwelsch, doch sie vermutete, dass der neumodische Hokuspokus in erster Linie dazu diente, von Tigils brisanteren Geschäften abzulenken. Der findige Schurke hatte schon immer ein Talent dafür gehabt, sich aus der Affäre zu reden.
„Wie ich sehe, bist du ein rechtschaffener Mann geworden!“
Sein aalglattes Geschäftsführer-Lächeln bestätigte Winters Vermutung. Mit schlecht geheuchelter Diskretion stieß er sie an und raunte mit einem Kopfrucken in Fausts Richtung: „Und deine… Abenteuersache läuft gerade nicht so gut?“
„Oh, Faust riecht für gewöhnlich nicht wie ein Yeti“, beeilte sich Winter das ungepflegte Auftreten ihres Gefährten zu entschuldigen. „Ihm ist nur das Pfeifenkraut ein wenig zu  Kopf gestiegen.“
„Nun, da lässt sich Abhilfe schaffen!“ Tigil zog einen goldenen Schlüssel aus seiner Westentasche und warf ihn Faust zu. „Ich habe ein Badehaus, nicht weit von hier“, prahlte er beiläufig. „Brutus!“ Der Halbork-Wächter, der vor der Tür Wache gestanden hatte, sah zu ihnen herein. „Das ist Brutus Junior. Er wird Euch begleiten. Nur keine Scheu, die Einrichtung wird von zwei reizenden jungen Halblingsdamen betreut, die sich gerne um Euch bemühen werden.“
„Hm, ich bin jedenfalls überzeugt, dass sie sich gerne um Euch… bemühen“, bemerkte Faust . Doch er beschwerte sich nicht, als der Halbork ihn mit einer einladenden Geste aus dem Zimmer komplementierte.
Als die Tür hinter ihnen zuschwang, stieß Winter den Halbling aufgeregt an. „Brutus Junior? Ist das etwa…“
„Sein Sohn, ja“. Tigil seufzte rührselig. „Guter Mann, Brutus, guter Mann…“ Dann räusperte er sich und sein verklärter Blick wich wieder dem geschäftstüchtigen Saubermannlächeln. „Dann läuft es also gut? Hättet ihr Interesse, in mich zu investieren? Wirklich, es lohnt sich! Und Eure Namen würden sich auf meinem Banner wirklich gut machen. Da wir gerade dabei sind - ein Rat vom Profi: Ihr solltet euch unbedingt einen Heldennamen zulegen! So etwas wie die Ritter des Lichts oder die Schrecken der Meere, wirklich, bei eurem Grad an Berühmtheit…“
„Ähm, Tigil“, unterbrach Winter den Redefluss des Halblings. „Eigentlich sind wir hier wegen eines Auftrags. Wir…“ Sie überlegte, wie viel sie dem findigen kleinen Betrüger anvertrauen konnte und entschied sich für: „Wir sind hier, um Informationen über die Haibannmauer zu sammeln.“
„Oh.“ Es klang enttäuscht. „Nun… Die Seeelfen bleiben für gewöhnlich unter sich. Aber ihr könnt es mal in Zephyrs Rast am Südkanal versuchen. Ein Teil des Schankraumes reicht hinunter in die Unterstadt und ist bei Ebbe wasserleer. Dort trifft man an und wann auf Mitglieder der Aluendár.“
Tigil lud sie ein, ihn in die Stadt zu begleiten, solange sie auf Faust warteten. Ein Angebot, das Winter dankend annahm. Mit einem länglichen Elfenboot, das der Halbling „Gondel“ nannte, glitten sie durch die schattigen Wasserschluchten der Korallenstadt. Winter lauschte nur halbherzig Tigils ausschweifenden Prahlereien, während sie sich von der Schönheit der Elfenstadt bezaubern ließ. Der Wasserschleier formte immer neue Bilder aus Licht und dann und wann enthüllten magische Lichter in der Tiefe einen Teil der verborgenen Unterstadt. Doch Winter wurde jäh aus ihren Träumereien gerissen, als die Gondel am Marktplatz anlegte. Wie schon am Hafen herrschte auch hier ein äußerst raues Klima, das einen scharfen Kontrast zu der friedlichen Umgebung bildete. Söldnertrupps lagerten im Schatten der Marktstände und die Pulte der Geldverleiher wurden von wahren Armeen von Leibwächtern bewacht. Sogar einige Kunden waren mit Begleitschutz erschienen und bewaffnete Streitigkeiten waren an der Tagesordnung. Das Angebot reichte von kulinarischen Spezialitäten über magische Güter und Waffen bis hin zu Rauschmitteln und Giften. Interessiert betrachtete Winter gerade die Auslagen eines Magiestandes, als die Verkäuferin sie ansprach.
„Verzeiht?“
Winter sah auf. Rote Robe. Kahlrasierter Schädel mit arkanen Tätowierungen. Eine Rote Magierin von Tay. Verdammte Halsabschneider! Gerade noch erhaschte sie einen Blick auf ein blaues Leuchten, das sich aus den Augen der Magierin verflüchtigte. Offenbar teilte sie ihre Kundschaft anhand ihrer Besitztümer in Gehaltsstufen ein und ihr einladendes Lächeln verriet, dass sie gerade einen besonders dicken Fisch am Haken glaubte. Eilfertig wob sie einen kleinen Zauber, der über der sichtbaren Marktauslage eine Auswahl an mächtigeren Gegenständen erscheinen ließ.
„Euer Geschmack scheint mir ein wenig exquisiter als der des gelegentlichen Magieanwenders“, flüsterte die Magierin mit einem verschwörerischen Augenzwinkern.
Winter wollte gerade zu einer ablehnenden Erwiderung ansetzen, als ihr Blick auf ein magisches Buch in einem violetten Samteinband fiel. Als sie die Hand danach ausstreckte, schlug ihr ein verheißungsvolles Knistern mächtiger Magie entgegen.
„Ah, eine gute Wahl! Wenn mich meine Intuition nicht täuscht, dann seid Ihr eine wilde Magierin, eine Hexenmeisterin, wie man allgemeinhin sagt, nicht wahr? In diesem Fall wird dieser Leitfaden Euch zu ungeahnten Einsichten in das Wesen der Magie verhelfen!“
Winter leckte sich über den Gaumen. Plötzlich war ihr Mund ganz trocken. Sie hatte von solchen Büchern gehört! Sie waren sehr selten, weil es nur eine Hand voll Magiern gab, die fähig waren, sie herzustellen. Sie räusperte sich.
„Wie viel?“, fragte sie so desinteressiert wie möglich.
Dennoch blieb ihr bei dem Preis, den die Tayanerin ihr nannte, die Spucke weg.
„Lasst mich darüber nachdenken.“
Nicht, dass sie einen solchen Betrag in letzter Zeit auch nur zu Gesicht bekommen hätte! Doch sie kannte da jemanden, der sich ein kleines Vermögen erschlichen hatte… Sie fand Tigil bei den Anlegestellen, wo Faust und Brutus soeben eingetroffen waren. Mit viel rührseligem Gejammer über die Zeiten, da man hochrangige Helden noch mit barem Geld entlohnt hatte, und zahlreichen Verweisen auf ihre gemeinsame Zeit in Hlondeth trug sie dem Halbling ihr Anliegen vor. Tigil ließ seine ehemalige Gildenherrin ein wenig zappeln, indem er sie mit dezenter Süffisanz darauf hinwies, dass sie ihn bei ihrem letzten Treffen noch als Galionsfigur am Bug ihres Schiffes hatte aufknüpfen wollen. Doch schließlich hakte er sich versöhnlich bei ihr ein und tätschelte gönnerhaft ihren Arm.
„Meister Tigil macht alles möglich!“, sagte er großspurig. „Für zehn Prozent Zinsen, zahlbar innerhalb eines Jahres, plus der Überschreibung deines Hausbootes an mich, bekommst du die Moneten sofort bar auf die Hand… äh, das heißt, sobald Brutus bei meinem Schatzmeister war. Ein wahres Freundschaftsangebot! Darf man fragen, was du mit der Kohle zu erwerben gedenkst?“
„Och, nur so ein Buch…“
„Ein Buch?!?“ Tigil fiel aus allen Wolken. „150.000 Kröten für ein Buch? Ich glaube, mir wird schlecht.“
Der Halbling war tatsächlich ein wenig grün um die Nase geworden. Vergnügt zog Winter ihn weiter und bot an, ihm auf den Schrecken in Zephyrs Rast einen Zwergenschnaps auszugeben. Gemeinsam steuerten sie das Gasthaus an. Tigil hatte nicht zu viel versprochen: Die elfische Taverne wartete mit dem ungewöhnlichsten Schankraum auf, den Winter je zu Gesicht bekommen hatte. Der fensterlose Saal mutete wie eine Tropfsteinhöhle an. In den feuchten, glitzernden Wänden spiegelte sich das magische Lichtermeer, das sich über die Tische auf der Galerie ergoss, an denen menschliche Händler und anderes Landvolk speiste. Noch bemerkenswerter jedoch war der Großraum: Pfützen auf dem Boden erinnerten daran, dass dieser Teil der Taverne bei Flut überspült war. In kreisrunden Becken, die randvoll mit Wasser gefüllt waren, das brodelnde Blasen warf, saßen Seeelfen bei Speis und Trank beisammen. Die ersten Seeelfen, die Winter hier in Myth Nantor zu Gesicht bekam!  
„Warum lassen die sich bei lebendigem Leib kochen?“, fragte Faust verständnislos.
„Das Wasser in den Sprudelbecken ist nicht so heiß wie es aussieht“, dozierte Tigil weltmännisch. „Die magischen Blasen verursachen ein angenehmes Kribbeln. Bei den Spitzohren haben diese Dinger Tradition.“
„Ich glaube, ich mag diese Seeelfen“, grinste Faust und schlenderte neugierig auf eine der sprudelnden Sitzecken zu.
„Ohne mich“, brumme Grimwardt. „Ich schwör‘ meinem Gott ab, ehe ich mich in eine Wasserschüssel setze, die mich am Hintern kitzelt!“
Tigil pflichtete dem Kriegspriester bei und Miu weigerte sich wie meistens etwas zu tun, das ihr womöglich Spaß bereiten konnte. So war Winter die einzige, die Faust in den elfischen Teil der Taverne folgte. Als sie ihn in dem Gedrängel fand, das zu dieser Mittagsstunde in Zephyrs Rast herrschte, lehnte er bereit mit geschlossenen Augen und seligem Gesichtsausdruck in einem der Becken und ließ sich von den sprudelnden Bläschen berauschen. Weniger berauscht waren die drei Seeelfen, die seinetwegen gezwungen waren enger zusammenzurücken. Die beiden Krieger packten nach einem raschen Augenwechsel ihre Speere und verließen empört die Sitzecke. Die Druidin dagegen betrachtete ihr Gegenüber mit einer Mischung aus Befremdung und Neugier. Ihre Haut war blass und durchscheinend, jedoch so reich an feingestochenen Tätowierungen, dass sie blau wirkte. Beim Sprechen vibrierten die beiden breiten Schlitze, die sich schräg über ihre Kehle zogen – ihre Kiemen. Die großen Augen der Seeelfe waren von einem tiefen, glanzlosen Blauschwarz, ebenso wie ihr dichtes Haar, das ihr in schmal geflochtenen Zöpfen über die unbekleidete Brust fiel. Und zwischen ihren langen, schmalen Fingern spannten sich Schwimmhäute.  
„Dann ist es also wahr, was man sich über die Menschen erzählt?“ Ihre Stimme war dunkel und rau und sie sprach akzentfrei, doch mit einer ungewöhnlichen Melodie. „Ihr besitzt weder Anstand noch Manieren.“
Ihre Augen waren voller Ernsthaftigkeit auf Faust gerichtet und nur ein feiner Zug um die Mundwinkel wies auf den Hauch von Ironie hin, der in ihren Worten mitklang.
„Nö, ich wollte nur die Spreu vom Weizen trennen“, erwiderte Faust augenzwinkernd und wohlwissend, dass sie die landwirtschaftliche Metapher nicht verstehen würde. Sie runzelte leicht die Stirn, ergriff jedoch zögernd seine Hand, als er sie ihr zur Begrüßung reichte. Nun wagte auch Winter, sich zu den beiden in die Sitznische zu gesellen. Ein wenig verlegen tauchte sie in voller Abenteurermontur in das Sprudelbecken. Das massierende Rütteln der warmen Strömungen, die das Wasser zum Sprudeln brachten, war ein wenig gewöhnungsbedürftig und nicht eben appetitanregend, fand Winter. Aber fraglos war es in anderer Hinsicht anregend…  
Faust begann mit einigen unverfänglichen Themen zur seeelfischen Kultur und ließ sich von der Elfe in kulinarischen Fragen beraten. Sie hieß Yluné und war in Begleitung eines Trupps von Aluendár-Kriegern in der Stadt, die gegen einen feindlichen Sahuagin-Stamm ins Feld zogen. Schließlich wagte Winter, sie nach der geheimnisvollen Insel in der Nähe der Haibannmauer zu fragen.
„Es gibt dort keine Inseln“, erklärte Yluné. „Der östliche Ozean ist sehr tief. Aber ich habe Aluendár-Krieger, die an der Haibannmauer stationiert waren, von einem geheimnisvollen Flecken Land sprechen hören. Eine Insel, die nur bei Vollmond erscheint. Wir nennen sie darum tol-silvéin, die Vollmondinsel.“
Das klang nach dem perfekten Versteck für einen Piratenschatz! Und es erklärte, warum Winters Zauber die Insel nicht gefunden hatte.
„Gibt es auf der Insel eine Stadt namens Nhalloth?“
„Das weiß ich nicht. Davon erzählen die Sagen der Aluendár nichts. Eine elfische Stadt kann es nicht sein. Das Wort klingt eigenartig auf meiner Zunge.“
„Wie lange ist es hin bis zum nächsten Vollmond?“
Die Druidin rechnete stumm nach und erwiderte dann: „Einundzwanzig Tage, den heutigen nicht mitgerechnet.“
Genug Zeit, um dem Geheimnis der Schatzkarten auf die Schliche zu kommen…  

Faust
Sieben Tage später, nördliches Grenzgebiet der Alu‘Tel’Quessir.
Geduldig wartete Faust, bis Yluné die rituelle Zeichnung, die seine rechte Gesichtshälfte bedeckte, mit einem Schutzzauber überzogen hatte, der verhindern sollte, dass der Ozean die elfischen Symbole sogleich wieder hinfort wusch. Ein letztes Mal betrachtete die Druidin kritisch ihr Werk, dann erklärte sie feierlich: „Nun bist du ein Sha’Quessir, ein Freund meines Volkes.“
Anerkennend klopften die Aluendár-Krieger, die für das Initiationsritual mit ihnen an Land gekommen waren, dem frischgebackenen Elfenfreund auf die Schulter. Faust hatte geglaubt, dass es eine Erleichterung sein würde, nach vier Tagen unter dem Meer endlich wieder die Sonne zu Gesicht bekommen, doch das Gegenteil war der Fall. Seine Augen brannten und tränten ohne Unterlass nach der langen Zeit im Dunkeln und seine aufgequollene Haut begann trotz Ylunés Schutzzaubern an einigen Stellen zu nässen. Doch das war es wert gewesen!
Sie hatten es nicht besonders eilig gehabt, mehr über Nhalloth und den Illithidenkapitän herauszufinden. Schließlich blieb ihnen bis zum nächsten Vollmond noch genug Zeit. Die Gefährten waren also fürs erste in Myth Nantor geblieben. Winter hatte sich in das Buch vertieft, das sie auf Pump gekauft hatte. Indessen hatte Tigil Grimwardt unter seine Fittische genommen, um ihn mit etwas vertraut zu machen, das er Kontoführung nannte, und mit dem es dem Priester angeblich möglich sei, „die Effizienz der Abtei zu steigern“, wie es Meister Kürbiskopf zu nennen pflegte. Was auch immer das bedeuten mochte, Grimwardt schien tatsächlich einen Narren an Tigils Kaufmannssülze gefunden zu haben. Und Miu war ganz verzaubert von der mysteriösen Schönheit der Korallenstadt. Faust dagegen drohte vor Langeweile zugrunde zu gehen. Am Tag nach ihrem Treffen in Zephyrs Rast hatte er Yluné wiedergetroffen und sie hatte ihn in die geheimnisvolle Unterstadt entführt. Als sie mit ihrem Kriegertrupp nach drei Tagen abreisen musste, hatte er sich kurzentschlossen Winters magisches Amulett des Wasseratmens geborgt und war ihnen in die Tiefen des Seeelfenreiches gefolgt.
Die Aluendár waren ausgesandt worden, einen Trupp Sahuagin-Räuber zur Strecke zu bringen, die im Grenzgebiet einige Seeelfen-Dörfer überfallen hatten. Der Krieg zwischen Seeelfen und Sahuagin währte seit Jahrtausenden. Frieden, hatte Yluné Faust erklärt, konnte es zwischen ihren Völkern nicht geben, dazu reichten die Wurzeln ihrer Fehde zu tief. Sie hatte ihm von den grausamen Opferriten des Fischvolks erzählt. Für ihre blutdürstenden Götter opferten ihre Priester nicht nur elfische Sklaven, sondern sogar Mitglieder ihrer eigenen Gemeinschaft. Doch Faust hatte die Aluendár Rache für die verwüsteten Dörfer nehmen sehen und in Sachen Grausamkeit standen sie ihren Erzfeinden in nichts nach. Im Lager der Räuber hatte der Trupp befruchtete Eier gefunden. Die Elfen hatten die ungeborenen Kinder der Sahuagin ohne Vorbehalte zertrümmert. Ein einziges Frischgeschlüpftes hatten sie verschont und in ein nahgelegenes Elfendorf gebracht. Yluné hatte erklärt, dass ein Fluch auf den Sahuagin lastete, der ihre Kinder nicht nur die Kultur sondern auch die Gestalt des Feindes annehmen ließe, wenn sie unter seinesgleichen aufwuchsen. Im Geheimen hatte Faust gedacht, dass die Sahuagin somit allen Grund hatten, die Elfen zu verteufeln. Doch es lag ihm fern, irgendeine Seite zu verurteilen. Er hatte gerade erst begonnen, die fremde Welt der Meere zu entdecken. Die Moral der Oberwelt schien auf diese Welt mit ihrer erstaunlichen Schönheit und ihrer unbarmherzigen Grausamkeit einfach nicht zu passen… Außerdem hatte er das Gemetzel, das ihm den Respekt der Elfenkrieger eingebracht hatte, viel zu sehr genossen!
„Sie sagen, für einen N’Tel’Quessir hast du dich ganz gut geschlagen“, übersetzte ihm Yluné die scherzhaften Sticheleien ihrer Aluendár-Begleiter. Ihr Elfisch hatte sich durch das Leben in der Tiefe so sehr von der Sprache der Landelfen entfernt, dass Faust sie nur verstand, wenn sie langsam sprachen.
„Für einen Menschen? Pah!“, ging Faust auf ihr Spiel ein. „Also hört mal, ich habe einen Jahrtausende alten Vampir-Drachen besiegt! Ich war gegen Hadhrune von Umbra siegreich und habe einen dämonischen Halbgott bezwungen und Drizzt Do’Urden hätte ich beinahe das Handwerk gelegt! Eine Handvoll Fischmenschen ist nun wirklich keine Herausforderung für mich!“
Yluné gab seine Antwort an die anderen weiter und es erhob sich ein kleiner Disput. Die Augen des Anführers blitzten herausfordernd.  
„Sie finden, du hast kein Recht, so zu reden“, erklärte Yluné schmunzelnd. „Deine Erfolge in der ravan-Welt zählen hier nicht. Efendiel meint, dort oben magst du ein Held sein, aber hier unten könntest du mit deiner Kampfkunst nicht bestehen. Er sagt, ein richtiger Krieger braucht keine Magie, um zu kämpfen.“
Faust erhob sich und breitete kampflustig die Arme aus.
„Herausforderung angenommen. Gegen wen soll ich kämpfen?“
 Aufgeregtes Gemurmel.
Schließlich erklärte die Druidin: „Es gibt eine Tiefsee-Grotte nicht weit von hier. Dort lebt alta’even, die Riesenkrabbe. Jungkrieger müssen mindestens solange im Kampf mit ihr bestehen, wie ihr Trupp braucht, um die Grotte einmal im Tauchgang zu umrunden, bevor sie in die Reihen der Aluendár aufgenommen werden. Wenn du sie besiegst, sagt Efrendiel, sollst du auch in unserer Welt ein Held sein.“
Efrendiel zwinkerte ihm schelmisch zu.
„Na dann, lasst uns Krabbensalat machen!“
Die Krieger packten ihr Hab und Gut und liefen in die Wellen. Wenig später waren sie wieder von der Düsternis und Stille des Ozeans umgeben. Faust hatte Mühe, den wendigen Elfen durch das kühle Nass zu folgen, und er wurde das Gefühl nicht los, dass sie ihre Tauchgeschwindigkeit seinetwegen drosselten. Doch wenn es um die Kampfkunst ging, war er ohne Zweifel, dass er es mühelos mit jedem von ihnen aufnehmen konnte – selbst in den Tiefen des Meeres. Sie mochten hervorragende Speerkämpfer und kluge Netzstrategen sein, doch Faust wusste, dass er inzwischen jedes Maß übertraf. Er würde ihnen eine Schau liefern, von denen sie noch ihren Enkeln erzählen würden!
Die Elfen begleiteten ihn bis zum Eingang der Grotte. Mit einem Handzeichen gab Yluné ihm zu verstehen, dass sie in seiner Nähe bleiben würden. Dann tauchte er allein in die Grotte. Die lichtlose Umgebung schluckte seinen Lichtzauber und schränkte sein Blickfeld auf eine halbe Armlänge ein. Lautlos glitt er durch die Finsternis. Nach einer Weile spürte er felsigen Untergrund unter seinen Füßen. Vorsichtig kletterte er den Fels entlang, höher und höher, bis er gegen eine glatte Wand stieß. Hier ging es nicht mehr weiter. Hatte er bereits das Ende der Grotte erreicht? Wenn er nur mehr sehen könnte. Ratlos tastete er sich an der Wand entlang… als diese sich plötzlich bewegte. Etwas entriss die Felsspalte, an der er sich gerade noch entlang gehangelt hatte, seinem Griff. Hastig stieß er sich ab und trieb im aufgewühlten Wasser. Plötzlich drang ein helles gelbes Licht aus der Spalte. Der Riss wurde immer größer und das Licht drängte die Felswand in die Höhe, bis… eine Pupille! Mitten im Fels öffnete sich ein türgroßes, glühend gelbes Auge! Er hatte die Riesenkrabbe gefunden und der Name war maßlos untertrieben! Das Vieh war nicht in der Grotte, es war die Grotte! Plötzlich nahm diese Mutprobe völlig neue Maßstäbe an! Die Aufregung pochte wild in seinen Adern.
Faust bildete eine Linie mit seinem Schwert, als er tauchend auf das Monstrum zu stob. Das Ungeheuer hatte nicht einmal Zeit sein zweites Auge zu öffnen, da sprengte Fausts wirbelndes Schwertgewitter bereits die gelbe Regenbogenhaut. Durch schwabblige Gewebeschichten metzelte er sich einen Weg zum winzigen Gehirn der monströsen Krabbe und der Krabbensalat war serviert, ehe das Ungeheuer auch nur eine seiner tonnenschweren Scheren erhoben hatte.
Verdammt, das ging schneller als erwartet!
Triumphierend, mit einem Hauch von Enttäuschung, ließ er sich zu Boden gleiten. Von diesem Kampf hatte er sich mehr erhofft. Er spürte die Elfen, ohne sie zu sehen. Als sein Lichtzauber sie erfasste, erkannte er, dass sie sich im Halbkreis um ihn geschart hatten. Völlig lautlos waren sie ihm nachgetaucht, um dem Schauspiel beizuwohnen.
Mehr habt ihr nicht zu bieten?, sagte sein Blick, als er sich grinsend an Efrendiel wandte. Doch das Grinsen verging ihm schnell. Die Miene des Aluendar-Anführers war wie versteinert, seine Augen geweitet, sein Kiefer angespannt und seine Kiemen bebten. Ohne ein Wort hob er die Hand und gab seinen Kriegern den Befehl zum Aufbruch. Als Faust Anstalten machte ihnen zu folgen, wies er ihn mit einer schneidenden Geste zurück. Fassungslos sah Faust zu, wie sie flink wie Aale davon glitten. Nur die Druidin Yluné blieb zurück. Ihre blauschwarzen Elfenaugen waren traurig und ernst.
Ich bringe dich zurück an die Oberfläche, sagte sie mit einer Handbewegung. Schweigend folgte Faust ihrer Führung.
„Scheiße, Yluné, was war da unten denn los?!“, platzte es aus ihm heraus, kaum dass er wieder Luft atmete. „Ich habe die Krabbe besiegt und die Wette gewonnen! Seid ihr so schlechte Verlierer?“
„Du solltest sie besiegen, nicht töten“, sagte die Druidin leise. „Sie ist ein Kind des Ozeans, wie wir.“
„Ach, und was ist mit den Sahuagin? Sind das keine Kinder des Ozeans!“ Verfluchte Elfen! Kaum glaubte man sie zu verstehen, stießen sie einen vor den Kopf!
„Und da war die… die Art, wie du sie getötet hast.“
„Was soll das denn heißen?“
„Das war nicht normal. Kein Mensch kämpft so.“
„Sondern?“
Yluné zögerte.
„Na los, sprich es aus!“
„Teufel und Dämonen kämpfen so.“
Faust lachte bitter auf.

Grimwardt
Vier Tage später, Rabenklippe.
Dezentes Schlürfen und Löffelklappern waren die einzigen Geräusche bei Tisch. Unter seiner Rüstung spürte Grimwardt wie ihm Schweißperlen den Rücken hinab rannen, während er versuchte sich beim Essen so wenig wie möglich zu bewegen, um nicht durch lautes Klappern und Scheppern unangenehm aufzufallen. So angespannt hatte er sich zum letzten Mal als Knabe kurz vor der Weihprüfung gefühlt! Und sie waren noch nicht mal beim zweiten Gang angelangt! Beim Feuerschild, wie hatte er sich nur zu einem Abendessen bei Familie MacLancastor überreden lassen können? Lady Helena hatte die Vorspeise damit verbracht, mit forschem Blick zwischen Faust und seiner „Gattin“ hin und her zu blicken. Da sie auf keine ihrer Fragen mehr als ein verlegen Lächeln von Mius Seite und ein unflätiges Schnauben von Fausts Seite geerntet hatte, war sie schließlich zu unverfänglicheren Themen übergegangen. Auf ihre liebenswürdig-süffisante Frage, weshalb Faust aussehe wie ein angemalter Sune-Tempel, hatte ihr Sohn ihr in allen blutigen Einzelheiten von seinen Erlebnissen bei den Seeelfen berichtet. „Krabbensalat“ war dabei das einzige Wort gewesen, das auch nur halbwegs tischtauglich war. Auch die Nachricht, dass Claire es sehr „bedauere“, (Faust hätte sich wenigstens das schadenfrohe Grinsen sparen können!) dass ihre Arbeit auf der Eggenstolz sie von einem Besuch abhielt, hatte die Stimmung bei Tisch nicht eben gehoben.
„Und was gibt’s bei dir so Neues?“, leitete Faust gerade den zweiten Akt des Trauerspiels ein.
„Die übliche Misere“, erwiderte Lady Helena mit einem Seufzen. „Lady Bartens Prahlereien über ihre Brieftaubenzucht echauffieren die gesamte Nachbarschaft. Und dabei taugen die dummen Dinger zu nichts weiter, als den Vorgarten zu verunstalten!“
„Sag’s, wenn ich behilflich sein soll“, murmelte Faust gelangweilt. „Ich könnte ja im Gegenzug Lady Bartens Garten zukacken… oder so.“
Winter spie prustend einen Mundvoll Pastete auf ihren Teller. Lady Helena dagegen hatte eine dicke Haut, wenn es um die Provokationen ihres Sohnes ging.
„Was habe ich doch deinen Fäkalhumor an diesem Tisch vermisst!“, sagte sie mit einem eisigen Lächeln, nur um dann nahtlos das Thema zu wechseln: „Habe ich übrigens erwähnt, dass dieser Elf aus dem Orden hier war? Eigenartiger Bursche, ich denke du kennst ihn von früher…“
„Tyrael?“ Alarmiert sah Faust auf. „Was wollte er?“
„Wissen, wo du steckst. Offenbar erliegt er der phantastischen Vorstellung, dass du deiner Mutter mehr erzählen würdest, als dass du wieder einmal die Welt retten musst. Ich soll dir übrigens ausrichten, dass er dich finden wird, egal wo du steckst. Äußerst charmantes Kerlchen, hat beim Sprechen ständig die Nase krausgezogen.“
„Damit versucht er, den Ekel zu überwinden, den es ihm bereitet, mit dir zu sprechen“, ließ Faust sie wissen. Er wartete, bis sich ihr überhebliches Lächeln zu einem pikierten Lippenstrich verzogen hatte, ehe er hinzufügte. „So reagiert er auf alle Menschen.“
Doch die Drohung des Elfen schien ihn in größerem Maße aufzukratzen, als er zugeben wollte. Grübelnd starrte er auf seinen Teller. Grimwardt kannte diesen konzentrierten Blick. Winter nannte ihn den „Neun-Schwerter-Blick“. Was auch immer es war, das Faust verfolgte, es führte ihn immer wieder zurück nach Rabenklippe, in die Nähe jenes ominösen Ordens der Neun Schwerter. Grimwardt war kein neugieriger Mann. Genau genommen fühlte er sich sogar sicherer dabei, nicht zu wissen, welche Dämonen seinen Mitstreiter plagten. Wissen brachte Konflikte und Konflikte trübten das Urteilsvermögen. Aber er fühlte sich verantwortlich für ihre kleine Gruppe und wenn Fausts Probleme anfingen, die Gruppe zu infizieren, dann würde er sich ihrer annehmen müssen.
„Vielleicht sollte ich mich stellen“, sagte Faust plötzlich.  
Seine Mutter runzelte die Stirn.
„Desmond, wenn es stimmt, was du mir erzählt hast, dann solltest du darüber keine Scherze machen.“
„Ich scherze nicht“, erwiderte Faust. „Ich kann nicht ewig davonlaufen… Außerdem könnte der Orden uns bei unserer Mission helfen. Wir suchen nach einem Piratenkapitän, einem uralten Illithiden mit außergewöhnlichen Kräften. Omega, die Anführerin des Ordens, ist… Ich weiß nicht genau, was sie ist. Aber man munkelt, sie sei unsterblich. Ihr Wissen übersteigt selbst das der meisten Elfengelehrten. Vielleicht weiß sie etwas über diesen Kapitän Morloch.“
„Ich könnte doch hingehen“, hörte Grimwardt sich selbst sagen.
„Grim“, sagte Winter überrascht. „Willst du das wirklich?“
Eigentlich nicht. Bei Veiros und Deiros, was tue ich hier?
„Warum nicht? Erzähltest du nicht, dass Hades Mitglied dieses Ordens ist, Faust? Wir haben Seite an Seite gekämpft und Hades schien mir immer ein vernünftiger Mann zu sein. Warum sollte ich ihn nicht um einen Gefallen bitten und ihn um eine Audienz bei dieser Omega bitten?“
Faust und seine Mutter starrten ihn ungläubig an. Dann lachten sie gleichzeitig auf und zum ersten Mal sahen sie sich so verblüffend ähnlich, dass niemand an ihrer Verwandtschaft gezweifelt hätte.
„Du willst Hades um etwas bitten?“  
 
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 11. April 2011, 11:15:23
Schön! Sehr schön gelöst, dieses schwierige Kapitel! Tja, diese verdammten Seeeeeelfen... Jetzt freu ich mich schon um so mehr auf das nächste Kapitel! Grimmwardt in Rabenklippe war auch beim Spielen schon zu geil. Das schlechte Essen und die Dialoge mit Hades jetzt noch als Geschichte verpackt verspricht viel Gutes.
Zwei Sachen noch:
1. Konnte man innerhalb des Mythals teleportieren? Das weiß ich nicht mehr.
2. Ich als Kind vom Lande weiß natürlich das es heißt "Die Spreu vom Weizen trennen". Die Spreu ist das Gestrüpp von der Weizenpflanze, das man nicht mitisst.  :D
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 11. April 2011, 12:05:42
Alles klar, jetzt bin ich schlauer... da erfüllt diese ganze SH-Sache ja sogar noch didaktische Zwecke  :D. INNERHALB des Mythals kann man schon teleportieren (jedenfalls in der Oberstadt), nur halt nicht hinein oder heraus. Das Kapitel war für mich übrigens echt eines der schwierigsten... Es ist nicht wirklich viel passiert, aber viel rauslassen ging auch nicht. Hatte Angst, dass es ziemlich langweilig wird...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Abracadaver am 11. April 2011, 12:51:34
Trotzdem wieder ansprechend und schön zu lesen; nicht langweilig;)

Faust hätte sich aber denken können, dass er die olle Krabbe nicht komplett zerlegen soll. Sie war ja immerhin Teil eines Rituals der Seeelfen.:-P
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 11. April 2011, 21:48:23
Tja, wenn ne 80 Meter-Krabbe bereit zum Angriff ist, gibt man halt Gas, wenn man nicht genau weiß, was für einen Gegner man da vor sich hat. Dachte an sowas wie die Tarraske mit endlos vielen TPs, aber die arme Krabbe war dann wohl doch nur SG 13 oder so und wäre somit wohl auch mit bloßen Fäusten nach einer Runde Matsch gewesen... Es gibt für Faust keine leichteren Gegner als dicke, unbewegliche Klöpse... aber die Geschichte ist ja noch nicht zu Ende :)

@Niobe:
Ja, das dacht ich mir auch, aber die relaiv unwichtigen Sachen erscheinen ja auch eher als Randbemerkung, bzw. sind zusammengefasst.  Und wie gesagt, jetzt ist der Weg frei für den witzigen Teil der Geschichte ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 14. April 2011, 20:58:02
War schon seit Tagen nicht mehr im Netz und habe eben erst das neue Kapitel gesehen. Super gelöst, und der Weg ist frei für die nächsten spannenden Seiten! Hehe, auf Rabenklippe freu ich mich schon sehr. Und Hades, die alte Spaßbremse...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 26. April 2011, 13:05:14
Hab auf der Homepage jetzt noch die Kategorien "Antihelden" und "weitere NSC" eingeführt, wobei ich da noch einiges zu schreiben muss. Wenn du irgendwelche Stats von irgendwelchen NSCs hast, immer raus damit ;) ...Undmit Rabenklippe dürften da ja eingige neue kommen...bin gespannt! :)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 27. April 2011, 02:32:30
Coole Sache... wobei bei einigen NSC gar nicht so klar sein dürfte, in welche Kategorie sie denn nun gehören  :-\. Die beiden Nazi-Avariel hießen übrigens Mathalaya und Silead Shantilea; Ilsevele Miritar ist die Königin von Myth Drannor ;-). Und wie wird nun eigentlich Tyrail/ Tyrael geschrieben (ich glaube ich bin da in der SH nicht gerade konsequent gewesen...)?
Dann werde ich demnächst wohl mal fleißig anfangen, NSC-Stats zu posten :-)... Die mächtigeren der Neun Schwerter und Drake sind schon alle upgedated; werde die reinstellen, sobald ich Zeit habe.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 27. April 2011, 02:40:34
...kam mir gleich komisch vor...ist geändert.
Das klingt gut! Aber natürlich nur, wenn die Fortsetzung der Story nicht darunter leidet! Aber wenigstens muss man für die Stats nicht kreativ sein ;)
Edit:
Kannst mir aber sonst auch einfach die Bögen schicken und ich stell die dann auf die Seite. Dann musst du die nicht alle hier aufschreiben.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 28. April 2011, 01:29:34
Dann wollen wir mal (keine Garantie für Verständlichkeit...)

Omega
Anführerin der Neun Schwerter
Schwertgelehrter 17/Kämpfer 2/ Kriegsgeist 10/Shiba-Beschützer1 (30)
N Elaner
Mittelgroße Aberration  
HG 30
Vorbereitung
INI: +16 (+8 GE, +4 Talent, +4 Schnelles Handeln)
Sprachen: Handelssprache, Shou
Sinne: Geruchsinn (Stellung)  
ST 18 (28), GE 20 (26), KO 14 (24), IN 12 (18),WE 32 (44),CH 10 (16)
[ST 38, IN 13, CH 11 mit Psychorückstoß]
Defensive
TP: 377
RK: 65 (90*), Berührung 57 (83*), auf dem falschen Fuß 55  
(GE 8, WE 17, Ablenkung 5, Hast 1, erhöhte Trägheitsrüstung 10, Energieschirm 4, Einsicht 4, natürlich 5, Ausweichen 1); *Defensive Kampfweise (25)
SR: 3/-
RW: ZÄH +22 (45), REF +33 (56) (verbessertes Entrinnen), WIL +41 (64) ( +4 auf RW (kostet 1 PsiPunkt), Konz. statt RW)
Immunitäten: [Feuer (Flammensegen); Schlaf, Lähmung, Betäubung, Übelkeit, Krankheit, Gift, Energieentzug, Attributschaden,  kritische Treffer, Todeseffekte, alles mit ZÄH-RW, Erschöpfung (Talisman)]
Resistenzen: Feuer 20, Säure 20, Kälte 20, Elektrizität 20, Schall 20 (Energieadaption)
Nahkampf-Defensive: Defensive Rolle, Episches Ausweichen (ignoriert einen Nahkampfangriff pro Runde), Hastende Bewegung + Wegturnen  
Zauberabwehr: Gedankenleere, Zauber zurückwerfen (6 Grade)
Offensive
Bewegungsrate: 9m (6 Felder)
Angriffe:
Himmelssplitter (voller Angriff mit Psychorückstoß und Hast)
+58/+58/+53/+48/+43 (2W6+39/15-20/x3+Übelkeit)
*Pyros (voller Angriff mit Psychorückstoß und Hast)
+58/+58/+53/+48/+43 (2W6+39+1W6 Feuer +1W6 Elektrizität/15-20/x3+Übelkeit)
*Terra (voller Angriff mit Psychorückstoß und Hast)
+63/+63/+58/+53/+48 (2W6+44/15-20/x3+Übelkeit)
*Kosmos (voller Angriff mit Psychorückstoß und Hast)
+58/+58/+53/+48/+43 (2W6+39+2W6 gegen Chaos/15-20/x4+Übelkeit)
Götterdämmerung (mit Psychorückstoß und Hast)
+58/+58/+53/+48/+43 und +58/+58/+53/+48/+43 (2W6+39/15-20/x3+Übelkeit)
Rasender Mungo (mit Psychorückstoß und Hast)
+58/+58/+58/+58/+53/+48/+43 (2W6+39/15-20/x3+Übelkeit)
Löwensprung (mit Psychorückstoß und Hast)
------+60/+60/+55/+50/+45 (2W6+39/15-20/x3+Übelkeit)
Rasender Dämon (Pyros)
+58/+58/+53/+48/+43 und +58/+58/+53/+48/+43 und +58/+58/+53/+48/+43 (2W6+39+1W6 Feuer +1W6 Elektrizität /15-20/x3+Übelkeit)
Fünf Schatten… + Durchdringender Schlag + Plötzliche Klarsicht
+58 auf Berührung (2W6+39+15W6 + Blut gefriert/15-20/x3+Übelkeit) + Psi-Fokus wiederherstellen
Neun Schwerter (Beispiel)
Rabenhammer [+58(2W6+39+6W6+Betäubung (kein RW)/15-20/x3+Übelkeit) ] UND Diamantenschneider [Konzentration gegen RK: +58 (2W6+156/15-20/x3+Übelkeit)] UND Belebender Schlag [+58+ (2W6+39+Heilung/15-20/x3+Übelkeit) ] UND Schlag der völligen Klarheit [+58 (2W6+139/15-20/x3+Übelkeit)]… UND 5 weitere Strikes
Optionen : heftig (x2), defensiv, Berührungsangriff (einzelner Angriff), +10W6 auf einen Angriff, Schwertstreich und Doppelschlag
GAB: 25, RAB: 34 [39]
Psi-Kräfte (222 Psi-Punkte)*zu Beginn des Kampes aktiv
5. Grad (9 Punkte)
*Psychorückstoß (+10 auf ST, GE od. KO, -10 auf andere Attribute, 1R/St)
4. Grad (7 Punkte)
*Energieadaption (10min/St)
Dimensionstor
2. Grad (3 Punkte)
Hastende Bewegung (schnell, sofortige Bewegungsaktion)  
1. Grad (1 Punkt)
*Trägheitsrüstung (1h/St, +4RK, auch Berührung, +1 RK je zusätzliche 2Punkte)
*Energieschirm (1min/St, +4 Schild-Bonus, +1 je zuätzliche 4Punkte)
Manöver und Stellungen (IS 23) *vorbereitete/aktive Manöver und Stellungen im Kampf
Stellungen
*Geruchsinn (TK)
Flammensegen  (WW)
Manöver
1.Grad
*Tabula Rasa (augenblicklich, Konz. statt WIL) (DG)
3.Grad
Geist über Körper (augenblicklich, Konz. statt ZÄH) (DG)
5.Grad
*Löwensprung  (voller Angriff nach Ansturm) (TK)
6.Grad
Moment der Beschleunigung (schnell, INI für folgende Runden verbessert sich um 20) (DG)
*Skorpionparade (counter, konkurrierender Angriffswurf, bei Erfolg trifft Angriff Person in angrenzendem Feld) (US)
7.Grad
Klingensturm Klingenhagel mit je -4 bis der erste Angriff fehlschlägt) (DG)
*Schattenhüpfer (15m Teleportation als schnelle Aktion) (SH)
8.Grad
*Rasender Mungo (schnell, 2 zus. Angriffe) (TK)
*Diamantschild (counter., IS auf RW) (DG)
*Diamantenschneider (St-Aktion, Konz. gegen RK, bei Erfolg macht Angriff 4fachen Schaden, sonst Angriff mit -2) (DG)
*Narrenschlag (counter, konkurrierender Angriffswurf, bei Erfolg trifft Angreifer sich selbst) (US)
Entkräftende Schatten (St; bei erfolgreichem Angriff macht Gegner ZÄH 35; 1W4 neg. Stufen, +5 TP je Stufe) (SH)
9.Grad
Animalischer Todesstoß (volle Aktion; Springen gegen RK, bei Erfolg ist Gegner a.f.F. erwischt; Angriff, ZÄH 33 oder tot; bei geglücktem RW trotzdem 20W6 zus. Schaden) (TK)
*Götterdämmerung (2 volle Angriffe) (DG)
Feuerexplosion (Feuerkegel 100 TP) (WW)
*Fünf-Schatten…  (St-Akt., Angriff macht zus. 15W6 Schaden und Gegner gefriert das Blut in den Adern (siehe S.77) (SH)
10.Grad (episch)
*Willensbrecher (St, bei erfolgreichem Angriff ist Gegner beherrscht (WIL 37))
*Neun Schwerter (volle Aktion, 9 Strikes aus 9 verschiedenen Schulen, die sich nicht wiederholen dürfen) (1x/Tag)
Talente
Ausweichen: +1 Ausweichbonus auf RK
(Verbesserte) Defensive Kampfweise: -GAB, +RK (Ausweichbonus)
Defensive Rolle: 1x/Begegnung Waffenschaden eines einzelnen tödlichen Angriffes (unter 0) abwenden durch erfolgreichen REF-Wurf (SG = Schaden); bei Erfolg nur halber Schaden und immernoch 1TP
Doppelschlag : Wenn Gegner fällt hat Omega zus. Angriff
Durchdringender Schlag + Plötzliche Klarsicht: Omega kann ihren Psi-Fokus aufgeben, um einen Angriff als Berührungsangriff auszuführen. Wenn sie daraufhin einen Strike macht, kann sie den Psi-Fokus als schnelle Aktion wiederherstellen.  
Eiserner Wille: +2 WILL
Epische Abwehr: ignoriert 1x/Runde den Schaden eines Nahkampfangriffs
Epische Manöver : Neun Schwerter und Willensbrecher (1x/Tag)
Heftiger Angriff: -x GAB für 2x Schaden
Psionische Waffe
Schnelle Kraft (Meta-Psi): Psi-Kraft als schnelle Aktion; +6 Psi-Punkte
Übelkeit verursachen: kritische Treffer verursachen Übelkeit für 1Minute
Verbesserte Initiative: +4
Verbesserter kritischer Treffer: doppelte Bedrohungschance
Wachsamkeit: +4 auf Entdecken und Motiv erkennen
Volkseigenschaften
Attribute: WE+2, CH-1
Resistenz (ÜF): augenblicklich, +4 auf RW für eine Runde (kostet 1 Psi-Punkt)
Abhärtung (ÜF): augenblicklich -x Schadenspunkte (1 Psi-Punkt je 2 Schadenspunkte)
Selbstversorgung (ÜF): muss nicht essen oder trinken für 24h (kostet 1 Psi-Punkt)
Klassenfähigkeiten
Schwertgelehrter:
Manöver und Stellungen (AF): ein Manöver/Begegnung kann als volle Aktion regeneriert werden; Stellungen sind immer aktiv und können als schnelle Aktion getauscht werden
Schnelles Handeln (AF): +4 auf INI
RK-Bonus (AF): WE auf RK (alles)
Disziplinfokus (AF): Waffenfokus (DG)
Defensive  Stellung (AF): +2 auf alle RW (wenn in Stellung der Wüstenwind- oder Tigerklaue-Disziplinen)
Magisches Gespür (AF): IS-Wurf (SG 10+Stufe), um Fähigkeiten von magischen Rüstungen und Waffen zu identifizieren
(Verbessertes) Entrinnen (AF): nur halben Schaden von Effekten mit REF-RW, bei geglücktem RW kein Schaden
Kriegsgeist:
Kette der eigenen Größe (AF): 3x/Tag +4 Einsichtsbonus auf ST + KO für 1min.; Aktivierung ist freie Aktion
Kette der defensiven Haltung (AF): 3x/Tag +4 Einsichtsbous auf RK für 1min; Aktivierung ist freie Aktion
Abgehärteter Körper (AF): Schadensreduzierung 3/-  
Schwertstreich (AF): Wenn 2 Kreaturen in benachbarten Feldern und in Omegas RW stehen, betreffen ihre Angriffe beide Kreaturen, sofern sie sich in der Runde nicht mehr als 2F bewegt hat
Kette der überwältigenden Macht (ÜF): 1x/Tag +10W6 auf einen Angriff
Shiba-Beschützer:
Gedankenlos (AF): WE auf Angriff und Schaden
Fertigkeiten:
Entdecken +54, Konzentration +48, Manöverkunde +48, Motiv erkennen +50, Springen +48, Turnen +39, Wissen (Geschichte) +35, Wissen (Psi) +12, Wissen (Religion) +12
Magische Gegenstände:
Himmelssplitter*, Amulett der epischen Weisheit +12 und der natürlichen Rüstung +5, Handbuch der Weisheit +5 (gelesen), Handbuch der Geschicklichkeit +4 (gelesen), CH-Umhang +6, IN-Stirnreif +6, ST-Handschuhe +6, KO-Armschienen +6, Flugring (3x/Tag), Schutzring +5, Resistenzweste +5, Siebenmeilenstiefel (12 Runden Hast, freie Aktivierung), Talisman der untoten Zähigkeit (2x/Tag für 3 R, schnelle Aktivierung), Schutzkutte (dauerhaft Gedankenleere und Bewegungsfreiheit, wirft 6 Zaubergrade zurück) , Drittes Auge der Konzentration (+10)
*Himmelssplitter: +1 Zweihänder aus Glasstahl, mächtiges Artefakt, überwindet epische Schadensreduzierung, kritischer Treffer: 18-20 (x3); kann mit den Kugeln Terra, Pyros und Kosmos aufgeladen werden (Standard-Aktion); Boni sind kumulativ
Terra: +5 Bonus, Schärfe, Verteidigung, Versteinern (Standard-Aktion: ZÄH 10+ halbe Stufe + KO, bei gelungenem RW für 1R verlangsamt)
Pyros: Feuerinferno + Blitzinferno, Schnelligkeit, Rasender Dämon (3 volle Angriffe in einer Runde)
Kosmos: Schwurklinge, Ordnung, +2 Bonus, Bestimmung (alle Treffer sind automatisch kritisch)

Elijas
Zweites der Neun Schwerter                              
Magier 6/ Klingensprinter 10/ Bannstreiter 5/ Schwertgelehrter 2/  Iaijutsu-Meister 1/ Jade-Phönix-Magier 3 (27)
RN Elf (Avariel)
Mittelgroßer Humanoider
HG 28
Vorbereitung
INI: +31 (+16 GE, +10 IN, +4 Talent, +1 Schnelles Handeln)
Sprachen: Handelssprache, Elfisch, Shou, Drakonisch
Sinne: Dämmersicht, [Wahrer Blick ]
ST 16 (22), GE 32 (42), KO 11 (17), IN 24 (30), WE 14 (20), CH 11
Defensive
TP: 213
RK: 75/ 98*/ 109° [57], Berührung 59 /82* /93° [57], auf dem falschen Fuß 44 /55° [12]  
(GE 16, IN 10, WE 5, natürlich 5, Mächtige Magierrüstung 11, Schild 9, Ausweichen 4, Ablenkung 5)
*DK (23), °Ablenkungszauber + DK, [  ] antimagisch +DK
RW: ZÄH +17, REF +39 (Entrinnen), WIL +30 (+2 gegen geistesbeeinflussende Zauber; +2 gegen Todes- und Furchteffekte; Konz. statt ZÄH)
SR: [10/Adamantium (Steinhaut)]
Immunitäten: Schlaf, [Feuer (Flammensegen); Lähmung, Betäubung, Übelkeit, Krankheit, Gift, Energieentzug, Attributschaden,  kritische Treffer, Todeseffekte, alles mit ZÄH-RW, Erschöpfung (Talisman)]
Nahkampf-Defensive: 50% Fehlschlagchance (Bewegungsunschärfe); ignoriert einen Angriff pro Runde (Hast III); 3m-Schritt pro Fehlschlag, Gegensturm
Zauberabwehr: Gedankenleere, Strahlende Aufhebung,  50% Fehlschlagchance für individuell gezielte Zauber (Bewegungsunschärfe) und Flächenzauber (Mächtiges Flimmern), Gegenzauber (1x/Tag augenblicklich)
Offensive:
Bewegungsrate: 15m (10 Felder), fliegen 21m (14 Felder)
Angriffe:
Zauber (Berührung auf Entfernung)
+39
Rasender Angriff +Hast +Arkaner Schlag (8 ):  
---55/+50--- (1W10+14+2W6+8W4+2W4 neg.Stufen/19-20/ x2)
Voller Angriff + Arkaner Schlag (8 ) + Hast + Dreifachschlag
55/+55/+55/+50/+45/+40 (1W10+14+8W4+1W6 Feuer+ 2W4 neg.St. [+2W6 Bewegung]/ 17-20/ x2)
Voller Angriff + Arkaner Schlag (8 ) + Arkaner Zorn (5) + Dreifachschlag
+60/+60/+60/+55/+50/+45 (1W10+14+8W4+5W10+1W6 Feuer+ 2W4 neg.St. [+2W6 Bewegung]/ 17-20/ x2)
Luftflimmern + Arkaner Schlag (8 ) + Dreifachschlag + Arkaner Zorn (5):
+58/+58/+58/+58/+53/+48/+43 (1W10+14+8W4+5W10+1W6 Feuer+ 2W4 neg.St. [+2W6 Bewegung]/ 17-20/ x2)
Mächtiger Einsichtiger Schlag:
+47 (1W10+2W20+86+2W4 neg.St. [+2W6 Bewegung]/19-20/x2)
Infernoklinge + Arkaner Schlag (8 ) + Dreifachschlag:
55/+55/+55/+50/+45/+40 (1W10+14+8W4+4W6 Feuer +16 Feuer + 2W4neg.St. [+2W6 Bewegung]/ 17-20/ x2)
Antimagisch:
+50/+45/+40/+35 (1W10+9+8W4+2W4neg.St. [+2W6 Bewegung]/ 19-20/ x2)
Optionen: heftig (x2), defensiv, Berührungsangriff, arkaner Zorn, arkaner Schlag
GAB: 23, RAB: 29
Magierzauber (ZS 23)
10.Grad (episch) (1)
Hast III (Elijas' Unberührbarkeit)
9.Grad (5)
[schnell, AF] Hast II (Zeitstopp) (4R) (2x)
Verdorren
*Gedankenleere
*Strahlende Aufhebung (23 Magie-absorbierende Kugeln; jede absorbiert einen gezielten Zauber; 1R/St)
8. Grad (5)
 (Arkaner Schlag) (5x)
7. Grad (6)
Mächtiges Teleportieren (2x)
*Eisenwacht (1R/St, immun gegen Schaden von (mag.) Metallwaffen (2x)
Antimagische Zone
[schnell, AF] Hast II (Zeitstopp) (2R)
6. Grad (7)
Mächtige Magie bannen (2x)
*Wahrer Blick
*[ausgedehnt] Sakkratars Dreifachschlag (2 zus. Angriffe bei vollem Angriff, Waffe hat Eigenschaft „scharf“+ „Flammeninferno, Dauer 1R) (4x)
5. Grad (7)
*Mächtiges Flimmern (1R/St halb ätherisch, nur halber Schaden von Flächenzaubern; keine Gefahr, dass eigene Angriffe fehlschlagen)
Energiekugel (10W6, kein RW, keine ZR) (2x)
Säurekugel (15W6, kein RW, keine ZR) (2x)
*Bewegungsfreiheit  
Teleportieren
4. Grad (7)
*Strahlablenkung
*Steinhaut
[augenblicklich] Schnelligkeit (sofort ST-Aktion, 1R benommen) (2x)
Dimensionstor
*[ausgedehnt, schnell, AF] Hast I (Unbegrenzte Möglichkeiten) (2x)
3. Grad (8 )
[schnell, AF] Hast I (Unbegrenzte Möglichkeiten)
*[ausgedehnt, schnell] Geisterschlag (6x)
*[ausgedehnt, schnell] Mächtige Magierrüstung
2.Grad (8 )
[schnell] Geisterschlag (SC) (2x)
Gestalt verändern
Sucht unterdrücken (24h)
[schnell, ausgedehnt] Ablenkung (+16 RK für 1R) (4x)
1. Grad (8 )
[augenblicklich] Federfall
[augenblicklich] Angeregte Nerven (+5 auf INI)
*[ausgedehnt, schnell] Schild (1min/St) (2x)
Wahrer Schlag (+20 auf einen Angriff) (3x)
[ausgedehnt, schnell] Magierrüstung (+9 RK)

Manöver und Stellungen (IS 16 ) 7/5/2 *vorbereitete/aktive Manöver und Stellungen im Kampf
Stellungen
*Mobile Verteidigung (als Gelegenheitsangriff 3m-Schritt, wenn Gegner verfehlt) (US)
Flammensegen (Feuerimmunität) (WW)
Mystischer Phönix (+2 auf RK, +1 auf ZS) (JP)
Manöver
1.Grad
*Gegensturm (augenblicklich; konkurrierender GE-Wurf bei Sturmangriff, wenn erfolgreich wird Gegner 2F bewegt)(US)
2.Grad
*Luftflimmern (volle Aktion, 1 zus. Angriff, alle mit -2) (WW)
3.Grad
Bewusster Fehltritt (schnell; provoziert GA von Gegner; Angriff, wenn Gegner verfehlt, sonst Verbündeter) (US)
*Geist über Körper  (Konz. statt ZÄH) (DG)
4.Grad
Rubinschneider (Standard; doppelter Schaden bei gelungenem Konz. gegen RK des Gegners) (DG)
6.Grad
*Mächtiger einsichtiger Schlag (Standard, Schaden = 2xKonz.) (DG)
7.Grad
*Infernoklinge (schnell, Angriffe machen +3W6+Initiatorstufe Feuerschaden) (WW)
Talente
Arkaner Schlag: -x Zauberslot für +x Angriff und +xW4 Schaden
Ausgedehnter Zauber (Metamagie): doppelte Wirkungsdauer (+1 Slot)
Ausweichen: +1 Ausweichbonus auf RK
Beweglichkeit: +4 RK bei Versuch an Gegner vorbeizuturnen
(Verbesserte) Defensive Kampfweise: -x GAB für x RK
Doppelschritt: 3m-Schritt statt 1,5-Schritt
Epischer Zauber: Hast III (Elijas' Unberührbarkeit): wie Hast I (Unbegrenzte Möglichkeiten) + ignoriert einen Nahkampfangriff pro Runde
Heftiger Angriff: -x GAB für 2x Schaden
Im Kampf zaubern: +4 auf Konzentration bei Zaubern
Kampfreflexe: 16 Gelegenheitsangriffe pro Runde
Mobiler Zauberwirker: Zauber wirken + bewegen = eine Standardaktion (Konz. gegen 25+Grad)
Schnelle Waffenbereitschaft: Waffe ziehen ist freie Aktion
Schriftrolle herstellen
Tänzelnder + Rasender Angriff: Bewegung, 2x zuschlagen, Bewegung
Umgang mit exotischen Waffen (Katana)
Verbesserte Initiative: +4
Verbesserter Gegenzauber: Gegenzauber aus derselben Schule (statt selber Zauber)
Volkseigenschaften
Attribute: +4 GE, -2 KO, +2 IN, +2 WE
Fertigkeiten: +4 Entdecken, +4 Springen
Avarielwaffen: Geübt im Umgang mit Rapier und Bolas
Sturzflug (AF): wie senkrechter Sturmangriff und  doppelter Schaden bei Erfolg
Klassenfähigkeiten
Magier
Schulspezialisierung (Bannzauber): gebannte Schulen: Verzauberung + Illusion; 1x/Tag Gegenzauber  als augenblickliche Aktion (Zauberkunde 15+Grad, um Zauber zu identifizieren; Bann durch Sprechen eines höhergradigen Zaubers aus derselben Schule)
Waffenbund: Schwert als gebundenes Objekt; kann 1x/Tag nicht vorbereiteten Zauber sprechen
Klingensprinter:
Arkane Reflexe (AF): IN auf INI
Flinkes Entkommen (AF): 50% Fehlschlagschance für individuell gezielte Zauber (Hast-Effekt)
Flinke Füße (AF): überwindet geländetypische und magische Hindernisse automatisch, kann über Wasser laufen
Schnelle Hast (AF): Hast wirken ist schnelle Aktion
Schneller Stoß (AF): Angriff +2, Ausweichbonus +2 auf RK und REF; +6m BR; +2W6 Schaden bei 6m Bewegung in 1 Runde
Tarnende Hast (AF): Tarnung (50% Fehlschlagschance) unter Hast (Hast-Effekt)  
Unbegrenzte Möglichkeiten (Hast I) (AF): zus. Bewegungsaktion oder Standardaktion pro Runde statt zus. Angriff
Verinnerlichte Hast (AF): Hast ist außergewöhnliche Fähigkeit, kann nicht gebannt werden
Zeitstopp (Hast II) (AF): Hast  wirkt wie Zeitstopp in 6. (1R.), 7. (2R.) od. höherem Grad. Keine 2 Hastzauber gleichzeitig.
Bannstreiter:
Ausgedehnte Bannzauber (ÜF): Doppelte Wirkungsdauer mit Bannzaubern, die Rüstungs- oder Schildboni geben
Schneller Bann (AF): Rüstungszauber als schnelle Aktion
Schutzrüstung (ÜF): +5 auf RK-Boni durch Bannzauber
Arkane Inspiration (ÜF): x Zauberslots für +x Angriff, +2x Schaden, +xRK (alle), +5x Energieresistenz (alle) oder +xRW als schnelle Aktion
Zaubermeisterschaft: ZS = GAB
Schwertgelehrter:
Manöver und Stellungen (AF): ein Manöver/Begegnung kann als volle Aktion regeneriert werden; Stellungen sind immer aktiv und können als schnelle Aktion getauscht werden
RK-Bonus (AF): WE auf RK (auf alles)
Schnelles Handeln (AF): +1 auf INI
Disziplinfokus (AF): Waffenfokus (Wüstenwind-Waffen)
Iaijutsu-Meister:
Geschickte Verteidigung (AF): IN auf RK (Ausweich-Bonus)
Waffenfinesse (Katana) (AF): GE statt ST auf Angriff mit Katana
Jade-Phönix-Magier:
Arkaner Zorn (ÜF): Zauberslot des Grades x aufgeben für +4 auf Angriff und xW10 auf Schaden für eine Runde (schnell)
Mystischer Phönix (Stellung): +2 auf RK, +1 auf ZS
Ritus des Erwachens: Wissensfähigkeiten auch untrainiert
Fertigkeiten:
Bluffen +12, Diplomatie +12, Entdecken +33, Entfesslungskunst +31, Konzentration +43 (Defensiv Zaubern +47), Motiv erkennen +35, Springen +31, Turnen +46, Wissen (Adel+Königshäuser) +14, Wissen (Arkanes) +32,  Wissen (Geschichte) +25,  Wissen (Religion) +12, Zauberkunde +40
Magische Gegenstände:
Seelentrinker*, Weisheitsamulett der natürlichen Rüstung, Epische Geschicklichkeitshandschuhe +10, ST-Gürtel +6, Handbuch der Intelligenz +5 (gelesen), Handbuch des Geschicks +4 (gelesen), Resistenzweste +5, Ring des Entrinnen, Schutzring +5, Stirnreif des Intellekts +6, Drittes Auge der Konzentration (+10), Talisman der untoten Zähigkeit (2x/Tag Untoten-Immunitäten für 3 Runden)
*Seelentrinker: Bastardschwert +5 (episch), 2W4 neg.Stufen je Treffer (ZÄH 25 nach 24h, sonst dauerhaft); Elijas bekommt 5 TP für jede negative Stufe (1h), 10 wenn Gegner stirbt

Hades
Drittes der Neun Schwerter
Kreuzritter 7/ Kleriker (Kelemvor) 8/ Zwielicht-Ritter 10 (25)
RN Mensch (Chulter)
Mittelgroßer Humanoider
HG 25
Vorbereitung
INI: +1 (+6 mit Zeichen)
Sprachen: Handelssprache, Shou
Sinne: [Wahrer Blick]
ST20 (26/30*/34°), GE 13, KO 20 (26/30*/34°), IN 12, WE 20 (26), CH 20 (26), *Tapfere Wut; °Gerechte Macht + TW
Defensive
TP: 320 (370 mit Tapfere Wut, 386 mit Göttliche Macht, 436 mit Gerechte Macht)
RK: 38 (39°/45*), Berührung 19 (18°/26*), auf dem falschen Fuß 37 (39°/44*), °Gerechte Macht, *Gesetzestreue
(Rüstung +13, GE +1, Schild +6, Ablenkung +4, Heilige Aura 4)
SR: 10/Böses (Gerechte Macht)
ZR:[ 25 gegen Böses (Heilige Aura)]
Immunitäten: [Schlaf, Lähmung, Betäubung, Übelkeit, Krankheit, Gift, Energieentzug, Attributschaden,  kritische Treffer, Todeseffekte, alles mit ZÄH-RW, Erschöpfung (Schleier des Untoten)]
Rettungswürfe: ZÄH +30, REF +13, WIL +37 (39) (1x/Tag RW neu, +4 gegen Furcht)
Nahkampf-Abwehr: Hades‘ Unsterblichkeit
Magische Abwehr: Hades‘ Unsterblichkeit, Gedankenleere

Offensive:
Bewegungsrate: 6m (4 Felder)
Angriffe:
Voller Angriff (Tapfere Wut, Göttliche Macht, Gerechte Macht, Gesetzestreue, Zorniger Gegenschlag, Göttliche Ausstrahlung)
+51/+51/+46/+41/+36 (2W8+34/19-20/x2)
Untote (alle Boni)
+53/+53/+48/+43/+38 (2W8+68/19-20/x3)
CN Gegner (alle Boni)
+55/+55/+50/+45/+40 (2W8+68/19-20/x2)
Rabenhammer (Niederstrecken + alle Boni)
+51 (2W8+34+6W6+betäubt/19-20/x2)
Auf sie mit Gebrüll/ Gemeinsamer Ansturm (alle Boni)
+53 oder mehr (2W8+103[+Betäubung?]/19-20/x2)
Mächtiger Göttlicher Schub (alle Boni)
+51 (2W8+34+26W8/19-20/x2), danach betäubt (-10KO)
Belebender Schlag (alle Boni)
+51 (2W8+34+ Heilung/19-20/x2)
Antimagisch  
+29 (1W10+12/19-20/x2)
RW: 2F(mit Gerechte Macht)
Optionen: heftig (x2), Niederstrecken (1x)
GAB: 22, RAB: 32
Klerikerzauber  (ZS 16) *zu Anfang des Kampfes aktiv
8.Grad (3+1)
Aufspüren
*Heilige Aura (1Kraetur/Stufe in 4F-Radius, +4 Ablenkung auf RK, ZR 25, Immunität gegen mentale Beeinflussung, erfolgr. Angriff gegen geschützte Kreatur verursacht 1W6 ST-Schaden (ZÄH negiert), 1R/St)
Schleier des Untodes (10min/St, Untoten-Immunitäten)
*D: Gedankenleere  
7.Grad (4+1)
*Glückliches Schicksal (bei unter 0TP sofortige Heilung) (2x)
*[dauerhaft] Göttliches Schild  (+4 Ablenkungsbonus RK)
Regeneration
D: Heldenmut (+4 Moralbonus auf Angriff +RW, ZS auf RK)
6.Grad (4+1)
Heilung (3x)
*Pakt des Eiferers (500 EP-Kosten, permanent bis Kampf gegen Kreatur mit CN Gesinnung: +4 Angriff  doppelter Schaden für 1R/St)
D: Antimagisches Feld
5.Grad (5+1)
Gerechte Macht (+4 ST + KO, -2 GE, +2 nat. Rüstung, SR 10/ Böses, Waffe 2W8) (3x)
*[dauerhaft] Wahrer Blick
*D: [dauerhaft] Tapfere Wut (+4 ST; +4 KO, +2 WIL, 1R/St)
4. Grad (6+1)
Bewegungsfreiheit
Luftweg
Todesschutz (2x)
*[dauerhaft] Göttliche Macht (+6 Glücksbonus auf Angriff + Schaden, +1 TP pro ZS, +1Angriff pro Runde) (2x)
D: Heldenmut
3. Grad (7+1)
Unsichtbarkeit aufheben
Schwere Wunden heilen (6x)
D: Schutz vor Energien
2. Grad (7+1)
Teilweise Genesung (5x)
Stille
Zone der Wahrheit
1. Grad (7+1)
Leichte Wunden heilen (6x)
Zeichen (+5 auf INI)
Manöver und Stellungen (Initiatirstufe 21) (13/7/4)
Stellungen  
Gemeinsamer Ansturm (WR): bei Ansturm bekommen Verbündete und Hades +19 auf Schaden
Aura der absoluten Ordnung (WR): alle W20-Würfe als 11
*Unbezwingbare Zähigkeit (EG): Bei 0TP ZÄH gegen –TP, um wiederaufzustehen (1TP)
*Hades‘ Unsterblichkeit [episch](1x/Tag werden für 10Runden am Ende einer Runde alle TP geheilt, sofern Hades noch mehr als -1 TP hat)
Manöver
1.Grad
Vorhut (EG): Standard, bei erfolgreichem Angriff bekommen Verbündete +4 gegen denselben Gegner
Ergebenheit des Kreuzritters (EG): Standard, bei erfolgreichem Angriff (Gegner = andere Gesinnung) heilen Hades + Verbündete 1W6+5
*Anführen (WR): Standard, bei erfolgreichem Angriff +4 Moralbonus für Verbündete
*Flammendämpfer (Standard, Gegner kann keine Gelegenheitsangriffe machen für 1R) (WR)
2.Grad
*Schattensprung (SH): Standard, Teleportation 15m (ÜF)
4.Grad
*Rabentaktik (WR): schnell, gibt Verbündetem Hades’ INI -1
Deckungsschlag (WR)  (schnell, Gegner kann 3R keine Gelegenheitsangriffe machen) (WR)
6.Grad
Heilungsschlag (DS): Standard, Heilung 3W6+15
7.Grad
Fanfarenstoß (WR): schnell, Bei Angriff, der Gegner unter 0TP bringt, bekommen Verbündete augenblicklich Nahkampfangriff oder Bewegungsaktion
8.Grad
*Mächtiger Göttlicher Stoß (DS): volle Aktion, Angriff mit -10 KO (danach betäubt) macht +26W8Schaden
*Rabenhammer (WR): Standard, +6W6 Schaden, Gegner 1 Runde betäubt
9.Grad
*Belebender Schlag (DS): Standard, erfolgreicher Angriff verschafft Heilung (170 TP)
*Auf sie mit Gebrüll (WR): volle Aktion, Ansturm zusammen mit Gefährten gibt +2 Angriff pro Gefährte und +25 Schaden für Gefährten und +50 für Hades; Gegner ab 2 Treffern betäubt
Talente
Ausgedehnter Zauber (Metamagie): doppelte Wirkungsdauer (+1 Slot)
Dauerhafter Zauber + Göttliche Metamagie: „Untote vertreiben“ statt Zauberslots (6)
Epische Manöver (Hades‘ Unsterblichkeit)
Gesetzestreue: schnell, +7 heiliger Bonus auf Angriff oder RK, 1x/Tag + 1 je aufgewendetes „Untote vertreiben“
Göttliche Ausstrahlung: „Untote vertreiben“ für CH auf Schaden für 1R
Große Zähigkeit: +2 auf ZÄH
Heftiger Angriff: -x GAB für +2X Schaden
Schnell Zaubern + Göttliche Metamagie: „Untote vertreiben“ statt Zauberslots (4)
Verbesserter Umgang mit Tartsche: Tartsche trotz zweihändig geführter Waffe
Zusätzliches Untote vertreiben (4x): 16x
Klassenfähigkeiten
Kreuzritter:
Manöver und Stellungen (AF): Manöver werden von Kelemvor gewährt (Zufall), Stellungen können mit voller Aktion getauscht werden
Stählerne Reserve (AF): Schadens-Reservepool von 10TP
Zorniger Gegenschlag (AF): +2 auf Angriff und Schaden, solange Reservepool voll ist
Unbeugsame Seele (AF): CH auf Will
Göttlicher Eifer (AF): 1x/Tag RW neu
Niederstrecken (AF): 1x/Tag CH auf Angriff, Stufe auf Schaden
Kleriker:
Untote vertreiben (ÜF): 27x/Tag
Schutzdomäne: 1h +5 Resistenzbonus auf RW
Mutdomäne: +4 RW gegen Furcht
Zwielicht-Ritter:
Göttliche Erholung (ÜF):Als schnelle Aktion 1x Untote vertreiben aufgeben, um Manöver zu regenerieren
Eiserne Stille (AF): kein Rüstungsmalus auf Verstecken und Leise bewegen
Göttliche Schnelligkeit (AF): 1x Untote vertreiben für zusätzliche schnelle Aktion
Göttlicher Zorn (ÜF): als freie Aktion 1x Untote vertreiben für +4 heiligen Bonus auf Angriff und +1W10 Schaden für einen Strike
Fertigkeiten:
Diplomatie +35, Einschüchtern +18, Konzentration +20, Manöverkunde +25, Motiv erkennen +45, Wissen (Lokales) 11, Wissen (Religion) +11
Magische Gegenstände:
Richtschwert „Styx“*, Handbuch der Stärke +4 (gelesen), Handbuch des Charisma +4 (gelesen), Schutzring +5, Resistenzweste +5, Charismaumhang +6, ST-Handschuhe +6, KO-Armschienen +6, Weisheitsamulett +6, Tartsche +5, Ritterrüstung, Kristallmaske der Entlarvung (+10 Motiv erkennen)
*Styx: Sonnenklingen-Bastardschwert +2 (geführt wie Kurzschwert), +4 gegen Böse, doppelter Schaden und kritischer Modifikator x3 gegen Untote, 1x/Tag Sonnenstrahl

Tyrail

Sechstes der Neun Schwerter                              
Kriegsklinge 7/ Magier 2/ Bannstreiter 5/ Ewige Klinge 10/ Waldläufer 1 (25)
NB Elf (Sonnenelf)
Mittelgroßer Humanoider
HG 25
Vorbereitung
INI: +12 (+17) (+7 GE, +5 Waffe, (+5 Angeregte Nerven))
Sprachen: Handelssprache, Elfisch, Shou, Balok
Sinne: Dämmersicht, [Wahrer Blick]
ST 20 (26), GE 18 (24), KO 16 (22), IN 28 (34), WE 11, CH 10
Defensive
TP: 312 [237 antimagisch]
RK: 56+++/68*+++/80^+++/104°+++ [26/50 defensiv], Berührung 47+++/59*+++/71^+++/95°+++ [26/50 defensiv], auf dem falschen Fuß 43+++/55^+++/79°+++[13], *ein Gegner, ^ein Gegner + Ablenkungszauber, °ein Gegner+Ablenkung +DK (24), +++ Defensive Überlegenheit: +2 und höher, [  ] antimagisch
(GE 7, IN 12, natürlich 5, Mächtige Magierrüstung 11, Schild 9, Hast 1, Ablenkung 5, Kriegsergebenheit 5, Einsicht 3)
RW: ZÄH +29 [21]+++ , REF +35[27]+++ (Entrinnen), WIL+25 [15]+++
(+2 gegen geistesbeeinflussende Zauber, 1x/Tag WILL neu, Konzentration statt WIL od. ZÄH, Defensive Überlegenheit)
ZR/PR: 32+++ (Defensive Überlegenheit)
Immunitäten: Schlaf, [Todeseffekte, negative Energie, Lebenskraftentzug (Schutzskarabäus)]
Zauberabwehr: Strahlablenkung
Offensive:
Bewegungsrate: 9m (6 Felder)
Angriffe:
Voller Angriff (Hast+ Ewiges Training+ Kriegsergebenheit+ Klingenwaffenmeisterschaft)
+48/+48/+43/+38/+33 (1W10+29+2W6 gegen Böses/19-20/x2)
Erzfeind (alle Boni)
+53/+53/+48/+43/+38 (1W10+34+2W6 gegen Böses/19-20/x2)
Klingensturm
+48/+44/+40/+36…(1W10+29+2W6 gegen Böse)
Mächtiger Einsichtiger Schlag
+48 (1W10+2W20+98+2W6 gegen Böse)
Rabenhammer
+48 (1W10+29+6W6+2W6 gegen Böse + Betäubung)
Rubinschneider
Konz. (gegen RK), dann +48 (1W10+58 +2W6 gegen Böses)
Götterdämmerung
2x Normal
Antimagisch
+32/+27/+22/+17 (1W10+10/19-20/x2)
Optionen: Erzfeind (+5), defensiv, heftig (x2, Erzfeind x3), Berührungsangriff, Insel im Fluss der Zeit (2 volle Runden)
GAB: 24, RAB: 32
Magierzauber (ZS 24), *zu Anfang des Kampfes aktiv
4. Grad (5)
*Strahlablenkung
*Bewegungsfreiheit
[ausgedehnt, schnell] Geisterschlag (2x)
[augenblicklich] Schnelligkeit
3. Grad (5)
[ausgedehnt, schnell] Geisterschlag (3x)
[ausgedehnt, schnell] *Mächtige Magierrüstung
Fliegen
2. Grad (6)
[schnell] Geisterschlag (2x)
[ausgedehnt, schnell] Ablenkung (+17RK für 1R) (3x)
*Faszinierende Schuppen
1. Grad (7)
[ausgedehnt, schnell] *Schild (3x)
[ausgedehnt, schnell] Magierrüstung
*Vertrautentasche (Tarnung)
[augenblicklich] Angeregte Nerven (+5 auf INI) (2x)
Manöver und Stellungen (IS 21) (12/7/3), *zu Anfang des Kampfes aktiv
Stellungen
Bereitschaft (augenblickliche Aktionen sind immer freie Aktionen) (DG)
Schwarze Perle des Zauderns (+2 Ausweichbonus für jeden verfehlten Schlag des Gegners, je Runde kumulativ) (DG)
*Tyrails Defensive Überlegenheit (1x/Tag für 10R +3 Einsichtsbonus auf RK + RW und ZR/PR 11+IS; +2 für jeden ausgewichenen Schlag, erfolgreichen RW und abgewehrten Zauber/Kraft (kumulativ)) (EPISCH)
Manöver
1.Grad
*Tabula Rasa (Counter, Konz. statt WIL) (DG)
Flammendämpfer (Strike, Gegner kann keine Gelegenheitsangriffe machen für 1R) (WR)
Taktischer Schlag (Strike, +2W6 Schaden, Verbündete in angrenzendem Feld machen 1,5 Schritt( (WR)
2.Grad
Klingenwall (Counter; Angriff als RK, geht nicht wenn a.f.F.) (EH)
3.Grad
Einsichtiger Schlag (Strike, Konz. als Schaden) (DG)
*Geist über Körper (Konz. statt ZÄH) (DG)
4.Grad
*Rubinschneider (Strike, doppelter Schaden mit erfolgreichem Konz. (SG = RK des Gegners)) (DG)
*Deckungsschlag (schnell, Gegner kann 3R keine Gelegenheitsangriffe machen) (WR)
6.Grad
*Mächtiger Einsichtiger Schlag (2xKonzentration) (DG)
7.Grad
*Klingensturm (voller Angriff, bis ein Schlag daneben geht, alle -4) (DG)
8.Grad
*Rabenhammer (Strike, +6W6 Schaden, Gegner betäubt für 1R) (WR)
9.Grad
*Götterdämmerung (2 volle Aktionen) (DG)
Talente
Ausgedehnter Zauber: doppelte Wirkungsdauer
(Verbesserte) Defensive Kampfweise: -x GAB für x RK
Epische Manöver: Tyrails Defensive Überlegenheit
Heftiger Angriff: -x GAB für +2X Schaden
Heftiger Angriff gegen Erzfeinde: -xGAB für 3x Schaden gegen Menschen
Im Kampf zaubern: +4 auf Konzentration bei Zaubern
Kampfreflexe: so viele Gelegenheitsangriffe wie GE
Klingenwaffenmeisterschaft: +2 Angriff und Schaden mit Hiebwaffen
Kriegsergebenheit: 1x/Tag -1 Angriff für +5 Ausweichbonus auf RK, Aktivierung schnell
Schriftrolle herstellen
Umgang mit exotischen Waffen (Bastardschwert)
Verbesserter Kampf gegen Erzfeind: +5 statt +2
Vergeltungsschlag: Gelegenheitsangriff für jeden Angriff des Gegners, Gegner bekommt +4 auf Angriff
Waffenfokus (Bastardschwert): +1 auf Angriff
Waffenspezialisierung (Bastardschwert): +2 auf Schaden
Klassenfähigkeiten
Elfenmagier:
Elfenmagie: zusätzlicher. Zauber des höchsten Grades
Waffenbund: Schwert als gebundenes Objekt; kann 1x/Tag nicht vorbereiteten Zauber sprechen
Kriegsklinge:
Manöver und Stellungen (AF): Manöver regenerieren ist schnelle Aktion bei normalem Angriff, Stellungen sind immer aktiv, können als schnelle Aktion getauscht werden
Kampfesklarheit (AF): IN auf REF
Waffenanpassung: Für Talentvoraussetzungen gelten Kriegsklinge-Stufen wie Kämpferstufen  
(Verbesserte) Reflexbewegung (AF): kann nicht auf dem falschen Fuß erwischt oder in die Zange genommen werden (außer durch Bewegungsunfähigkeit)
Bannstreiter:
Ausgedehnte Bannzauber (ÜF): Doppelte Wirkungsdauer mit Bannzaubern, die Rüstungs- oder Schildboni geben
Schneller Bann (AF): Rüstungszauber als schnelle Aktion
Schutzrüstung (ÜF): +5 auf RK-Boni durch Bannzauber
Arkane Inspiration (ÜF): x Zauberslots für +xAngriff, +2x Schaden, +xRK (alle), +5x Energieresistenz (alle) oder +xRW als schnelle Aktion
Zaubermeisterschaft: ZS = GAB
Ewige Klinge:
Kampfgeist (ÜF): RK 18, Tyrails TP und RW, Wiederkehr nach 1W6 Runden; verliert Fähigkeiten, wenn Kampfgeist außer Sichtweite
Ewiges Training (AF): Für eine Begegnung IN auf Angriff und Schaden gegen einen Kreaturentyp (5x/Tag)
Geführter Schlag (AF): Automatisch Schadensreduzierung überwinden (schnelle Aktion).
Ewiges Wissen (AF): 9+IN auf Wissen (Geschichte, Religion, Ebenen, Natur).
Defensive Einsicht (AF): Ausweich-Bonus (IN) gegen 1Gegner  für 1 Runde (schnelle Aktion)
Taktische Einsicht (AF): Jeder getroffene Gegner bekommt für 1Runde IN als Malus, aber nur für Verbündete (schnelle Aktion)
Insel im Fluss der Zeit (AF): 1x/Begegnung volle Aktion als augenblickliche Aktion
Waldläufer
Erzfeind (AF): Mensch (+5 Angriff, Schaden, Bluffen, Motiv erkennen, Entdecken, heftig Schaden x3)
Spuren lesen (AF): +1 auf Überleben, um Spuren zu lesen

Fertigkeiten:
Bluffen 10, Entdecken +12, Klettern +10, Konzentration +49 [+31], Manöverkunde +39, Motiv erkennen +28, Springen +31, Turnen +35, Wissen (Arkanes) 17, Wissen (Geschichte) +15, Zauberkunde +29
Magische Gegenstände:
Blauzorn (Bastardschwert)*, Geschicklichkeitshandschuhe +6, ST-Gürtel +6, Resistenzweste +5, Schutzring +5, Siebenmeilenstiefel, IN-Stirnreif+6, Drittes Auge der Konzentration (+10 Verbesserungsbonus), Handbuchder Intelligenz +5 (gelesen), Handbuch der Konstitution +4 (gelesen) , Schutzamulett , Schutzskarabäus er natürlichen Rüstung +5 (schützt 12x vor Todeseffekten, Lebenskraftentzug und negativem Energieschaden), Ring des Entrinnen
*Blauzorn: intelligente Vermächtnis-Waffe des Guten aus Glasstahl: Bastardschwert +1, Warnung (+5 INI), Heilig (+2W6 gegen Böse), Konzentration +5, Tageslicht 1x/Tag, Wahrer Blick 1x/Tag, Zeitstopp 1x/Tag

to be continued...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 28. April 2011, 22:53:19
So, alle hinzugefügt... mit denen will man auch nicht unbedingt Stress haben...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 03. Mai 2011, 19:49:46
Meine innere Uhr sagt, es müsste eigentlich bald wieder soweit sein...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 03. Mai 2011, 20:20:13
Ja, Spieler spüren sowas... wie ein kleines Baby im Bauch... es tritt schon wieder.
Hab auch einige schöne Zauber und Maneuver für den juten Faust entdeckt, bzw. wiederentdeckt. Z.B. im Advanced Players Guide nen 6. Grad Barden Zauber, mit dem man bei jedem W20 Wurf 2 Würfel benutzt und das bessere Ergebnis nimmt, bis man eine natürliche 20 würfelt, dann endet der Effekt.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Amurayi am 05. Mai 2011, 17:20:07
Welches FR Kampagnenjahr bespielt ihr denn? Da es ja die Zauberpest (oder Zauberleuchten wie ihr sie nennt) gibt, Anarauch noch eine Wüste ist müßte das rund um Mystras Tod passieren, oder?


Die Beschreibung der Seeelfenstadt hat mir extrem gut gefallen. Sollten sich meine Spieler dorthin verirren werde ich sie gerne in dieser Form übernehmen.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 05. Mai 2011, 18:21:27
Danke! Ja, die Kampagne spielt etwa 1395 TZ, also nach der Zauberpest, aber noch nicht so spät wie das Kampagnenset der 4E. Die Jahre des Magiewegfalls haben die Spieler übersprungen. Die Kampagne besteht schon ziemlich lange und hat lange vor der Zauberpest begonnen, darum gibt es einige spielbedingten Abweichungen - z.B. gibt es auch nach Mystras Tod wieder ein Magiegewebe und ein Schattengewebe...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 09. Mai 2011, 21:32:14
Kapitel V: Die Neun Schwerter

Grimwardt
Später in Schwerterteich bei Rabenklippe.
Der Geräuschpegel schwoll ab und wich für einen Augenblick furchtsamem Schweigen, als die hünenhafte Gestalt des Todespriesters im Türrahmen erschien. Hades erfasste den Schankraum der Gaststätte Zu den Neun Schwertern mit einem einzigen Blick seiner weißen Augen und hielt zielstrebig auf Grimwardt zu. Schon vor dem Zeitsprung war der Chulter den Gefährten an Jahren weit voraus gewesen. Inzwischen musste er über sechzig Lenze zählen. Doch strenge Selbstdisziplin und göttliche Inspiration hatten statt Altersfalten nur Linien der Unbeugsamkeit in seine Züge gemeißelt, sodass es hart und asketisch wirkte. Wie das Monument eines mächtigen, dunklen Herrschers bewegte er sich durch den Raum: majestätisch, die Hand auf dem Knauf seines Schwertes, und beinahe lautlos, trotz der schweren Ritterrüstung. Selbst Grimwardt spürte, wie ihm ein leichter Schauer über den Rücken rann.
„Hades!“ Herzlich ergriff er den Arm des früheren Mitstreiters zum Kriegergruß…. und rieb sich kurz darauf verdutzt das schmerzende Handgelenk. Es fühlte sich an, als sei er mit dem Arm in eine Eisenklemme geraten. „Dein Novize hat die Nachricht also weitergeleitet?“
„Natürlich hat er das“, erwiderte Hades mit tiefer, emotionsloser Stimme. 
Grimwardt stellte sich lieber nicht vor, was dem Jungen sonst blühte. Schwerterteich, die abgelegene Kommune der Neun Schwerter, lag etwa eine halbe Stunde außerhalb der Stadt. Als er lange nach Einbruch der Dunkelheit in der Kelemvor-Kapelle des kleinen Örtchens eingetroffen war, hatte er dort einen völlig übermüdeten Priesterschüler vorgefunden, der einen Toten für die Beisetzung am nächsten Tag vorbereitete. „Meister Hades“, so hatte er dem Kriegspriester erklärt, war einer der drei Hohen Richter von Rabenklippe und pflegte erst spät in der Nacht vom Gericht nach Hause zu kommen. Nun war es fast Mitternacht. Zwischen zwei Krügen Met und einer Platte Wachteleier hatte Grimwardt Bekanntschaft mit einer Zwergin gemacht, die sich ihm als das „Fünfte der Neun Schwerter“ vorgestellt hatte. Inzwischen beschlich ihn so eine Ahnung, was es mir ihrer fluchtartigen Verabschiedung auf sich hatte, die auf seine Bemerkung gefolgt war, dass er sich hier auf einen Humpen mit seinem „alten Kumpel Hades“ zu treffen gedenke…
„Ähm… willst du dich nicht setzen?“
Steif war Hades am Ende des Tisches stehengeblieben. Wie ein beschworener Teufel, der auf seine Befehle wartete.
„Doch.“
Noch immer keine Regung.
„Dann bitte!“
Steif wie ein Brett kam Hades der Einladung nach. Wo sein Schatten hinfiel, verstummten alle Gespräche.
„Also Richter von Rabenklippe?“, begann Grimwardt unverfänglich. „Meinen aufrichtigen Respekt. Deine Pflichten scheinen dich ganz schön…“
„Hat Faust Euch hierher geschickt?“, unterbrach Hades mit stählerner Miene den auflockernden Konversationsversuch.
„Äh… nein.“
„Steht Ihr noch in Kontakt zu ihm?“
„Natürlich.“
„Wann habt Ihr ihn zum letzten Mal gesehen?“
„Ich bin eigentlich nicht hergekommen, um über Faust zu sprechen.“
„Das ist irrelevant“, beschied der Richter. „Also wann habt Ihr Faust zum letzten Mal gesehen?“
„Vor ein paar Stunden.“
„Präzisiert das.“
Irritiert spürte Grimwardt den Schweiß im Nacken. Schon zum zweiten Mal an diesem Abend! Was war hier los? Er war hergekommen, um mit einem Waffenbruder einen Humpen zu heben und jetzt stand er kurz davor, zu gestehen, Faust in seiner Arschfalte versteckt zu halten, bloß um dem durchdringenden Blick dieser Argusaugen zu entgehen!
„Hades, ist das hier ein Verhör?!“
Rhetorische Fragen passten offenbar nicht in die Weltordnung des Inquisitors.
„Das wäre eine akkurate Bezeichnung“, erklärte er unbeirrbar. „Könnt Ihr sagen, ob Faust seine Erinnerung inzwischen zurückerlangt hat?“
„Seine Erinnerung woran?“, brummte Grimwardt, dessen Befremdung in Verärgerung umzuschlagen drohte.
„An die Bluttat an einem Mitglied der Neun Schwerter, für die ich ihn in Silbrigmond zur Rechenschaft ziehen wollte. Bei der Festnahme ergaben sich moralische Komplikationen, da er sich nachweislich nicht an die Tat erinnerte. Ein Geständnis war so nicht möglich.“ Mit einem selbstkritischen Stirnrunzeln fügte er hinzu: „Ich schließe keinen Fall ohne Geständnis ab.“
Als ob irgendwer daran gezweifelt hätte!
„Hades.“ Endlich gelang es Grimwardt, sich aus der inquisitorischen Schlinge zu winden, mit der sein alter Mittstreiter ihn überfallen hatte. „Faust hat mit mir niemals über eine… Bluttat gesprochen, ich weiß also nicht, woran er sich erinnert. Und bevor du fragst: Ich weiß auch nicht, wo er gerade steckt.“ Das war die Wahrheit. Als sie sich bei den MacLancastors verabschiedet hatten, war Faust mit den beiden Frauen zu eigenen Nachforschungen aufgebrochen. Vermutlich hatte er geahnt, in was für ein Geschützfeuer der Tempus-Priester hier geraten würde - darum seine Verschwiegenheit.
„Das ist bedauerlich“, kommentierte Hades so leidenschaftslos, dass es komisch wirkte. 
Schweigen.
Schließlich fragte der Richter: „Weshalb seid Ihr hier?“
„Die Frage fällt dir ja früh ein“ brummte Grimwardt. „Was glaubst du? Um dir einen Besuch abzustatten!“
Hades runzelte verständnislos die Stirn.
„Eine freundschaftliche Geste“, erkannte er schließlich. Immerhin schien er in der Lage zu sein, gesellschaftliche Gepflogenheiten zu kategorisieren!
Himmel, dachte Grimwardt. Warum habe ich nicht früher erkannt, was für einen gewaltigen Dachschaden der Kerl hat?
„Außerdem hatte ich gehofft, dass du mir bei einem Problem weiterhelfen könntest“, fuhr er ohne viel Hoffnung auf Erfolg fort. „Meine Gefährten und ich sind einem uralten Wesen auf der Spur, einem Illithiden. Bisher konnten wir nicht viel über ihn herausfinden, doch ich dachte, dass du uns vielleicht weiterhelfen könntest.“
Die ausdruckslosen, weißen Augen sezierten Grimwardt wie einen Leichnam auf dem Obduktionstisch.
„Das ist logisch unschlüssig“, befand Hades. „Ich habe keine besondere Qualifikation in - Illithidenfragen. In Wahrheit wollt Ihr mit der Anführerin des Ordens sprechen.“
„Wenn du ein Treffen arrangieren könntest, wäre das…“
„Ihr habt also mit Faust über Omega gesprochen?“
„Er hat sie erwähnt!“, gab Grimwardt entnervt zu.
„Das spricht dafür, dass seine Erinnerung zurückgekehrt ist“, schlussfolgerte der Richter.
„Hades, diese Sache geht mich nichts an! Ich werde dir Faust nicht ausliefern, aber ich werde dir auch nicht im Weg stehen, wenn du kommen solltest, um ihn zu verhaften!“
Grimwardt bezweifelte, dass ihm das gelingen würde. Dank Winters‘ Schutzzaubern würde Hades schon Kelemvor höchstpersönlich beschwören müssen, um Faust aufzuspüren. Doch das änderte nichts an seiner Unparteilichkeit. Er würde mehr über diese ominöse „Bluttat“ herausfinden müssen, um sich ein Urteil zu bilden. Doch da er Faust und seine ungestüme Natur kannte, schwante ihm nichts Gutes…
„Ein Treffen mit Omega kann ich nicht arrangieren“, erklärte Hades. „Sie ist nicht ansprechbar.“
„Was soll das heißen?“
„Sie hat ihren Geist auf Reisen geschickt. Mental ist sie nicht anwesend.“
„Aha“, murmelte Grimwardt. Von einem solchen Zauber hatte er noch nie gehört. Allerdings bezweifelte er, dass Richter Gnadenlos überhaupt in der Lage war eine Lüge auszusprechen, selbst wenn sie ihn darum gebeten hätte, darum blieb ihm nichts weiter übrig, als die Sache hinzunehmen. „Nun gut, wann… kommt sie denn zurück?“
„Diese Information ist mir nicht bekannt.“
Grimwardt seufzte. Das klang nach Urlaub im Irrenhaus. Auf unbestimmte Zeit. Doch vielleicht gab es ja noch einen anderen Weg, an das Wissen dieses Ordens zu gelangen… 
„Gibt es hier vielleicht eine Bibliothek, die ich einsehen könnte?“
„Es gibt eine Bibliothek.“ Hades zog die Stirn in Falten, verschränkte die Arme vor der Brust und sinnierte solange über Grimwardts Anliegen nach, bis dieser glaubte, die Paragraphen buchstäblich aus seinen Nasenlöchern dampfen zu sehen! Nach einer halben Ewigkeit hob er den Kopf. 
 „Das wäre möglich“, lautete der richterliche Beschluss. „Allerdings müsste ich dazu die Erlaubnis der anderen Schwerter einholen.“
„Aller neun?“
„Das ist richtig.“
„Aber dann muss ich doch so oder so auf Omega warten!“
„Gewiss. Sie ist die Anführerin.“
Zähneknirschend umklammerte Grimwardt die Tischkante. Er hatte geglaubt, dass seine Schwester die einzige sei, die seine Zornader zum Bersten bringen konnte…
„Ihr solltet nicht so viel Met trinken“, maßregelte Hades streng. „Ihr seid ganz rot im Gesicht. Das ist schlecht fürs Herz.“
…Weit gefehlt!

Faust
Nachts in der Bibliothek von Kerzenburg, Schwertküste.

… Die Unruhen nahmen im ganzen Land zu. Auch in Nhalloth trieb der Krieg gegen die Phaerimm zahlreiche Bürger ins unterirdische Exil. Im Jahre -345 TZ, in der 23. Nacht des Monats Flammleite, erschien Arthindol der Weltenseher ein letztes Mal in Karsus‘ Enklave, um den Arkanisten vor der bevorstehenden Apokalypse zu warnen, doch die Prophezeiung des Sarrukh blieb ungehört. Auf den Tag genau sechs Jahre später wirkte Karsus im Bestreben den Krieg zu beenden den Zauber „Karsus‘ Avatar“, der ihn mit der Göttin Mytryl verschmelzen ließ. Das magische Gewebe geriet außer Kontrolle und in ganz Faerûn stürzten fliegende Städte in den Untergang. Auch Nhalloth blieb nicht vor dem grausigen Schicksal bewahrt. Spätere Rekonstruktionen lassen vermuten, dass die Stadt in der Nacht des Absturzes im Küstengebiet des heutigen Tay stationiert war, doch Tauchexpeditionen in diesem Gebiet blieben ohne Erfolg. Jedoch tauchten im Jahre 1375 TZ Dhawerons magisches Trinkhorn und einige mindere Palastschätze auf einer Auktion in Aglarond auf. In Gelehrtenkreisen wird darum vermutet, dass die Ruinen der Stadt von Grabräubern entdeckt und geplündert wurden…


Grübelnd legte Faust die Schätze und Mysterien der Sternregen-See beiseite und wühlte sich bei Kerzenschein durch den Stapel an Schriften und Büchern, die sich im Laufe des Abends an seinem Lesepult angesammelt hatten. Hatte er nicht irgendwo gelesen, dass das erste Imperium von Netheril in einer Vollmondnacht untergegangen war? Da! Im vierten Band von Elminsters Gesammelten Schriften zum Fall des netheresischen Großreichs fand er die Stelle. Langsam fügte sich das Puzzle zu einem Ganzen: In der Nacht, in der Nhalloth ertrank, küsste Himmelsmund das Meergesicht. Joes Rätsel wies auf das Schicksal der Netheril-Stadt Nhalloth hin, die in einer Vollmondnacht im Meer versunken war. Wie alle fliegenden Städte des Imperiums musste auch Nhalloth mithilfe eines Mythallars auf der flachen Unterseite eines entwurzelten Berggipfels errichtet worden sein. Aus irgendeinem Grund war das Gebilde nicht untergegangen, sondern trieb in Vollmondnächten – und zwar nur in Vollmondnächten – als schwimmende Insel im Gebiet der Haibannmauer auf dem Ozean. Daran mochte eine arkane Reaktion des Mythallars beim Auftreten wilder Magie schuld sein: Fausts Nachforschungen hatten ergeben, dass einer Aussetzung des magischen Gewebes fast immer unkontrollierte Magieerscheinungen vorausgingen. Vermutlich hatten diese die dimensionale Zusammensetzung Nhalloths verändert und zu einem Flimmern-Effekt geführt, der die Ruine zwischen der materiellen Ebene und den Zwischenebenen hin und her springen ließ.
Nun musste er die Geschehnisse noch in einen logischen Zusammenhang bringen: Zu irgendeinem Zeitpunkt während der letzten dreißig Jahre war Joe auf einem seiner Raubzüge auf die Vollmondinsel und die Ruinen von Nhalloth gestoßen. Er hatte die Gräber der Stadtfürsten geplündert und die Schätze verkauft, die vor zwanzig Jahren in Aglarond aufgetaucht waren. Gut möglich, dass er die Insel danach als Zwischenlager für Diebesgut genutzt hatte: Wo wäre ein Piratenschatz besser aufgehoben als auf einer Insel, die nur einmal im Monat auftauchte? Sein Geltungsdrang hatte ihn schließlich dazu getrieben, sich seinen größten Coup in den Leib zu ritzen: ein Rätsel, das ihn selbst nach seinem Tod noch ins Gedächtnis seiner Bezwinger einbrennen würde. Doch als er sich mit der Zauberpest infizierte, war Joe bereit gewesen, seine Schätze gegen sein Leben – und das seiner Mannschaft – einzutauschen. Darum hatte er sich an Morloch gewandt. Winters Vision legte nahe, dass Morloch in Piratenkreisen eine Legende war. Vielleicht ein Piratenkönig, an den jeder Freibeuter gelegentlich einen Obolus zu entrichten hatte? Oder ein mystisches Wesen, das von den Schurken der Meere als Götze verehrt wurde? Auf jeden Fall musste Joe gewusst haben, dass Illithiden innere Kräfte besaßen, denen Antimagie nichts anhaben konnte. Der Pirat musste diese Fähigkeit für Schattenmagie gehalten und geglaubt haben, dass Morloch ihn heilen konnte. Nur wenige wussten, dass die Psi-Fähigkeiten der Gedankenschinder überhaupt nichts mit Magie zu tun hatten. Viele Illithiden waren Künstler der mentalen Selbstdisziplin und konnten, indem sie sich selbst in einen tranceartigen Zustand versetzten, magieähnliche Effekte erzielten, die ohne Gewebevermittlung auskamen. Faust hatte diese Dinge während seiner Zeit bei den Neun Schwertern erfahren: Von Omega hieß es, dass sie einen derart hohen Grad an Selbstdisziplin erlangt hatte, dass sie Kampfkunst und geistige Selbstmanipulation zu einer tödlichen Kombination verschmelzen konnte. Auch deshalb vermutete Faust, dass sie etwas über diesen Illithidenpiraten wissen könnte.
Die Preisfrage war nun: Welches Interesse hatte Morloch an den Schatzkarten? In Winters Vision hatte Joe ihm nicht erklären müssen, was es mit den Tätowierungen auf sich hatte, also war anzunehmen, dass er schon früher davon gewusst hatte. Und da der Illithid in der Hackordnung der Freibeuter weit über dem Kapitän der Sturmhexe stand, hätte er Joe sein Geheimnis längst aus dem Schädel saugen können. Doch offenbar war er nicht daran interessiert gewesen. Was hatte sich also während der Zauberpest verändert? Die offensichtliche Antwort war: der Wegfall der Magie. Doch auf Gewebemagie war der Illithidenfürst ja ohnehin nicht angewiesen. Aber stimmte das? In der Vision hatte Joe ihn in einer Art magischem Laboratorium angetroffen. Soweit Faust wusste, bediente sich Psikraft keiner Komponenten und Zauberbücher. Also war er zugleich Magier? Ein Magier, der sich Shar zugewandt hatte, um seine arkanen Fähigkeiten zurückzuerlangen? War das der Grund für seine Zusammenarbeit mit den Umbranten? Hatte Xantes Faredad ihm im Namen Netherils aufgetragen nach Nhalloth zu suchen – als Preis für die Schattenmagie? Barg der Ort noch ein Geheimnis, das Joe übersehen hatte? Auf jeden Fall war Morloch die große Unbekannte in dieser Gleichung. Wer war er? Was wollte er? Und was machte ihn so mächtig?
„Herr, verzeiht, aber die Bibliothek wird in wenigen Minuten geschlossen.“
Irritiert blickte Faust zu dem weißgewandeten Oghma-Mönch auf, der an seinem Tisch erschienen war. Er hatte gar nicht bemerkt, wie sich der Lesesaal nach und nach geleert hatte.
„Ich dachte, die Bibliothek sei bis Mitternacht geöffnet.“
„Es ist Mitternacht“, erwiderte der Wissenshüter.
„Oh, scheiße!“
Joe!
Verdammter Geist! Den hatte er völlig vergessen. Seit seinem ersten Auftritt in Narbental-Stadt tauchte der Piratengeist immer wieder im Abstand von einigen Tagen auf. Und wie es sich für ein ordentliches Spukgespenst gehörte, trieb er stets pünktlich zur Geisterstunde sein Unwesen. Wenn er Winter nun im Schlaf überraschte… 
Hastig drückte Faust dem verwunderten Mönch seine Bücher in den Arm und sprintete los. Die Bücherhallen der Kerzenburg waren ebenso leer wie der riesige Burghof der Festungsanlage. Polternd stürmte Faust in den zweiten Stock des Gasthauses, in dem sie sich vor ein paar Stunden eingemietet hatten.
„Winter!“
Durch den Spalt unter der Tür drang gespenstiges Licht. Faust zog sein Schwert und stürmte in den Schlafsaal. Das Kreischen des Geistes hallte auf der materiellen Ebene nach, doch seine Gestalt hatte sich bereits verflüchtigt. Winter kauerte auf dem Boden neben ihrem Bett.
„Alles in Ordnung?“, fragte Faust atemlos. 
Sie hob den Kopf: Ihr Gesicht war leichenblass und tränenüberströmt und ihre aufgeplatzten Lippen bebten. Und dann dieses fiebrige Glänzen in ihren Augen - hungrig, krank, verzweifelt, wie… wie bei Elijas, dem blutsüchtigen Avariel…
„Nein“, flüsterte sie erstickt. „Überhaupt nichts ist in Ordnung. Ich muss jemanden töten. Sofort. Ich muss jemanden töten und seinen Schatten trinken.“
Faust rann ein eisiger Schauer über den Rücken.
Beklommen machte er einen Schritt auf sie zu.
„Hat dieses… Verlangen etwas mit deinen neuen Zauberkünsten zu tun?“, fragte er gedämpft - bemüht, jeden Vorwurf aus seiner Stimme zu bannen.
Er half ihr aufs Bett.
„Da war dieser Magier“, begann Winter konfus. „Nachts in der Wüste, auf dem Weg zum Lager des Sandfürsten. Er machte mir ein Angebot… Er warnte mich, dass es mich verändern würde, meine Seele, aber ich… Ich brauche die Magie, Faust! Aber ich kann mich nicht Shar zuwenden – nicht, wenn meine Vision wahr wird und wir eines Tages gegen ihr erwähltes Volk in den Krieg ziehen. Ich ging auf das Angebot ein. In dieser Nacht tötete ich einen Banditen und trank seine Seele aus seinem Schatten. Und später dann die Seele des Umbrantenfürsten. Seitdem kann ich an nichts anderes mehr denken… Es ist nicht nur, dass ich Shars Barrieren durchbrechen und in ihr Gewebe eindringen kann, meine Magie ist um ein Vielfaches stärker seitdem… Aber die Seelenenergie ist längst aufgebraucht und ich… Ich brauche dringend Nachschub!“
Ein düsterer Funke glomm in ihren Augen, der etwas Monströses enthüllte. Er machte mir ein Angebot. Das klang wie… Das war mehr als eine Sucht!
 „Wer war er, dieser Seelenmagier?“, fragte Faust mit belegter Stimme.
„Einen Namen nannte er mir nicht.“
„Warum du? Warum wählte er ausgerechnet dich aus?“
„Er sagte so etwas wie ‚diese Gemeinschaft liegt mir sehr am Herzen‘.“
Ein wahnwitziger Gedanke durchzuckte Faust.
„Sah er…?“ Er räusperte sich. „Sah er mir ähnlich?“
„Was?“ Verwirrt schüttelte sie den Kopf, doch es wirkte verunsichert. „Eigentlich nicht. Es sei denn… Er hatte dieses eigenartig harte Lächeln. Manchmal, wenn du etwas sagst, das du besser nicht aussprechen solltest… Faust, was hat das zu bedeuten?“
Etwas pochte dumpf hinter seiner Stirn.
Sei kein Narr, das muss nichts zu bedeuten haben!
„Weißt du….“, begann er langsam. „Als Hades mich verhaften wollte, damals in Silbrigmond…“
„Wegen der Sache mit deinem Lehrmeister?“ Als sie Fausts überraschten Blick auffing, zuckte sie entschuldigend mit den Schultern. „Ich habe gelauscht, als du Elijas davon erzähltest.“
So viel zu Winters Diskretion.
„Na gut, dann weißt du auch von den Gerüchten über meinen Vater? Bloß dass es vermutlich keine Gerüchte sind. Ich glaube, dass mein Vater irgendwann, als ich noch sehr jung war, einen Pakt mit einem Teufel schloss und seitdem für die Hölle arbeitet. Habe in letzter Zeit ein bisschen nachgeforscht… Weißt du, wenn ein Teufel einen Seelenpakt mit einem Sterblichen eingeht, dann gibt es zwei Möglichkeiten. Am sichersten ist die direkte Variante von der Sorte Ich-mach-dich-reich-wenn-du-mir-deine-Seele-gibst, ein unterzeichneter Vertrag, der all die dreckigen Details enthält. Aber damit lassen sich nur Seelen fangen, die ohnehin schon korrumpiert sind. Darum gibt es noch die andere, die Es-ist-ja-nur-dieses-eine-Mal-Variante. Dabei ist der Teufel nicht gezwungen seine wahre Identität preiszugeben. Mit anderen Worten, er wedelt dir mit dem Leckerbissen vor der Nase herum und hofft, dass du selbst auf die Idee kommst, danach zu schnappen.“
„Ein Höllenpakt“, wiederholte Winter tonlos. „Du meinst, ich… ich habe meine Seele verkauft?“
„Naja… Tigil würde sagen, die erste Ratenzahlung ist über den Tisch gegangen.“
„Und du denkst, dass dieser Seelenmagier dein Vater war?“
Faust zögerte.
„Das war nur so ein Gedanke...“
Oder ein weiterer Faden des Schicksals.
„Und wenn du recht hast? Warum sollte er das tun?“
Er zuckte ratlos mit den Schultern.
„Keine Ahnung.“
Ohne das Muster dahinter ist der Faden bedeutungslos.
Winter lächelte unglücklich. Sie hatte nicht einmal mehr die Kraft zu verzweifeln. Es gab nichts Aufmunterndes, dass Faust ihr sagen konnte. Was sie getan hatte, war unentschuldbar, auch wenn sie es aus Liebe getan hatte. Der Weg zur Hölle ist mit guten Absichten gepflastert…
„Du solltest die Sache mit den Seelen jedenfalls vor Grimwardt verbergen“, murmelte er. 
„Warum?“, fragte sie bang. „Nichts stand jemals zwischen uns…“
Faust lächelte hart.
„Lass es mich so ausdrücken“, sagte er düster. „Grimwardt ist Tempus‘ Bluthund. Was glaubst du, würde passieren, wenn sein Chef ihm auf die Schulter tippt und meint: ‚Hey, deine Schwester klaut uns hier oben die Seelen‘?“

Grimwardt
Schwerterteich, am nächsten Morgen.
Irgendwo hinter dem Schleier aus Bewegung und aufgepeitschten Funken lauerte sein Gegner. Grimwardt kniff die Augen zusammen und stemmte die Stiefel fester in den Boden. Unbeweglich wie ein Fels. Warten, bis der Gegner vor dir steht, dann zuschlagen. Niemals zurückweichen. Wie bei einer Schlacht im Schneesturm. Plötzlich war er da - schnellte senkrecht von oben auf ihn herab. Federregen begleitete den Klingensturm. Grimwardt legte all seine Kraft in seinen Gegensturm, doch der flimmernde Schutzschild der Beschleunigung lenkte jeden seiner Hiebe ab. Sein Gegner war ihm überlegen, aber lange würde er diese Geschwindigkeit nicht halten können. Ausdauer war Grimwardts einzige Chance – Ausdauer und ein wenig Glück. Bloß nicht die Konzentration verlieren, bloß nicht… Zu spät: Ein Luftzug in seinem Rücken und Grimwardt spürte das kühle Leder des Übungsstabs an seiner Kehle. Ein tödlicher Treffer.
Erschöpft ließ Elijas von ihm ab und quittierte den Übungskampf mit einer respektvollen Verneigung, die Grimwardt ebenso erschöpft erwiderte.
„Ihr seid gut in Form“, brummte er, als er dem Avariel zu der kleinen Tribüne folgte, wo Elijas‘ Knappe ihre Waffen hütete. Wie Grimwardt inzwischen erfahren hatte, unterrichtete jeder der neun Schwertmeister einen oder zwei Schüler, die für gewöhnlich aus dem Adel Rabenklippes stammten und für die Ausbildung gut bezahlten.
Er ist tatsächlich gut in Form, versuchte er sich über die Schmach der Niederlage hinwegzutrösten. Klare Augen, aufrechte Haltung, strahlendes Gefieder – er konnte keine Anzeichen mehr für eine Blutsucht erkennen. Der verstoßene Elf hatte mit der Vergangenheit abgeschlossen und sein Körper erzählte die Geschichte seiner Läuterung: Über die linke Seite seines Oberkörpers wand sich in schillernden Grüntönen die Tätowierung eines karaturianischen Feuervogels. Der Leib des Phönix‘ wurde von kaligraphischen Schriftzeichen umrahmt, die sich bis zu seinem Haaransatz schlängelten, wo sie die verblassten Insignienlinien seines Familienclans mit neuen Bedeutungen überschrieben. Nachdem sich ihre Wege in Westtor getrennt hatten, war der Avariel Fausts Ratschlag gefolgt und in Rabenklippe gelandet. Omega hatte ihn in ein Kloster der Schwertkunst in Shou-Long geschickt – auf Entziehungskur, wie Grimwardt zwischen den Zeilen seines Berichts herausgehört hatte. Außerdem hatten die Jahre in Kara-Tur hatten seinen elfischen Klingentanz um die feurige Schwertkunst der Phönixmagier von Shou-Long bereichert. Vor vier Monaten schließlich war er zurückgekehrt und vom Rat der Neun Schwerter in den Orden aufgenommen worden. Nun trug er die Klinge und den Namen des Zweiten Schwertes – und war damit der Nachfolger des Thallastam, Fausts altem Lehrmeister … Das Schicksal hatte manchmal wirklich einen seltsamen Sinn für Humor.
Elijas‘ Züge verdüsterten sich fast unmerklich, als er sich das Schwert umgürtete, das ihn zum Ordensmitglied machte. Grimwardt war aufgefallen, dass eine ungewöhnlich starke Aura des Bösen von der Waffe ausging. Das weckte seinen Argwohn. Nicht gerade das passende „Willkommensgeschenk“ für einen Ex-Blutsüchtigen mit zweifelhaftem Hintergrund…
„Ihren Vorbesitzern hat sie nicht viel Glück gebracht.“
„Hm?“ Ertappt wandte Grimwardt den Blick von der Waffe.
„Seelentrinker“, erklärte Elijas. Als er das Schwert zog, sprang es mit sirrender Klinge in seine Hand. Der Kriegspriester musste sich zusammennehmen, um nicht mit den Zähnen zu knirschen, als ihm die Todesaura der gekrümmten Shou-Klinge mit unverhüllter Macht entgegenschlug. „Die Klinge des Thallastam.“
„Dann stimmt es also?“, murmelte Grimwardt. „Was man sich über Faust und Euren Vorgänger erzählt?“
Elijas bewegte unbehaglich die Flügel.
„Verzeiht, aber ich bin an ein Versprechen gebunden“, erklärte er. Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: „Wenn er irgendwann bereit sein sollte, sich zu stellen… sagt ihm, dass er hier nicht nur Feinde hat.“
Grimwardt versprach, seine Worte weiterzugeben, und der Avariel verabschiedete sich.
Während ihres Zweikampfs hatte sich die kleine Tribüne mit Zuschauern gefüllt. Auch seine Bekanntschaft vom letzten Abend war gekommen. Als er auf die Zwergin zutrat, die auf ihr Schwert gestützt hinter der niedrigen Absperrung harrte, richtete sie sich auf und würdigte seinen Auftritt mit einem kurzen Nicken. Unter Zwergen kam das stampfendem Beifall gleich.
„Respekt.“ Ihre Stimme war so tief als käme sie aus dem Herzen der Erde „Der letzte von uns, der gegen den Neuen gekämpft hat, lag im Staub, ehe er zum Gegenschlag ausholen konnte. Sogar Omega musste ein paar Hiebe gegen ihn einstecken.“ 
Bei der Erwähnung der Ordensführerin glomm ein ehrfürchtiges Leuchten in den tiefen Höhlen ihrer Augen. Auch Elijas‘ hatte mit einer Hochachtung von Omega gesprochen, die an Verehrung grenzte. Und selbst der unbeugsame Hades hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er sich ihren Befehlen unterordnete. Wer war diese Frau? Ein Schwertguru, der eine Sekte als Kampfschule und Abenteurergemeinschaft tarnte? Und wie kam es, dass Grimwardt ihren Namen hier zum ersten Mal hörte? Dieser Orden strotzte vor Kämpfern, die es mit jeder Heldenlegende aufnehmen konnten, und doch waren ihre Namen niemals über die Stadtmauern von Rabenklippe hinaus gedrungen.
„Hm, diese Omega scheint mit ihren Heldentaten nicht gerade hausieren zu gehen.“
„Nein. Das wäre gegen ihre Philosophie.“
Grimwardt sah zum Himmel. Die Sonne stand inzwischen voll und strahlend am Himmel und der Morgennebel hatte sich verzogen. Gerne wäre er geblieben, um der Ideologie dieser Gemeinschaft auf den Zahn zu fühlen, doch da war schließlich noch die merkwürdige Notiz, die er nach dem Aufstehen unter dem Türschlitz gefunden hatte…
„Hm, ich fürchte, ich muss mich schon wieder verabschieden“, entschuldigte er sich. „Ich bin mit einem gewissen Tyrail verabredet und ich würde ihn nur ungern…“
„Tyrail?“, unterbrach ihn die Schwertmeisterin schneidend.
„Ich weiß – er soll nicht besonders gut zu sprechen sein auf meinesgleichen.“
„Seid auf der Hut! Nicht mal der Grund des Meeres ist so schwarz wie die Seele dieses Spitzohrs!“
Die düstere Warnung klang in seinen Gedanken nach, als er sich auf den Weg machte.
Schwerterteich war schnell durchquert. Der Ort bestand nur aus einer Handvoll Gebäuden: Das Gasthaus, die Kelemvor-Kapelle, ein Friedhof, eine Schmiede, die Wohngebäude der Schwerter, und ein Kirchbaumgarten mit einem Teich und einem tempelartigen Pavillon im Shou-Stil. Tyrail hatte eine abgelegene Lichtung im Wald zum Treffpunkt bestimmt. Was mochte er wohl im Schilde führen? Man konnte dem Burschen nur wünschen, dass er nicht so wahnwitzig war, sich mit dem Auserwählten des Herrn des Krieges anzulegen!
Hinter dem Tempelgarten lag noch ein weiteres Gebäude, das hinter einer dichten Lorbeerhecke verborgen lag. Jäh hielt Grimwradt inne: An einer Stelle war das Laub ausgedünnt und gab den Blick frei auf einen stallgroßen Käfig, der sich an die Hauswand schmiegte. Aus jenem Käfig fixierten ihn zwei leuchtende orangegelbe Augen mit animalischer Bosheit. Die Kreatur, die zu jenen Augen gehörte, war verborgen im Schatten einer selbstgegrabenen Höhle. Als sie erkannte, dass sie entdeckt worden war, stieß sie ein unterschwelliges Knurren aus und veränderte lauernd die Position, wodurch ein Lichtstrahl ihre Gestalt erfasste: ein massiger Körper, halb Mensch, halb Tier, der gänzlich aus faustdicken Muskelsträngen und struppigem, verfilztem Körperhaar zu bestehen schien. Langsam wich Grimwardt ins Dickicht zurück. Bei Teufeln und Archonen! Dieser Ort wurde ihm immer unheimlicher! Dunkle Schwerter, tollwütige Tiermenschen, mysteriöse Nachrichten… Was kam als nächstes? 
Nun… Tyrail kam als nächstes.
Der Elf wartete bereits am Treffpunkt, als Grimwardt auf der Lichtung eintraf, und im ersten Moment war der Priester auf positive Weise überrascht. Der hochgewachsene Sonnenelf mit den feingeschnittenen, intellektuellen Zügen und den kühlen, grauen Augen wollte nicht recht in das Bild passen, das er sich gerade von diesen Leuten gemacht hatte. Selbst sein Schwert, das wie die Klinge des Avariel leicht gekrümmt war, strahlte eine positive Aura aus. Ein kleines, weißes Irrlicht tanzte in nervösen Spiralen um die Schwertscheide. Doch als Grimwardt näher trat, um den Elf zu begrüßen, wich dieser zurück wie von einer giftigen Viper gebissen. Seine Hand fuhr an den Schwertknauf und im nächsten Augenblick wies eine zitternde Klinge aus blauem Glasstahl auf Grimwardts Nasenspitze.
„‘alt! Das ist nah genug“, sprach Tyrail. Sein elfischer Akzent biss sich mit der kalten Überheblichkeit seiner Glasstahl-Augen.
 „Ähm… ich bin…“
„Ich weiß, wer Ihr seid“, fiel der Elf ihm schneidend ins Wort. „Und ich bin sicher, Ihr wisst, wer ich bin.“
„Würdet Ihr wohl endlich dieses Ding aus meinem Gesicht nehmen“, knurrte Grimwardt.
„Ich wäre Euch sehr verbunden, wenn Ihr das Reden seinließet; es schmerzt in meinen Ohren.“ Hatte er sich gerade verhört oder sprach dieser arrogante Schnösel besonders deutlich, um sicherzugehen, dass der dümmliche Mensch, den er hierher bestellt hatte, ihn auch verstand?! „Ich habe eine Nachricht für Faust und ich will, dass Ihr sie ihm überbringt. Ich fordere ihn zum Duell. ‘ier an diesem Ort in genau einem Zehntag bei Sonnenaufgang. Er soll alleine kommen. Wenn er auch nur einen Funken Ehrgefühl ‘at, wird er erscheinen, anstatt sich weiter zu verkriechen wie ein jämmerlicher Feigling! ‘abt ihr das verstanden oder soll ich es Euch in Euer ‘ässliches Gesicht ritzen?“
„Ich fürchte, Faust bekommt nicht mehr viel zu tun“, erwiderte Grimwardt betont ruhig und legte die Hand an die Axt.
Tyrail schnaubte verächtlich.
Amadá! Wenn ich Euch jetzt töte, wer soll dann meine Nachricht überbringen?“
Mit diesen Worten steckte er sein Schwert in die Scheide, wandte Grimwardt den Rücken zu und verschwand im Dickicht. Für einen Augenblick erwog der Kriegspriester ihm eine Lektion in Sachen Höflichkeit zu erteilen, doch dann entschied er, dass er Faust den Spaß nicht verderben wollte. Seufzend wandte er den Blick zum Himmel.
Tempus, wo bin ich hier gelandet?

Winter
Hafenviertel von Baldurs Tor, Schwertküste, gegen Mitternacht.
Erschöpft lehnte sie ihren pochenden Schädel gegen die schmutzige Hauswand. Sie war der Verzweiflung nahe. War denn dieses verflixte Hafenloch voll von ehrbaren Seemännern und braven Halunken? Wo waren die Zeiten, als ein unglückliches Mädchen, das einsam durch die Gassen irrte, noch in den nächstbesten Toreingang gezerrt wurde?! Seit drei Stunden versuchte sie bereits ihr Glück… Schritte und hartes Gelächter am Ende der Gasse. Noch ein Versuch… Mühsam raffte Winter ihre Röcke und prüfte ihre Verkleidung: verschmiertes Rouge, ein halb gelöstes Mieder, zerzauste goldene Locken, verweinte blaue Augen… Gebt mir einen Vorwand! Nur einen klitzekleinen Beweis, dass ihr es verdient, dass ich euch die Seele aus dem Leib reiße!
Verdutzt hielten die beiden betrunkenen Matrosen inne, als das junge vollbusige Ding ihnen schluchzend in den Weg stolperte.
„Hey, Kleine“, lallte der schmälere der beiden. „Is‘ alles in… Ordnung?“
Die Kleine hob verwirrt den Kopf und ein herzerweichendes Schluchzen drang aus ihrer Kehle.
„Ich… ich weiß nicht“, jammerte sie kopflos. „Ich… ich glaube, ich habe mich verlaufen.“
„Bist du allein?“
„Ja, ganz allein…“
„Wo musst du denn hin? Vielleicht können wir dir ja helfen.“
Helfen? Nicht euer Ernst, oder?
„Das wäre wirklich nett von euch“, flüsterte sie mit großen, naiven Augen und nannte den beiden eine der zahlreichen Hafenabsteigen, über die sie an diesem Abend gestolpert war.
Ihre beiden „Retter“ hakten sich rechts und links bei ihr ein und der Gestank nach Met und Schweiß verband sich in ihrem fiebrigen Schädel zu einem Übelkeit-erregenden Cocktail. Um ihrem Glück ein wenig auf die Sprünge zu helfen, sorgte sie dafür, dass ihr Mieder ab und wann tiefe Einblicke gewährte – mit Erfolg. Bohnenstanges Blicke wurden immer begieriger und die Abstände, in denen er sich mit der Zunge über die trockenen Lippen fuhr, immer kürzer. Nach der Hälfte der Strecke fand seine Hand schließlich ihren Hintern. Zehn Minuten später blieb er wankend stehen. Winter blickte sich um. Eine dunkle Gasse. Torbögen, die tiefe Schatten warfen.
Gut. Sehr gut.
„Was ist los?“, fragte sie mit einem arglosen Augenblinzeln. „Warum sind wir stehen geblieben?“
Bohnenstange streifte seinen Saufkumpanen mit einem nervösen Blick, dann grinste er ölig und zog sie enger an sich. Winter täuschte Empörung vor und unternahm einen schwächlichen Versuch, sich aus seiner Umklammerung zu lösen. Er gab nicht nach.  Nur weiter so!
„Hey, Mann, was soll das?“, drohte sein Begleiter die Sache zu vermasseln.
„Komm schon, Malwek!“ Schon wieder dieses widerliche Grinsen. „Sei kein Spielverderber! Ich lass dich auch mal ran!“
Malwek trat unsicher auf der Stelle.
„Scheiße, ich mach‘ da nicht mit“, murmelte er schließlich. Ein gehetzter Blick in Winters Richtung, dann war er in der Nacht verschwunden. Bohnenstanges Hände rutschten tiefer.
„Bitte nicht“, wisperte sie.
Er grinste – plötzlich selbstsicherer – und zerrte sie in den Schatten.
Das war‘s! Sie hatte ihn! Ohne Vorwarnung ließ sie die Maske fallen!
„Scheiße… Ahhh!“
Panisch tastete er nach dem Dolch, der plötzlich aus seiner Brust ragte, während er entgeistert in das leichenblasse Gesicht der rothaarigen Rachegöttin starrte, die von seinem Opfer Besitz ergriffen hatte. Die Gier drohte sie umzubringen! Ihr Atem ging stoßweise. Mit zittrigen Händen zog sie den Dolch aus der Wunde. Bevor ihr Opfer in die Knie brechen konnte, stieß sie ihn ins Mondlicht, denn im Dunkeln konnte sie seinen Schatten nicht von den anderen unterscheiden. Dann erklangen die ersten Töne seiner Seelenmelodie und sie verlor die Kontrolle… Als sie das Bewusstsein wiedererlangte, kauerte sie über der Leiche des jungen Seemanns wie ein Raubtier über den abgenagten Knochen einer erlegten Beute. Ein schluchzender Laut der Abscheu brach über ihre Lippen. Dann sank sie gegen eine Hauswand und begann bitterlich zu weinen.
 
Grimwardt
Rabenklippe, drei Tage später.
Angewidert spie Grimwardt eine Kelle Kanincheneintopf zurück in die Schüssel.
„Magd!“, rief er aufgebracht. Die Schankmaid, ein pralles Mädchen mit mächtigem Hinterteil, schwitzte aus allen Poren, als sie händeknetend zu seinem Tisch getrappelt kam – dem einzigen, der im Hinkenden Raben trotz der mittäglichen Stunde besetzt war.
„Das schmeckt wie vom Troll in den Viehtrog gereihert! Eurem Koch gehört mit seinem Fraß einmal gehörig das Leder gefettet!“, wetterte der Kriegspriester. „Da waren ja selbst die Eier genießbarer, die ihr mir vorgesetzt habt! Und die waren roh!“
„Herr“, murmelte sie zaghaft. „Vielleicht möchtet Ihr ein anderes Gasthaus aufsuchen? Euer Gaumen scheint der… äh… der kulinarischen Eigentümlichkeit dieses Hauses nicht zugetan.“
„Pah! Der Gaumen muss erst noch erfunden werden, der sich mit diesem Orkdreck anfreunden kann! Eure Kundschaft besteht wohl aus Gnollen!“
Das nervöse Zucken um die Mundwinkel der Schankmaid sprach Bände. Das durfte ja wohl nicht wahr sein! Mochten die neun Höllen über ihn kommen, wenn die Güllepampe auf seinem Teller tatsächlich Kaninchenfleisch war! Fluchtartig verließ Grimwardt dieses verteufelte Gnollnest, um im Möwennest ein paar Straßenecken weiter sein Glück zu versuchen. Die Preise des Wirtshauses hatten sich gesalzen, aber nach der Erfahrung im Hinkenden Raben hätte er einen Goldesel für ein vernünftiges Mahl gegeben! Doch er hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Spätestens als ihm ein Zahn in der Schuhsohle steckenblieb, die der Knecht als „Fisch im Teigrock“ angepriesen hatte, gingen die Pferde mit ihm durch. Wutschnaubend packte er den Unhold am Schlafittchen.
„Hol mir den Küchenmeister, aber plötzlich!“, donnerte er. „Oder ich lass dich die Galle schmecken, die mir gerade hochkocht! Und glaub mir, das wäre ein Gaumenschmaus gegen das Saufutter, das du mir untergejubelt hast!“
„Bitte, Herr“, jammerte der Knecht. „Es tut mir so leid, aber unser Küchenmeister ist heute krank. Aber der Hausherr verprügelt mich, wenn am Ende des Tages nicht mindestens ein paar Goldstücke im Säckchen klingeln, darum lasse ich Speis und Trank aus dem Hinkenden Raben herbringen…“
Grimwardt starrte ihn an wie vom Esel ins Gemächt getreten. 
„Bei Tempus‘ haarigen Eiern! Willst du mich verkohlen? Du kaufst in diesem Gnollnest ein und verhökerst den Fraß dann zum doppelten Preis?! Du Bengel, wenn ich mit dir fertig bin, dann erscheint dir dein Herr wir ein Heiliger!“ 
Nachdem Grimwardt dem Jungen beigebracht hatte, wie man den Tresen mit den Wangenknochen wienerte, machte er sich mit dampfendem Schädel und knurrendem Magen auf den Rückweg. War diese gesamte Stadt denn völlig übergeschnappt? Früh am Morgen war er nach Rabenklippe gekommen, um im Orden der Mystischen Flamme - dem städtischen Magierzirkel – einen Aushang für einen Kriegsmagier zu hinterlassen, denn die Abtei hatte magische Schutzvorrichtungen bitter nötig. Doch dank des unfähigen Ogerhirns von Studenten, dem diese Robenträger ihre Geschäfte überließen, hatte ihn selbst dieses simple Gesuch zwei Wutausbrüche und einen Anflug von Atemnot gekostet. Noch drei Tage und diese Stadt würde ihn ins Grab bringen!
Nach einer halben Stunde Fußmarsch erblickte er das windgeschaukelte Messingschild der Neun-Schwerter-Taverne. Niemals hätte sich Grimwradt träumen lassen, dass er bei diesem Anblick einmal einen Seufzer der Erleichterung ausstoßen würde! Langsam begann er zu begreifen, weshalb die Wirtshausstube von Schwerterteich unter Rabenklippern als Geheimtipp galt…
„Kannst du mir versichern, dass euer Küchenmeister weder krank noch ein Gnoll ist?“, brummte er misstrauisch, als die alte Milicent seine Bestellung aufnahm. 
„Wollt Ihr mich beleidigen?“, knurrte die bärbeißige Wirtsherrin. „Ich bin die Küchenmeisterin dieses Hauses!“
Selten hatte Grimwardt ein gewöhnliches Eieromelette von durchschnittlicher Qualität so wohl gemundet! Gerade als er sich den letzten Bissen in den Mund schob, erschien die Zwergin, mit der er sich in den letzten Tagen angefreundet hatte, im Gasthaus: Omega war von ihrer Gedankenreise zurückgekehrt und bereit ihn zu empfangen. Endlich: Seine Feuerprobe neigte sich dem Ende zu!
Omega erwartete ihn in der Halle der Schwerter, wie die Ordensmitglieder den Shou-Tempel im Herzen des Kirchgartens zu nennen pflegten. Grimwardt hatte diesen Ort bisher noch nie betreten, denn obgleich die vier Wände des Pavillons so dünn und pergamentartig wirkten, als könne man sie mit einem Dolch durchtrennen, hatte er noch keinen Eingang entdeckt. Umso mehr erstaunte es ihn den Tempel nun zu einer Seite völlig offen vorzufinden, so als habe jemand eine der Wände gänzlich aus der Fassade gelöst. Kaum war er eingetreten, senkte sich die fehlende Wand wie ein Bühnenvorhang von oben herab.
Die Halle hatte keine Fenster, doch durch das Pergament der Seitenwände fiel mit harmonischer Gleichmäßigkeit gedämpftes, gelbes Licht in den Raum. Senkrecht zu den Raumecken zogen sich Schriftzeilen in der Handelssprache von Kara-Tur über die Wände, die von feingearbeiteten Tuschezeichnungen unterbrochen wurden. Die Wandbilder zeigten Krieger in Schlachtszenen, deren Schatten wie wachende Ahnengeister durch den Raum huschten. In der Mitte der Halle erhob sich ein mächtiger Steintisch, in dessen Rundplatte ein Relief mit dem Wappen der Neun Schwerter eingelassen war: ein Rad, dessen neun Speichen auf eine kreisrunde Einkerbung zuliefen, die in zwei Ringe unterteilt war: In den äußeren Ring waren vier kaligraphische Schriftzeichen gemeißelt; der innere bestand aus einem Kreis, halb schwarz und halb weiß, dessen Enden ineinander flossen wie zwei Schlangen, die sich gegenseitig in den Schwanz bissen. Ein weißer Punkt durchbrach den schwarzen Teil des Kreises und ein schwarzer den weißen. Um den Tisch waren neun schlichte steinerne Sitzhocker gruppiert. Die gesamte Konstruktion war völlig symmetrisch, sodass der Raum aus jedem Winkel den gleichen Anblick bot.
Omega harrte, Grimwardt den Rücken zugekehrt, wie zeitgefrorenen in der Mitte des Steintisches, das eine Bein zur linken Seite angewinkelt, das andere zur rechten ausgestreckt, wie im Spagat. Ihr Rücken formte eine Linie mit dem Schwertarm, mit dem sie eine kristallweiße Klinge über dem Kopf schwang; der andere Arm war parallel zum rechten Bein zur Seite ausgestreckt.
Grimwardt war für einen Augenblick wie betäubt - ergriffen von der vollkommenen Harmonie dieses Bildes. Dann richtete Omega sich in einer langsamen, zeitverzögernden Drehung auf, beschrieb einen Bogen mit dem Schwert und ließ es lautlos in die Scheide fahren. Als ihn der Blick ihrer meergrauen Augen traf, wich die Ergriffenheit einem kurzen Moment unterschwelliger Ehrfurcht.
„Grimwardt Fedaykin“, begrüßte sie ihren Gast, während sie zu ihm herabstieg. Sie sprach wie jemand, der eine Sprache einmal gekannt und dann wieder vergessen hatte und sie nun als Fremder sprach. „Willkommen im Herzen des Ordens der Neun Schwerter, Erwählter des Tempus.“
Sie war klein und von drahtiger Statur. Eine kostbare Rüstung aus weißgrauen Mithralringen umschmiegte ihren Rücken und die linke Körperhälfte wie eine Schlangenhaut, während die rechte in schlichte karaturianische Gewänder gehüllt war. Ihr schmales, blasses Gesicht wurde von halbmondförmigen Strähnen ihres kinnlangen, mahagoniroten Haares umrahmt. Etwas an ihrer Erscheinung war irritierend, doch Grimwardt brauchte eine Weile, um zu erkennen, was es war. Es waren ihre Augen. Sie hatte weder Wimpern noch Augenbrauen, was ihnen eine ungewöhnliche Intensität und Tiefe verlieh. Außerdem blinzelte sie zu selten und zu kontrolliert. Diese Augen verrieten, dass sie nicht menschlich war. Nicht mehr. Schon sehr, sehr lange nicht mehr.
Nach ihrer Begrüßung schwieg sie und schien wieder in der Zeit zu gefrieren.
Grimwardt räusperte sich.
„Ihr… wisst, weshalb ich hier bin?“
„Nein.“ Ein Blinzeln. „Ich kann weder Eure Gedanken noch die Zukunft sehen.“
Trotzdem steckte Grimwardts nächste Frage bereits in ihre Antwort. Er musste an den Sarrukh denken, der so lange gelebt hatte, dass er die Bewegungen des Zeitstroms vorherzusehen vermochte. War sie jünger als er, aber bereits so alt, dass ihre Intuition wie ein zeitlicher Radar war, nur mit kleinerem Radius?
„Mein Kommen hat im Grunde nichts mit dem Orden zu tun“, begann Grimwardt. „Aber in den letzten Tagen habe ich Bekanntschaft mit einigen der Schwerter gemacht und sie erschienen mir alle so unterschiedlicher Überzeugung, dass ich mich frage, welche Ordensphilosophie das sein mag, die sie alle zu einen vermag.“ 
„Es gibt keine Philosophie, die sie eint“, erwiderte Omega. „Manche von ihnen sind hier, weil sie durch den Orden Macht zu erlangen hoffen, andere weil sie an ein Ziel glauben und wieder andere weilen weit entfernt von hier.“ Sie trat an den steinernen Wappentisch und fuhr mit federleichten Berührungen die Einkerbungen des Rademblems nach.  „Das einzige, was sie eint, ist das Rad des Schicksals… Einst wurden acht Schwerter geschmiedet, welche die acht kosmischen Prinzipien repräsentieren. Die vier Elemente: das Feuer, das Wasser, die Erde und die Luft. Und die vier Gesinnungen: das Gute, das Böse, die Ordnung und das Chaos.“ Während sie die acht Prinzipien aufzählte, fuhr ihre Hand über die inneren Kreise des Wappens und die Symbole leuchteten unter ihrer Berührung kurz auf. „Seither sucht jedes der Schwerter nach dem vollkommen Träger. Auf gewisse Weise haben sie also einen Willen, doch sie sind nicht frei, während ihre Träger die Freiheit haben zwischen unterschiedlichen Schicksalen zu wählen. Seit tausenden von Jahren suchen die Schwerter bereits nach demjenigen, der ihr jeweiliges Prinzip am besten verkörpert. Nur bei den Schwertern des Guten und des Bösen verhält es sich anders, weil das Gute und das Böse niemals in reiner Form existieren. Im Gegensatz zu den anderen Schwertern suchen sie nach ihrem Gegenteil - nach einer Seele auf der Schwelle, die sie bekehren können… Die Neun Schwerter sind kein Orden, sondern eine Schicksalsgemeinschaft. Wir sind im Kleinen was die Welt im Großen ist, nur in reiner, kristallisierter Form.“
Omegas Schwertmystik klang fremd und eigenartig in Grimwardts Ohren – wie eine Religion ohne Götter. Aber sie erklärte viele der Ungereimtheiten, über die er in den letzten drei Tagen gestolpert war. Sie erklärte, warum Hades hier, wo er den Platz der Ordnung einnahm, noch unerbittlicher war als während ihrer gemeinsamen Zeit in Silbrigmond. Sie erklärte auch, weshalb der wankelmütige Elijas eine Klinge des Bösen und der hasszerfressene Tyrail ein Schwert des Guten trug und weshalb sie alle sich nicht gegenseitig an die Gurgel gingen! Doch wie jeder Mythos war die Philosophie der Neun Schwerter nur so gut wie derjenige, der die Macht hatte, ihre Ziele zu definieren.
Argwöhnisch ließ Grimwardt seinen Blick über das Schicksalsrad der Neun Schwerter schweifen.
„Was ist mit dem neunten Schwert?“, fragte er unvermittelt. „Was ist mit Euch? Sollte Euer Platz nicht im Mittelpunkt sein?“
„Ich bin der Mittelpunkt“, erklärte Omega. „Aber der Mittelpunkt ist leer ohne den Kreis, der ihn definiert. Ich bevorzuge die Metapher der Speiche. Das neunte Schwert repräsentiert das Prinzip der Reziprozität: die Speichen des Schicksalsrads, welche die anderen Schwerter miteinander verbinden.“ 
Also darum waren die Neun Schwerter noch niemals als Gruppe in Erscheinung getreten. Omega verfolgte keine Ziele, sie sah das Ziel bereits in der Gründung des Ordens verwirklicht. Grimwardt wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Er war ein Mann, der in Loyalitäten dachte und nach seinem Gewissen handelte. Er hatte Respekt für Omegas Unparteilichkeit, doch ihr Denken war ihm fremd. Immerhin schien keine Gefahr von ihr auszugehen… was man von ihren Zöglingen nicht gerade behaupten konnte. Grimwardt schwindelte bei dem Gedanken, welchen Orkan diese Acht losreißen mochten, wenn sie sich tatsächlich einmal zusammentun sollten…
„Aber das ist gar nicht der eigentliche Grund, weshalb ihr hier seid“, nahm ihm Omega ein weiteres Mal einen Gedanken vorweg.
„Nein“, gab er zu. Freimütig berichtete er von ihrer Mission und der Suche nach dem Illithiden, ohne zu verschweigen, dass es Fausts Idee gewesen war, hierher zu kommen. So wie er Omega einschätzte, würde sie es ohnehin dem Schicksal überlassen, ob und unter welchen Umständen Faust nach Schwerterteich zurückfand.
Diesmal ließ Omegas Blinzeln mehrere Minuten auf sich warten und Grimwardt fühlte sich alleingelassen mit all den wandelnden Schatten verstorbener Krieger. Doch als sie schließlich aus dem Sumpf ihrer Erinnerungen wieder an die Oberfläche trat, kam sie nicht mit leeren Händen.
„Ich habe den Namen Morloch schon einmal gehört“, erklärte sie. „Manchmal geschieht es, dass ein Wesen geboren wird, das in jeder Hinsicht stärker, größer, intelligenter – vollkommener -  ist als alle anderen seiner Art. So als ob der Zeitstrom im Augenblick seiner Geburt für den Bruchteil einer Sekunde in die Zukunft springt und es mit einem Wesen vertauscht, das erst Jahrtausende später aus dieser Blutlinie hervorgehen soll, wenn die Natur die gegenwärtigen Schwächen seiner Art ausgemerzt haben wird. Manche dieser Individuen werden von Ihresgleichen als Götzen verehrt, andere werden als fremd verteufelt und davongejagt. Morloch ist ein solches Überwesen. Einst lebte er als Gott der Tiefe im Unterreich, doch was heute seine Beweggründe sein mögen, kann ich nicht sagen.“
„Wisst Ihr, wie man ihn bekämpft? Was seine Schwächen und Stärken sind?“
„Er ist ein Illithid wie jeder andere, nur um ein Vielfaches gefährlicher, also wird auch seine Taktik eine ähnliche sein. Die mächtigste Waffe eines Gedankenschinders ist sein Angriff auf die Gedankenströme seiner Beute, der sie lähmt, bis der Jäger sich ihr Hirn einverleibt hat. Antimagie ist wirkungslos gegen diese Kraft, denn sie verändert nicht das Gewebe sondern die tatsächlichen Hirnstrukturen des Opfers.“
„Hm, damit lässt sich was anfangen“, murmelte Grimwardt. Mit einem zufriedenen Brummen nickte er Omega zu: „Faust hatte Recht: Euer weiser Rat ist jede Irrfahrt wert.“
Ein amüsiertes Lächeln streifte ihre tiefgründigen Augen.
„Ein großes Kompliment aus dem Mund eines Mannes, der mit Lobreden geizt.“
Trotzdem konnte er sich nicht verkneifen hinzuzufügen: „Aber bei Eurem Einfluss solltet Ihr wirklich etwas gegen das kulinarische Siechtum in dieser Stadt unternehmen!“
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 10. Mai 2011, 01:41:38
Juhu! endlich! Sehr schön geworden. Vor allem wie jetzt langsam die verschiedenen Stränge der gesamten Geschichte miteinander verstrickt werden. Die aus dem Vergangenen, und dem was noch kommen wird. Echt ein tolles und zentrales Kapitel!  :thumbup:
Oh, und Grimwards Erlebnisse bei Hades und bei der Suche nach was essbarem waren echt zu geil, musste mir grad wieder ein paar mal das Lachen echt verkneifen, weil Sonja nebenan schläft  :D

Ach ja, kannst du mir vielleicht das Wappen der neun Schwerter, das du entworfen hast schicken? dann würde ich das als Bild für das Kapitel nehmen.

Edit:
Hab grade nochmal Kapitel 3 von Quell der Seelen gelesen. Echt cool, wie sich der Kreis jetzt schließt! :thumbup:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 11. Mai 2011, 21:58:08
Mir gefällt auch Grims Suche nach Essbarem besonders gut!
Und Winters Suche nach dem letzten Halunken in Baldurs Tor, die Szene ist echt gruselig geworden.  
Jetzt muss ich mir doch auch nochmal Kapitel 3 ansehen...
Edit: Oh ja, das ist eines meiner Lieblingskapitel!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 12. Mai 2011, 02:10:45
Jetzt musste ich das Kapitel auch noch mal lesen  :wink:. Mir gefällt besonders gut das Spiegelverkehrte an den beiden Kapiteln: Die Ängste, die Winter damals hatte, sind jetzt teiweise wahrgeworden und ihre Situation ist irgendwie vertauscht mit Elijas'. Als Romanautor würde man sowas planen, aber aus SL-Sicht war gerade DIESE Entwicklung unplanbar... Wenn Winter sich nicht so mit Elijas identifiziert hätte, hätte es Kapitel 3 gar nicht gegeben. Wenn Faust Elijas nicht von den 9Schwertern erzählt hätte, wäre er nie dort gelandet. Wenn Grimwardt nicht gerade zur selben Zeit Bekanntschaft mit den 9 Schwertern gemacht hätte, als Winter auf ihrem Tiefpunkt ankam,  wäre die Parallele gar nicht zustande gekommen... Eben Schicksal :-)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 26. Mai 2011, 10:53:41
hm... ich glaube es wird Zeit für das Finale oder? Jedenfalls warte ich da gespannt drauf! Bei Game of Thrones bin ich schließlich auch zur Zeit mit allen erschienenen Folgen durch und kann mich auch damit nicht mehr ablenken ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 02. Juni 2011, 00:01:09
dann jetzt im Juni, oder? :D
Wer wäre denn wer, wenn jeder einer aus Game of Thrones wäre...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 02. Juni 2011, 00:22:35
Juhu, noch ein sinnfreier what-if-Cast!  :D

Hab leider bisher nur das Buch gelesen, weil mir verboten wurde, die Serie allein anzusehen *seufz*. Und so spontan fallen mir auch nicht wirklich viele Parallelen ein... Vielleicht hat Winter von ihrem Hintergrund so ein bisschen was von Daernerys, aber nicht wirklich von der Art... und Bolthor ist der trinkfeste König *g*. Grimwardt hat Neds nüchtern-ungeschminkte Nordlicht-Attitüde und seinen Loyalitätssinn. Für Faust fällt mir überhaupt keiner ein, die sind irgendwie alle auf die eine oder andere Art rechtschaffen...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 04. Juni 2011, 19:38:57
Am ehesten eine Mischung aus Jamie und Tyrion Lannister ;) ... aber es stimmt schon, die sind alle ganz schön rechtschaffen.
So, hab auf der Seite auch mal kleine "Klappentexte" für die Kapitel geschrieben und die meisten Helden und NSCs haben ein kleines Zitat aus der Geschichte bekommen, dass sie etwas lebendiger macht oder einen Eindruck vermittelt.
...fehlt nur noch der Klappentext für die nächste spannende und epische Geschichte... aber da muss erstmal die derzeitige zu ihrem grandiosen Finale finden ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 08. Juni 2011, 21:40:02
Kapitel VI: Die Insel    

Winter
Haibannmauer, zwei Tage später.
Seite an Seite harrten die vier Freunde auf der schillernden Elfenkonstruktion, die den Ozean an seiner schmalsten Stelle teilte. Da sich Dimensionsreisen in Gebieten unbändiger Magie als tückisch erweisen konnten, hatten sie sich Nhalloth zu Fuß genähert. Fast elf Seemeilen waren sie über die Haibannmauer aufs offene Meer hinaus gewandert. Wenn Fausts Berechnungen stimmten, mussten sie die Vollmondinsel von hier aus sehen können. Dann kam der Sonnenuntergang. Im Westen zerfloss die Blutsonne wie Wachs in ihrem eigenen Spiegelbild und aus der Glut materialisierte sich eine flimmernde Erscheinung. Als das Inferno der untergehenden Sonne dem Silberglitzern des Vollmonds gewichen war, nahm das Gebilde Gestalt an: Eine bewaldete Insel schwamm etwa eine Seemeile voraus auf den Wellen.
Ohne das feierliche Schweigen zu brechen, wob Winter einen Flugzauber über die kleine Gruppe und hielt auf den Waldrand zu. Hier hätten sie, Joes Karte zufolge, die Ruinen eines alten Wachturms finden sollen. Doch dort, wo der Piratenkapitän Mauertrümmer und Geröllhaufen eingezeichnet hatte, stießen sie nur auf tropische Bäume und exotische Farngewächse. Hatte sich der Wald alles einverleibt, was von der alten Metropole übrig war? Wie sollten sie ohne Anhaltspunkte den Geheimgang finden?
Ratlos beugten sie sich über die Schatzkarten.  
„So wie es aussieht, liegt der Eingang im Hof eines großen Gebäudekomplexes… ein Palast oder Tempel“, überlegte Faust. „Vielleicht ein alter Brunnenschacht?“
„Einen Versuch ist es wert“, fand Winter.
Ein leichtes Kribbeln ließ sie die Finger spreizen, als sie spürte, wie ihr Suchzauber die Ortungsfühler ausfuhr. Ihre Sinne flossen mit dem Zauber in die Erde auf der Suche nach alten Mauerresten. Doch soweit sie der Magie auch ins Erdreich folgte, sie stieß weder auf einen Brunnenschacht noch auf andere Hinweise auf eine untergegangene Zivilisation.
„Nichts. Irgendwas müssen wir übersehen haben.“
„Was ist mit dem zweiten Teil des Rätsels?“ Grimwardt deutete auf die Karte, die Faust in der Hand hielt. „Nur wer verkehrt herum sieht, dem erschließt sich das Geheimnis von Nhalloth.“
Sie drehten die Karten zu allen Seiten, doch die Zeichnungen gaben keine neuen Erkenntnisse preis. Hatten sie etwas übersehen? Gab es eine weitere Karte? Oder versteckte Hinweise auf Joes Körper, die durch die Kopien verloren gegangen waren?
Plötzlich lachte Faust auf.
„Ich hoffe, irgendwer von euch hat ein paar Wasseratmungs-Zauber einstudiert!“  
Nach einem Moment verständnislosen Stirnrunzelns stieß auch Grimwardt ein begreifendes Grunzen aus und Mius Lippen formten ein lautloses „Ah“. Halb beschämt, halb gereizt stemmte Winter die Hände in die Hüften.  
„Könnte mich mal jemand aufklären?“

Faust
Kurz darauf.
Wachsam glitten sie durch das trübe Unterwasser-Dickicht der Inselunterseite. Der Ozean hatte die Ruinen Nhalloths mit einem wuchernden Teppich aus Algen und Meergestein überzogen. Kaum mehr als ein paar Mauerreste hatten die Jahrhunderte überdauert. Der Rest war in der unerreichbaren Tiefe des Ozeans versunken, als die Netherstadt kopfüber vom Himmel gestürzt war. Träge wogten Polypenkolonien zum Takt der Strömung und enthüllten dabei halb zersetzte Trümmerblöcke, während Fischschwärme durch muschelüberzogene Torbögen stoben. Über die verwitterten Gesichter zerbrochener Standbilder krochen finstere Tiefenwesen wie um die Vergessenen zu verhöhnen: Seht wo ihr gelandet seid, Himmelsfahrer!
Winter, deren Ortungszauber noch aktiv war, schwamm voraus. Die Magie führte sie ins Palastviertel der untergegangenen Stadt, wo sich Fausts Vermutung bestätigte: Zwischen den Ruinen fanden sie die Überreste einer Brunnenmauer und ein tintenschwarzes Loch, halb überwuchert von Algen und Muscheln. Wieder war es Winter, die voran glitt, um die Finsternis des Brunnenschachts nach Spuren von Magie zu untersuchen. Nach einigen Schwimmzügen enthüllte sie an der Brunnenwand hinter einem Algenschleier eine gallertartige Oberfläche, die bei magischer Betrachtung blau zu glühen begann. Mit einem stummen Zauber bannte sie eine Schutzglyphe, die ungebetene Gäste abhalten sollte. Dann streckte sie vorsichtig erst eine Hand durch die magische Masse und glitt dann mit dem ganzen Körper hindurch. Faust folgte ihr. Die Substanz ließ sich wie Gelee zerteilen und führte in einen wasserleeren Raum. Während er sich durch die Öffnung zwängte und zu Boden gleiten ließ, stellte er erstaunt fest, dass kein Tropfen Wasser an ihm haftete: Der Gallerteingang schien dazu konstruiert worden zu sein, das Brunnenwasser zu absorbieren.
Während Winter nach weiteren magischen Fallen Ausschau hielt, folgten sie Joes Karten durch den Höhlenkomplex. Der Untergrund – oder vielmehr die Raumdecke, über die sie liefen - war oft rissig und gewölbeartig geformt und es bedurfte einiger Übung, durch Türen zu klettern, die an der Wand zu hängen schienen.  An einigen Stellen war es zu neuen Wandeinstürzen gekommen und sie waren gezwungen einen Umweg zu nehmen. Dennoch führte ihr Weg sie immer tiefer ins Erdreich. Sie mussten sich etwa im Kern der Insel befinden, als Winter stehenblieb.
„Spürt ihr das?“
Faust begriff sofort, was sie meinte: Ein magisches Knistern lag in der Luft, begleitet von einem sirrenden Fiepen, das sich verlor, wenn man es zu lange hörte. Der magische Kern der Netherstadt konnte nicht mehr weit sein. Und tatsächlich: Hinter der nächsten Tür stießen sie auf den Mythallar von Nhalloth. Die magische Spannung war hier so stark, dass Faust spürte wie sich seine Nackenhaare aufrichteten. Der Raum war größer und höher als die Gänge, durch die sie bisher gekommen waren. In seiner Mitte, gleich über dem Boden, schwebte eine Glaskugel, die eine Manneslänge im Durchmesser maß. Im Innern der Kugel wanden sich violette Schlieren aus roher magischer Energie wie tanzende Moränen umeinander. Durch einen Sprung in der Glasummantelung drangen Spuren magischer Energie, während von außen eine andere, schwarze Substanz in die Kugel hineinfloss und sich in dunkleren Schlieren mit der Magie im Innern vermischte. Vermutlich hatte der Mythallar einst in der Mitte des Raums geschwebt. Die Erschütterung des magischen Gewebes musste ihn aus der Bahn geworfen haben, sodass er zu Boden gefallen und gesprungen war, als sich die fliegende Enklave beim Sturz um die eigene Achse gedreht hatte. Als das Gewebe wieder hergestellt war, hatte die Kugel ihre Funktion wieder aufgenommen und hielt Nhalloth seitdem als schwimmende Insel in der Schwebe. Vermutlich waren andere Funktionen des Mythallars durch den Sprung außer Kontrolle geraten, was zu den ungewöhnlichen Dimensionssprüngen der Insel geführt hatte.
„Nicht!“ Faust hielt Winter zurück, als sie sich der Kugel nähern wollte. „Das ist Urmagie… Es gibt nichts Tödlicheres.“
„Ich weiß“, murmelte Winter, machte aber dennoch einen Schritt auf den Mythallar zu. „Sehr ihr die schwarzen Schlieren, die von außen eindringen? Das ist Schattenessenz. Ich glaube, sie regiert mit der Urmagie und verändert die Gewebezusammensetzung in diesem Raum...“
Jetzt spürte auch Faust, dass etwas nicht stimmte. Je näher er der Kugel kam, desto gedämpfter wirkte sein Lichtzauber… Schattenmagie!
„Eine Verschmelzung“, murmelte er.
„Ja, genau, das ist es!“, erkannte Winter.
„Und was hat das zu bedeuten?“, brummte Grimwardt.
„Das bedeutet, dass es ziemlich nützlich wäre, das Ding bei unserem nächsten Ausflug in die Wüste dabei zu haben…“, setzte Faust an und Winter vollendete den Gedanken: „… weil in der Nähe des Mythallars alle Zauber über das Schattengewebe gewirkt werden!“
„Ihr wollt nicht ernsthaft einen Mythallar mit euch rumschleppen!“
„Das Problem ist eher, dass es unmöglich ist, einen Mythallar mit sich herumzuschleppen“, seufzte Faust.
„Unmöglich ist es nicht…“, widersprach Winter.
Sie hatte natürlich Recht… Irgendwer hatte die Kugel erschaffen und an diesen Ort bewegt. Doch die Hocharkanisten des alten Imperiums hatten über magisches Wissen verfügt, das heute verloren war. Magisches Wissen, das es mit der Wortmagie der ersten Göttergeneration aufnehmen konnte. War es möglich, dass Winters Schattenpakt ihr Zugang zu dieser Macht gewährte? Gespannt sah er zu, wie sie sich der Kugel näherte, die Gesichtsmuskeln angespannt, die Lider geschlossen, alle Sinne auf das unterschwellige Surren der Magie fokussiert. Jäh ließ eine plötzliche Energiewelle den Mythallar erzittern. Winter sog keuchend die Luft ein. Doch nichts weiter geschah – die Kugel bewegte sich nicht vom Fleck. Verbissen wollte sie einen weiteren Schritt auf den Mythallar zumachen, doch Faust hielt sie zurück.
Stumm schüttelte er den Kopf. Zu gefährlich.
Winter zögerte. Doch dann siegte die Vernunft über ihren Ehrgeiz.
Grimwardt räusperte sich.
„Wir sollten weitergehen.“
„Wir sind fast da.“ Faust deutete auf die Karte. Nur noch die Grabkammer der Hochfürsten trennte sie von dem Raum, den Joe als Schatzkammer markiert hatte.
„Grabkammer klingt nach Untoten“, bemerkte Grimwardt. „Ich würde auf ein paar Leichname tippen.“
„Ich hätte da eine Idee, wie sich das herausfinden ließe...“

Winter
Kurz darauf.
Besorgt kniete Miu an Fausts Seite, während er sich zuckend am Boden wand. Der Zauber dauerte nun schon mehrere Minuten an und allmählich begann auch Winter, unruhig zu werden. Faust meisterte mit Leichtigkeit magische Formeln, die der Hexenmeisterin Kopfschmerzen bereiteten. Allerdings beschränkte sich sein arkanes Interesse für gewöhnlich auf Verbesserungs- und Schutzmagie. Doch das hier war höhere Aufklärungsmagie. Ein aufwendiges Ritual, das Seher anwandten, um die Geschichte eines Ortes oder einer Person auszuspionieren. Der Schwertkämpfer musste während seiner Studien zum Zeitstrom auf den Spruch gestoßen sein. Es war nicht ungefährlich, ihn auf einen Ort mächtiger Magie anzuwenden, denn man wusste nie, mit welchen Mitteln seine Erbauer ihn womöglich gegen Ausspähung gesichert hatten.
Als die Vision ihn schweißgebadet aus ihrem Griff entließ, war Faust für einige Augenblicke  orientierungslos.  Miu fasste ihn behutsam an den Schultern.
„Was hast du gesehen?“, fragte Winter.
Irritiert blinzelte er sie an. Dann erhob er sich unsicher, trat wankend auf die Wand zu und räumte ein paar Säulentrümmer zur Seite. Darunter erspähte Winter eine schwache magische Aura. Ein einfacher Bannzauber entlarvte eine Wandillusion. Dahinter klaffte ein dunkles Loch im Stein.
„Ein Geheimgang?“, wunderte sich Winter. „Der ist nicht auf der Karte verzeichnet. Wie konnten Joes Leute den übersehen? Die Illusion ist geradezu schlampig platziert.“
„Zu Joes Zeiten existierte er noch nicht“, erklärte Faust.
Er berichtete, was die Vision ihm offenbart hatte: Der Mythallarraum hatte sich zur Zeit des Ersten Imperiums unter dem Palast der Stadtfürsten befunden. Zunächst hatten nur die mächtigsten Arkanisten der Stadt Zutritt zu den Gewölben gehabt. Doch während der Phaerimm-Kriege hatte man einen Rückzugsort gesucht für den Fall, dass die Stadt vom Feind eingenommen würde. Damals wurde der Geheimgang durch den Brunnen angelegt und Portale geschaffen, die Flüchtlinge im Ernstfall aus der Stadt führen sollten. Ein paar Jahre zuvor hatte der erste Stadtfürst angeordnet, in unmittelbarer Nähe des Mythallars beigesetzt zu werden – im pulsierenden Herzen der Stadt. Seine Nachkommen hatten die Tradition fortgeführt.
„Sie sind übrigens tatsächlich tot – nicht untot“, berichtete Faust. „Ihre Gräber wurden von Wächterstatuen bewacht, doch die wurden von Joe und seiner Bande zerstört. Als die Piraten kamen, plünderten sie die Gräber und lagerten ihren Schatz hier. Doch Joe, der alte Halunke, schaffte das Zeug weg, ehe er sich in Morlochs Hände… oder vielmehr in Morlochs Tentakel begab. Allerdings war der Illithid gar nicht an dem Schatz interessiert. Er hatte es auf den Mythallar abgesehen. Es gelang ihm nicht, ihn Kraft seiner Gedanken zu bewegen, darum versuchte er es mit Zaubern. Seine Schattenmagie drang durch den Sprung in die Kugel ein – darum die Verschmelzung der Gewebe. Doch das verstärkte nur Morlochs Interesse. Ich glaube, dass er zu Anfang seiner Mission für Fürst Xantes arbeitete. Er muss sich während der Pestjahre mit den Umbranten verbündet haben. Aber das Geheimnis des gesprungenen Mythallars wollte er wohl nicht mit seinen Auftraggebern teilen. Warum sonst zog er nicht ein paar Experten aus Umbra hinzu, um das Ding zu bewegen? Zumindest einige der Schattenprinzen dürften dazu in der Lage sein. Aber nach allem, was Omega Grimwardt erzählt hat, hat Morloch gottgleiche Kräfte – der Gedanke, dass seine Magie künftig von einer Menschengöttin abhängt, dürfte ihm ziemlich schlecht geschmeckt haben. Wahrscheinlich hoffte er, durch den Mythallar von Shars Gewebe unabhängig zu sein. Oder er wollte die Kugel verkaufen. Welcher Gegner Telemonts würde sich nicht die Finger lecken nach einem Gerät, mit dem sich das Schattengewebe umgehen lässt! Den Geheimgang schuf er vermutlich, weil die Kugel nicht durch die Öffnung im Brunnen passen würde.“
„Wohin führt er?“
„In eine Felsgrotte. In jeder Vollmondnacht ankert dort die Sturmhexe mit Morloch an Bord. Meist kommt er her, um seine Studien an dem Mythallar fortzuführen oder Kapergut zu verstecken.“
„Dann ist er auch jetzt dort?“
„Vermutlich.“
„Worauf warten wir dann noch?“, fragte Grimwardt.
Winter bildete das Schlusslicht, als sie durch das Loch in die Dunkelheit traten.
Mächtige Konstruktionsmagie hatte den Geheimgang in den Fels gegraben. Fallen gab es nicht: Nicht nur bei der Tarnung, sondern auch bei der Sicherung des Ganges schien Morloch nachlässig gewesen zu sein. Offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, dass jemand sein Versteck entdecken könnte. Hätte er gewusst, dass sich Joes Pestnarben nach seinem Tod zurückbilden und die Tätowierungen freigeben würden, hätte er dem Piraten vermutlich eigenhändig die Haut vom Leib gezogen… Tut mir leid, Joe, dass du auf diese Weise dein Ende finden musstest, dachte Winter plötzlich. In Narbental hatte sie kein Mitleid mit dem aufgeblasenen Protzhahn empfunden. Doch am Ende hatte auch Joe nur versucht diejenigen zu schützen, die ihm wichtig waren...
Als sich das Ende des Ganges abzeichnete, begannen sie, sich mit Schutzzaubern auf den nahenden Kampf vorzubereiten. Dann plötzlich… Undeutlich erkannte Winter, wie ein großer, schwerer Gegenstand auf sie zu polterte. Jemand keuchte auf, doch sie konnte nicht erkennen, wer getroffen war. Gleichzeitig ertönte das irre Kampfgebrüll der Pestberührten. Um besser sehen zu können, was vor sich ging, versuchte sie aus dem Gang in die Höhle zu teleportieren. Sie hatte Glück. Der magische Schutzschild der Insel ließ den Dimensionssprung zu.
Eine riesige Grotte.
In der Mitte klaffte ein Wasserloch, aus dem sich schwarz und ölig das Wrack des Korallenschiffs erhob. Und nun erkannte Winter auch, was da krachend auf ihre Freunde im Höhleneingang niedergefahren war: Es war ein Schiffsmast! Die Sturmhexe hatte den Kampf eröffnet. Knarrend und dröhnend neigte sich das Schiff zur Seite und versuchte Faust unter der schweren Last des Mastes zu zerquetschen, während die pestberührten Werhaizwillinge – die letzten Überlebenden der Mannschaft – von Bord gesprungen waren, um Grimwardt und Miu von Faust abzuschneiden. Winter zückte ihren Zauberstab. Ein nebliger Schleier streifte ihre Augen, als sie die Magie in ihren Fingerspitzen sammelte. Wie eine ausgehungerte Schlange schnellte das schwarze Zaubergezücht in die Höhe und fraß sich in die Bordwand der Sturmhexe, die innerhalb von Sekunden zu einem Klumpen morschen Holzes mutierte. Wie ein verwundetes Tier bäumte sich das Schiff auf: Schwerfällig schraubte sich der Bug in die Höhe, während sich das Heck wie bei einem sinkenden Schiff in die Tiefe bohrte. Dann plötzlich ein Rucken und Winter verschwand im drohenden Schatten des Achterkastells, das mit Fallgeschwindigkeit auf sie niederfuhr. Doch ehe das Ungetüm sie in den Tod reißen konnte, wurde sie zur Seite gestoßen und fiel auf die Knie. Plötzlich war Faust über ihr, um sie gegen den Splitterhagel abzuschirmen, der über sie hereinbrach, als der Rumpf des Piratenschiffs auf dem harten Steinboden aufschlug. Sofort war der Schwertkämpfer wieder auf den Beinen, um sich mit einem irrwitzigen Sprung aufs Deck des Schiffs zu katapultieren. Doch noch gab sich die zähe Galeere nicht geschlagen. Noch einmal bäumte sie sich auf wie ein buckelndes Pferd, während sich Faust immer tiefer ins Herz des Ungetüms vormetzelte.
Winter erkannte, dass sie hier nicht mehr gebraucht wurde: Über kurz oder lang würde das Schiff unter Fausts Hieben auseinanderbrechen und Grimwardt hatte die beiden Pestberührten fest im Griff.
Morloch, wo bist du?
Die Schatten der Grotte umgaben sie wie ein schützender Mantel, als sie an der Felswand entlanglief, unsichtbar und lautlos. Ein Flecken gähnender Schwärze, tiefer als die umgebende Dunkelheit, kündigte einen weiteren Höhleneingang an. Winter spürte die Anwesenheit des anderen Schattenmagiers wie eine Aura, die stärker wurde, je näher sie der Höhle kam.
Dann plötzlich eine Bewegung.
Es geschah so schnell, dass Winter nur einen vorbeihuschenden Schatten wahrnahm. Plötzlich wurde sie sichtbar. Nicht nur das! Etwas unterdrückte all ihre Schutzzauber und schnitt sie vom Schattengewebe ab. Eine antimagische Zone! Im nächsten Moment durchzuckte sie eine Welle irrsinniger Kopfschmerzen, doch sie widerstand dem beißenden Schmerz, der sie in die Knie zu zwingen drohte. Keuchend wirbelte sie herum… und blickte in ein bleiches Tentakelgesicht mit winzigen, feuchten Augen. Etwas Träges, Melancholisches lag in diesen tränenden Augen, das in seltsamem Kontrast zu Morlochs übernatürlicher Schnelligkeit lag.
Es gibt Ozeane, die jünger sind als Wir, zuckte es durch ihre Gedanken. Unter Unseresgleichen sind Wir ein Gott. Und du glaubst, dich an Uns anschleichen zu können?
Es klang fast mitleidig. Dann eine kalte Berührung an ihrer Stirn: Zwei Tentakel krochen über ihre Schläfen und zwangen sie in die Knie.
Wieder war es Faust, der sie rettete.
Die Klinge über dem Kopf erhoben, tauchte er plötzlich hinter dem Gedankenschinder auf. Im Sprung trat er der Kreatur in den Nacken und Morloch ließ von Winter ab. Mit wirbelnder Klinge drosch Faust auf den am Boden liegenden Gegner ein. Doch die magieunterdrückende Zone, die den Illithiden umgab, beraubte Zwiespalt seiner magischen Fähigkeiten, sodass Morloch schneller regenerierte als er auf ihn einschlagen konnte. Dann wurde Faust mit einem Mal von einer unsichtbaren Macht erfasst und gegen die Grottenwand geschleudert. Wankend rappelte Morloch sich auf. Ein telepathisches Zischen, erfüllt von Zorn und Ungläubigkeit, schnitt durch Winters Geist. Sie spürte lediglich einen Luftzug an der Wange, als der Schatten des Illithiden an ihr vorbeiraste und in der Dunkelheit der Grotte verschwand.
„Elender Feigling“, ächzte Faust, während er schwankend auf die Beine kam.
„Wieso kann er in einer antimagischen Zone zaubern?!“
„Das ist keine Magie“, knurrte er.
Der Ausdruck in seinen Augen gefiel ihr nicht.
„Faust?“ Plötzlich war ihr flau im Magen. Keine Magie... „Er ist zu stark für uns, oder?“
Faust antwortete nicht. Seine Augen flackerten unstet. Er schien fieberhaft nachzudenken.
„Bring den Mythallar her“, sagte er plötzlich.
„Was?! Faust, du hast doch gesehen – das übersteigt meine Kräfte!“
Faust war schon wieder auf dem Sprung, um Morloch nachzusetzen.
„Versuch es!“, rief er ihr über die Schulter zu. „Es ist unsere einzige Chance!“
Winter schloss die Augen und hüllte ihren Geist in Schatten, um die drohende Panik niederzukämpfen. Ein Dimensionssprung brachte sie zurück in den Mythallarraum.
Es ist das einzige, was du für deine Freunde tun kannst.
Sie holte noch einmal tief Luft und öffnete die Augen.

Faust
NEIN.
Für einen grässlichen Moment glaubte Faust den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Der Illithid hatte Grimwardt und Miu mit einem betäubenden Gedankenbann belegt. Miu harrte bleich und starr neben dem Höhleneingang. Grimwardt, die Axt getränkt vom Blut der Werhaizwillinge, war unter der Berührung der vier tödlichen Tentakel in die Knie gebrochen. Über ihm harrte der Gedankenschinder. Sein Schatten, wie der Geist einer mehrarmigen Gottheit, prangte überlebensgroß an der Grottenwand. Gefasst und schicksalsergeben ruhte der Blick des Kriegspriesters auf dem herannahenden Gefährten. Tu es nicht, schien dieser Blick zu sagen. Plötzlich ging ein jähes Schaudern durch seinen Körper – ein letztes Aufbäumen, ehe sich der neblige Schleier des Todes über seine Augen legte.
Mit erstarrtem Blick, wie ausgesaugt, kippte der Auserwählte des Tempus zur Seite.
Das Bild fraß sich in Fausts Seele und berührte dort jenen Punkt, der sein Bewusstsein im Blutrausch ertränkte. Wirre, rot getünchte Bilderfolgen drängten sich ihm auf. Blutfontänen, zerteilte Gliedmaßen, das Geräusch einer berstenden Lunge…
Tu es nicht.
Faust schloss die Augen. Er konnte diesen Gegner nicht besiegen. Nicht so. Er musste bei klarem Verstand bleiben.
Er rannte schneller.
Die Geräusche implodierten in seinem Kopf, als er zum Sprung ansetzte. Ein Tritt in die Magengrube katapultierte Morloch in den Gang, der in den Mythallarraum führte, und der Schatten der mehrarmigen Gottheit wurde in das schwarze Loch der Höhlenöffnung gesogen. Noch im Sprung fokussierte Faust all seine Konzentration auf den vergangenen Moment des Absprungs und drehte so die Zeit um den Bruchteil eines Augenzwinkerns zurück. Der geklaute Augenblick erlaubte es ihm, den zeitbetäubten Gedankenschinder um eine weitere Armlänge in die Finsternis des Ganges zu stoßen. Sofort wollte er mit einem Schwerthieb nachsetzen, doch diesmal kam Morloch ihm zuvor. Faust schickte seinen Geist an einen Ort der Zeitlosigkeit, um ihn unangreifbar zu machen für den wütenden Gedankenstoß des Illithiden.
Plötzlich streifte ihn ein Strahl violetten Lichts. Der Mythallar! Es war nicht mehr weit!
Die Aussicht verlieh Faust neue Kraft. Ein weiterer Sprung, ein weiterer Hieb. Nun begriff auch sein Gegner, was er vorhatte: Er mochte sich für einen Gott halten, doch seine Magie war die Magie eines Sterblichen. Gegen ein so mächtiges Artefakt wie den Mythallar war sein magieunterdrückender Schutzschild wirkungslos. Die Erkenntnis trieb Morloch die Angst in die Augen. Sein nächster Gedankenstoß brachte die Mauern der Festung ins Wanken, die Faust um seinen Geist errichtet hatte, und nur mit allergrößter Mühe gelang es dem Schwertkämpfer, den Angriff abzublocken. Er spürte, wie seine Kräfte ihn verließen.
Noch ein letzter Sturm.
Brüllend nahm Faust Anlauf und stieß seinen Gegner mit der Kraft der Verzweiflung in den Raum – mitten ins knisternde Energiefeld der Kugel. Morlochs gellender Schrei wurde vom Zischen der magischen Uressenz verschluckt, die ihn mit Ketten aus violetten Blitzen an die magisch aufgeladene Glaskugel fesselte. Jede Ader erstrahlte unter der gleißenden Helligkeit der Blitze, die seinen Körper krümmten und schüttelnden. Als die Kugel ihn aus ihrer Umklammerung entließ, roch es nach verkohltem Fleisch. Die Roben des Illithidenmagiers waren verbrannt und die Haut darunter schrumpelig und schwarz.
Aber er lebte.
Wankend stolperte er einen Schritt auf seinen Peiniger zu. Faust erstarrte, als ein gleißender Blitz  durch seine Gedanken schoss und die Verbindung zwischen Geist und Körper durchtrennte. Blind und gelähmt sank er vor seinem Gegner auf die Knie.
Das war’s, dachte Faust, als er die kühle Berührung einer Saugdrüse auf seiner Stirn spürte.
Doch etwas ließ Morloch innehalten.
Faust öffnete die Augen. Ein Déjà-vu: Der Illithid zuckte in der magischen Umklammerung des Mythallars. Aber wie…? Winter! Durch die Schlieren, die sich im Innern der Kugel einen wilden Tanz lieferten, erspähte er seine Gefährtin. Blindschleichen aus violettem Licht krochen über ihr schweißglänzendes Gesicht, das vor Entschlossenheit kantig und starr wirkte. Sie hatte es geschafft – sie hatte den Mythallar auf Morloch gelenkt! Und diesmal gab es kein Entrinnen. Als der Körper des Gedankenschinders zu Boden sank, waren seine Augen zu schwarzen Höhlen verbrannt und Schattenschlieren traten dampfend aus brandigen Löchern in seinem Körper.
Jetzt gab es keinen Grund mehr, dem Rausch Einhalt zu gebieten. Brüllend vor Zorn und Schmerz packte Faust den geschundenen Körper des Urwesens und schleuderte ihn gegen die Wand.  Wieder und wieder ließ er den Schädel des Toten gegen den Fels krachen, bis ihm der Blutschleier die Sicht versperrte.
„Faust.“
Keuchend hielt er inne, als er Winters eiskalte Hand auf seiner Schulter spürte. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen, doch seine Verzweiflung und sein Zorn waren Auskunft genug. Wortlos wandte sie sich um. Ihre Schritte klangen dumpf von der Höhlenwand wieder. Wie in Trance folgte er ihr in die Höhle. Als sie die Leiche ihres Bruders in den Armen der weinenden Miu erblickte, blieb sie abrupt stehen. Kein ersticktes Schluchzen, kein entsetztes Aufkeuchen. Ihr erstarrtes Schweigen umgab sie wie ein Schutzwall, den Faust nicht zu durchbrechen wagte.  
Als er den Blick hob, erspähte er den Geist des toten Piratenkapitäns zwischen den Überresten seines zerstörten Schiffs. Joe nickte ihm zu, ernst und dankbar. Als Faust das nächste Mal hinsah, war der Geist verschwunden.
Nach einer halben Ewigkeit wandte Winter sich zu ihm um.
„Wir müssen zurück“, sagte sie betäubt. „Die Totenfeier… Es gibt noch so viel zu erledigen.“
 
Winter
Abtei des Schwertes, drei Tage später.
Grimwardt lag aufgebahrt in der Großen Gebetshalle. Die Strahlen der Morgensonne fielen wie Säulen aus Licht durch die hohen Deckenfenster. Er sollte in der zeremoniellen Rüstung des Abteivorstehers begraben werden. Seine magischen Gegenstände ruhten in Becken mit heiligem Feuer, das man in einem Ring um das Totenbett entzündet hatte. Drei Tage – so lange wie die Zeremonie andauerte - würden sie dort brennen, um seine Seele von allen weltlichen Bindungen zu reinigen. So war es Brauch.
Fast sechzig Trauergäste hatten sich zur Totenwache in der Gebetshalle versammelt – ihr Schweigen nur unterbrochen vom monotonen Klang der rituellen Trommeln. Vor den Toren der Abtei warteten weitere zehn Duzend und viele mehr wurden für die nächsten Tage erwartet. Pilger, die aus allen Ecken Faerûns von der Schwertküste bis zum Drachengriff angereist waren, um ihrem Helden die letzte Ehre zu erweisen.
Lady Lucia, Grimwardts gnomische Nachfolgerin, harrte im stummen Gebet auf der Schildempore, flankiert von seinem alten Freund Borgo und dem Ritter Silas. Dahinter die offiziellen Staatsgäste: Der Fürstengeneral vom Schlachtental sowie Gesandte aus den umliegenden Tälern. Abteipriester, Soldaten und Rekruten bevölkerten die Galerie. Winter kniete auf der Gebetsbank auf der gegenüberliegenden Seite zwischen ihren Eltern und Faust und Miu. Um sie herum ihre Freunde und Bekannte: Die Elfenfürsten Nimoroth und Kalith aus Myth Drannor, die Magierin Xara Tantlor und ihr Sohn Riven aus Silbrigmond, Erdmute Steinfaust von den Sundabarer Steinschilden, die Illusionistin Razeema und der Halbork-Barde Grax aus Heinos Wanderzirkus, Elijas von den Neun Schwertern, Fürst Marcus Wands aus Tiefwasser, Boltor der dauerbesoffene Zwerg… Sogar Drake war erschienen. Verborgen im Schatten harrte der Albino zwischen den Säulen im hinteren Teil der Halle, wo er sich unbeobachtet glaubte.
Sie alle waren auf Winters Bitten gekommen. Drei Tage lang war sie durchs Land gezogen, um die traurige Botschaft zu verkünden. Nur Scarlet hatte sie nicht auffinden können. Laguna hatte den magischen Kontakt zu seinem Vater Nimoroth abgebrochen. Als Winter zum Versteck der Sandfürsten teleportiert war, um der Sache auf den Grund zu gehen, hatte sie nur noch einige verstreute Hinweise auf ein verwüstetes Lager gefunden. Ein halb vom Sand verwehter Grabstein wies darauf hin, dass Sandfürst Zarif Abu Sayama dort begraben lag. Vermutlich hatten Scarlet und Laguna seine Leiche bei ihrer Rückkehr in die Anauroch gefunden und bestattet. Ob die Nether-Patrouillen, die das Rebellennest ausgehoben hatten, ihnen dort aufgelauert hatten? Ob sie sich einer anderen Guerillazelle angeschlossen hatten? Winter wusste nur, dass ihre Tochter noch am Leben sein musste, denn Nimoroth hatte aus einigen Bedinenstädten Botschaften von Mittelsmännern erhalten, die belegten, dass Laguna und Scarlet dort durchgereist sein mussten. Lundeth, Tel Badir… Die Spur der beiden verlor sich im Sand.
Vielleicht ist es besser so, dachte Winter.
Die Zeremonie. Die Trommeln. Die Gäste… Ihr Bruder hätte all den Pomp gehasst. Doch dies war nicht nur seine Totenfeier… Es war eine einfache Entscheidung gewesen. Eine eigenartige Ruhe hatte Besitz von ihr ergriffen. Die Spiegel des Desayeus hatten sich geirrt. Sie hatte umsonst ihre Seele verkauft. Sie spürte den Hunger wie einen Parasiten, der sie von innen auffraß. Und sie wusste, der nächste leergesaugte Schatten würde nichts mehr von ihr übrig lassen, denn es gab nichts mehr, wofür sie kämpfte. Es gab keine Monster mehr zu töten. Nur noch das eine.
Sie beschwor in ihrem Geist ein Bild ihrer Pirateninsel. Die schneeweißen Strände, das türkisfarbene Wasser, der azurne Himmel. In Gedanken lief sie wieder durch den Dschungel, bis sie auf die fliegende Erdscholle mit den blau phosphorzierenden Farngewächsen und den riesigen, außerirdischen Knollenbäumen stieß. Wenn man mitten drin stand, musste das Zauberleuchten wunderschön sein.
Ein guter Ort zum Sterben.
Ein Blinzeln holte sie in die Wirklichkeit zurück. Feierlich erhob sie sich, um ihren Bruder als erste der Anwesenden mit dem rituellen Totenkuss zu ehren. Sanft blickte sie in das blasse, ernste Gesicht… und erstarrte.

Grimwardt
Stadt der Seelen, Fugenebene.  
Bang harrte er im Hafen der Kristallstadt und wartete auf die Barke, die ihn ins Jenseits bringen sollte. Wage erinnerte er sich daran, dass er im Leben ein großer Mann gewesen war. Ein Held. Ein Diener seines Gottes. Doch hier an diesem Ort war er nur eine Seele, die auf ihre Erlösung wartete. Wie all die anderen Seelen. Am Anfang hatte er Furcht verspürt, doch er konnte sich nicht mehr entsinnen, weshalb. Es hatte etwas mit einem gebrochenen Versprechen zu tun.
Ich werde Euch nicht enttäuschen, Herr.
Wenn er seine Hand hob, konnte er durch sie hindurch blicken.
Viele Boote kamen und gingen. Er war schon fast zu einem Teil der Ewigen Stadt geworden, als die Barke aus dem Nebel tauchte, auf die er gewartet hatte. Ein Engel mit Feuerhaar und zwei Paar goldenen Schwingen war der Steuermann. Er sprach kein Wort zu der nebelhaften Gestalt, die zu ihm ins Boot stieg - schien sie kaum zu bemerken.
Noch einmal blickte er zurück zu der Kristallstadt auf der Insel im Styx, während sie lautlos durch die Nebelschleier glitten, die das jenseitige Ufer verhüllten. Es hieß, die Nebel seien Tore in die göttlichen Reiche, die an den Styx grenzten. Nachdem sie eine Weile durch das Nichts zwischen dem Jenseits und der Zwischenwelt geglitten waren, erhob sich der Engel plötzlich und breitete die Schwingen aus. Mit lauter, klarer Stimme gab er einen göttlichen Befehl und die Nebel lichteten sich.
Grimwardt wurde von einer Welle der Glückseligkeit überrollt und all seine Erinnerungen kehrten zurück.
Vor ihm lag ein Land der Felsschluchten und Schlachtfelder. Rauchsäulen stiegen aus Canyons, die terrassenförmig in die Tiefe führten, dunkle Wolkenschlieren zogen über einen blutroten Himmel und von weit her klang das rhythmische Stampfen von Truppen, die zum Klang der Kriegstrommeln in die Schlacht marschierten. Dies war das Schlachtfeld der Götter, wo die himmlischen Truppen aufeinander trafen und die Siegreichen am Ende eines kampfreichen Tages zu Speis und Trank in Tempus‘ Hallen einkehrten.
Und ich werde einer von ihnen sein!
„Willkommen in Kriegersruh“, sagte der Engel feierlich, als sie am Ufer anlegten. Nun erinnerte sich Grimwardt auch an den Namen des Schwertarchons: Er war Aschuriel, ein General in der Armee des Feindhammers. Wortlos ließ er sich zum Gebet auf Knie und Hände fallen, kaum dass er das gelobte Land betreten hatte.
Doch dann fiel ein Schatten über ihn.
Grimwardt hob den Blick und sah ins Angesicht seines Herrn. Tempus sprang von seinem Streitwagen, der von dem schwarzen Hengst Deiros und der Schimmelstute Veiros gezogen wurde. Es hieß, auf seinen beiden Streitrössern sei er schneller als jeder Magier teleportieren konnte. Die Rüstung des Gottes war staubig und eine frische Schramme zog sich über sein Kinn. Er schien geradewegs aus der Schlacht zu kommen. Sein Kratergesicht war düster umwölkt.
„Herr.“
Grimwardt verharrte auf den Knien und neigte ehrerbietig den Kopf. Unnötig, seine tief empfundene Zerknirschung kundzutun. Kampflos kapituliert – in die Knie gezwungen von einem hirnsaugenden Magier. Tempus kannte seinen Geist wie kein anderer. Das Band, das Er nach dem Kampf gegen Sir Silas geknüpft hatte, bestand auch hier noch. Und so wie Grimwardt wusste, dass Tempus seinen Tod als ebenso unwürdig erachtete wie er selbst, würde der Gott um seine Reue wissen. Er hatte ihn bestraft, indem er ihn in der Stadt der Seelen hatte schmoren lassen. Doch am Ende hatte Er ihm vergeben, sonst wäre er nicht hier.
Tempus neigte den Kopf und schien dem Schlachtenlärm in der Ferne zu lauschen.
„Hörst du das?“, murmelte Er. „Das ist nicht deine Schlacht, Grimwardt Fedaykin. Dein Schicksal ist noch nicht erfüllt.“ Er schwieg so lange, bis Grimwardt glaubte, den Rücken nicht länger beugen zu können, ehe Er fortfuhr: „Götter schlafen nicht. Aber manchmal träumen wir und in unseren Träumen sehen wir die Zukunft… Aber mein Blick war vernebelt in letzter Zeit und seit deinem Tod kann ich meine Zukunft überhaupt nicht mehr sehen. Eine große Finsternis zieht auf. Ein Krieg kommt auf uns zu... Ich weiß nicht, welche Rolle du in diesem Krieg spielen wirst. Aber du musst zurückkehren, um es herauszufinden.“
Grimwardts Herz sank. An diesem Ort hatte er vollkommene Glückseligkeit erfahren. In der Welt, aus der er kam, würde er diesen Seelenfrieden niemals finden. Nicht mehr. Ein Teil von ihm würde sich immer zurücksehnen. Und wer wusste, wie lange es dauern würde, bis sich die Nebel wieder vor ihm teilten… Aber er hatte kein Recht, etwas anderes zu wünschen als sein Gott.
Er schluckte.
„Wenn das Euer Wunsch ist, werde ich gehen.“
„Ja, das wirst du“, sagte Tempus bestimmt. „Doch du hast Kriegersruh betreten und nun kannst du es nicht mehr verlassen, ohne dass ein Teil dieses Ortes an dir haften bleibt. Wenn du zurückkehrst, wirst du deine Welt mit anderen Augen sehen. Wie ein Engel, der in der Welt der Sterblichen wandelt. Dies ist nun deine Heimat, Grimwardt Fedaykin.“  
Nie gekannter Schmerz durchzuckte ihn, als der Gott ihn an der Stirn berührte. Etwas schien ihm die Seele aus der Brust zu reißen und durch Raum und Zeit zu schleudern, ehe es sie wieder packte und in einen Körper zwang, der ihm nicht mehr gehörte.
Keuchend fuhr Grimwardt vom Totenbett auf.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 09. Juni 2011, 02:10:55
Wieder ein absolut würdiges Finale! Ich glaube, das war so mit der spannendste und knappeste Kampf, den wir je hatten, da der Kerl so unglaublich im Vorteil war, und die Panik die wir dabei hatten kommt auch in der Geschichte so rüber. Tja, und natürlich der feierliche Tod von Grimwardt Feydarkin und die Geburt von St. Grimwardt ;)
Mir hats sehr gefallen! Und man merkt wie es immer epischer wird und will am liebsten sofort das erste Kapitel des neuen Buches lesen!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 09. Juni 2011, 21:27:38
Ein neues Kapitel, ich freu mich wie Bolle!!!
Habs mir grad ausgedruckt und werde es vorm Schlafengehen lesen.

Die Klappentexte sind übrigens fabelhaft ausgewählt, Herr Nachtmond! Alle sehr treffsicher.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 18. Juni 2011, 22:49:59
Kleine Vorschau auf das erste Kapitel des nächsten Buches:

Grimwardt
Eine kurze Ewigkeit lang schien alles in gleißendes Licht getaucht zu sein, doch dann schlug er die Augen auf.
Ohrenbetäubender Lärm ließ Grimwardt auffahren. Eine chaotische Melodie, schlimmer als das grauenvolle Geheul der Orks oder das Essen im schwankenden Adler dröhnte in seinem Schädel. Er schaute an sich hinab. Er war immer noch nackt, wie zuvor in der grauen Stadt. Um ihn herum waren seltsame, gewaltige Gebäude, die aus einzelnen großen Steinen gehauen worden zu sein schienen.
Der Kriegspriester ging auf jenes Gebäude zu, aus dem der Lärm drang. Es mochte eine Art Taverne sein, mit einem magischen leuchtenden Schild am Eingang, das in Form einer nackten Frau leuchtete.
Nebel, nein, Rauch kam ihm entgegen, als er eintrat, wie von Pfeifenkraut, aber noch unangenehmer im Geruch. Es waren Menschen, die in dieser Taverne ein seltsames Spiel mit einem Tisch und Stöcken spielten, ehe sie zu ihm aufsahen.
„Hey, was willst´n du hier? Deine Klamotten beim Pokern verloren?“
Die Kerle mit den eigenartigen Lederrüstungen und seltsamen Akzent wirkten aggressiv.
„Wo bin ich hier? Ich bin der oberste Priestergeneral der Abtei des Schwertes und ich benötige neue Kleidung. Das nötige Gold werde ich euch bald geben, ihr habt mein Wort.“
Wieder lachten diese Kerle, die nach billigem Alkohol stanken.
„Soso… Gold also. Und wo hast du das? Ziehst du es dir aus dem Arsch?“
Die Zornesfalte des Kriegspriesters begann wieder anzuschwellen.
„Ich frage das nun zum letzten Mal: In welchen verdreckten Orknest bin ich hier gelandet, und wo bekomme ich neue Kleider?“
Die Keule die der Mann hinter der Theke daraufhin zog, erinnerte ihn ein wenig an die von Faust und auch die anderen Kerle, die nun auf ihn zukamen, schienen ihre Spielstöcke als Waffen benutzen zu wollen.
„Was hast du gesagt? Verdreckt? Pass mal auf! Was sagst du hierzu?!“
Der Schlag war lachhaft vorhersehbar, und der Angreifer ein Schwächling. Grimwardt fing die Keule mit der Hand auf und zerbrach sie über dem Knie.
„Lauf!“
Der Befehlszauber tat seine Wirkung und der Tavernenbesitzer lief davon.
Nun schienen sich auch all die anderen zwielichtigen Gestalten auf den Priestergeneral zu  bewegen und sie griffen mit stumpfen Messern und Knüppeln an. Einer erwischte Grimwardt am Hinterkopf, doch dieses unmagische Gebilde konnte ihn kaum aus der Fassung bringen, während er die anderen mit bloßen Händen in ihre Schranken verwies.
„So du Wichser, jetzt reicht´s! Hände hoch!“
Hinter ihm stand wieder der Tavernenbesitzer, mit einer Art Muskete. Grimwardt hatte eine ähnliche Waffe mal bei einem gnomischen Erfinder gesehen. Sehr schnelle Geschosse, die tiefe, aber ansonsten eher kleine Wunden verursachten. Auch die Anderen zückten ähnliche Waffen und zielten auf ihn.
„Oh Tempus, wo hast du mich nur hingeschickt?“
sprach er und begann dann mit einem kurzen Gebet. Durch Tempus Segen wuchs er auf das doppelte seiner vorherigen Größe an. Die Kerle schossen, aber vermochten nicht die göttlich geschützte Haut des Priesters zu durchdringen. Die meisten waren bereits geflohen, als er dem Barkeeper, der sich nass gemacht hatte, seine Muskete aus der Hand nahm.
„Was…was bist du???“
„Bei Tempus, das sagte ich euch doch! Ich bin der oberste Priestergeneral der Abtei des…“
Auf einmal war da wieder das gleißende Licht. Als Grimwardt wieder aufsah, befand er sich nun auf Augenhöhe mit Tempus und senkte wieder ehrfürchtig sein Haupt.
„Es tut mir Leid, da muss eben etwas schief gelaufen sein… nun bringe ich dich in die richtige Zeit…“
Und dann schlug Grimwardt noch mal die Augen auf…

Spoiler (Anzeigen)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 18. Juni 2011, 23:18:42
*g* jaja, der Griminator, das war schon was  :D.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 24. Juni 2011, 02:06:11
FÜNFTES BUCH: FLUSS DER VERDAMMTEN


Prolog

Drake
Abtei des Schwertes, Mirtul 1395 TZ.
Entgeistert sog die Menge die Luft ein, als sich die Leiche aufrichtete. Die Lichtstrahlen, die durch die Abteifenster in den Saal fielen, bündelten sich im Gesicht des Auferstandenen und enthüllten den Feuerglanz des Himmels über Kriegersruh, der noch in seinen weit aufgerissenen Augen funkelte. Lange herrschte Totenstille. Dann fielen die ersten Gläubigen auf die Knie, um Tempus für sein Wunder zu danken. Tempus oder Grimwardt. Für die meisten gab es da kaum noch einen Unterschied.  
Drake wandte sich verächtlich ab.
Ein religiöser Mummenschanz. Ein hübsch inszeniertes Theaterstück, nichts weiter war diese ganze Veranstaltung. Grimwardt verstand es wirklich sich in Szene zu setzen. Wo war der grummelige Abteileiter geblieben, der all den heiligen Pomp verabscheute? Jetzt verlierst du endgültig den Boden unter den Füßen, Grimwardt Fedaykin! Egal - was ging ihn das an? Er war wegen des Auftrags hier. Er hatte keinen Augenblick daran gezweifelt, dass Grimwardt von den Toten zurückkehren würde. Alles andere wäre auch zu einfach gewesen…
„Drake!“
Winter hatte ihn in einer der Alkoven entdeckt und bahnte sich einen Weg zu ihm durch. Sie hatte dunkle Ringe der Erschöpfung unter den Augen und unter den Glücksfältchen der Erleichterung las er schuldige Verunsicherung. Sie spürt es, dachte Drake. Irgendwann würde Grimwardts Licht ihre Finsternis entlarven. Und die wurde immer tiefer. Ihr Gesicht war blasser geworden seit ihrer letzten Begegnung und die Schatten größer – lebendiger. Die Veränderung war subtil – jemand, der jeden Tag mit ihr zu tun hatte, würde sie kaum bemerkt haben. Auch Drake hätte sie wohl nur für Übermüdung gehalten, wäre er nicht schon einmal Zeuge einer solchen Verwandlung gewesen. Damals, bei seinem Mentor. Die Ironie zu werden, was man bekämpft, hatte er es genannt.
Hm, interessant.
„Scheint ja noch mal gutgegangen zu sein“, bemerkte Drake mit einem Nicken in Richtung des Totenbetts.
„Ja.“ Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Jetzt haben wir wenigstens einen Grund zu feiern. Komm, es gibt reichlich zu essen.“
„Danke, ich verzichte.“
Winter zuckte - ein wenig pikiert wegen der rüden Ablehnung - mit den Schultern.
„Wie du meinst.“  
Stirnrunzelnd sah er ihr nach, als sie wieder in der Menge verschwand. Unter anderen Umständen wäre er vielleicht geblieben…
Um den Blicken der Anwesenden zu entgehen, zog er sich die Kapuze tiefer in die Stirn, ehe er in die Geisterwelt eintrat, wo sich alle Bewegungen verlangsamten, die Farben zerflossen und die Formen zeitverzerrt und verschwommen wirkten. Unsichtbar und gestaltlos glitt er durch das Mauerwerk, das hier die Konsistenz einer zähflüssigen Masse hatte, und schritt unbehelligt durch die Massen, die vor der Abtei warteten. Während die Realität um ihn herum an Geschwindigkeit verlor, bewegte er sich schneller, sodass er die Abtei schon nach wenigen Minuten meilenweit hinter sich gelassen hatte. Am Ufer eines Flusslaufs kehrte er auf die materielle Ebene zurück. Seine Gedanken suchten nach der telepathischen Verbindung, die sein Auftraggeber zwischen ihnen erstellt hatte. Er hasste diese Art der Kommunikation – aber zumindest war sie sicher.
Ich habe Neuigkeiten. Er wartete, bis er die fremde Präsenz in seinem Geist spürte, ehe er fortfuhr:  Grimwardt Fedaykin ist als Heiliger von den Toten zurückgekehrt. Und seine Schwester ist im Begriff sich in einen Umbranten zu verwandeln.


Kapitel I: Omegas Opfer  


Faust
Schwerterteich, zwei Tage später.  
Sein Magen zog sich zusammen, als er die Lichtung wiedererkannte. Eine Erinnerung malte klebrige Blutspuren ins Gras, wo der abgetrennte Kopf seines Lehrmeisters über den Waldboden gerollt war. Faust schüttelte den Kopf: Tyrail und sein Sinn für Dramatik! Für den Elfen schien die ganze Welt aus einem einzigen, ewigen Kampf zu bestehen: Das Licht der Elfen gegen das Zwielicht der Menschen. Aber Faust war es leid, von der Vergangenheit beherrscht zu werden.
„Sicher, dass du allein mit ihm fertig wirst?“, brummte Grimwardt.
Faust schnaubte grimmig.
Er kannte Tyrails Kampfstil. Er war auf Duelle spezialisiert; war darauf trainiert, alles auszublenden bis auf den einen Gegner… Faust würde einen Weg finden müssen, seinen Fokus zu brechen, wenn er diesen Kampf gewinnen wollte.
„Tyrail ist irgendwo in der Nähe“, sagte er. „Er wird erst rauskommen, wenn ihr weg seid. Das hier muss ich alleine machen.“
Nachdem Miu ihn noch einmal mit einem eindringlichen Blick gewarnt hatte, nicht mehr Blut zu vergießen als nötig, zogen sich seine Freunde ins Dickicht zurück.
„Du kannst rauskommen, Tyrail!“
Nichts. Es dauerte noch einige Minuten, ehe sich der Elf am Rande der Lichtung zeigte. Vermutlich war er den anderen gefolgt, um sicherzugehen, dass sie sich auch tatsächlich zurückzogen.
Stumm harrten die beiden Kontrahenten einander gegenüber.  
„Wusstest du, dass ich es war, der ihn fand?“ Tyrails Eisaugen wanderten über die Lichtung. „Sein Blut war noch warm…“
Faust wusste, es würde nichts ändern, wenn er sich entschuldigte. Es würde Tyrail nicht von seiner Besessenheit heilen. Fast wünschte er, den Elfen ebenso hassen zu können wie er ihn. Das würde vieles einfacher machen. Aber so sehr sich Tyrail auch in anderen Dingen irrte – in dieser Sache war er im Recht.
„Was passiert, wenn ich gewinne?“, murmelte er.  
„Dann solltest du mich töten“, sagte der Elf ohne zu zögern. „Ich werde niemals aufhören dich zu jagen.“
Faust seufzte resigniert. „Wie du meinst.“
Steif verneigten sich die beiden Kontrahenten voreinander, ehe sie die Schwerter zogen.
„Aber keine faulen Tricks!“
Faust hatte die Mahnung noch nicht ausgesprochen, da schlug der Elf bereits die Hacken zusammen. Typisch Tyrail! Kaum jemand legte so viel Wert auf Soldatenehre wie er, aber im Kampf war ihm jedes Mittel Recht, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Faust spürte, wie die magischen Stiefel des Elfen ein leichtes Vibrieren aussandten. Die Luftbewegung ließ den Schriftzug erstarren, den der alte Sarrukh in seinen Arm geritzt hatte, und die Lichtung um sie herum gefror in der Zeit. Es funktioniert, stellte Faust begeistert fest. Dank des neuen Zeittricks gelang es ihm, sich in Tyrails Zeitstarre „hineinzumogeln“. Faust nutzte die Verblüffung seines Gegners, um eilig die Schriftrolle zu zücken, die er am Morgen in Silbrigmond besorgt hatte, und die magische Formel vom Pergament abzulesen. Jäh katapultierte der Zauber die beiden Kontrahenten zurück in den Zeitstrom. Das Glühen ihrer Schwerter verlosch und das kleine Irrlicht, das stetig um Tyrails Klinge tanzte, verschwand von der Bildfläche.
Ulinu en‘lianter!“, fluchte der Elf gepresst. „Eine antimagische Zone?! Du verdammter Bastard!“
Spöttisch breitete Faust die Arme aus.
„Lass uns wie früher kämpfen!“ sagte er grinsend. „Ganz ohne Magie!“
Tyrails Verunsicherung beflügelte ihn. Er hatte ein wenig nachgeforscht und seinen Schwachpunkt gefunden: Das kleine Irrlicht war ein Klingengeist, ein manukeryth, der Geist eines verstorbenen elfischen Helden, aus dessen Beistand Tyrail während des Kampfes Kraft und Willensstärke schöpfte. Durch die Unterdrückung des magischen Gewebes verlor der Klingengeist seinen Kontakt zur materiellen Ebene. Natürlich beschnitt dies auch seine eigene Kampfkraft, doch Faust hoffte, dass der Nachteil auf Tyrails Seite überwiegen würde.
Der Elf nutzte den einzigen Vorteil, der ihm noch blieb: seine Gewandtheit. Pfeilschnell schoss er auf seinen Gegner zu, der ebenfalls losstürmte. Einen Herzschlag bevor Tyrail ihn erreichte, katapultierte sich Faust frontal in den Sprung. Der Elf reagierte mit einer Halbdrehung, um dem schmetternden Hieb auszuweichen. Die Bewegung lenkte seine Klinge ab, sodass sie nur einen blutigen Kratzer auf Fausts Oberkörper hinterließ. Doch Faust, der Tyrails Ausweichmanöver vorausgeahnt hatte, änderte im Sprung die Hiebrichtung und die niederfahrende Klinge brach schmetternd das Schlüsselbein seines Gegners. Während Tyrail, betäubt vor Schmerz, in die Knie brach, stieß sein Gegner ihm mit einem weiteren Hieb die Klinge in die Brust, sodass sie nur knapp sein Herz verfehlte. Brüllend vor Schmach und Enttäuschung riss Tyrail sein Schwert hoch, doch er war so geschwächt, dass ein einziger Fußtritt ausreichte, ihm die Waffe aus der Hand zu schlagen. Grob packte Faust den Besiegten bei der Schulter und setzte ihm die Klinge an die Kehle.
„Willst du immer noch, dass ich es zu Ende bringe?“, knurrte er.
Verächtlich hustete Tyrail ihm einen Schwall Blut vor die Füße. Dann verdrehten sich seine Pupillen nach oben und er sackte bewusstlos in sich zusammen. Für einige Atemzüge harrte Faust unschlüssig über dem Besiegten. Du kannst ihn nicht einfach verbluten lassen. Egal, wie lange Tyrail seine Nemesis-Nummer noch durchziehen wollte, er war einmal so etwas wie sein Kampfgefährte gewesen. Hastig riss er Tyrails Hosenbein in Streifen, um die blutende Brustwunde abzubinden.  
„Faust.“
Wie vom Blitz getroffen fuhr er herum.
Das kann nicht sein.
Tyrails Klingengeist war in eine schemenhafte Projektion seines sterblichen Körpers geschlüpft. Die hohe Stirn, die ernsten schwarzen Augen… Faust spürte einen eisigen Schmerz in der Brust. Und dann sank er, der ewige Rebell, der in seinem ganzen Leben vor niemandem freiwillig das Haupt gebeugt hatte, in Demut auf die Knie.
Thallastam“, flüsterte er erstickt.
„Ja, Faust, ich bin sein manukeryth.“
Langsam glitt der Geist näher und ein kummervoller Blick streifte den Bewusstlosen im Gras. „Nach meinem Tod bat ich die Götter, mich zurückzuschicken. Ich hatte bei dir versagt… Meine Seele fand keine Ruhe in dem Wissen, dass auch mein zweiter Schüler der Dunkelheit anheimfallen würde. Doch ich konnte ihn nicht retten. Seine Seele war zu sehr vom Hass zerfressen.“
Faust vermochte sich nicht zu rühren. Erst als eine kühle, substanzlose Berührung seine Schläfe streifte, sah er auf. Der Geist des alten Elfen hatte sich zu ihm ins Gras gekniet, sodass er gezwungen war ihm ins Gesicht zu sehen.
„Vielleicht habe ich mich damals geirrt“, gestand Thallastam leise. „In dir schwelt der Weltenzorn deines Vaters. Aber ich habe die Wandlungsfähigkeit der Menschen unterschätzt.“
Faust schluckte heftig, doch der Kloß in seiner Kehle wollte nicht weichen.
„Könnt Ihr mir vergeben?“
„Nicht ich muss dir vergeben. Sondern die Lebenden.“
„Ihr wollt, dass ich mich dem Orden stelle?“
„Die Frage ist, ob du bereit bist dich ihrem Urteil zu unterwerfen. Die Rolle des bußfertigen Sünders stand dir nie besonders gut. Du wolltest immer als Held hierher zurückkehren…“
„Als Held?“, widersprach Faust erstaunt. „Nein, ich…“
Dann biss er sich auf die Lippen und senkte den Blick. Das Schicksal hatte sie hier zusammengeführt – dreiundzwanzig Jahre, nachdem er Thallastam auf eben dieser Lichtung getötet hatte. Irgendetwas musste das zu bedeuten haben. Vielleicht war das die zweite Chance, auf die er gehofft hatte. Und anders als er gehofft hatte, lag sie womöglich nicht in seiner Hand…

Grimwardt

Kurz darauf im Gasthaus 'Zu den Neun Schwertern'.
Grimwardt packte seine Schwester, die gehetzt aufgesprungen war, als Faust auf der Türschwelle erschienen war, am Arm und schüttelte stumm den Kopf. Das musste irgendwann kommen, sagte seine Geste. Doch nur widerwillig ließ sich Winter zurück auf den Platz drücken. Der Schwertkämpfer bedachte seine Freunde mit einem angriffslustigen Macht-euch-auf-was-gefasst-Zwinkern, ehe er sich ihren beiden Tischgefährten zuwandte: Die Freunde hatten Grimwardts zwergische Bekannte und ihren gnomischen Begleiter bei ihrer Ankunft im Gasthaus angetroffen.
„Ihr habt mich noch nie gesehen“, sprang Faust kopfüber ins kalte Wasser. „Aber vermutlich habt Ihr bereits von mir gehört. Ich bin Faust.“
Der Gnom sah plötzlich aus, als sei ihm eine Fischgräte im Hals stecken geblieben. Das Bronzegesicht der Zwergin dagegen blieb unbewegt. Doch Grimwardt entging nicht der kurze Augenkontakt zwischen ihr und einer Rekrutin, die von einem anderen Tisch neugierig hinüber sah. Auf ein kurzes Nicken der Schwertmeisterin strahl sich das Mädchen unauffällig aus der Tür.
Der Faust?!“, prustete der Gnom indessen.  
„Nicht der mit dem Teufelspakt.“
„Teufelspakt? Das wird ja immer besser!“
„Hast du nicht zugehört?“, brummte Faust ungnädig. „Das war ich nicht!“
„Dann leugnest du wohl auch die anderen Dinge, die man dir zur Last legt, wie?“
„Falls du auf die Sache mit Thallastam anspielst - in dem Punkt ist an den Gerüchten wohl ausnahmsweise was Wahres dran.“
Der Gnom sprang auf.
„Tu nicht so empört“, knurrte  Faust. „Mal ehrlich: In dem Laden hier ist doch keiner so lammfromm wie ihr gerne tut!“
Mit einem unterdrückten Stöhnen fuhr sich Grimwardt über die Stirn. Sein Freund bewies wieder einmal, dass er über das diplomatische Geschick eines orkischen Preisboxers verfügte. Die Rechnung folgte auch prompt auf den Fuß: Die Hand des Gnoms fuhr an sein Schwert.
„Pass auf, wen du hier beleidigst!“  
Plötzlich waren alle Augen auf ihren Tisch gerichtet. Doch ehe sich die erhitzten Gemüter in einer handfesten Wirtshausprügelei entladen konnten, wurde es still und die Temperatur schien um einige Grade zu fallen.
„Faust!“, dröhnte Hades‘ Titanenstimme durch den Raum. Der Gnom kroch eilig zurück auf seinen Platz, um dem Todesrichter nicht im Weg zu stehen, als dieser wie der Schnitter persönlich heran rauschte.
Hades musterte den Zurückgekehrten von Kopf bis Fuß.
„Ihr habt Eure Erinnerung an Eure Ausbildung bei den Neun Schwertern wiedererlangt?“  
Faust deutete ein Nicken an.
„In diesem Fall nehme ich Euch, Desmond ‚Faust‘ MacLancastor, im Namen der Neun Schwerter in Gewahrsam“, erklärte Hades förmlich. „Ihr steht im Verdacht, am siebzehnten Tag der Flammleite im Jahre 1372 TZ den Elfen Lydanias ‚Thallastam‘ Feawyn auf unehrenhafte Weise getötet zu haben. Ich muss Euch bitten, mir Euer Schwert auszuhändigen.“
Mit zögernden Bewegungen löste Faust den Schwertgurt.
„Ich will ein Ordensgericht“, verlangte er.
„Das ist Euer Recht.“
Grimwardt glaubte Fausts Zähne knirschen zu hören, als er Zwiespalt mit blanker Klinge übergab. Die Chaosklinge durchlief eine wütende Farbtransformation, als Hades sie entgegennahm. Der Richter berührte die Waffe nur mit zwei Fingern und hielt sie weit von sich wie ein bissiges Tier, ehe er sie mit gerümpfter Nase seinem Schwertnovizen übergab, der ihm wie ein Hund auf den Fuß gefolgt war.  
„Und Eure magischen Gegenstände“, verlangte er. „Einschließlich Eures Zauberbuchs.“
„Dann bin ich nackt!“, knurrte Faust, der abgesehen von den magischen Schulterplatten, Armschienen und Lederstiefeln nur ein rotes Tuch um die Hüfte trug.
„Ich bestehe darauf“, sagte Hades unerbittlich.
War Fausts öffentliche Demütigung von ihm beabsichtigt? Oder befolgte der Todespriester einfach nur das Protokoll? Manchmal meinte Grimwardt, wenn auch nur für kurz, unter Hades‘ Panzer der Rechtschaffenheit eine sardonische Mutwilligkeit aufblitzen zu sehen. Faust nahm es augenscheinlich gelassen, als er sich mit flegelhafter Gemächlichkeit vor den Augen der Wirtshausgäste entblößte. Selbst als Hades ihn mit hinter dem Kopf verschränkten Armen aus dem Gasthaus manövrierte und wie eine Trophäe durch den Ort trieb, bewahrte er sich seine Unbekümmertheit. Erst als er sah, wohin die Reise ging, flackerte für einen Augenblick zorniger Widerstand in seinen Augen auf.
„Ist das wirklich nötig, Hades?“, murmelte er mit gepresster Stimme.
„Ja.“ Der Richter blieb niemals eine Antwort schuldig.
Stur sperrte er Faust in einen der beiden Käfige vor Omegas Haus. In dem anderen kauerte, mit borstig gesträubtem Nackenhaar, der Tiermensch, der Grimwardt schon bei seinem ersten Besuch in Schwerterteich Gänsehaut bereitet hatte. Hades sprach einen Teleportationsbann über den Käfig.
„Nachtmond wird Alarm schlagen, solltet Ihr versuchen zu fliehen“, erklärte er gleichmütig.  
Winter, die die Szene mit knirschenden Zähnen beobachtet hatte, ballte entschlossen die Fäuste.  
„Das reicht!“, zischte sie. „Wir müssen ihn da rausholen!“
„Nein.“ Grimwardt legte ihr beschwichtigend den Arm auf die Schulter. „Er tut das Richtige, Winter.“

Winter
Abends.
In der Einsamkeit seiner Zelle war Fausts Unbekümmertheit düsterer Resignation gewichen. Er wirkte blass und ungewohnt verletzlich in dem unförmigen Leinenhemd, das dem Schwiegersohn der Wirtsherrin gehörte. Der Anblick versetzte Winter einen Stich. Faust hatte immer eine gewisse Immunität gegen die Zeichen besessen, die sie und Grimwardt in böse Vorahnungen verstrickten. Doch nun hatte selbst ihn sein Glück verlassen.
„Faust!“
Heimlich kauerte sie sich in den Schatten des Käfigs.  
„Ich komme gerade von Hades.“ Sie sprach in raschem Flüsterton, um Nachtmond nicht auf sich aufmerksam zu machen. „Schlechte Neuigkeiten: Er wird dich wegen Totschlags anklagen. Die Strafe lautet auf Henkerstod durch das Schwert. Laut seines lächerlichen Ordenskodex‘ ist das ehrenhafter als der Tod durch den Strang.“ Sie schnaubte düster. „Als ob das einen Unterschied machen würde!“
„Naja“, murmelte Faust. „Besser eine saubere Enthauptung als die Schmach vor dem ganzen  Orden am Galgen zu zucken…“
„Oh.“ Winter hielt irritiert inne. „Du denkst genauso? Naja, wie auch immer, ich glaube, ich habe einen Weg gefunden, dich aus diesem Schlamassel rauszuholen. Hades hat uns gestattet der Verhandlung als Leumundszeugen beizuwohnen. Und ich habe den Verhandlungsraum gesehen, Faust! Er ist nicht einmal magisch gesichert! Wenn sie dich also verurteilen sollten…“
„Sie werden mich verurteilen“, fiel ihr Faust mit finsterer Miene ins Wort. „Ich habe alles gestanden.“
„Du hast was?!“ Winters Gesichtszüge erstarrten.
„Hades hat das Verhör geführt“, erklärte er ruhig. „Ich stand unter dem Einfluss seines Wahrheitszaubers, als ich meine Aussage machte.“
Seine Entschlossenheit erstickte Winters Tatendrang.
„Dann hat Grimwardt also recht“, murmelte sie beklommen. „Du.. willst das durchziehen, hm?“
„Wenn es das Schicksal so will…“
Winter stutzte und schüttelte jäh den Kopf.
„Nein!“ Mit einem Mal machte sein Fatalismus sie wütend. „Das bist nicht du, Faust! Außerdem ist es nicht das Schicksal, das dich verurteilen wird, sondern ein Pack unzurechnungsfähiger Irrer! Mal ehrlich! Was ist das für ein Orden, der einen halbnackten Wilden und einen tyrannischen Gefühlszombie zu Richtern macht?!“
„Schön gesagt.“ Ein fahles Grinsen huschte über sein Gesicht. „Nein, ehrlich, Winter, ich werde nicht schon wieder davonlaufen.“
 „Gibt es denn irgendetwas, das ich tun kann?“
„Du könntest mir irgendwo ein sauberes Hemd und eine vernünftige Hose besorgen“, brummte er. „In diesem Sack hier stinke ich wie ‘ne Pellkartoffel.“
„Du stinkst wie er!“, drang ein finsteres Knurren aus Nachtmonds Käfig.
Erstaunt spähten die beiden in die Richtung, aus welcher der Einwand gekommen war, doch die nachtschwarze Höhle des Tiermenschen gab ihren Bewohner nicht preis.
„Ich wusste nicht, dass er sprechen kann!“, wisperte Winter verblüfft. Und das war nicht der einzige Punkt, in dem sie Nachtmond unterschätzt hatte. „Hat er etwa verstanden, was wir gesagt haben… Faust?“
Er war aufgestanden und näherte sich vorsichtig dem Nachbarkäfig.
„Wer ist ‚er‘?“
Ein leises Knurren begleitete jede seiner Bewegungen, das sich plötzlich in einem zischenden Fauchen entlud. Faust hielt inne und hockte sich kauernd zu Boden.
„Du sprichst von meinem Vater, oder? Von dem, der vor mir Faust genannt wurde.“
„Faust der Verräter!“
„Wen hat er verraten?“
Nachtmond antwortete mit einem kehligen Laut - halb Grunzen, halb boshaftes Lachen. Mehr war ihm nicht zu entlocken. Enttäuscht gab Faust schließlich auf und kehrte zu Winter zurück.
Lange starrten die beiden schweigend in die Nacht.
„Ich kann dich nicht umstimmen, oder?“, murmelte Winter schließlich unglücklich.
Ein angedeutetes Kopfschütteln.
„Lass uns wenigstens ein Zeichen vereinbaren“, bat sie. „Falls du es dir während der Verhandlung anders überlegst.“
„Wenn ich schreie wie ein Mädchen“, brummte Faust düster.

Faust
Früh am nächsten Morgen.
Leise Stimmen weckten ihn aus einem unruhigen Schlaf. Als er sich fröstelnd aufrichtete, erspähte er im Zwielicht zwei Silhouetten: Omega, die in Nachtmonds geöffneter Käfigtür kniete und wie eine Schlangenbeschwörerin auf den vor ihr kauernden Tiermenschen einredete. Nachtmonds Kopf schnellte in die Höhe, als er Fausts Blick auf sich spürte, doch er beließ es bei einem ungnädigen Schnauben. Kurz darauf erhob er sich in jäher Unruhe und ein Schaudern durchzuckte seinen Körper, zerrte an seinen Gliedern und streckte sie in die Länge, während ihm Haare am ganzen Körper sprossen. Die Verwandlung war schrecklich mitanzusehen. Doch Nachtmond schien daran gewöhnt zu sein. Als es vorüber war, schüttelte der gewandelte Tiger nur kurz die Benommenheit ab und verschwand dann mit einem Satz im Gebüsch. Faust kniff die Augen zusammen - er war noch nicht lange genug wach, um der unwirklichen Szene zu trauen. Doch es wurde noch eigenartiger.  
„Willst du ein Stück mit uns kommen?“ Die Ordensführerin trat an seinen Käfig und entriegelte die Tür, als sei nichts Besonderes dabei, einen Strafgefangenen auf einen Spaziergang im Morgengrauen einzuladen.
Argwöhnisch folgte Faust ihr in den Tempelgarten. Unwirklich stach das satte Rosa der Kirchbäume aus der frühmorgendlichen Welt in Grau. Sie schlenderten schweigend durch die dunsttrübe Morgenidylle und beobachteten den Tiger dabei, wie er seinen Jähzorn an einem Baumstamm ausließ. Nachdem er den Kirschbaum nacktgeschüttelt hatte, ließ er sich schnaubend am Ufer des magischen Teiches nieder, der Schwerterteich seinen Namen gab. Hierhin würden die neun Schwerter der Ordensmitglieder nach dem Tod ihrer Träger zurückkehren und erst wieder aus dem Wasser tauchen, wenn ein Nachfolger gefunden war…
„Wie war mein Vater?“, fragte Faust plötzlich unvermittelt.
„Ares war ein ehrgeiziger Mann“, erwiderte Omega ohne den Blick von dem Tiger zu wenden. „Er huldigte niemandem, respektierte die Starken und ignorierte die Schwachen…“
„Nachtmond nannte ihn einen Verräter… Was ist damals geschehen?“
Sie schwieg so lange, dass Faust glaubte, sie habe seine Frage bereits vergessen.
„Es war noch nicht lange her, dass ich den Orden in Faerûn neu begründet hatte, hundert Jahre nachdem das letzte Schwert in Shu-Lung umgekommen war. Thallastam, Hades, Nachtmond und dein Vater waren die ersten Schwerter der neuen Generation. Ihr letzter gemeinsamer Auftrag als Abenteurer führte sie in die Tiefen des achten Höllenkreises. Es ging um die Befreiung eines Sohns des damarischen Königs aus den Folterkammern Canias. Dort verriet dein Vater seine Freunde und überließ sie Mephistos Folterknechten. Er hatte einen Pakt mit einem Teufel an dessen Hof geschlossen, der ihn zum Halbteufel machte. Der Verrat an seinen Freunden war Teil des Preises, den er zahlte.“
Faust hob verwundert den Kopf.
„Wie konnten die anderen aus der Hölle entkommen?“
Eine Erinnerung berührte Omegas Gesicht und stahl den Glanz aus ihren Augen.
„Sie flohen“, sagte sie leise. „Eine offene Tür, ein unachtsamer Wachtposten, eine glückliche Verkettung von Umständen… Natürlich gibt es keine solchen Zufälle in den Folterkammern von Cania. Ich hatte dafür gesorgt, dass es so kam, doch das erfuhren sie nie.“
„Ich kann schweigen, wenn Ihr die Sache lieber für Euch behalten wollt“, beeilte sich Faust ihr zu versichern.
Ein schmerzliches Lächeln ließ ihre Mundwinkel zucken.
„Es ist kein Zufall, dass du gerade jetzt zurückgekehrt bist, Faust“, sagte sie und ihr Blick entglitt in die Nebel der Zukunft.  

Winter
Am nächsten Tag in der Halle der Schwerter.
Laut klapperten Klingen und Rüstungen, als sich die neun Schwertmeister im Kreis um den Wappentisch versammelten. In zeremoniellem Einklang zogen sie ihre Schwerter und legten sie vor sich auf die Steinplatte, sodass die Spitzen zur Mitte des Schicksalsrads deuteten. Nur Fausts Klinge Zwiespalt fehlte. Wenigstens hatte Hades darauf verzichtet, ihm Handschellen oder Fußfesseln anzulegen. Nachdem Omega die rituellen Begrüßungsworte gesprochen hatte, nahmen die Versammelten Platz: Die Ordensführerin kam als erste, dann folgten Elijas, Hades, Nachtmond, die Zwergin, Tyrail, Faust, eine Dunkelelfe, die Winter hier zum ersten Mal sah, und der Gnom aus dem Gasthaus. Als sich Hades erhob, um die Anklageschrift zu verlesen, senkte sich andächtiges Schweigen über das Ordensgericht.
Winter, die neben Grimwardt und Miu auf der Zeugenbank saß, schenkte den Worten des Richters kaum Beachtung. Heimlich hatte sie begonnen den Raum nach Schutzmagie abzusuchen. Ein schwacher Teleportationsbann, erst kürzlich gewirkt, lag über dem Steintisch – mit einem Gegenbann wäre er leicht aufzuheben. Viel schwieriger würde es werden, Faust gegen seinen Willen aus dem Raum zu teleportieren. Und das alles, bevor irgendwer eingreifen konnte. Winter kniff mutlos die Augen zusammen. Ohne Hilfe war sie aufgeschmissen! Von ihren Gefährten war keine Unterstützung zu erwarten. Grimwardt war von der Richtigkeit von Fausts Handeln überzeugt, selbst wenn es ihn umbrächte, und Miu… wer wusste schon, was Miu dachte? Vielleicht glaubte sie so fest daran, dass die Ahnengeister, zu denen sie betete, ihre schützende Hand über ihren Schützling hielten, dass sie nicht einmal auf die Idee kam, dass diese Sache böse für ihn enden könnte.  
„Während des Verhörs zeigte sich der Angeklagte reumütig“, sprach Hades zum Abschluss seiner Anklageverlesung „Zeitweise waren seine Schilderungen konfus und repetitiv, was auf emotionale Anteilnahme schließen lässt.“
Winter konnte sich ein bitteres Lachen nicht verkneifen.  
Emotionale Anteilnahme, als ob du wüsstest, was das bedeutet!
„Möchten die Leumundszeugen dieser Darstellung etwas hinzufügen?“, wandte sich der Richter mit scharfem Unterton an den Störenfried.
Winter räusperte sich und senkte schuldbewusst den Blick.
„Wenn es mir gestattet ist, Euer Ehren“, sagte sie artig.
„Ich übergebe das Wort an Winter Fedaykin-Dantés.“
Sie erhob sich. „Verzeiht, aber wenn ich das richtig verstanden habe, fand …äh… das Delikt, dessen Faust bezichtigt wird, doch im Rahmen eines Duells statt, oder nicht?“
„Streng genommen handelte es sich um einen nicht näher definierten Zweikampf“, berichtigte Hades, „da dem Kampf keine formelle Duellforderung vorausgegangen war.“
„Zweikampf oder Duell – auf jeden Fall wussten beide, worauf sie sich einließen“, beharrte Winter. „Dass der Kampf tödlich enden konnte, nahmen sie in Kauf, als…“
„Hör mit dem Schöngerede auf, Winter!“, fiel ihr Faust ungeduldig ins Wort. Er hatte sich halb zu ihr umgedreht, doch seine Worte waren an alle gerichtet. „Ich tötete Thallastam, als er unbewaffnet am Boden kniete, um für meine Seele zu beten. Daran gibt es nichts schönzureden. Ich war jung – vielleicht viel zu jung, um mit dieser Macht umzugehen.“
Winter schloss ergeben die Augen. Faust, du verdammter Querkopf! Schön, wenn du hier den geläuterten Sünder mimen willst, geh – reite dich selbst ins Unglück! Ich habe alles versucht!
„Ich will überhaupt nichts bestreiten“, fuhr Faust fort. „Aber mich ärgert eure verdammte Heuchelei! Mal ehrlich, wer von euch hat denn keinen Dreck am Stecken! Tyrail, was ist zum Beispiel mit dir? Gegen die bösen Scherze, die du und deine Eldreth-Veluuthra-Freunde euch früher erlaubt habt, waren meine Vergehen ja wohl gar nichts!“
Der Elf stieß ein verächtliches Schnauben aus. „Deine Ablenkungsmanöver waren schon immer für jeden Ork zu durchschauen! Du bist so erbärmlich, Faust!“
„Tyrail! Faust!“, rief Hades die beiden Erzfeinde zur Ruhe. „Tyrail, niemand hat Euch das Wort erteilt! Faust, Ihr seid es, der hier vor Gericht steht, nicht Tyrail. Bleibt gefälligst bei den Fakten, die den Fall betreffen!“
„Um den Fall geht es doch überhaupt nicht! Diese ganze Verhandlung ist eine Farce! Ihr habt Euer Urteil doch schon längst gefällt und nun formuliert Ihr die Anklage auf eine Weise, die den anderen gar keine andere Möglichkeit lässt als mich zu verurteilen!“
Eine steile Falte hatte sich in die Stirn des Richters gegraben.
Faust spannte die Kiefermuskeln, um sich aus der Rage zu winden, in die er sich geredet hatte. „Ich habe es getan, ja“, gestand er ruhiger. „Ich habe Thallastam getötet. Aber ich habe mich geändert. Die Frage ist also nicht, ob ich schuldig bin, sondern ob ihr mich für eine Tat zu Tode verurteilen wollt, die ich beging, als ich noch fast ein Kind war.“  
Einige Herzschläge lang herrschte Schweigen. Dann ergriff Hades wieder das Wort.
„Gibt es noch weitere Zeugen, die zu diesem Fall aussagen wollen?“
„Was ist mit Thallastams Geist?“, fragte Faust.
Hades runzelte verständnislos die Stirn.
„Ich verstehe nicht, was die Frage bedeuten soll.“
Tyrail war in zorniger Erregung aufgesprungen, doch Faust ignorierte seinen stummen Einspruch. „Der Mann, den ich tötete, wandelt als Tyrails Klingengeist unter uns.“
 „Ruhe!“ Hades hatte Mühe, den Tumult zu übertönen, der sich auf diese Enthüllung in der Halle erhob. Selbst dem eisernen Richter war die Verblüffung anzusehen, als er sich an den Elfen wandte. „Könnt Ihr das bestätigen, Tyrail?“
Tyrails Blicke durchbohrten Faust wie vergiftete Dolche.
„Ja“, knirschte er ohne die Augen von seinem Hassobjekt zu wenden.
„Ist es Euch möglich, ihn herzurufen?“  
„Nein!“ Er spuckte dem Richter das Wort förmlich ins Gesicht. „Das kann ich nicht, selbst wenn ich wollte! Und es war niemals Thallastams Wunsch, dass Faust seine Identität vor dem versammelten Orden entlarvt!“  
Hades musterte den aufgebrachten Elf mit stechenden Blicken.
„Ihr sprecht die Wahrheit“, erkannte er. „Es wird festgehalten: Das Opfer verweigert jegliche Aussage gegen oder zugunsten des Täters.“
Faust senkte betroffen den Blick.
„Kommen wir nun zur Abstimmung durch das Ordensgericht. Die Anklage bezichtigt das Ordensmitglied Faust der unehrenhaften Tötung im Affekt. Im Falle einer Verurteilung droht dem Angeklagten der Tod durch Enthauptung. Die Ordensmitglieder sind aufgefordert Ihr Urteil nach bestem Wissen und Gewissen zu fällen. Der Angeklagte möge sich erheben.“
Nervös griff Winter nach Mius Hand. Das besänftigende Wesen der Ordensschwester durchströmte sie wie ein wohltuender Sirup und sie wünschte, Faust in diesem Moment etwas von dieser Ruhe abgeben zu können.
„Das Urteil des Ersten Schwertes!“, eröffnete Hades die Abstimmung.  
„Ich enthalte mich dem Urteil“, erklärte Omega mit unbestechlicher Gleichmut.
„Das Urteil des Zweiten Schwertes!“
„Unschuldig.“ Elijas hatte während der ganzen Verurteilung unkonzentriert und ein wenig kränklich gewirkt. Doch nun streifte er Faust mit einem mitfühlenden Blick.
„Das Urteil des Dritten Schwertes lautet auf schuldig“, gab Hades seine eigene Stimme ab. „Das Urteil des Vierten Schwertes!“
„Schuldig“, knurrte Nachtmond mit Inbrunst.
„Das Urteil des Fünften Schwertes!“
„Enthaltung“, sagte die Zwergin knapp.
„Das Urteil des Sechsten Schwertes!“
„Es war Mord“, erklärte Tyrail kalt. „Nicht Totschlag. Ich erkenne weder die Anklage noch dieses Gericht an.“
Faust lachte düster auf. „Du willst doch nur selbst derjenige sein, der mir das Schwert in die Brust rammt, Tyrail!“
„Das Gericht wertet diese Aussage als Enthaltung“, entschied Hades. „Das Urteil des Achten Schwertes!“
„Unschuldig.“ Der Freispruch der dunkelelfischen Schwertmeisterin kam unerwartet. Offenbar war Fausts Ehrlichkeit nicht überall auf taube Ohren gestoßen.
„Das Urteil des Neunten Schwertes!“
Der Gnom hob erstaunt den Kopf, als er erkannte, welche Macht ihm plötzlich zuteilwurde. Es stand 2:2. Und dann breitete sich – mit schleichender Langsamkeit – ein gehässiges Lächeln auf seinen Lippen aus.
„Schuldig“, sprach er.

Faust
Wie betäubt harrte sein Blick auf den Tuschezeichnungen, welche die Pergamentwände bedeckten. Während Hades das Urteil über ihn sprach, wanderte das hereinfallende Licht ein Stück nach Westen und ließ die Ordenskrieger vergessener Zeiten in verzerrter Gestalt durch den Raum wandern. Wie grinsende Totengeister, die ihn zu sich riefen. Bist du nun zufrieden, Thallastam? Zu Tode verurteilt wegen eines belanglosen Wirtshausstreits mit einem Fremden! Am liebsten hätte er laut losgelacht, aber er wollte nicht als lachender Irrer an dieser Wand dort enden.  
Das Singen einer Schwertscheide riss ihn aus seiner Starre.  
Omega hatte sich erhoben. Himmelssplitter, das mächtigste der Ordensschwerter, lag blank in ihrer Rechten. Das kristallene Licht der Glasstahlklinge vertrieb die Schatten der Ahnengeister. Wollte sie das Urteil etwa sofort vollstrecken? Sollte sein Blut hier über dem Schicksalsrad der Neun Schwerter vergossen werden?
„Liebe Freunde - Schwerter des Ordens“, sprach Omega. Ihre Wangen waren gerötet und ihre Augen riesig wie bei einem jungen Mädchen bei seinem ersten Kuss. Faust vermochte sich keinen Reim auf diese seltsame Erregtheit zu machen. „Ich erteile euch hiermit den einzigen Befehl, den ich Euch je geben werde: Unternehmt nichts, um meine Seele zu retten! Kommt mir nicht nach!“
Was zur Hölle…?
Mit feierlicher Würde trat sie einen Schritt zurück und verneigte sich mit dem Schwert auf der Brust. Die letzte Verbeugung. Ein Ritual der Samurai-Krieger von Wa, kurz bevor sie… in den Freitod gingen! In einer fließenden, harmonischen Bewegung packte Omega das Schwert mit beiden Händen und stieß sich die Klinge mit großer Präzision mitten ins Herz. Geistesgegenwärtig – erstaunlich geistesgegenwärtig – sprang Elijas vor, um sie aufzufangen: Sie war tot, ehe ihr Körper in den Armen des Avariel zu Boden sank.
Es war absurd. Völlig undenkbar.
Erst als Omegas Blut sich um den Fuß des Gnoms zu ihrer Rechten zu sammeln begann, schlich sich ihr Tod in das Bewusstsein der Versammelten: Der Gnom begann wie von Sinnen zu schreien und plötzlich war der Bann gebrochen. Einige sprangen wie von der Tarantel gestochen auf und stürzten zu der Toten, während der Schock andere mit kalten Klauen an ihre Plätze fesselte.
Faust spürte, wie ihn all die Anspannung der letzten Stunden jäh aus ihrem Griff entließ. Ihm schwindelte und er spürte eine grässliche Schwäche in den Beinen. Dann schnellte plötzlich etwas auf ihn zu und er schlug krachend gegen die Lehne seines Sitzes. Nachtmond! Mit blanken Händen, die sich im Sprung in Tigerklauen verwandelten, setzte der Tiermensch quer über den Tisch und stieß ihm die Klauen in die Kehle. Panisch schnappte Faust nach Luft, doch es trat nur roter Schaum aus dem Loch in seinem Hals.
Als er wieder zu sich kam, ruhte sein Kopf in Mius Schoß. Winter deckte ihn mit dem Rücken und hielt den Tiermenschen, der sich wimmernd am Boden wand, mit einem Beherrschungszauber im Bann.
Was soll der Mist?, wollte Faust seinen Angreifer anherrschen, doch seine Wut verrauchte, als er den Schmerz in Nachtmonds Augen sah.
Er kann nicht zwischen Zorn und Schmerz unterscheiden.
Die Erkenntnis versetzte ihm einen eisigen Stich. Omega war Nachtmonds Miu gewesen, der schützende Geist, der ihn vor sich selbst bewahrt hatte. Sie hatte den ganzen Orden zu dem gemacht, was er war. Ohne sie waren die Neun Schwerter nur… ein Tollhaus zerrütteter Seelen. Betroffen betrachtete er den Scherbenhaufen, den die Ordensführerin hinterlassen hatte. Ihre Leiche war fort und er konnte Hades nirgendwo sehen. Vermutlich hatte der Todespriester sie fortgetragen, um ihren Körper für die Beisetzung zu konservieren. Die anderen saßen in stummer Entgeisterung um den Tisch oder lagen sich schluchzend in den Armen. Faust suchte mit den Augen nach dem einzigen, den Omegas Tod nicht kalt erwischt hatte: Elijas harrte, die Hände auf den Tisch gestützt, in sich gekehrt in all dem Chaos, wie jemand, der dabei war, einen schweren Entschluss zu fassen.  
„Elijas!“, rief Faust. Der Avariel hob jäh den Kopf. „Was hat sie dir erzählt?“
Die erwartungsschwere Stille brachte den Elfen in Zugzwang.  
„Setzt euch“, befahl er leise. Doch er wartete, bis Hades zurückgekehrt war, ehe er zu einer Erklärung ansetzte: „Vor dreißig Jahren gerieten Hades, Nachtmond und mein Vorgänger in Gefangenschaft auf Cania, dem achten Kreis der Hölle. Omega brach auf, um ihre Freunde zu befreien. Sie kämpfte sich durch sieben Höllenkreise und drang bis in den Palast des Erzteufels Mephistopheles vor. Ihn jedoch konnte sie nicht bezwingen, ohne seine Geiseln zum Tode zu verurteilen. Darum bot sie ihm ihre Seele an, im Tausch gegen das Leben ihrer drei Freunde. Er nahm an und setzte ihr eine Frist vor dreißig Jahren. Diese Frist läuft mit der letzten Stunde dieses Tages ab. Omega wählte den Freitod, um nicht durch Mephistos Hand sterben zu müssen.“
Das schockstarre Schweigen, das auf diese Enthüllung folgte, fühlte sich an, als hätte trotzdem etwas von Canias eisiger Kälte Einzug in die Halle der Neun Schwerter gehalten. Hades erhob sich und verließ mit steifer Würde den Raum, bemüht den angekratzten Eispanzer um seine Seele zu versiegeln. Fausts Gedanken rasten. Es ist kein Zufall, dass du gerade jetzt zurückgekehrt bist. Langsam begann er den Schicksalsknoten zu sehen, den Omega schon seit langem gekannt haben musste…
„Seit wann weißt du davon?“, wandte er sich an Elijas.  
„Seit heute Morgen“, antwortete der Avariel. „Omega hat mir die Leitung des Ordens übertragen, solange kein neuer Träger für Himmelssplitter gefunden ist.“
Die Zwergin erhob sich.
„Wir müssen ihre Seele befreien“, sagte sie entschlossen. „Was können wir tun, um sie zu retten?“
„Nichts“, erwiderte Elijas betrübt. „Wir können gar nichts tun, ohne ihrem letzten Befehl zuwider zu handeln.“
„Aber…“
„Es war ihr Wunsch, dass der Orden der Neun Schwerter weiter besteht. Das ist alles, was wir tun können, um ihr Andenken zu ehren.“ Sein Blick glitt über die Anwesenden und blieb dann an Faust hängen. „Was mich zum Gegenstand dieser Versammlung bringt: Die Strafvollstreckung obliegt dem Ersten Schwert. Ich verschiebe darum das Enthauptungsurteil gegen Faust auf unbestimmte Zeit. Das Ordensgericht ist damit aufgelöst.“
Elijas bat die anderen Schwerter zu gehen. Als er mit Faust und seinen Gefährten alleine war, fiel die Maske des beherrschten Anführers von ihm ab und Faust erkannte, wie sehr ihm vor der Verantwortung graute, die Omega ihm aufgebürdet hatte. Er wusste, was jetzt kommen würde, und die Aussicht erfüllte ihn mit flammender Euphorie.
„Omegas Befehl war an die Neun Schwerter gerichtet“, begann Elijas zögernd. „Allerdings…“
„Allerdings bin ich kein Schwert mehr“, unterbrach ihn Faust ungestüm. „Wir werden es tun. Wir werden in die Hölle gehen!“ Mit einer entschuldigenden Geste wandte er sich an seine Freunde. „Tut mir leid, dass ich euch da mit reinziehe und ihr habt echt einen gut bei mir, aber ich fürchte, ich kann nicht allein…“
„Halt‘ die Klappe“, sagte Winter resolut. „Natürlich kommen wir mit!“
„Faust…“ Elijas schien weitaus weniger glücklich mit dieser Lösung. „Ich kann das Urteil gegen dich nicht aufheben. Ich kann dir nicht einmal versprechen, dass du dadurch deine Integrität im Orden zurückgewinnst.“
„Darum geht es mir gar nicht.“
„Ach nein? Du würdest durch die Hölle gehen und danach trotzdem deinen Kopf hinhalten?!“
„Du weißt genau, dass Omega dieses Schlupfloch nicht ohne Grund offen gelassen hat“, sagte Faust mit glänzenden Augen. „Ich kenne die ganze Geschichte, Elijas. Sie selbst hat sie mir gestern Abend anvertraut. Was Hades und den anderen widerfahren ist, war die Schuld meines Vaters. Mit mir schließt sich der Kreis. Es ist mein Schicksal, wiedergutzumachen, was er… verbockt hat – im wahrsten Sinne des Wortes. Alles andere wird sich schon finden. Außerdem kann es nicht Omegas Wunsch sein, dass Mephisto ihre Seele zum Abendessen futtert! Mit ihren letzten Worten wollte sie vermutlich nur diejenigen schützen, die so eine Höllenfahrt nicht überstehen würden. Nachtmond und Hades haben noch von ihrem letzten Urlaub da unten einen Knacks weg, Tyrail würde dem erstbesten Teufel seine Seele versprechen, der ihm hilft die Menschheit auszurotten, die anderen drei sind zu unerfahren…“
„… und du bist ein wenig zu versessen darauf, deinen Vater dort unten zu finden“, bemerkte Elijas. Er sagte es mit entwaffnender Ironie, doch Faust entging nicht die unterschwellige Warnung. „Ich will nur sagen: Sei vorsichtig, Faust. In Kara-Tur erschauern die Menschen, wenn sie seinen Namen hören.“
Faust runzelte die Stirn: „Was weißt du über meinen Vater?“
„Ares ist ein Schwarzer Phönix-Magier. In Shou-Lung lernte ich beim Oberhaupt des Jadephönix-Ordens – ein Zirkel von Schwertmagiern, deren Kampfstil sich am Feuertanz des karaturianischen Phönix orientiert. Ihre Philosophie gründet auf dem ewigen Kreislauf von Leben und Wiedergeburt. Abtrünnige Ordensmitglieder, die sich von diesen Idealen entfernt haben, werden schwarze Phönixe genannt. Diese Abtrünnigen haben einen Weg gefunden, Macht aus der Lebenskraft anderer zu schöpfen und so ihre regenerativen Fähigkeiten zu stärken… Schon bevor er sich der Hölle verschrieb, war dein Vater mächtig und gefährlich, Faust. Und nach allem, was man hört, ist er eine einnehmende Persönlichkeit.“
„Deshalb werde ich ihm nicht die Füße küssen, sobald ich ihn sehe“, knurrte Faust.
„Das wäre auch eine ziemlich verstörende Vorstellung“, bemerkte Grimwardt trocken.  
Elijas bedachte die vier Gefährten mit einem ungläubigen Kopfschütteln.  
„Ich weiß nicht, ob die Aussicht auf eine Höllenfahrt schon jemals auf solche Euphorie gestoßen ist“, sagte er. „Dabei ist nicht einmal gesagt, ob es überhaupt möglich ist, eine Seele aus der Hölle zu befreien. Sicher ist nur, dass Omegas Seele eine große Bedeutung für Mephistopheles hat. Er wird sie nicht ohne Weiteres freigeben…“
„Dann helfen wir eben ein wenig nach.“ Faust grinste tatendurstig. „Übrigens… äh… wäre Zwiespalt bei dieser Mission wirklich eine Hilfe. Teufelskehlen sind seine Spezialität.“
Elijas seufzte.
„Hades wird mir den Kopf abreißen, wenn ich dich aus der Gefangenschaft entlasse und dir auch noch dein Schwert zurückgebe“, murmelte er. „Aber wenn ich euch schon in die Hölle schicke, ist das wohl das Geringste, was ich tun kann.“  
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 24. Juni 2011, 03:40:29
Boah! Sehr geiler Auftakt! Jetzt muss ich echt mal ins Bett, aber das musste ich jetzt noch unbedingt vorher lesen!  :thumbup:

Edit:
So, habs jetzt auch auf die Seite gesetzt, hab nur noch keine passendes Bild gefunden. Lustig sind die "Alkoven", da wir gestern Nacht noch "Brügge sehen ...und sterben?" gesehen haben.
Jetzt bin ich natürlich gespannt, was der Drake da für nen Deal abgeschlossen hat... ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 25. Juni 2011, 19:39:51
Habe mir das Kapitel gestern vorlesen lassen.
Es geht wirklich mit Pauken und Trompeten los, und ab jetzt quasi nur noch bergab! Bald haben wir uns eingeholt...mag gar nicht dran denken.

Wirklich interessant, dieses Drake-Intro. Für den ist halt jeder einzelne Schritt eine Geschäftsreise! Möcht nicht seine Spesenabrechnung bezahlen müssen...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 12. Juli 2011, 02:25:37
Hach, bald sind Semesterferien! Dann ist endlich wieder Zeit für die Geschichte und auch das Spielen!  :)
Ich denke die gute Autorin sieht dem auch mit Freudentränen entgegen ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 20. Juli 2011, 14:21:47
Wie weit ist denn das nächste Kapitel? ...Bin doch ab Sonntag weg...  :)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 20. Juli 2011, 15:20:21
Hm, sieht eher schlecht aus... irgendwie fehlen mir im Moment sowohl Zeit als auch die liebe Muse...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 20. Juli 2011, 16:42:53
Ja, die olle Muse... mal sehn, vielleicht zeigt die sicht ja irgendwie nach der nächsten Sitzung   :wink:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 21. September 2011, 11:33:22
Freu mich aufs baldige Spielen und irgendwann natürlich auch auf den Fortgang der Story! Hab jetzt auch mal den Namen auf der Website verändert, damit das Gästebuch nicht bald voller Jubel von fanatischen Christen ist  :D
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 02. November 2011, 22:25:51
Ich warte schon ganz sehnsüchtig auf das nächste Kapitel! Hoffe die Muse schaut bald mal wieder rein bei der Meisterin.
Fand die letzte Session auch sehr schön, wenn ich auch zeitweise wegen :urgs: :urgs: :urgs: aussetzen musste  :wink:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 03. November 2011, 10:33:40
Ja, ich find auch die Hölle hat jetzt lang genug Pause gehabt...  :D
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 15. November 2011, 22:36:15
Kapitel II: Die Portalstadt

Grimwardt
Schwerterteich, eine Woche später.

Die Vision hat ihn ins Schlachtental geführt. Einst war die Burgruine eine trutzige Festung, die Belarus errichtete, ein treuer Diener des Feindhammers. Ein heiliges Licht bricht durch die Wolken. Eldan spürt sein Herz schneller schlagen und beschleunigt seine Schritte. Das Himmelszeichen führt ihn zu einem zerbrochenen Altar. Also ist es wahr: Hier wird er die Abtei errichten! So will es Tempus! Eldan geht zum Gebet auf die Knie, um seinem Herrn für die Offenbarung zu danken. Dabei fällt sein Blick auf einen vorstehenden Block am Sockel des Altars. Er untersucht den Stein genauer und entdeckt einen Mechanismus, der ein Fach unter dem Altar öffnet. In einer Vertiefung findet er eine silberne Streitaxt. Eldan stockt der Atem, als er erkennt, was er da in Händen hält.
„Ambrosia, die Streitaxt des Standhaften.“ Feierlich hält er die Waffe ins Licht, um die magischen Runen auf den Zwillingsblättern zum Leuchten zu bringen. Das soll fortan sein Name sein: Eldan Ambrose, Kriegspriester des Herrn der Schlachten.
Zehn Jahre später…
Verzweifelt holt Eldan zu einem Schildstoß aus, der den Dämon gegen die Mauer schleudert. Benommen bleibt der Glabrezu neben der Leiche des zweiten Dämons liegen, die bereits im Begriff ist sich in Schwefelsäure aufzulösen. Der Kriegspriester ignoriert den Schmerz der klaffenden Wunde, die eine der riesenhaften Klauen in seine Armbeuge gerissen hat. Er ignoriert auch das höhnische Lachen des Drowmagiers, der die beiden Ausgeburten des Abgrunds beschworen hat. Er muss das Portal schließen, ehe der Magier noch weitere Geschöpfe herbeirufen kann, sonst ist die Abtei verloren! Begleitet von einem Schwall Blut bröckeln die magischen Worte über seine Lippen. Er hält nicht inne, selbst als er den drohenden Schatten des Dämons über sich spürt, der zum Todesstoß ausholt.
Einige Jahre später…
Der Himmel spiegelt das Rot der Brände. Hier in der Hölle schwelt die Glut ohne Unterlass – tobt der Blutkrieg ohne Innehalten. Der Glabrezu Lechon wütet wie ein Berserker unter seinen Erzfeinden. Die Legion der Bartteufel, die der Teufelsgeneral gegen ihn in die Schlacht geführt hat, hat keine Chance gegen den wilden Sturm seiner Tana‘rii-Truppe. Der Kampf ist schon fast entschieden, als plötzlich ein weiterer Gegner auf dem Schlachtfeld auftaucht: ein Dämon, gehüllt in ein Körpergewand aus blutigen Hautfetzen, mit zwei Köpfen, einem Schlangen- und einem Wolfskopf. Zwei Äxte schwingend fegt er durch die Reihen der Teufel. Köpfe rollen mit jedem Schlag. Beim Lichte! Der Unbekannte stiehlt ihm den Ruhm! Lechons Empörung weicht im nächsten Moment widerwilliger Ehrfurcht: Die Aura der Macht, mit der sich der andere Dämon umgibt, zwingt ihn in die Knie.
„Wo hast du das her?“ Der Wolfskopf deutet auf die menschengroße Streitaxt, die neben den Skalpen getöteter Gegner an Lechons Gürtel baumelt.
„Gehörte einem Diener des Schlachtengotts“, bröckelt es knirschend über Lechons Lippen.
Der Schlangenkopf schnellt vor und reißt die Trophäe an sich. Als der magische Blick der Wolfsaugen die Waffe streift, leuchten die Runen auf, die dem Dämon bisher ihre Magie verweigert haben. Sie glühen blutrot, um den Dämon zu warnen, und verlöschen dann. Das Wolfsmaul stößt ein zorniges Brüllen aus, während die Schlange zynisch zischt.
„Eine Herausforderung des Eisengotts!“, sprechen beide Köpfe im Chor. „Nur zu, wir sind bereit!“


Der Traum spukte noch immer in düsteren Farben durch seinen Geist, als Grimwardt den Schankraum der Neun-Schwerter-Schenke betrat. Winter und Faust saßen bereits beim Frühstück. Grimwardt entging nicht, dass Winter bei seiner Ankunft ein Pergament unter dem Tisch verschwinden ließ. Er ahnte seit langem, dass die beiden ein Geheimnis hegten. Es gefiel ihm nicht, aber solange er nichts sah, was ihn ernsthaft beunruhigte, würde er es schlicht ignorieren.
„Wir sollten hier bald verschwinden“, begrüßte ihn Faust. „Hades, der alte Spielverderber, wälzt gerade Gesetzestexte, um einen Weg zu finden, mich wieder einzubuchten.“
„Ich habe alles, was ich für das Ritual brauche. Wenn es nach mir geht, segeln wir heute Abend über den Styx!“
Faust schien Grimwardts Tatendurst zu erstaunen. Der Priester hatte in den letzten Tagen wenig zu ihren Nachforschungen beigetragen und sich lieber um die Angelegenheiten der Abtei gekümmert. Sein Gefährte deutete das offenbar als fehlenden Eifer für ihr Vorhaben. Ganz unrecht hatte er nicht. Tatsächlich war der Priester zerrissen zwischen seiner Loyalität den Gefährten gegenüber und seinen Pflichten als Abteivorsteher. Gewiss, er war der Abtei schon oft für längere Zeit ferngeblieben. Grimwardt der Priestergeneral hatte sich das erlauben können, doch für Grimwardt den Auserwählten waren die Prioritäten neu gewichtet. Eine Höllenfahrt mochte allen Berechnungen nach Monate  dauern – und er wollte nicht noch einmal zurückkehren und sein Lebenswerk in Dunkelheit vorfinden! Grimwardt war Tempus aus diesem Grund mehr als dankbar für seine Vision. Sie war mehr als die Aussicht auf eine heilige Vermächtniswaffe – sie war ein göttlicher Wegweiser.
Nachdem er den Freunden von seinem Traum erzählt hatte, fassten die Gefährten die Ergebnisse ihrer Nachforschungen zusammen. Alle teufelgebundenen Seelen tauchten nach dem Tod im Styx wieder auf, dem Schicksalsstrom, dessen Aufgabe es war, die Seelen der Toten ihrem Bestimmungsort zuzuführen. In Omegas Fall war das der Seelensee des achten Höllenkreises, aus dessen Seelenmasse die Teufel von Cania ihre Macht schöpften. Der Styx gehorchte weder dem Willen von Göttern noch Teufeln, doch er passte sich stets der Ebene an, durch die er floss. In der Stadt der Seelen erschien er als silberner Strom, der den Toten den Weg ins Jenseits erleichterte. Doch in den Neun Höllen war er als blutige, zähflüssige Masse gefürchtet, die den Seelen ihre sterblichen Erinnerungen entzog. Waren erst alle Erinnerungen erloschen, so wäre es keiner Macht des Kosmos mehr möglich, Omegas Seele zurückzuholen. Doch die Ordensführerin war weit über tausend Jahre alt, es würde den Styx also einige Kraft kosten sie zu brechen. Das machte sie nur umso wertvoller für Mephisto.
Trotzdem blieb das Problem, dass die Jagd nach einer Seele im Seelensee der Suche nach der berüchtigten Stecknadel im Heuhaufen glich. Ohne die Hilfe des Erzteufels, dem die Seele rechtmäßig zustand, würde es ihnen niemals gelingen sie zu befreien. Doch ehe sie anfangen konnten, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie Mephistopheles dazu bringen sollten, ihnen eine seiner wertvollsten Seelen zu überlassen, mussten sie erst einmal einen Weg in sein Reich Cania finden. Grimwardts göttliches Ritual würde sie nach Avernus bringen, den ersten der neun Höllenkreise, doch der Weg in die tieferen Schichten von Baator war ihnen versperrt. Die einzige Verbindung zwischen den Höllenkreisen war der Styx. Wie aber sollten sie sich durch sämtliche Kontroll- und Zollstationen auf ihrem Weg metzeln, ohne die Aufmerksamkeit der Neun Höllenfürsten zu erregen?
Thallastam, Hades, Ares und Nachtmond hatten ihrerzeit einen „Gesetzlosen“ bestochen, ihnen einen gefälschten Kultistenschein auszustellen. „Gesetzlose“ waren Teufel, die einst hohe Funktionen in der Hierarchie von Baator bekleidet hatten, aber bei ihren Herren in Ungnade gefallen und auf Avernus untergetaucht waren. Ihre Recherchen hatten ergeben, dass es an Mephistos Hof derzeit nur eine Baatezu gab, auf die das zutraf: Baalphegor, die verschmähte Kurtisane des Erzteufels. Sie zu finden, würde nicht leicht werden. Doch die verstoßene Geliebte schien ihnen noch die beste Chance, an Mephisto heranzukommen.
Nach dem Frühstück machten die Gefährten die letzten Besorgungen für die Reise. Dann trennten sie sich, um ihre persönlichen Angelegenheiten zu regeln. Am frühen Abend fanden sie sich wie verabredet wieder im Gasthaus Zu den Neun Schwertern ein. Nachdem Miu einen Bannzauber gewirkt hatte, der sie vor den ungastlichen Ebenenbedingungen in Baator schützen sollte, begann Grimwardt mit den Ritualvorbereitungen. Doch noch ehe er den Dimensionskreis gezeichnet hatte, klopfte es an der Tür.
Es war Tyrail.
„Ich komme mit euch“, sagte der Elf ohne Umschweife.
„Vergiss es!“, knurrte Faust. „Außerdem würdest du dich Omegas letztem Befehl widersetzen.“  
„Der ist ganz offenbar auf vielerlei Weise deutbar.“
„Nach dem Urteilsspruch bin ich kein Ordensmitglied mehr.“
„Wieso trägst du dann noch immer eines der Ordensschwerter?“
„Verdammt, Tyrail! Wir werden da unten auch ohne dich genug Probleme bekommen! Ich kann nicht ständig hinter mich schauen aus Furcht, dass mir jemand einen Dolch in den Rücken rammt!“
„Dieses Verhalten ist in deiner Familie ja wohl verbreiteter als in meiner“, erwiderte der Elf verächtlich. „Außerdem zeugt deine Missdeutung meiner Absichten wie üblich von deiner Ignoranz. Würde dein Tod mir genügen, hätte ich dich einfach verurteilen können wie diese anderen Narren. Ich werde dich solange herausfordern, bis mein Blutschwur erfüllt ist. Aber ich werde mich sicher nicht auf dein Niveau herablassen und mit einem hinterhältigen Dolchstoß Vorlieb nehmen!“
Faust schnaubte.
„Was liegt dir überhaupt an Omegas Rettung? Dir, der du nichts als Verachtung für den Orden übrig hast? Und was machst du hier, unter Menschen, Dunkelelfen, Zwergen und dem ganzen niederen Abschaum, anstatt zu deiner Herrenrasse zurückzukehren? Oder meiden die dich, weil du es auch nur wagst, mit Leuten wie mir zu sprechen?“, spottete er.
Tyrails Wangen röteten sich und er machte einen drohenden Schritt auf Faust zu. Der schien einen empfindlichen Nerv getroffen zu haben. Doch ehe er die Beherrschung verlieren konnte, erstarrte der Elf wieder zum Eisklotz.
„Thallastam steht in Omegas Schuld, sowie ich in der seinen stehe“, zischte er gepresst.
„Das kommt von ihm?“ Faust stand der Zweifel ins Gesicht geschrieben. Doch Thallastam war sein wunder Punkt und so gab er schließlich nach.
„Also schön“, murmelte er widerwillig. „Auch wenn ich das mit Sicherheit bereuen werde…“

Winter
Avernus, Erster Höllenkreis, wenig später.
Faust hatte Avernus als das Schlachtfeld der Neun Höllen beschrieben. Das Gebirge, durch das sie wanderten, war im Laufe der Jahrtausende aus den Gebeinen der unzähligen Teufel und Dämonen entstanden, die im Blutkrieg gefallen waren. Skelettwälder überzogen die Leichenberge und Ströme aus Blut zerklüfteten in steil abfallenden Talschluchten die Landschaft. Der blutrote Himmel hing tief und erdrückend über den Bergspitzen, so als könne er jeden Augenblick zusammenstürzen. Alle paar Minuten regnete es Feuerbälle aus den pechschwarzen Wolken, doch dank Mius Schutzzauber konnten ihnen die flammenden Geschosse nichts anhaben. Im Westen kündete Schlachtenlärm von einem nahen Gefecht. Das war ihr Ziel: der einzige Hinweis auf Leben in dieser fiebrigen Totenwüste. Winter wagte nicht, sie ins Ungewisse zu teleportieren, darum kämpften sie sich durch Skelettlabyrinthe und Blutschluchten, während Faust ihnen einen Überblick über die Geschichte von Avernus gab. Auf der Suche nach seinem Vater hatte er schon lange vor Omegas Tod damit begonnen, die großen Bibliotheken Faerûns nach Informationen zu den Neun Höllen zu durchforsten, doch bis heute hatte Winter nicht gewusst, wie weit seine Obsession ging. Sein Fachwissen war beinahe ein wenig unheimlich.
 „Seit Asmodeus‘ Fall, also seit Anbeginn der Zeitrechnung hier unten, tobte hier auf Avernus der Blutkrieg zwischen Hölle und Abgrund – zwischen Ordnung und Chaos“, referierte er gerade. „Lange sah es so aus, als sei der Krieg für keine Seite zu gewinnen – so lange, bis Asmodeus der Zufall zur Hilfe kam. Während der Zauberpest, als Mystras Tod ihre Heimatebene zerstörte, wurde einer der minderen Götter in die Tiefen der Hölle geschleudert. Asmodeus gelang es ihn zu töten und so kehrte der Herr der Neun Höllen als Gott in das Pantheon zurück, das ihn vor langer Zeit verstoßen hatte. Asmodeus nutzte seine göttliche Kraft für ein mächtiges Ritual, das den Abgrund, die Heimatebene der Dämonen, aus dem Universum verbannte. Dort endet die Macht der Götter, darum sind Dimensionsreisen aus dem Abgrund seit der Zauberpest nicht mehr möglich. Damit waren die abyssalen Truppen auf Baator von ihren Reserven abgeschnitten und der Blutkrieg wurde innerhalb weniger Monate zugunsten der Hölle entschieden. Asmodeus hofft, dass der Fall der Dämonen auf Faerûn und den inneren Ebenen auf lange Sicht zu einem Anstieg der Teufelskulte führt. Sprich: mehr Seelen und damit mehr Macht für Asmodeus. Aber die Verbannung der Dämonen hatte nicht nur Vorteile für die Hölle. Der Blutkrieg war das einzige, was die Erzteufel einte. Nun, da der gemeinsame Feind besiegt ist, haben die Neun Legionen nichts mehr weiter zu tun, als sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Auf diese Weise ist Avernus zu einer Art Schachbrett Baators geworden, auf dem die Erzteufel ihrer persönlichen Fehden austragen…“
Winters Gedanken glitten ab, als Faust sich in Prognosen zur machtpolitischen Entwicklung Baators verlor.
Seelen… immer ging es nur um Seelen! Ihre eigene Seelendiät hatte sie ganz gut in den Griff bekommen. Ein wöchentlicher Ausflug zum Henkersplatz reichte aus, um den lästigen Nebenwirkungen ihrer Schattenmagie vorzubeugen. Natürlich hatte sie zu Anfang etwas überreagiert - wer hätte das nicht! - doch ihre Gewissensbisse waren größtenteils unbegründet gewesen! Vermutlich tat sie den armen Verurteilten, deren Seelen ja ohnehin keine besonders rosige Zukunft zu erwarten hatten, sogar einen Gefallen. Das Problem war nur: Sie würden vermutlich monatelang hier in der Hölle festsitzen und wie sollte sie an diesem Ort ihren strengen Diätplan einhalten? Ob es wohl auffallen würde, wenn sie hin und wieder ein wenig Seelenmasse aus dem Styx stahl? Konnte man das überhaupt Diebstahl nennen? Wenn Fausts Vermutung stimmte und sie einen Teufelspakt eingegangen war, hatte sie dann nicht einen gewissen Anspruch auf die Dienstleistungen der Hölle?
Und da war noch dieser Vorfall heute Morgen in Rabenklippe: Elijas hatte sie zu sich gebeten und ihr mit stummer, ernster Miene eine Schriftrolle überreicht: ein Bannzauber, mit dem sich ein Suchtleiden unterdrücken ließ! Der Ex-Blutsüchtige hatte offenbar ihre Symptome bemerkt, ohne zu ahnen, von welcher Art ihr Leiden war. Trotzdem war Winter der Atem gestockt, als sie sich ertappt geglaubt hatte. Wenn sich die lästige Aufmerksamkeit des Avariel wenigstens ausgezahlt hätte! Zwar hatte Faust die Formel für den Notfall in sein Zauberbuch übertragen, doch konnte der Zauber nur Winters körperliche Abhängigkeit unterdrücken – der quälende Hunger und die Sehnsucht nach der Macht würden bleiben… Nein, sie musste einen anderen Weg finden...
Nachdem sie stundenlang über die Gebirgskämme der Friedhofslandschaft gewandert waren, ohne einer Teufelsseele zu begegnen, erblickten sie im Tal endlich das Schlachtfeld: Im Schatten einer Ruinenstadt prallten zwei teufliche Armeen aufeinander. Die Stadt, um die sie kämpften, wuchs nach Westen in den Berg hinein. Banner in Schildform, die eine stählerne Festung zeigten, hingen von den Zinnen des Ringwalls, auf dem mit drohend ausgebreiteten Hornschwingen die eindrucksvolle Gestalt eines Höllenschlundteufels thronte. Mit donnernder Stimme schleuderte der Baatezu-General Laute von solch gutturaler Scheußlichkeit, wie nur infernalische Flüche sie hervorbringen konnten, über die Köpfe der Kämpfenden hinweg. Adressiert waren sie an den gegnerischen Teufelsgeneral, der neben einer Standarte mit einem Fliegenkopf auf der Ostseite des Tals harrte, und die Begrüßung nicht minder herzlich erwiderte. Der Trupp, den er befehligte, bestand aus gut sechs Duzend bizarrer Insektenwesen, deren monotones Flügelbrummen die Luft erfüllte. Winter verstand nicht viel von Schlachten, doch selbst sie erkannte, dass hier etwas nicht stimmte: Der Ringwall war kaum mehr als ein Trümmerhaufen – was hielt die Angreifer also davon ab die Mauern zu stürmen oder – besser noch – einfach in die Stadt hinein zu fliegen? Und was konnte es in diesem Trümmerfeld geben, das es überhaupt lohnte, dafür zu kämpfen?
Faust erklärte, dass es sich bei den Angreifern um die Legion des Siebten Höllenkreises handeln musste, die dem Erzteufel Baalzebul unterstellt war: dem Herrn der Fliegen. Die Verteidiger identifizierte er als Untergebene Dispaters, Herrn des Zweiten Höllenkreises. Doch auch er hatte keine Erklärung für das eigenartige Verhalten der Teufel.
„Vielleicht kämpfen die bloß um des Kämpfens willen“, meinte er schulterzuckend.
„Blödsinn“, brummte Grimwardt. „Jede Schlacht dient einem Zweck. Irgendeinen Wert muss diese Ruine haben.“
Zwiespalt hatte begonnen in dunkelrotem Licht zu glühen.
„Also?“, fragte Faust, dem die Ungeduld des Schwertes in den Knochen saß. „Metzeln wir uns durch die Reihen?“
„Wir könnten es auch erst einmal mit einem Flugzauber versuchen“, bemerkte Grimwardt trocken.
„Oder einer Teleportation“, warf Winter ein. „So seltsam es in dieser Situation auch scheint, aber ich kann keine Dimensionsbarriere ausmachen.“
Faust war die Enttäuschung anzusehen. Er zückte seine Glücksmünze.  
„Zahl, wenn’s denn sein muss.“
Die Münze bekräftigte Winters Vorschlag und Faust gab sich geschlagen. Ihr Zauber beförderte die Gruppe in die Ruinen eines Turms. Zu Winters Überraschung landeten sie nicht zwischen Geröll und Mauerresten, sondern in einem wohnlichen kleinen Turmzimmer. Nach einem Moment verwunderten Staunens durchschaute die Hexenmeisterin die Illusion: Es war ein äußerst mächtiger Zauber, der die Ruine für den Betrachter in ein schmuckes kleines Schlafgemach verwandelte. Ein Blick aus dem Fenster offenbarte, dass die ganze Stadt in einen Trugschleier gehüllt war. Dort, wo von außen nichts als verbrannte Mauerreste zu erkennen gewesen waren, schlängelten sich nun enge Gassen durch einen beschaulichen kleinen Ort. Patrouillierende Baatezu-Wachen hatten die Gestalt von alten Waschweibern oder herumschlendernden Liebespaaren angenommen und statt Kampfeslärm klangen die schläfrigen Melodien eines als gnomischer Leierspieler maskierten Imps durch die Stadt.

Faust
Kurz darauf im „Garten der Lüste“
„Oh. Verdammt.“
Von dem Luftgeist, der sich in einer Dampfwolke aus dem Staub hatte machen wollen, war nichts als heiße Luft übrig geblieben, nachdem Zwiespalt mit ihm fertig war. Schulterzuckend wandte sich Faust an den zweiten Ifrit. Das hinterlistige Lächeln des scharlachroten Wüstengeists gefror zu einer Maske verblüfften Schreckens.
„Naja, vielleicht möchtest du uns ja sagen, was hier gespielt wird?“
Fausts farbenspeiende Chaosklinge zeigte dem Ifrit blutlechzend seine Alternativen auf. Der Wüstengeist leckte sich unsicher über die trockenen Lippen.
„Also?“, knurrte Faust und blinzelte, um das Flirren der falschen Kolibris aus seinem Geist zu vertreiben. Wie alles andere in dieser Stadt war auch diese Lustoase mitsamt tanzenden Feen und verheißungsvollen Nymphen eine Illusion. Und es gehörte nicht viel Kombinationsgeschick dazu, zu erraten, worauf die beiden Ifriti tatsächlich aus waren, wenn sie den Besuchern „für einen kleinen Gefallen“ das Blaue vom Himmel versprachen.
„Ihr seid keine Teufel; mit Seelen könnt ihr nichts anfangen. Also für wen arbeitet ihr? Wer hat euch gebunden?“
Dass der Ifrit noch immer zögerte, konnte nur bedeuten, dass er, wenn er plauderte, noch Schlimmeres zu befürchten hatte. Erst als Faust ihn spüren ließ, dass Folter keineswegs ein Vorrecht der Hölle war, knickte er ein.
„Jebelam!“, spie er ihm ins Gesicht. „Ihr Name ist Jebelam! Sie ist eine mächtige Falxugon, eine Seelenernterin! Die Illusionen und die Portale sind ihr Werk!“
 „Die Portale?“
„Na, die…“ Eine kleine Zornwolke dampfte aus den Nasenlöchern des Luftgeists, als er erkannte, dass er sich verplappert hatte. „Jebelam hat Portale in andere Welten errichtet, um Sterbliche nach Dunkelgradt zu locken“, gab er grantig zu. „Sie sorgt dafür, dass ihnen in dieser Stadt jeder ihrer Wünsche erfüllt wird.“
„Um den Preis ihrer Seelen.“ Faust begriff. „Welchem der Neun Erzteufel dient diese Jebelam?“
„Ursprünglich diente sie Bel, dem Herrn von Avernus. Aber laut eines uralten Paktes gehen alle Seelen, die in Dunkelgradt gebunden werden, an den Herrscher der Stadt. Bel hat Dunkelgradt an Dispater verloren. Und nun lauert General Zinimar mit Balzebuls Legion vor den Stadttoren…“
Seelen. Also das war der Wert dieser Stadt. Kein Wunder, dass sich die Legionen vor den Stadttoren die Köpfe einschlugen. Und natürlich durften sie dabei die heile Welt der Portalstadt nicht zerstören: Ein Schlachtfeld innerhalb der Stadtmauern wäre vermutlich selbst für die Falxugon-Illusionistin schwer mit Kleinstadtidylle zu übertünchen.  
„Und wo finden wir diese Jebelam?“
„Sie unterhält ein Gasthaus in der Stadtmitte: Zur Katze im Sack.
„Überaus subtil.“
Kurz darauf machten sich die Gefährten auf den Weg.
Die Auskunft war dem Ifrit ein wenig zu rasch über die Lippen gekommen, fand Faust. Gut möglich, dass er telepathisch mit seiner Herrin in Verbindung stand. Besser, sie machten sich auf einen Hinterhalt gefasst. Die Vorsicht zahlte sich aus: Kaum hatten sie sich mit gezückten Waffen dem Gasthaus genähert – einem der wenigen intakten Gebäude der Stadt –, rollte von hinten ein lodernder Feuerball auf sie zu. Hastig sprang Faust zur Seite, sodass er nur einen heißen Zug auf den Wangen spürte. Auch die anderen ließ die feurige Begrüßung kalt. Als sich der Rauch gelegt hatte, erspähte Faust die Gestalt des Teufelsgenerals, der mit drohend ausgebreiteten Schwingen über ihnen schwebte. Er trug eine glänzende Rüstung aus geölten Metallringen. Faust, der Mühe hatte, sein teufelsblutlechzendes Schwert unter Kontrolle zu halten, überließ es Grimwardt und Winter, das Gasthaus zu stürmen. Zu lebendig war seine Erinnerung an seine letzte Begegnung mit einem Höllenschlundteufel, als dass er sich die Gelegenheit durch die Lappen gehen ließe, eine dieser Ausgeburten des Bösen in Schwefelsäure zu verwandeln…
„Habt Ihr nicht eine Stadt zu verteidigen?“, rief er herausfordernd.  
„Was glaubst du, was ich hier tue, Sterblicher!“
Mit den Worten spie der General ihm einen schwarzen Feuerkegel entgegen. Fausts magische Rüstung widerstand dem Feuer, doch durch die Wucht des Odems wurde er unsanft zu Boden gerissen. Im nächsten Moment war der Gegner über ihm und Faust durchfuhr ein brennender Schmerz in der Halsgegend, begleitet von dem widerlichen Gestank des Teufelsatems. Doch bevor der Teufel einen Hornstoß hinterher schicken konnte, brach Tyrail, der von hinten anpreschte, ihm mit präziser Wucht das Schlüsselbein. Brüllend fuhr der Teufel herum und schlug nach dem Elf, der dem zornigen Hieb mit verächtlicher Beiläufigkeit auswich. Faust wusste aus Erfahrung, dass Tyrails Überheblichkeit Taktik war – als junger Kämpfer war er ihr selbst oft genug auf den Leim gegangen: Die Arroganz des Elfen steigerte den Gegner in eine blinde Wut auf Kosten der Präzision. Schlag um Schlag verfehlte ihn. Während der Elf die Aufmerksamkeit des Teufels auf sich fokussierte, nahm Faust Anlauf und sprang. Der Teufel bog den Oberkörper zur Seite und versuchte ihn über die Schwingen abgleiten zu lassen – doch zu spät. Knochen splitterten, als Zwiespalt durch das Rückgrat des Generals drang. Ächzend brach die massige Gestalt zusammen.
„Gute Arbeit!“, lachte Faust. „Fast wie früher!“
Tyrail erwiderte das Lob mit einem vernichtenden Blick, der Fausts gute Laune im Keim erstickte. Früher hatte der Elf sich hin und wieder von seiner Euphorie mitreißen lassen. Seinen Menschenhass hatte er in solchen Momenten für eine Weile vergessen können. Doch Thallastams Geist hatte recht: Der kameradschaftliche Teil ihres Konkurrenzkampfes war mit ihm gestorben.
Fausts Halswunde war nicht tief, aber das Jucken bereitete ihm Sorgen: Höllenschlundteufel waren bekannt für ihre Giftzähne und die Seuchen, die ihr fauliger Atem verbreitete. Wo blieb Miu nur? Sie war doch sonst stets zur Stelle, sobald einer der Gefährten verletzt wurde? Während Tyrail dafür sorgte, dass der verwundete Teufel seine Wunden nicht regenerieren konnte, suchte Faust im Gasthaus nach seinen Gefährten. Die Leiche eines in der Auflösung begriffenen Glabrezu versperrte den Eingang. Während er sich einen Weg durch den Haufen aus Fleisch und Schwefelblasen bahnte, beobachtete Faust im Dämmerlicht des Schankraums eine weitere der riesigen Gestalten im Kampf gegen Grimwardt – und Miu! Faust traute seinen Augen kaum, als er Zeuge wurde, wie die friedfertige Ordensschwester dem Ungeheuer einen Mönchstritt in die Magengrube verpasste, die den Teufel das Schwindeln lehrte.
„Miu! Ich wusste nicht mal, dass du das kannst! Das war...“ Das Lob blieb Faust im Hals stecken, als er Mius unerbittlichen Blick auffing. Ihr Gesicht wirkte hart und gespenstig in der düsteren Umgebung.
Während Grimwardt dem Teufel den Gnadenstoß verpasste und Miu sich Fausts Wunde annahm, trat Winter aus dem Nebenraum.
„Die Gastwirtin ist entkommen“, sagte sie außer Atem. „Sie war von einem magischen Schutzfeld umgeben. Grims Axt ist von dem Schutzfeld abgeglitten und ich kam nicht schnell genug an sie heran, um zu verhindern, dass sie sich fortteleportierte.“
„Immerhin haben wir den General“, meinte Faust.
Um sich vor weiteren Angriffen zu schützen, zogen sie sich mit dem Gefangenen in Winters magischen Palast zurück: Die Hexenmeisterin hatte Doriens außerdimensionales Prunkschloss magisch restauriert. In der Enge ihrer hoffnungslos überfüllten Welt aus samtdrapierten Möbeln, seidenen Trennwänden, ausladenden Deckenkronleuchtern und Rauchbecken, deren süßliche Düfte eine leicht benebelnde Atmosphäre schufen, wirkte die massige Gestalt des gefesselten Höllenschlundgenerals geradezu lächerlich.  
„Ich sage kein Wort ohne einen Pakt!“, knurrte der Gefangene, noch ehe jemand das Wort an ihn gerichtet hatte.
Dieser Satz sollte das Motto für den Rest des Tages werden. Während dieser Zeit erkannte Faust, dass die Schrecken der Hölle nicht etwa Krieg und Folter hießen, sondern Bürokratie und Pedanterie! Die Hölle war Asmodeus‘ Werk, der sich von den Göttern betrogen glaubte. Viele Legenden rankten sich um den Fall des Erzengels aus dem Pantheon, doch die beliebteste von ihnen ging davon aus, dass die Götter ihn verstoßen hatten, weil er, verroht durch den Kampf gegen die Dämonen des Abgrunds, sterbliche Seelen durch Folter zu göttlichem Gehorsam hatte zwingen wollen. Asmodeus behauptete bis zum heutigen Tag, dass er stets im Auftrag der Götter gehandelt habe und dass sein Fall nichts als schändlicher Verrat an einem treuen Diener gewesen sei. Dieser Sage nach bestrafte die Hölle darum jeden Bruch eines schriftlich festgehaltenen Vertrags mit einer Strafe, die der Schwere des Verrats angemessen war. Faust wusste nicht, was an dieser Geschichte der Wahrheit entsprach, doch die Berichte von Höllenwanderern, die einen Höllenpakt gebrochen hatten, endeten niemals gut. Es schien also wenig ratsam, das eherne Gericht von Baator herauszufordern. Also blieb ihnen nur eine Wahl: Feilschen und wortklauben was das Zeug hielt, um sich nicht von einem Teufel übers Ohr hauen zu lassen!
Nach vier zermürbenden Stunden und einer Flut von zerrissenen und umgeschriebenen Verträgen einigten sie sich schließlich darauf, den Teufelsgeneral gehenzulassen, wenn er ihre Fragen zu ihrer Zufriedenheit beantwortete. Auf diese Weise gelang es ihnen immerhin die Suche nach dem doppelköpfigen Dämon aus Grimwardts Vision einzugrenzen: Es musste sich bei ihm um einen Molydeus handeln, eine äußerst seltene Tanar’ri-Art. Dem Teufelsgeneral waren nur zwei dieser mächtigen Kreaturen bekannt – beide, so mutmaßte er, mussten nach Ende des Blutkriegs wie alle Dämonen getötet oder versklavt worden sein. Da Grimwardt nicht glaubte, dass Tempus den Dämon in seiner Vision hätte auftauchen lassen, wenn er für seine Mission keine Rolle mehr spielte, kam nur Letzteres in Frage. Bei der Suche nach Baalphegor konnte der General ihnen nicht helfen – doch er verriet ihnen, dass die Faxugon-Illusionistin Jebelam in ihrer Position als Spionin und Seelenfängerin vielerlei Gerüchte aufschnappte.
„Das war’s, bindet mich los!“, befahl der General. „Ich habe eure Fragen beantwortet; mein Teil der Vereinbarung ist erfüllt.“
Unter Mius düsteren Blicken befreite Faust den Teufel von seinen Fesseln. Ihre Gesichtsmuskeln waren so angespannt, dass sie ihren Mund zu einem schmalen Strich machten. Ihre Unerbittlichkeit irritierte ihn – wo war seine großherzige Miu geblieben, die, wenn sie die Wahl hätte, ihr Leben für das ihres Mörders gegeben hätte? Doch selbst die Ordensschwester schien kein Pardon mit diesen Kreaturen zu kennen.
 „Es macht keinen Unterschied, ob wir ihn gehenlassen oder nicht“, raunte Faust ihr zu, während sie den Teufelsgeneral mit Blicken verfolgten, als er aus dem Eingangsportal des Herrenhauses trat. „An seine Stelle tritt ja doch sofort der nächste.“
Plötzlich sang der schneidende Klang einer Schwertklinge durch die Stille und der Kopf des Teufelsgenerals drehte sich auf dem Rumpf um hundertachzig Grad, sodass seine schreckerstarrten Augen sie unverwandt anstierten. Dann rollte er ihnen blutleckend vor die Füße. Bevor sein überrumpelter Körper den Tod noch recht begriffen hatte, erschien in der Sichtlücke, die das abgetrennte Körperteil hinterlassen hatte – die blutige Klinge noch erhoben – der Teufelsgeneral der feindlichen Legion… umringt von einem Bataillon wütend surrenden Insektensoldaten.
„Oh“, sagte Faust. „Ganz so wörtlich meinte ich das nun auch nicht.“
Winter reagierte als erste und schlug eilig die Tür wieder zu. Schluckend drehte sie sich zu den anderen um.
„Ich schätze, wir haben ein Problem…“
 
Grimwardt
Am nächsten Morgen.
Da sie entschieden hatten, dass es der Geheimhaltung ihrer Mission nicht eben dienlich wäre, wenn sie gleich zum Auftakt ihrer Höllenfahrt ein ganzes Teufelsregiment niedermetzelten, hatten sich die Gefährten  am Vorabend aus Avernus zurückgezogen.
Baalzebuls Legion musste während ihrer Paktverhandlungen mit Dispaters General die Stadt erobert haben. Vermutlich hatte die teuflische Gastwirtin den Eroberern verraten, dass sich eine Gruppe mächtiger Sterblicher in der Stadt aufhielt, und um Schutz gebeten. Gewiss war es der Illusionistin ein Leichtes gewesen, den unsichtbaren Eingang zu Winters Anwesen ausfindig zu machen. Doch ohne eine magische Einladung war es den Teufeln nicht möglich gewesen, das Versteck der Gefährten zu stürmen. Stattdessen hatten sie sich aufs Belagern verlegt und den ersten Gegner niedergestreckt, der aus der Tür getreten war.
Grimwardt hoffte nun, dass der General die übereilte Flucht der Gefährten als Rückzug deutete und nicht mit ihrer Rückkehr nach Dunkelgradt rechnete. Denn selbst wenn es ihnen gelänge, sein Regiment zu besiegen, so wäre die Gefahr doch zu groß, dass sein Herr – und über Umwegen die anderen Erzteufel – von dem Angriff erfuhren. Der Abenteurer Marco Volo nannte in seinen Reisetipps für die Höllenfahrt als eines der wichtigsten Gebote für das Überleben in Baator: Gehe Auseinandersetzungen aus dem Weg oder lass niemanden am Leben! Sonst stehst du morgen dem Chef deines Gegners gegenüber! Ob Volo nun tatsächlich schon einmal die Hölle bereist hatte oder seine Weisheiten nur aus anderen Werken zusammengeklaubt hatte – der Rat schien Grimwardt in der gegebenen Situation nur angebracht!
Nach einem reichhaltigen Heldenfrühstück wiederholte der Kriegspriester das Ritual, das sie am Vortag nach Avernus gebracht hatte. So kehrten die Gefährten frisch gerüstet zurück nach Baator – oder genauergesagt: geradewegs in die Katze im Sack.
Jäh schrak Jebelam von ihrer Arbeit auf: Wie eine lauernde Vettel hatte die Seelenernterin, als dralle Gastwirtin getarnt, hinter einem Gast geharrt, der in ein Kartenspiel mit einem Bartteufel vertieft war, den er vermutlich für einen wohlbetuchten Wirtshausgast hielt: ein Opfer, das in eine ihrer Portalfallen getappt sein musste. Grimwardt konnte sich denken, was sie dem jungen Mann ins Ohr flüsterte, während dieser Münze um Münze an den teuflischen Trickbetrüger verlor. Der Schweiß auf seiner Oberlippe und die gierig-feuchten, übernächtigten  Augen sprachen Bände: Am nächsten Tag würde er sich vermutlich nicht einmal daran erinnern, seine Seele verkauft zu haben. Selbst die Gruppe schwerbewaffneter Abenteurer, die plötzlich in den Raum geplatzt kam, nahm er nur mit einem irritierten Stirnrunzeln zur Kenntnis. Zwei als Gäste getarnte Baatezu-Wachen dagegen sprangen allarmiert auf. Doch mitten in der Bewegung hielten sie inne; ein telepathischer Befehl schien ihnen Einhalt zu gebieten.
Begleitet mich aus der Stadt, hörte Grimwardt die Stimme der teuflischen Gastmutter in seinem Geist. Greift ihr an, so brauche ich nur mit dem Finger zu schnipsen und Zinimars Regiment rückt an.
„Spielt nur weiter, ihr beiden“, säuselte sie mit mütterlicher Fürsorge an die beiden Kartenspieler gewandt. „Meine Freunde wollten euch nicht erschrecken. Kommt nur mit und sagt mir, was euch bedrückt.“
Offenbar fürchtete sie die Seele des Kartenspielers zu verlieren, die ihr schon so gut wie sicher war, wenn sie es zum Kampf kommen ließ. Die Versuchung war groß, ihre Drohung in den Wind zu schlagen und Tempus‘ Zorn über diese Schacherbude zu bringen! Doch Grimwardts magischer Blick verriet ihm, dass Jebelam auch dieses Mal mit einem Eisenwacht-Zauber geschützt war. Sicher, mit einer Antimagsichen Zone kämen sie an sie heran, doch wenn sie es auf einen Kampf ankommen ließen, riskierten sie, dass sie ihnen auch dieses Mal durch die Lappen ging, bevor sie ihren Schutzwall durchbrechen konnten. Also gingen sie auf das Angebot ein und folgten der Seelenernterin vor die Stadt. Dabei entging ihnen nicht, dass sie die Zeit nutzte, um sich mit weiteren Zaubern zu schützen.
„Keine Seelenpakte“, stellte Grimwardt klar, als sie unter den düsteren Blicken der Torwachen vor den Stadtmauern ankamen. „Wir wissen, wer ihr seid, also versucht es erst gar nicht.“
Sekundenlang huschte ein boshafter Zug über die gutmütigen Pausbacken der Wirtsherrin. Doch sosehr schien sie mit ihrer Maske verwachsen, dass diese auch jetzt sogleich die Wogen glättete.
„Nun, dann wollen wir sehen, was wir sonst füreinander tun können“, schlug sie mit einem affektierten Lächeln vor. „Fünf Sterbliche in der Hölle… Was mögt ihr hier wohl zu finden hoffen, wenn ihr nicht mit der gängigen Währung zu zahlen bereit seid?“
„Das ist unsere Sache“, erklärte Grimwardt ruhig. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass der Tempus-Priester das Reden übernehmen sollte, da Faust alle Entscheidungen mit dem Schwert und Winter mit dem Herzen zu lösen pflegte – beides konnte sie hier in… nun ja… in Teufels Küche bringen.
Grimwardt war einen Augenblick lang versucht, Jebelam zu erpressen: ihr Rückzug aus der Stadt gegen gefälschte Papiere, die ihnen freies Geleit nach Cania garantierten! Als erfahrene  Illusionistin sollte sie dazu in der Lage sein.  Und sie diente – zumindest im Moment – Baalzebul, dem erklärten Erzfeind des Mephistopheles, der keinen Grund hätte, die Mission der Gefährten zu sabotieren, wenn er Wind davon bekäme. Andererseits mochte die Stadt jederzeit an einen der anderen Erzteufel fallen – und mit ihr Jebelams Loyalität. Nein, sie durften der Seelenfängerin nicht zu viel von ihren Plänen preisgeben.
„Die Portalstadt interessiert uns nicht“, behauptete er darum knapp. „Wir sind auf der Suche nach einer Gesetzlosen.“ Mochte die Falxugon sie für Kopfgeldjäger in teuflischem Auftrag halten. „Ihr Name ist Baalphegor und sie diente bis vor Kurzem am Hof von Cania. Dunkelgradt ist eine vielbesuchte Stadt. ‚Avernus‘ Gerüchteküche‘, nannte sie der General der Disischen Legion, wenn ich mich recht entsinne. Vielleicht habt ihr ja das ein oder andere aufgeschnappt, das uns dazu bewegen könnte, Dunkelgradt den Rücken zu kehren…“
„Wenn ich wüsste, wo sich diese Baalphegor befindet, dann wüssten es auch andere“, dozierte die Seelenernterin mit der gutmütigen Herablassung einer Lehrerin, die einem sturen Kind zum zigsten Mal das Einmaleins erklärt. „Dann wäre sie wohl längst nicht mehr am Leben. Aber es mag sein, dass ich im Besitz eines Gegenstandes bin, der mehr weiß als ich.“ Ein kleines, affektiertes Glucksen, als ob sie gerade den Witz des Tages gerissen hätte. „Wer die Regeln des Blutkriegs kennt, der weiß, worauf er achten muss, um zu erkennen, welchem Herrn ein Teufel dient. Höllenschlundteufel, die man hier auf Avernus trifft, sind für gewöhnlich hohe Offiziere in einer der Legionen. Da fällt es auf, wenn einer bei mir auftaucht, der es versäumt, Farbe zu bekennen. Dachte mir dass es nützlich werden könnte, etwas dazubehalten, das ihm gehört… eine Schwertscheide, als Pfand für Spielschulden. Das gute Stück war eigentlich nicht für ein paar sterbliche Vagabunden gedacht, die plündernd durch meine Stadt streunen, aber unter den Umständen…“ Abrupt verschwand das aufgesetzte Lächeln aus ihren kleinen Schweinsäuglein. „Das ist mein Preis“, sagte sie, plötzlich ganz die kühle Vertreterin:  „Unterschreibt einen Pakt, der besagt, dass ihr Dunkelgradt niemals mehr betreten werdet, und ich überlasse euch das rostige alte Ding!“
 „Eine Komponente.“ Grimwardt begriff. Sie könnten die Schwertscheide benutzen, um den legionslosen Teufel aufzuspüren. „Und ihr glaubt, dass dieser Unbekannte zu Baalphegors Eskorte gehört, hm?“
„Schlaues Bürschchen“, spottete Jebelam. „Garantieren kann ich natürlich für nichts.“
Vermutlich überstieg der Auffindungszauber ihre Fähigkeiten oder die Komponente war für Mephistos Meuchelmörder bestimmt gewesen, doch das behielt diese kleine Viper natürlich lieber für sich.
Grimwardt tauschte einen Blick mit seinen Gefährten. Bis auf Miu schienen alle einverstanden.
„Schön. Zeigt uns diesen Pakt.“
Jebelam schnipste mit dem Finger und in der Luft zu ihrer Linken erschien eine schwebende Schriftrolle, die sich nach und nach mit magischem Text zu füllen begann. Mit Argusaugen lasen sich die Gefährten das Kleingeschriebene durch, um nicht am Ende doch mit der falschen Währung zu zahlen. Erst nach etlichen Umformulierungen und Abwandlungen standen all ihre Namen unter dem Vertrag.
Als Jebelam fortteleportierte, um ihnen die Schwertscheide zu bringen, wandte sich Miu jäh zu ihren Freunden um. Ihre Augen waren starr vor grimmiger Enttäuschung, als sie die anderen mit einer wilden Schimpftirade aus Handzeichen überzog, die sie so schnell aneinanderreihte, dass selbst Faust, der als einziger ihre lautlose Sprache verstand, Mühe hatte, ihr zu folgen.
„Miu…“ Faust fing ihre fliegenden Gesten ab, um sie zum Schweigen zu bringen. „Miu, ich weiß, was du sagen willst, aber wir werden zurückkommen! Der Pakt besagt nur, dass wir die Stadt nicht betreten dürfen! Wir kommen zurück und Winter wird diese verdammte Mausefalle unter einer Lawine beschworener Eisenwände begraben! Das schwöre ich dir, Miu! Aber wir dürfen nicht gleich einen Krieg vom Stapel brechen, wenn wir Omegas Seele befreien wollen!“
Miu wirkte nicht überzeugt. Eine Träne rollte über ihr wutstarres Gesicht und sie deutete nachdrücklich in Richtung des Gasthauses der Seelenernterin. Diesmal verstand auch Grimwardt: Und was ist mit all den anderen Seelen?
„Das ist die Hölle, Miu“, sagte Faust düster. „Wir können froh sein, wenn wir eine Seele von hier retten!“
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 16. November 2011, 01:22:53
 :thumbup:
Ahhhhh, sehr schön! Was lange währt...
Gefällt mir sehr gut! Konnte wieder schön in Erinnerungen schwelgen! Sicher wieder kein einfaches Kapitel gewesen. Ich hoffe die nächsten gehen dir ganz leicht von der Hand! Hab übrigens auch endlich ne Idee, wie ich Dizzt besiegen könnte ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 16. November 2011, 21:31:06
"Dienstleistungen der Hölle", ich hätt mich wegschmeißen können!
Ich freu mich...  :D
Die Blockade ist durchbrochen.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 19. Dezember 2011, 15:48:02
Ich hoffe in baldiger Zukunft wird wieder ein Stück Vergangenheit zur Gegenwart... :)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 20. Dezember 2011, 23:31:33
Tja, die liebe Zeit... Die ist hier in der Tat das Problem. Aber jetzt kommt ja bald die... ähem... beschauliche Weihnachtszeit  :P
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 21. Dezember 2011, 03:18:53
Ja, muss euch da auch noch den ein oder anderen NSC basteln :)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 29. Dezember 2011, 23:50:49
So, hab Drake jetzt mal von den Antihelden zu den Helden geschoben... mal sehen wie lang das so bleibt ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 30. Dezember 2011, 01:03:58
Tja, das hat er sich aber auch echt verdient!
Ich frag mich nur, wie lange es noch dauert, bis einer von uns in die Antiheldenecke rüberwandert...ist halt alles nicht so schwarz-weiß, wie einen die Regelbücher glauben machen wollen!

(Hatte schon gedacht, es gebe ein frisches Kapitel, als ich den neuen Post sah!)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 30. Dezember 2011, 03:12:54
Nee, in dem Fall nur Spam ;)
Ja, sind schon fließende Übergänge... außer bei Grim und Miu
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 26. Januar 2012, 02:19:38
Kapitel III: Seele um Seele

Faust
Drachenfeste, später.
Der Kraftstoß, den der Drachenwächter auf sie niedergespien hatte, presste Faust die Luft aus den Lungen und schleuderte ihn mitten im Flug horizontal gegen einen der fünf Türme der Drachenfeste. Ohne festen Boden unter den Füßen fiel es ihm schwer die Orientierung zu bewahren. Wohin war sein Gegner verschwunden? Wo waren seine Gefährten? Unter ihm eine klaffende Felsspalte inmitten des zackigen Totengebirges: der Drachenschlund. Über ihm das Grinsen der Drachentürme. Dann ein Ruck. Etwas streifte ihn und Faust purzelte durch die Luft wie ein Staubkorn, das von einem Windzug aufgewirbelt wurde. Der schlanke Körper des Drachenwächters war nur als ein Flirren in der Luft erkennbar, ätherisch, fast unsichtbar. Nur sein Schatten, der, vom Gebirge in abstrakte Mosaike gebrochen, über die Landschaft glitt, verriet, dass dieses Wesen so verwundbar war wie jeder von ihnen. Faust reagierte schnell. Geistesgegenwärtig griff er nach dem flimmernden Rückenkamm, bevor der Drache ihm wieder entgleiten konnte. Er war schneller und wendiger als alle Drachen, gegen die Faust je gekämpft hatte. Der Wächter schüttelte nur flüchtig seinen Schlangenkörper, als er den blinden Passagier bemerkte; sein schmetternder Schwanzhieb galt Tyrail, der ihm zuvor einen schmerzhaften Schwerthieb verpasst hatte. Faust konnte nicht erkennen, ob der Angriff traf; der rasante Ritt ließ die Umgebung vor seinen Augen verwischen. Mit großer Anstrengung gelang es ihm Zwiespalt gegen den Flugwind durch den farblosen Schuppenpanzer des Wächters zu stoßen. Ein stimmloses Fauchen. Ein ruckartiges Bocken. Faust, der das lange Rückenhaar noch immer fest im Griff hielt, rutschte vom Rücken des Drachen. Dann ein Ruck in die entgegengesetzte Richtung: Ein Zahn, messerscharf und glasig wie aus Eis, blitzte einen Fingerbreit vor seinem Gesicht auf. Die perfekte Gelegenheit. Ritschhh. Glatt – beinahe sanft – trennte Zwiespalt den schillernden Drachenkopf vom Rumpf. Die transparenten Schwingen des Bezwungenen verharrten abrupt… und wickelten sich wie Totenschleier um die Gestalt des in die Tiefe stürzenden Leichnams. So erhaben wirkte der fallende Drache, selbst noch im Tod, dass es Faust beinahe leid um ihn tat.
„Schnell, in den Drachenschlund!“
Winter stob von oben heran und zog ihn mit sich in den Abgrund. Die anderen hatten das Portal in der Tiefe bereits durchschritten. Als er hoch sah, erkannte er, weshalb sie ihn so drängte. Drachen! Sie kamen von allen Seiten! Rote, blaue, grüne, schwarze und weiße Drachen. Mehrköpfige Drachen. Drachen mit Teufelsköpfen. Die Wächter zu Tiamats Reich! Aufregung und Triumph pochten wild in seinen Adern. Natürlich wäre es Wahnsinn, sich ohne Grund mit dem Heer der Drachengöttin anzulegen…
Absoluter Wahnsinn…
Trotzdem verspürte er Bedauern, als er Winters Zaubergesang vernahm und spürte, wie sich die Dimensionen überlagerten.
Plötzliche Windstille.
Eine feuchte Grotte irgendwo in Tiamats Reich. Ein schlickiger Tümpel; in der Mitte eine Insel mit einem befestigten Turm: der Ort, den der Aufspürungszauber Winter gezeigt hatte. Wenn Jebelam die Wahrheit gesagt hatte, würden sie hier den Besitzer der Schwertscheide finden… und hoffentlich die verstoßene Kurtisane.
„Bei Veiros‘ Ungestüm!“ Der Steg am Rande der Grotte war so schmal, dass Grimwardt beim Teleportieren im Wasser gelandet war. Seine Zornader pochte, als er an Land stapfte. „So ein Irrsinn, Tiamats Reich durch den Haupteingang zu betreten!“, brummte er.
Ein Blick in die Runde verriet Faust, dass der Kraftodem des Drachen sie alle an den Rand ihrer Kräfte gebracht hatte. Aber nichts, das Miu nicht wieder richten konnte.
„Hat doch geklappt.“    
„Bis jetzt. Wenn wir durch unser Treiben nicht Tiamat persönlich aufgeweckt haben!“
Es hieß, die Drachenkönigin habe fünf Köpfe und dass sie schon mit einem einzigen ein ganzes Menschenreich auslöschen konnte. Die chromatischen Drachen verehrten Tiamat als Göttin, als ersten Drachen der Schöpfungsgeschichte. Hier unter dem Totengebirge von Avernus, wo die Macht Baators endete, hatte sie sich vor Jahrtausenden ihren Hort gegraben… ein sicheres Versteck für eine verstoßene Baatezu. Da Tiamats Reich eine eigenständige Ebene bildete, hatten die Gefährten erst das Portal, den Drachenschlund, durchschreiten müssen, um hierher zu gelangen.
„Solange wir ihre Schätze in Ruhe lassen, wird sie sich kaum für uns interessieren“, wusch Faust die düsteren Beschwörungen des Priesters beiseite. „Außerdem…“ Er wollte noch etwas hinzufügen, als der Tümpel hinter Grimwardt plötzlich lebendig wurde.  
„Zur Seite!“
Drei scheußliche, pechschwarze Köpfe, halb Drache und halb Teufel, schnellten aus dem Wasser. Sie zischten und gurgelten etwas in der Sprache Baators, das nicht eben nach einem Willkommensgruß klang. Faust riss Tyrail, der neben ihm stand, mit sich zur Seite, doch schon im nächsten Moment waren beide vollständig umhüllt vom ätzenden Odem der dreiköpfigen Kreatur. Fausts magische Rüstung wehrte die Säureangriffe ab, doch Tyrails schrille Schreie sagten ihm, dass der Elf dem Angriff schutzlos ausgeliefert war.
„Winter, in den Turm!“
Sie waren zu erschöpft für einen weiteren Kampf. Keine Zeit für einen Plan. Keine Zeit darüber nachzudenken, ob auf der Insel noch Schlimmeres auf sie lauerte. Wo blieb Winters Teleportationszauber? Faust erhaschte einen kurzen Blick auf ihr Gesicht, konzentriertes Murmeln, ein leichtes Stirnrunzeln, ein stummer Kampf. Vermutlich ein magischer Schutzwall. Während Winter ihren Kampf gegen den unsichtbaren Gegner ausfocht, versuchte Faust den halb bewusstlosen Tyrail aus der Angriffslinie des Teufelsdrachen zu zerren. Drei weitere Säurestrahlen trafen Miu und Grimwardt, doch die kleine Karaturianerin wich den Angriffen geschickt aus und Grimwardt war seit seiner Rückkehr aus dem Totenreich so gut wie unzerstörbar.
Kurz darauf umfing sie Finsternis. Erst als Winter ein magisches Licht beschwor, erkannte Faust schwach die Umrisse eines klammen Gemäuers: das Erdgeschoss des Turms. Eine morsche Treppe. Kein Geräusch bis auf Tyrails Stöhnen und das schnelle Atmen der anderen.
„Lady Baalphegor?“
Faust ließ wachsam den Blick schweifen, während sich Miu um Tyrail kümmerte, dessen Haut sich in Fetzen vom Körper gelöst hatte. Kein Zweifel – einige Baatezu waren vor Kurzem noch hier gewesen; das sagte ihm der Schwefelgeruch. Doch wie viele? Und war sie unter ihnen?
Ich bin gekränkt. Statt mir ein anständiges Tötungskommando zu schicken, speist mich Mephisto jetzt schon mit einer Handvoll sterblicher Kopfgeldjäger ab.
Baalphegor! Ihre telepathische Nachricht triefte vor Zynismus und Misstrauen. Faust hob die Hände zum Zeichen, dass sie in Frieden kamen. Womöglich wog sie gerade ab, ob sie fliehen oder den Kampf wagen sollte. Sie waren zu fünft und sie musste einen kleinen Eindruck ihrer Stärke gewonnen haben, als Winter ihr Dimensionsschloss gebannt hatte. Andererseits waren sie angeschlagen und erschöpft und wussten nicht genau, womit sie es zu tun hatten. Solange sie sich nicht zeigte, war Baalphegor auf der sicheren Seite, denn solange konnte sie niemand am Fortteleportieren hindern.
„Wir sind keine Kopfgeldjäger“, sagte Grimwardt. „Wir sind auf dem Weg nach Cania, um eine Seele zurückzufordern, die zu Unrecht hier gelandet ist.“
Sind sie das nicht alle?
Der Kriegspriester ignorierte die spitze Bemerkung
„Wir haben nach Euch gesucht, weil wir hofften, dass uns jemand, der mit den canianischen Gepflogenheiten bekannt ist, dabei behilflich sein könnte, an Mephistos Hof zu gelangen. Auf diskrete Weise, versteht sich.“
„Wir brauchen gefälschte Kultistenscheine, um über den Styx zu reisen“, übersetzte Faust nüchtern. „Und Ihr hättet Gelegenheit, Mephisto eins auszuwischen.“
Dezentes Spottgelächter.
Diskret, sagt ihr? Ihr seid so diskret wie eine Gruppe Archonen in der Blutschlucht. Jeder Imp kann erkennen, dass die Seele des Priesters bereits einem anderen Herrn versprochen ist – er stinkt förmlich nach dem Jenseits! Ihr würdet nicht einmal als Kultisten durchgehen, würdet ihr Mephistos Ehrenmal tragen.
„Nicht nur die äußere Gestalt lässt sich durch Magie verschleiern“, bemerkte Faust. „Lasst das unsere Sorge sein.“
Wie habt ihr mich hier gefunden?
Zur Erklärung hielt Winter die Schwertscheide in die Höhe.
Ein sanftes Rascheln, ein kurzer Wortwechsel auf Infernalisch und ein ersticktes Röcheln aus dem ersten Stock. Im nächsten Moment rollte den Gefährten, träge von Stufe zu Stufe platschend, der abgetrennte Kopf eines Höllenschlundteufels vor die Füße. Alles klar, sie hatte verstanden. Nach diesem blutigen Prolog folgte Lady Baalphegors eigener Auftritt: In schwarze, fedrige Tücher gewandet, die ihren makellosen, bronzenen Körper umschmeichelten, rauschte sie die morsche Treppe herab wie in einen Ballsaal, die Schwingen halb geöffnet: wachsam, warnend, auf dem Sprung. Faust spürte, dass die herablassende Belustigung in ihren rubinroten Augen ihre Furcht kaschierte. Irritierender Weise fühlte er sich an seine Mutter erinnert. Es war wohl diese Mischung aus trotzigem Stolz und schlichter Dramatik... Auf der Hälfte der Treppe hielt sie inne.  
„Schön“, sagte sie scheinbar desinteressiert. „Was wäre euer Angebot – angenommen, ich würde das Risiko auf mich nehmen?“
Faust zuckte mit den Schultern.
„Ihr wärt wohl nicht hier, wenn ihr nicht den ein oder anderen Feind am canianischen Hof hättet…“
„Hm.“ Ein bitteres Lächeln umzuckte ihre Mundwinkel. „Eine Laune. Davon hat Mephisto nicht wenige“, sagte sie leichthin. „Eine Eitelkeit. Schließlich ist das kleine Halbblut-Flittchen sein Geschöpf. Trotzdem… Seine Entscheidung mich aus Cania zu verstoßen war ein wenig… extrem.“ Sie schwieg lange und spielte gedankenverloren mit ihren messerspitzen Fingernägeln. Unter dem Schleier ihrer Unberührtheit spürte Faust flammenden Zorn.
„Einmal pro Höllenjahr gibt Mephisto ein Fest für seine sterblichen Anhänger, das einen Seelenzyklus lang wärt“, sprach sie schließlich. „In einem Monat ist es wieder soweit. Er hat eine gewisse Faszination für euresgleichen. Ich kenne das arkane Siegel, mit dem er die Einladungen kennzeichnet, doch er fügt jedes Jahr eine neue Komponente hinzu. Einem einfachen Amnizu-Bürokraten wird der Schwindel nicht auffallen, aber vor den Verwaltern am mephistotelischen Hof solltet ihr euch in Acht nehmen. Ich verlange ein Pfand von 200.000 Gold für meine Bemühungen. Keine Verhandlungen.“ Plötzlich war ihre Stimme von Eisdornen durchsetzt. „Sollte ich in absehbarer Zeit Kunde erhalten, dass der reizende Kopf dieses Halbbluts in den Wassers des Styx vor sich hin rottet, mögt ihr die Garantie zurückfordern.“
Faust pfiff durch die Zähne. 200.000 Gold. Das war selbst für ihre Verhältnisse kein Klacks. Sie würden einige äußerst wertvolle Gegenstände verpfänden müssen, um den Betrag zusammenzukratzen.
„Ich dachte hier unten würden solche Geschäfte mit Pakten geregelt“, meinte er misstrauisch.
Ärger flammte in ihren rubinroten Augen auf. „Ihr vergesst meine Situation“, zischte sie gepresst. „Ich falle aus der Hierarchie und damit auch aus der Jurisdiktion Baators.“
Trotz des horrenden Pfandes gingen die Gefährten auf den Handel ein. Nicht einmal Grimwardt und Miu protestierten gegen den Mordauftrag. Hier unten galten andere Gesetze.
„Wartet“, bat Faust, als die Baatezu sich zurückziehen wollte, um ihren Teil der Vereinbarung zu erfüllen. Er verschränkte die Arme vor der Brust und räusperte sich. „Noch eine Frage… Kennt ihr einen Halbteufel namens Lord Ares, der an Mephistos Hof verkehrt?“
Er spürte die Blicke der anderen und wich ihnen aus. Nachdem er von Omega erfahren hatte, welchem Erzteufel sein Vater seine teuflische Karriere zu verdanken hatte, hatte er seine Nachforschungen auf Cania fokussiert.
Baalphegor musterte ihn mit neu gewecktem Interesse.
„Es gibt nicht viele, die den Schwarzen Phönix unter diesem Namen kennen“, bemerkte sie. Faust musste schlucken. Es bestätigte nur, was er bereits selbst herausgefunden hatte. Aber es aus dem Mund eines Teufels zu hören, machte es auf eine Art real, die ihm Brechreiz verursachte.
„Er ist so etwas wie Mephistos rechte Hand. Ein weiterer Emporkömmling mit sterblicher Blutlinie“, fügte Baalphegor in säuerlichem Tonfall hinzu. „Irgendwann wird diese perverse Leidenschaft Mephisto noch das Genick brechen…“  

Grimwardt

Maladomini, Siebter Höllenkreis, drei Wochen später.
Grimwardt fluchte gedämpft und schüttelte zum dritten Mal an diesem Morgen einen Klumpen verstümmelter Seelen von seinem Paddel, die wimmernd die flehenden Ärmchen nach ihm ausstreckten. Es war nicht immer so schlimm wie heute; vermutlich befanden sie sich in der Nähe der Hauptstadt: Die Seelen wurden verzweifelter, je näher der Styx sie den Seelenseen zutrieb. Ungehalten begann der Priester schneller zu paddeln, was Tyrail, der das zweite Ruder bediente, aus dem Takt brachte. Der Elf versteifte sich und seine Kiefermuskeln knirschten. Seine eisige, wortlose Verachtung war geradezu körperlich - wie Gliederschmerzen oder zu dünne Luft. Grimwardt fragte sich, wer von ihnen zuerst explodieren würde!
„Faust, tausch die Plätze mit Tyrail!“, knurrte er. Immerhin war es Faust, dem sie diese charmante Gesellschaft zu verdanken hatten. Genaugenommen hatte er ihnen überhaupt diesen ganzen Schlamassel erst eingebrockt.
„Ruhig, Mann.“
Stirnrunzelnd blickte der Angesprochene von dem Buch auf, das er aus Rabenklippe mitgenommen hatte: die Chronik der Neun Schwerter. Die Aufzeichnungen reichten bis zu den Tagen der ersten Ordensgeneration zurück. Jede freie Minute verbrachte Faust damit, die Erlebnisse der Gefährten darin festzuhalten. Offenbar so eine Art Therapie, die ihn davon abhielt, irgendwem an die Gurgel zu springen. Nicht einmal den unspektakulären Kampf gegen die Amnizu-Zollwärter des dritten Höllenkreises, die ihre Kultisten-Maskerade durchschaut hatten, hatte er ausgelassen. Und gerade war er dabei, in allen Einzelheiten ihre Begegnung mit zwei listigen Xerfilstyx zu schildern, Flussteufeln, die ihr magisches Faltboot gebannt und den Gefährten eine unfreiwillige Abkühlung beschert hatten. Sie Seelen hatten Miu in die Tiefe gezogen und der Styx hatte ihr für kurze Zeit ihr Gedächtnis geraubt. Schon jetzt nahm Fausts Erzählung so viele Seiten ein wie für ein ganzes Jahrhundert vorgesehen waren. Wenn er so weitermachte, würde er die letzte Seite der Chronik erreichen, ehe sie in Cania ankamen.  
Faust schrieb in der Ordenssprache Shou, doch Grimwardt entschlüsselte die fremden Schriftzeichen mühelos. So mühelos, dass ihm nicht einmal Fausts lausige Grammatik entging. Diese erstaunliche Sprachbegabung war nur eine der Fähigkeiten, die er seinem Tanz mit dem Tod verdankte. Seine Verbindung zu Kriegersruh war so stark, dass er manchmal auf Celestisch träumte. Nein… geträumt hatte. Die Hölle hatte seine Verbindung zu Tempus unterbrochen. Hatte den Teil seiner Seele, den er in Kriegersruh zurückgelassen hatte, den Teil, der eins war mit seinem Gott, von ihm abgeschnitten. Tempus hatte keine Macht in Baator. Die Leere war zermürbend. Wie sollte er sich selbst trauen ohne Tempus‘ Nähe? Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er sich die scheußliche schwarze Kutte vom Leib reißen und das blasphemische Symbol um seinen Hals in den Styx schleudern wollte. Missfiel Tempus die Maskerade? Sollte er offen zeigen, wer er war, ungeachtet der Konsequenzen? Früher hätte er nicht gezaudert. Er hätte die Antwort schlicht und einfach gewusst.
Sei kein Narr. Er wollte, dass du herkommst, um diese Axt zu finden.
Grimwardt schalt sich selbst für seine Reizbarkeit. Der Styx hatte seine Gedanken vergiftet. Schlimm genug, dass Winter und Miu dem Bann des Seelenflusses erlegen waren. Jedes Mal, wenn er seine Schwester ansah – mit den tiefen Schatten im Gesicht und diesem kranken, unnatürlichen Glitzern in den Augen – spürte er einen erstickenden Kloß im Hals. In seinen Träumen klammerte sie sich um Hilfe flehend an sein Paddel und ihr Körper war nur noch ein Klumpen aus Seelenmasse… Grimwardt schauderte. Mius Augen dagegen waren leer, wie ausgelöscht, ihre Bewegungen zombiehaft. Seit sie in den Styx gefallen war, musste man sie immer wieder davon abhalten, sich dem Wehklagen der Seelen hinzugeben und die Arme nach den missgestalteten Kreaturen im Wasser auszustrecken. Grimwardt war sich nicht sicher, ob sie die Verdammten retten oder sich mit ihnen ins Vergessen stürzen wollte…
Plötzlich wurde das Boot von heftigem Schwanken erfasst.
Relosecoon!“
„Was zum…? Tyrail!“
Tyrail hatte sich aufgerichtet und stach wild auf etwas im Wasser ein. Grimwardt hatte Mühe, das Boot im Gleichgewicht zu halten. Dann kam Faust hinzu gestürzt, griff mit beiden Händen zu und zerrte das klitschnasse, wild um sich schlagende Etwas ins Boot. Die Kreatur war etwa so groß wie ein Elf mit spindeldürren Gliedmaßen, einem krötigen Buckel, Schwimmhäuten zwischen Händen und Zehen und bösartig funkelnden Glubschaugen. Ein Xerfilstyx. Verflixte Biester.
„Endlich hab ich dich, Missgeburt“, zischte Tyrail.
„Endlich?“
„Er folgt uns schon seit heute Morgen.“
„Aha.“ Faust verschränkte die Arme. „Danke für die Warnung!“  
„Im Gegensatz zu dir richte ich meinen Blick auch hin und wieder auf das, was vor uns liegt!“
„Hm. Mir schien’s eher so, als ob du mehr mit der Vergangenheit beschäftigt wärst.“
Oh bei den Hallen der Helden.
„Genug!“, schnaubte Grimwardt und drängte sich zu dem Teufel durch. „Wo hast du uns zum ersten Mal aufgelauert?“
„Pfff!“ Er zog eine Grimasse und entblößte dabei ein Fischmaul voller messerscharfer Zähne. „Ich bin euch schon seit Dis auf den Fersen!“
 Grimwardt wechselte einen Blick mit Faust und Tyrail. Zeitgleich sangen ihre Waffen. Lass niemanden am Leben! Die kleine Kröte wusste ganz offenbar zu viel über sie!
„Halt!“, protestierte der Flussteufel. „Es wird euch nicht helfen, wenn ihr mich tötet! Mein Herr weiß ohnehin schon über euch Bescheid! Telepathisches Band.“ Er tippte dreimal gegen seinen Schädel.
Grimwardt hielt inne.
„Wer ist dein Herr?“, fragte er schroff.
„Baalzebul, Fürst des Siebten Höllenkreises, kein Geringerer“, sagte die Kröte mit geschwollener Brust. „Er ist sehr an euch interessiert und will euch treffen. Wenn ihr mich am Leben lasst, kann ich euch zu ihm führen.“
„Und worin besteht sein Interesse?“, fragte Grimwardt mit tödlicher Ruhe.
„Naja… fünf mächtige Sterbliche, die sich mit einem Legionsgeneral anlegen, die Portalstadt aufmischen und nach der verstoßenen Geliebten des Mephistopheles suchen?“
Jebelam, dieses verdammte Miststück!
Der Flussteufel grinste ihm dreist ins Gesicht. „Wäre ich Mephisto, würde ich mir da Sorgen machen. Wäre ich Mephistos Erzfeind, würde ich eine Chance wittern!“
Hm. Da war was dran. Es war kein Geheimnis, dass der Herr der Fliegen nach dem Thron von Cania trachtete. Die Seelenfehde zwischen Baalzebul und Mephisto war legendär. Grimwardt beriet sich kurz mit Faust, doch sie waren sich schnell einig.
„Also dann, Kröte“, knurrte Faust.
„Mein Name ist Iphores!“
„Flores? Hast wohl nicht viele Freunde, hm? Naja. Wenn das eine Falle ist, bist du jedenfalls dran, Blümchen, kapiert!“
Iphores!“
Faust grinste.

Winter
Malagard, Hauptstadt des Siebten Höllenkreises, wenig später.
Sie wankte durch ein Labyrinth verfallener Korridore. Schmutzkrusten bedeckten die einst prachtvoll vertäfelten Wände. Breite Schleimspuren zogen sich über den Boden und streiften Bilderrahmen und Kerzenständer. Maden suhlten sich in den Schleimpfützen und unter den süffigen Teppichen zog kriechend etwas Lebendiges seine Bahnen. Und dann der Gestank – so penetrant und greifbar, dass er alles und jeden in diesem Palast in eine Blase der Schwermut hüllte.
Ein weiterer Albtraum? Sie war sich nicht sicher.
Seelen. Überall Seelen. Wehklagende Totgeburten, die sich wie die Maden vor ihr wanden und sie anflehten, sich an ihnen zu laben. Aber sie konnte nicht. Es waren geerntete Seelen, stumme Seelen, wertlos für ihre Zwecke. Unmöglich diese toten Klumpen in Schattenmagie zu verwandeln. Sie hatten keine Seelenmelodie, keinen Schatten. Dafür klang die Seelenmelodie ihrer Gefährten wie Hohn in ihren Ohren. So schmerzlich verführerisch, dass es sie in den Wahnsinn trieb. Die Visionen, in denen sie Tyrail in eine dunkle Gasse lockte und seinen Schatten trank, waren so real, dass sie manchmal erschrak, wenn sie neben ihm im Boot aufwachte. Der Mistkerl hätte es verdient. Bei den Göttern, wie er es verdient hätte!
Iphores führte sie zu einer breitflügigen Doppeltür, wo ihnen zwei Teufel mit Chitinpanzern und Insektenflügeln die Waffen abnahmen. Durch einen dichten Nebel nahm Winter wahr, wie man ihr die Zauberstäbe abnahm. Dann öffneten sich die Flügeltüren zu einem fensterlosen Raum, spärlich von Kerzenlicht erleuchtet. Der Schleier der Schwermut war hier am stärksten. Der Boden war so schleimig, dass er das Gehen zu einem beschwerlichen und trägen Kraftakt machte. In der Mitte des Raumes harrte Baalzebul, der drittmächtigste Erzteufel Baators. Der Herr der Fliegen. Der Prinz der Lügen.
Eine riesige, fette Schnecke.
An den Wänden standen und hingen Spiegel in allen Formen und Größen. Doch diejenigen, die nicht völlig von Schmutz und Schleim bedeckt waren, zeigten nicht etwa die fette Schnecke mit dem Säuglingsgesicht und den kurzen, speckigen Ärmchen, sondern einen wunderschönen Engel.
Winter blinzelte. Nein, Albträume waren nicht so… erbärmlich.
Sie versuchte sich auf die Worte zu konzentrieren, die von den schwulstigen Lippen der Schnecke tropften wie Honig. Oder Gift. Aber ihre Gedanken glitten immer wieder zu den Spiegeln. Der Engel und das Ungeheuer. Wie lange würde es dauern, bis sie ihre eigenen Spiegel bezaubern musste, um nicht ihre verkrüppelte Seele darin gespiegelt zu sehen.
Scheiße, ich brauche wirklich einen Schatten.
 Irgendwie waren die Worte, die der Herr der Lügen ihnen mit seiner Eunuchenstimme ins Ohr säuselte, wohl wichtig für ihre Mission. Doch die Bilder von dunklen Gassen und süßen, süßen Seelen schmuggelten sich immer wieder in seinen Redefluss. „…Spione in Mephistar… ungeheuerliche Vermutungen… Mephistos Betrug an seinem Herrn und Gott… Sturzversuch… Zauber, mit dem er Asmodeus seiner Göttlichkeit berauben will, um die Herrschaft über die Neun Höllen an sich zu reißen… Brauchen Beweise… Bringt mir Beweise!... Asmodeus‘ Belohnung… Mephistos Untergang… Cania wird mein sein… Wenn ich erst Herr von Cania bin, sollt ihr die Seele haben, die ihr begehrt!... Ich verspreche euch Omegas SEELE!“
Ein verzweifeltes Glucksen stolperte über Winters Lippen. Wenn sie Omegas Seele tatsächlich befreien sollten, wäre das erste, was sie täte, sie mit Haut und Haar zu verspeisen! Niemand würde sie davon abhalten können.
Reiß dich zusammen. Denk nach.
Irgendwo in diesem verflixten Reich musste es Seelen geben. Echte Seelen. Unbefleckte Seelen. Kerker! Natürlich! Fürchtete nicht jedes Kind auf Faerûn die Kerker der Hölle? Die Stätten des Bösen? Wo die Teufel immer neue Foltermethoden ersannen, um jene Sterbliche zu bezwingen, die sich dem Bösen nicht fügen wollten? Beinahe hätte sie vor Aufregung aufgequiekt. Jetzt musste sie nur noch an so eine Kerkerseele herankommen. Während die anderen mit Baalzebul verhandelten, löste Winter unauffällig ihre Komponententasche vom Gürtel und schob sie mit dem Fuß hinter einen der Spiegel.
„Winter?“
Erschrocken fuhr sie zusammen. Grimwardt. Hatte er etwas bemerkt?
Stirnrunzelnd hielt er ihr eine Schreibfeder und einen Dolch hin und wies auf die Schriftrolle, die  sich vor ihr in der Luft entrollte.
„Unterschreibst du nun, oder was?“
Erleichtert nahm sie die Feder und den Dolch entgegen. Ein Höllenpakt. Verdammt, wieso hatte sie nicht mitbekommen, dass die Verhandlungen schon so weit voran geschritten waren? Eilig überflog sie das Schriftstück: „Die sterblichen Paktierenden verpflichten sich… bla bla bla… bei Sicherstellung von Beweisen und Indizien dafür, dass Mephistopheles, Herr des Achten Höllenkreises, den Sturz seines Herrn Asmodeus plant, diese unverzüglich und ohne Einweihung Dritter Baalzebul, Herrn des Siebten Höllenkreises, zu übermitteln. Letzterer verpflichtet sich seinerseits genannte Beweise zur Überprüfung an Asmodeus weiterzuleiten. Sollte sich durch diese Bemühungen eine Umverteilung der Machtverhältnisse Baators ergeben und Baalzebul zum Herrn des Achten Höllenkreises ernannt werden, so verpflichtet er sich die Seele Omegas, verstorbene Anführerin der Neun Schwerter, aus ihrem Pakt zu entlassen und bis auf Weiteres auf alle Ansprüche Canias auf diese Seele zu verzichten.“
Grimwardt und Faust hatten den Wisch bereits unterzeichnet. Wenn sie das Ding abgesegnet hatten, musste die Sache ja wohl wasserdicht sein, oder? Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, schnitt sich Winter mit dem Dolch in die Handfläche und unterzeichnete den Pakt mit ihrem Blut, wie es Brauch war.
 Ungeduldig wartete sie darauf, dass sie sich verabschiedeten. Als sie sich auf dem Rückweg durch den Palast befanden, blieb sie abrupt stehen und tastete mit gespieltem Schrecken ihren Gürtel ab.
„Oh, verdammt! Ich habe meinen Komponentenbeutel da drin vergessen!“
Grimwardt musterte sie mit skeptischem Blick.
„Du hast noch nie was vergessen“, brummte er.
„Es gibt für alles ein erstes Mal!“, spielte sie die Eingeschnappte und eilte den Gang zurück zu Baalzebuls Spiegelsaal, bevor irgendwer anbieten konnte, sie zu begleiten.
„Ich brauche eine Seele!“ Sie verabscheute sich selbst für das Flehen und die Verzweiflung in ihrer Stimme, aber sie war zu erschöpft, um ausgerechnet dem Herrn der Lügen etwas vorzugaukeln.
Baalzebul kroch aus dem dunklen Winkel, in den er sich zurückgezogen hatte, musterte sie aus winzigen Augen und schlug wehmütig die speckigen Hände zusammen. Sein tiefes Seufzen klang mitleidig und verursachte ihr Übelkeit.
„Ihr… Ihr habt gewiss Seelen, für die Ihr keine Verwendung habt… Sterbliche, die… Eure Gastfreundschaft nicht zu schätzen wissen. Ich bin nicht wählerisch. Und meine Gesundheit käme schließlich auch Euch zugute!“
„Ich verstehe deine Seelenqual, hübsches Kind“, flötete die fette Schnecke. „Aber du weißt gewiss, dass hier in Baator alles seinen Preis hat.  Auge um Auge. Seele um…“
„Meine Seele kann ich euch nicht geben."
Ein träges Lächeln suhlte sich auf seinem Gesicht.
„Ich fürchte, da hast du recht.  Deine Seele gehört dir nur noch zu Teilen, hm? Und wenn unser Plan Erfolg hat, gehen diese Anteile ohnehin an mich über.“  Seufzend betrachtete er sein falsches Spiegelbild und Winter war sich nicht ganz sicher zu wem von ihnen er sprach. „Aber du hast Glück, hübsches Kind. Es gibt etwas, das ich beinahe noch mehr schätze als Seelen – und das ist Wissen… Iphores ist ein guter Junge. Er hat mir vieles berichten können über euer illustres Grüppchen. Doch ich glaube, da ist vieles, worüber ihr auf eurer Reise nicht gesprochen habt und was kein Zauber aufzudecken vermag. So viele mysteriöse Verbindungen, so viele Geheimnisse.“ Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Eine Seele für eine Geschichte, ich denke, das ist ein fairer Preis.“
Einen Moment lang war Winter versucht, in den Handel einzuschlagen. Doch plötzlich durchschaute sie sein Spiel. Nicht weil er sich durch irgendeine Geste, irgendein falsches Wort, verraten hätte, sondern weil er… Sie hasste, es zuzugeben, aber er war ihr selbst nicht unähnlich. Baalzebul war verflucht. Aus irgendeinem Grund konnte er nicht auf magische Weise verbergen, was er war: Die Hässlichkeit seiner Seele stand ihm wortwörtlich ins Gesicht geschrieben. Aber er hatte Einfluss darauf, welchen Aspekt seiner Seele er seinem Gegenüber zeigte. Und er hatte sich für den erbärmlichen, den schwermütigen, den ungefährlichen Aspekt entschieden… Wer konnte schon sagen, für welche kranken Rituale er diese Informationen brauchte. Hier ging es nicht nur um sie, sondern um ihre Freunde.
„Nein“, flüsterte Winter. „Das kann ich nicht tun.“
Für eine Weile ließ er seinen melancholischen Blick auf ihr ruhen, ehe er bedauernd die Hände rang.  
„Das ist schade, wirklich schade.“ Dann plötzlich, für den Bruchteil einer Sekunde, trat ein anderer Ausdruck in seine Augen: schlau und berechnend und durch und durch böse, als er sagte: „Gute Reise, hübsches Kind.“
Als Winter kurz darauf wankend den Raum verließ, war sie nicht mehr so sicher, was Wirklichkeit und was Spiegelbild war…
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nappo am 26. Januar 2012, 07:34:54
 :thumbup:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 26. Januar 2012, 11:12:50
Yeaaaaah! Sehr schön geworden! Vor allem die epischen Helden und ihre Leiden. So mächtig und trotzdem hat jeder sein Päckchen zu tragen. Werds direkt mal auf die Seite stellen!
 :thumbup:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 26. Januar 2012, 18:58:03
Das Warten hat sich gelohnt! Wie immer, erstklassig :-)
Schön, dass du Blümchen übernommen hast!!!  :cheesy:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 26. Januar 2012, 20:38:33
Hab grade Folge 5 von Spartacus gesehen... jetzt freu ich mich auf Grimwardts bevorstehenden Kampf in der Geschichte und meinen bei der nächsten Sitzung :)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 21. Februar 2012, 02:37:31
 :thumbup:So, war wieder ne coole Sitzung! Hab mal die ganz alten Sachen aus der Zeit als Thalas noch der SL mit auf die Seite gepackt...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 01. März 2012, 15:15:56
Kapitel IV: Herr der Neun Höllen

Grimwardt
Mephistar, Hauptstadt des Achten Höllenkreises, sieben Tage später.
Grimwardt konnte verstehen, warum es Baalzebul nach Cania zog. Ihre Reise über den Styx hatte sie durch stählerne Kettenstädte, giftige Sümpfe und feuerspeiende Vulkangebirge geführt. Manche dieser Orte waren abstoßend gewesen, andere ehrfurchtgebietend, aber keine von so tödlicher Schönheit wie die Hofgärten von Schloss Mephistar. Es war so kalt, dass die Tränen, die der eisige Wind ihnen in die Augen trieb, sofort an den Wimpern gefroren. Ohne Schutzzauber konnte kein Sterblicher in dieser Eiswüste überleben. Kunstvolle Eisgebilde in Form von Blumenbeeten, Skulpturengruppen und Heckenlabyrinthen umgaben das Schloss, das ebenfalls gänzlich aus Eis und Schnee gefertigt war. Die gläserne Pracht wurde nur hin und wieder von einem schwach-roten Glühen durchbrochen, das unter der kalten Oberfläche zu lauern schien und die Eisgebilde zum Weinen brachte. Dieses Glühen, das Mephistar langsam zum Schmelzen brachte, wusste Grimwardt, rührte von Mephistopheles‘ Experimenten mit Höllenfeuermagie unter dem Gletscher Nargus, auf dem die Stadt erbaut war. Er war lange genug in der Hölle, um zu wissen, dass die Wetterbedingungen hier jeder natürlichen Erklärung trotzten. In Baator hatte alles seine Ordnung, nichts war zufällig. Wenn Cania wie die anderen Höllenkreise die Seele ihres Herrschers spiegelte, dann fragte er sich, wovor man sich wohl mehr in Acht nehmen sollte: vor der eisigen Berechnung oder dem darunter lodernden Zorn, für die der Herr des Achten Höllenkreises berüchtigt war…
Die Eisteufel-Wächter, die vor dem Eingang Spalier standen, um die sterblichen Bewunderer ihres Herrn zu empfangen, warfen nur einen flüchtigen Blick auf die Einladungen. Die Verachtung der geringeren Teufel für Mephistos sterbliche Gäste und ihr Verdruss über die narzisstischen Kult-Inszenierungen ihres Herrn kamen den Gefährten zugute. Ehe sie sich versahen, wurden sie von einem Pulk lärmender Kultisten in den Palast geschleust. Sie ließen sich vom Hauptstrom treiben und landeten in einem riesigen Eissaal, in dem es von schwarzen Kuttenträgern nur so wimmelte. In der Mitte des Saals hing – in lästerlichem Kontrast zu der märchenhaften Umgebung – ein rostiger Käfig von der Decke. Das Blut des erstochenen Gefangenen tröpfelte auf einen erhöhten Altar, auf dem… Grimwardt wandte sich eilig ab, doch das abscheuliche Treiben der Teufelsbuhle und ihres Baatezu-Freiers hatte sich bereits mit boshafter Hartnäckigkeit in seinem Bewusstsein festgebissen. Als er der nächstbesten Tür zustrebte, stieß er mit einem der Kuttenträger zusammen.
„Ah, gut, ein neues Opfer!“, lallte der Zugedröhnte und starrte Miu aus tellergroßen Pupillen an. Da Verkleidungen Mius Ordensphilosophie zufolge nicht besser als Lügen waren, war es ihr verboten, ihre Gestalt zu verhüllen. Ihre Freunde hatten ihr darum kurzerhand eine Fußfessel verpasst und sie am Stadttor als „Mitbringsel“ ausgegeben. So apathisch wie sie war, musste sie das resignierende Opfer nicht einmal spielen…
„Finger weg, die ist für den Herrn“, knurrte Grimwardt.
Der Kultist grinste ihn dümmlich an, ehe seine Worte den Weg in sein drogenzerfressenes Hirn fanden.
„Für den Herrn?“ Er gluckste. „Siehst mir nicht so aus, als ob du zum inneren Zirkel gehörst…“
Fassungslos starrte Grimwardt ihm nach, als er wieder in der Menge verschwand. Welcher Wahn konnte einen Menschen befallen, sich derart zu benebeln, dass es ihm gleichgültig war, ob er Roulette mit seiner Seele spielte? Gewiss, die Hölle hatte kein Monopol auf das Böse; Götter wie Cyric oder Tyrannos waren für mindestens so viele Gräueltaten verantwortlich wie Mephistopheles. Aber zumindest verhöhnte kein Gott seine Anhänger oder folterte und verspeiste ihre Seelen. So wie der Landesherr dem Bauern Schutz für seine Lehndienste zollte, so schuldeten die Götter den Seelen ihrer Anhänger einen sicheren Übergang aus der Stadt der Seelen. Asmodeus und seine Brut jedoch nährten sich vom Unwissen, vom Schmerz und von den Hoffnungen ihrer Opfer, bloß um den Göttern ins Gesicht spucken zu können: „Seht her, und sie wählen und trotz alledem!“
Im nächsten Raum war es so glühend heiß, dass nur Magie die Eiswände vom Schmelzen abhalten konnte. Vor einem brodelnden Becken mit rot-schwarzer Vulkanflüssigkeit hatte sich eine Warteschlange gebildet. Sobald sich auf der Oberfläche des Kratersees eine Luftblase zu bilden begann, eilte ein Trupp fliegender Imps mit einer Planke herbei, die der Vorderste der Wartenden beschritt, um sich in der Feuerblase einschließen zu lassen. Für wenige Augenblicke schwebte der Unglückliche mit hochrotem Kopf und schmerzverzerrter Grimasse über den Köpfen der Schaulustigen, bevor er einen markerschütternden Schrei ausstieß und flehend mit den Fäusten gegen die Kugel trommelte, woraufhin diese zerplatze und dem brodelnden Feuersee die Entsorgung überließ. Der nächste Kandidat hatte offenbar aus den Fehlern seines Vorgängers gelernt, denn er verzichtete auf das Trommeln, was die Zuschauer in den zweifelhaften Genuss des Schauspiels brachte, wie sein Körper in der Kugel zu einem Klumpen schwarzer Asche zusammenschrumpelte.
Bei Hammer und Helm…
Grimwardt dankte den Göttern für das gesunde Maß an mangelnder Neugier, das ihm mitgegeben war und wollte sich abwenden. Leider war diese Gabe bei seinem Freund leidlich kurz gekommen…
„Gehört das zum Programm oder gibt’s ‘ne Belohnung für den Spaß?“, wandte sich Faust an einen der Zuschauer. Dieser musterte ihn von oben herab, bevor er sich wieder dem Feuersee zuwandte.
„Ist wohl dein erstes Mal hier, Lichtgeburt! Wer es ohne Gezeter in einer Höllenfeuerblase aushält, bis sie platzt, der darf gegen Emrateph kämpfen, das weiß doch jeder! Und wer die Feuerprobe und den Kampf besteht, der wird zum Herrn vorgelassen und in den inneren Zirkel aufgenommen.“
„Hm“, machte Faust. „Harte Nuss, dieser Emrateph?“
„Hart?“ Der Kultist lachte irre. „Vor zwei Jahren wurde sein Vorgänger besiegt und seither ist es niemandem mehr gelungen, zum Herrn vorgelassen zu werden! Ein Dämon, das ist er, eine abscheuliche Missgeburt! Ein Dämon mit einem Wolfs- und einem Schlangenkopf!“
… und er besitzt etwas, das Tempus gehört!
Mit einem Mal war Grimwardt dankbar dafür, dass Faust seine Klappe nicht halten konnte.
Keine zehn Minuten später harrte er am Ende der Warteschlange selbstmörderischer Irrer, die es gar nicht erwarten konnten, sich in einer Blase sengenden Höllenfeuers braten zu lassen. Alle anderen Anwärter trugen Pergamente bei sich, die sie vor Antritt ihres Martyriums dem Hornteufel überreichten, der das Spektakel überwachte. Vermutlich eine Art Genehmigung, die man Jahre im Vorhinein bei irgendeinem Amnizu-Bürokraten beantragen musste. Doch das Problem war schnell gelöst. Während Faust einen der Kandidaten mit Lästereien ablenkte, stahl ihm Winter das kostbare Dokument aus der Kutte. Als der Unglückliche ohne Fahrschein vor dem Wärter erschien, wurde er kurzerhand in das brodelnde Becken gestoßen. Unter den Umständen kein besonders schwerwiegender Verlust, fand Grimwardt.
Er nutzte die Wartezeit, um sich mit ein paar heimlichen Gebeten auf seinen Auftritt vorzubereiten. Als „Ikrem der Hitzige“ wurde er schließlich angekündigt. Nicht wenige seiner Vorgänger waren schon in der Anfangsphase gescheitert. Doch Grimwardt hatte Glück: Er erwischte eine Feuerblase, die nicht sofort zerplatzte, als er sich auf dem anschwellenden Gebilde positionierte. Für einen Augenblick fürchtete er, dass er zu schwer sein könnte für die zarte Membran der Feuerkugel, doch die Wände hielten seinem Gewicht stand und er spürte, wie er in die Höhe getragen wurde. Zunächst schien die Sache ein Kinderspiel. Seine Schutzzauber wehrten die Hitze ab. Doch dann schlich sich eine andere Hitze unter seine Haut. Das war keine natürliche Hitze!
Höllenfeuer.
Schweiß brach ihm aus allen Poren. Die Kutte, das einzige, was er am Leibe trug, hatte sich innerhalb eines Lidschlags verflüchtigt und Bart- und Haupthaare kräuselten sich trotz magischem Schutz zu schwarzen Aschefäden. Wie ein Ertrinkender klammerte er sich an das heilige Symbol, das er in seiner Hand versteckt hielt. Flüchtig nahm er wahr, dass irgendetwas mit seiner Haut passierte: Die kleinen Härchen auf seinem Arm hatten Feuer gefangen – schwarzes Feuer! – und darunter bildeten sich Brandblasen, die in rasender Schnelle aufplatzten und die darunterliegenden Hautschichten freilegten. Vor allem aber verspürte er den unwiderstehlichen Drang loszubrüllen wie ein Schwein am Spieß.
Alles nur das nicht! Eher sollen sie mich als verkohltes Stück Fleisch aus dieser Blase puhlen!
Das war sein letzter Gedanke, bevor die Feuerblase plötzlich ohne Vorwarnung zerplatzte. Ein dünnmaschiges Netz drängte sich zwischen ihn und den rasant heran stürzenden Feuersee und die Imp-Helfer brachten ihn unter dem Getöse der Umstehenden, die ihre Wetteinsätze einlösten, sicher „an Land“. Undeutlich gegen den Nebelvorhang, der noch immer über seinem Blick lag, machte er über sich die Gestalt eines Hornteufels aus. 
„Ich bestätige, dass Ikrem der Hitzige die Feuerprobe erfolgreich bestanden hat. Gegen eine Gebühr von 1000 Gold mögt Ihr nun das Vorrecht erwerben, Euch dem Gladiator Emrateph im Zweikampf zu stellen.“

Faust
Nachts in der „Styxgrube“, Mephistar.
Wutschnaubend zerrte Faust den Kuttenträger von seinem Strohlager und stieß ihn aus der Schlafkammer. Seine beiden Gefährten segelten kurz darauf hinterher. Rippen brachen und Knochen splitterten, als die drei Teufelsanbeter in die gegenüberliegende Wand krachten, doch sie waren so zugedröhnt, dass sie es bei einem Schwall skurriler Beleidigungen beließen, ehe sie wieder in wüste Drogenträume abdrifteten. Scheppernd fiel die Tür hinter ihnen zu.
„Eher penn‘ ich im Schnee, als dass ich mir ein Zimmer mit diesen Trotteln teile“, knurrte Faust und ließ sich frustriert auf eines der Lager sinken. Die Stadt war so überfüllt, dass sie selbst in dieser Absteige am Rande der toxischen Zone nur noch einen Großschlafraum hatten ergattern können. Normalerweise hätte Winter mit ihrem magischen Palais Abhilfe schaffen können. Doch Winter sah nicht so aus, als ob sie in absehbarer Zeit irgendwas zaubern würde…
Da er ohnehin nicht schlafen konnte, übernahm er die erste Wache.
Er musste irgendwas töten.
Ein voller Monat in einem Boot mit Tyrail ohne einen einzigen guten Kampf war mehr, als er ertragen konnte. Mann, wie er Grimwardt um den bevorstehenden Kampf mit diesem Dämon beneidete! So hatte er sich sein Höllenabenteuer jedenfalls nicht vorgestellt. Was den Pakt mit Baalzebul anging, waren sie keinen Schritt vorangekommen. Falls Baalzebuls Informationen stimmten und Mephistopheles tatsächlich einen Zauber entwickelte, der Asmodeus entmachten sollte, dann war es ratsam mit Nachforschungen in der Höllenfeuer-Akademie zu beginnen. Doch Sterbliche hatten keinen Zutritt zu dem magischen Labor. Sie mussten also einen anderen Weg finden. War es naiv auf die Hilfe seines Vaters zu hoffen? Allerdings war auch Lord Ares derzeit unerreichbar, denn vermutlich befand er sich in Mephistos Gesellschaft. Vielleicht sollten sie doch darauf hoffen, dass Grimwardt bei Mephistopheles eine Sondergenehmigung zur Erkundung der Akademie erwirkte, sollte er den zweiten Teil der Prüfung bestehen. Oder sie drehten den Spieß um und verrieten Baalzebul an Mephistopheles – um den Preis von Omegas Seele. Immerhin hatten sie nur zugestimmt, nach Beweisen für Mephistos Verrat zu suchen. Nichts band sie an ihren Pakt, sofern sie keine fanden…
Plötzlich hörte er etwas - ein leises Scharren an der Zimmertür. Faust zog sein Schwert, stellte sich mit dem Rücken zur Wand neben dem Eingang und lugte vorsichtig durch den Türspalt. Einer der Kultisten war aus seinem Rausch erwacht und suchte im Dunkeln nach dem Türknauf.
Du forderst es echt heraus, Mann.
Leise, um die anderen nicht zu wecken, schlüpfte Faust aus dem Zimmer, überwältigte den Unlehrsamen und hielt ihm sein Schwert an die Kehle. Der Kuttenträger grinste ihn aus glänzenden Augen an.
„Ich hab‘ ihn gesehen“, flüsterte er. „Schick mich zu ihm!“
„Mit dem größten Vergnügen.“
„Faust…“  Winter harrte bleich wie ein Gespenst auf der Türschwelle. „Bitte…“
Faust erschauderte bei ihrem Anblick. Doch er nickte. 
„Aber nicht hier“, murmelte er.
Er schlug sein Opfer bewusstlos, schulterte den schlaffen Körper und führte Winter aus der Spelunke am Styx in die toxische Zone. Das Gebiet rund um die Höllenfeuer-Akademie war verseucht von magischen Abgasen. Den Teufeln konnten die Schadstoffe nichts anhaben, doch für Menschen konnte der Aufenthalt hier lebensgefährlich werden, darum war dies wohl der einzige Ort in Mephistar, wo ihnen kein benebelter Kuttenträger über den Weg laufen würde. Faust und Winter waren dank Grims gesegnetem Abendmahl vor Vergiftungen geschützt. In einer unbelebten Gasse ließ er seine Last zu Boden sinken. Es gab keine Sonne, keinen Rhythmus von Tages- und Jahreszeiten in Baator. Von irgendwoher schien ein Licht, doch es war ein schwaches, milchiges Licht, das den Tag kaum erhellte und die Nacht nicht recht verhüllte. Eine eisige Brise wirbelte den Schnee zu ihren Füßen auf. Fröstelnd verschränkte Faust die Arme vor der Brust.
„Ähm… wie…?“
„Töte ihn langsam.“
Faust hätte einen sauberen, schnellen Tod durch das Schwert bevorzugt, doch um Winters Willen nahm er den Dolch. Röchelnd schlug das Opfer die Augen auf, doch schon war Winter über ihm, spinnengleich und lauernd wie ein Vampir. Etwas geschah mit seinem Schatten… ein Pulsieren, ein Anschwellen wie bei einer Geburt. Ein letztes Aufbäumen, dann brach ein Lichtball aus dem Schatten des Sterbenden. Danach war er schattenlos, wie leergesaugt.
Winter richtete sich auf. Ihre Augen waren Obsidiane, schwarz und pupillenlos. Ihr eigener Schatten wuchs hinter ihr zu etwas Monströsem an. Sie war so unbeschreiblich schön und so unbeschreiblich… abscheulich. Sie gehört hierher, dachte Faust, hier in diese unwirkliche Winterlandschaft. Er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten bei diesem Gedanken.
„Es tut mir leid… Du hättest das nicht sehen sollen.“
Er sah die Furcht in ihrem Blick. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er sie schon eine ganze Weile so anstarrte. Trotzdem konnte er den Blick nicht von ihr wenden. Wie jemand, der noch in einem Traum gefangen war. Sie hatte Angst, erkannte er, Angst, dass er sich von ihr abwenden würde. Zu wissen, was sie war, und es zu sehen, waren zwei Paar Schuhe… 
Vielleicht muss ich dich irgendwann töten. Seine Gedanken flossen zäh. Aber verdammt, Winter, ich werde dich NIEMALS verlassen.

Grimwardt
Schloss Mephistar, drei Tage später.
Trommelwirbel und düstere Chorgesänge begleiteten ihn, als er sich einen Weg zu dem Kampfkäfig bahnte. Er war nicht so gut vorbereitet wie er es gerne gewesen wäre. Um nicht seine wahre Identität preiszugeben, hatte er auf einige Gebete verzichten müssen, die ihm für gewöhnlich Kraft und Ausdauer verliehen. Auch sein Schild, den Tempus‘ Flammenschwert zierte, würde ihm hier eher hinderlich sein. 
Schließlich fiel das Käfiggitter hinter ihm ins Schloss und er stand dem Dämon aus seiner Vision gegenüber. Schaum hatte sich vor Emratephs Wolfsmaul gebildet und sein flammenumtanzter Körper bebte vor Zorn und Rastlosigkeit. Auf dem Schlachtfeld war er unzweifelhaft eine fürchterliche Erscheinung. Doch in Canias Kerkern war der entmachtete Tanar’ri-General täglich den Demütigungen seiner Baatezu-Peiniger ausgeliefert – kein Zweifel, dass er jede Gelegenheit ergreifen würde, alles in Fetzen zu reißen, was ihm zwischen die Klauen geriet. Oder besser: vor die Äxte. Er trug eine schwere Streitaxt, doch es war die kleinere Handaxt, der Grimwardts Aufmerksamkeit galt. Denn was in den Pranken des Dämons wie eine Parierwaffe wirkte, erkannte der Auserwählte des Tempus als Ambrosia, die Streitaxt des Standhaften! Die Waffe gab durch nichts zu erkennen, welche göttliche Macht ihr innewohnte, doch Grimwardt hegte keinen Zweifel, dass er am Ziel seiner Suche angelangt war.
Der Dämon wartete nicht einmal, bis der Käfig über den Köpfen der Zuschauer baumelte, ehe er sich brüllend und zischend auf Grimwardt stürzte. Bevor der Priester auch nur seine Waffe heben konnte, überzog er ihn mit einer wilden Serie von Bissen und Axthieben. Doch etwas lenkte jeden seiner Hiebe ab. Auch die Flammen, die seinen Körper umtanzten, konnten Grimwardt nichts anhaben, und das Schlangengift stießen seine Schutzzauber ab. Verblüfft taumelte der Dämon gegen das Käfiggitter und für einen Augenblick, sodass nur die beiden Kontrahenten es sehen konnten, flackerten die Runen auf Ambrosias Axtblättern auf. Grimwardts Mundwinkel verzogen sich zu einem grimmigen Lächeln. Tempus war also doch bei ihm! Selbst hier, selbst an diesem gottlosen Ort!
Der Eisengott hat dich geschickt, erkannte nun auch Emrateph. 
Rasend vor Zorn schmetterte er die verräterische Waffe von sich und zischte einen Bannspruch, um Grimwardts Schutzzauber zu bannen, doch gegen Tempus‘ schützende Hand kam er nicht an. Sein Wolfsgeheul war das letzte Aufbegehren eines Todgeweihten. In aller Zuversicht sammelte Grimwardt seine Kraft in einem einzigen Schlag. Ein beseelter Schlag mitten in das hasserfüllte Wolfsherz des Dämons. Ein zweiter Axthieb brachte das Schlangenherz zum Stocken. Ein weiterer Hieb und das Herz des Dämons zerbarst in einer Feuerexplosion, die Emrateph in Fetzen riss und Grimwardt krachend gegen die Gitterstäbe schleuderte. Er hörte Rippen splittern, doch der Triumph war größer als der Schmerz, als er Ambrosia endlich in Händen hielt. Er bezweifelte, dass ihm irgendwer die Trophäe streitig machen würde, denn in den Augen der Teufel war sie nichts als eine ganz hübsch gearbeitete, aber unmagische Waffe.
Doch die Freude währte nicht lange.
Die rituellen Gesänge, die mit Grimwardts Sieg ihren dramatischen Höhepunkt erreicht hatten, erinnerten ihn daran, was jetzt folgen würde. Während der Käfig zu Boden gelassen wurde, bildeten die Umstehenden einen Korridor, der zu dem Teufelsaltar in der Mitte des Saals führte, wo man von „Ikrem dem Hitzigen“ erwartete, dass er seinen Glauben unter Beweis stellte, ehe er zum Höllenfürsten von Cania vorgelassen wurde.
Winter, jetzt! übermittelte Grimwardt seiner Schwester das verabredete Signal. Um mit seinen Gefährten geheime Nachrichten austauschen zu können, hatte er sie vor dem Kampf mit einer telepathischen Kette verbunden. Sofort spürte er ihre Präsenz in seinem Geist, gab dem magischen Drängen nach und fühlte, wie er fortteleportiert wurde, während sein Körper zurückblieb. In Winters Gestalt sah er sich selbst dabei zu, wie er vor dem schwarzen Altar niederkniete. Von der Saaldecke hing auch dieses Mal ein Käfig mit einem Opfer – einem Elenden aus den Tiefen der canianischen Folterkammern. Er gab keinen Laut von sich, als sich ein fliegender Hornteufel dem Käfig näherte und ihm das Herz aus der Brust riss. Während sich das Blut des Toten über den Altar ergoss, wurde Winter das pulsierende Organ zum Verzehr gereicht. Zwischen jedem Bissen sagte sie eine Zeile des canianischen Glaubensgebets auf und der Chor antwortete ihr mit hundert Stimmen. Dem Priester wurde speiübel, als er sich selbst dabei beobachtete, wie er in der gehässigen Sprache Baators diesen schändlichen Spottgesang vom Stapel ließ. Den Wortlaut hatte Winter am Tag zuvor einem Teufelsanbeter entlockt, den sie magisch unter ihre Kontrolle gebracht hatte, um Informationen über den Ablauf des Kampfes zu erpressen. So hatte sie überhaupt erst von diesem Ritual erfahren und ihren Bruder davor bewahrt sein Seelenheil aufs Spiel zu setzen. Etwas, das Grimwardt ihr niemals vergessen würde…
Vergebt uns… Vergebt MIR, dass ich sie tun lasse, was ich nicht kann. 
Er war dagegen gewesen. Lieber hätte er sich gleich nach dem Kampf als Tempus‘ Auserwählter zu erkennen gegeben als DAS. Aber dann hätten sie ihre einzige Chance verpasst, an Mephisto heran zu kommen. Ohne seine Freunde wäre er niemals so weit gekommen. Nun konnte er sie nicht enttäuschen. Tempus würde das verstehen. Im Krieg war manchmal Mut, manchmal Listenreichtum gefragt und das hier war, in gewisser Weise, ein Krieg. Ein Seelenkrieg. Aber würden das auch die anderen Götter so sehen?
Nachdem das Ritual beendet war, kehrte Grimwardt in seine eigene Gestalt zurück. Keine Zeit, seiner Schwester ein Dankeschön zu übermitteln, denn schon wieder teilte sich die Menge – diesmal, um einem in teure Gewänder gehüllten Palastteufel Platz zu machen - allem Anschein nach ein hohes Tier. Grimwardt neigte demütig den Kopf, während der Höfling ihn kritisch in Augenschein nahm.
„Der Höllenfürst von Cania ist nun gewillt, Euch zu empfangen“, sprach er schließlich mit verschnupfter Eitelkeit. „Folgt mir, Ikrem, Diener der Schwarzen Hand.“
Großartig.
Er war ohne Zweifel der erste Auserwählte des Tempus, dem ein blasphemischer Ehrentitel verliehen wurde! Grimwardt bemühte sich nicht allzu laut mit den Zähnen zu knirschen und versprach Tempus sich bei nächster Gelegenheit einem dreitägigen Reinigungsritual zu unterziehen. 
„Verzeiht“, bat er den Höfling. „Ist es mir gestattet mich dem Herrn in Gesellschaft meiner Gefährten zu präsentieren? Zusammen könnten wir ihm von noch größerem Nutzen sein!“
… oder ihm sein verderbtes Herz aus der Brust reißen!
Faust, Winter, Tyrail und Miu traten vor und neigten vor dem Teufel die Köpfe. Um nicht in die Verlegenheit zu geraten, Miu tatsächlich zum Opferpräsent machen zu müssen, hatten sie der Ordensschwester zu diesem Anlass eine schwarze Kutte aufgezwungen. Grimwardt wusste nicht, was ihn mehr beunruhigte: die Tatsache, dass sie sich nicht einmal zur Wehr gesetzt hatte oder dass sie mit ihrem glasigen Blick mehr als jeder von ihnen dem Bild des fanatischen Teufelsanbeters entsprach…
„Das ist nicht im Protokoll vorgesehen“, erklärte der Teufel missfällig. Sein Blick wurde abwesend, als er Grimwardts Gesuch an seinen Herrn weiterleitete. „Hm.“ Die Antwort schien ihn zu überraschen. „Der Fürst erlaubt es.“
Sie folgten Mephistos Diener in die unteren Etagen des Eispalastes, die den sterblichen Besuchern nicht zugänglich waren. Nachdem sie mindestens ein Dutzend magisch gesicherter Türen passiert hatten, gelangten sie zu einem Portal.
„Der Fürst erwartet Euch am Seelensee.“
Grimwardt trat als erster durch den magischen Torbogen.
Die Berghalle war so groß, dass sie als Hort für eine ganze Drachengeneration hätte dienen können. Um den Seelensee, das Zentrum von Canias Macht, tummelten sich Mephistos Hofstaat sowie jene Festgäste, die es in den inneren Zirkel des Höllenfürsten gebracht hatten. Lustorgien und Saufgelage waren unzweifelhaft Teil des Festprogramms, doch zu seiner Verwunderung konnte Grimwardt weder schwarze Altare noch Opferkäfige oder kannibalische Festbüffets ausmachen. Er fragte sich, ob die Inszenierungen des Bösen, deren Zeuge er in den letzten drei Tagen geworden war, womöglich nur Mittel zum Zweck waren. Was war ein besserer Prüfstein für den blinden Gehorsam eines Untergebenen als die Aufgabe jeglichen Schamgefühls?
Mephistopheles saß, umgeben von seinen engsten Vertrauten, in einem Thron auf einer magisch verstärkten Eisscholle. Als er die Gefährten erspähte, gab der Höllenfürst einen Zauberbefehl, der die Scholle ans Ufer trieb. Er saß leicht vorgeneigt in neugieriger Erwartung mit halb geöffneten Hornschwingen, die den größten Teil seines scharlachroten Oberkörpers verdeckten. Die hohe Stirn des Höllenfürsten wurde von einem Paar mehrfach gedrehter Hörner beherrscht und seine goldenen Augen musterten die Neuankömmlinge mit amüsiertem Interesse. Im Großen und Ganzen versprühte Mephisto eher den Charme eines exzentrischen Dandys als die Aura eines dunklen Herrschers. Zu seinen Füßen hockte eine kleine Elfe mit bronzefarbenen Teufelsschwingen und blassrosa Augen – das musste das Halbblut sein, das Lady Baalphegor am liebsten als Wasserleiche sähe…. Grimwardt streifte sie nur mit einem flüchtigen Blick, ehe er den zweiten Halbteufel erspähte, der unbewegt mit verschränkten Armen im Schatten des Eisthrons harrte. Er war groß und muskulös mit pechschwarzen Hornschwingen, einer Phönix-Tätowierung, die sich von der Hüfte aufwärts schlängelte, und einem scharfen, skrupellosen Zug um die Mundwinkel.
Ist das…?
Der Schwarze Phönix, bestätigte Faust. Mein Vater.
Ein wüster Schwall konkurrierender Emotionen rumpelte durch Grimwardts Geist, der ihn die Idee mit dem telepathischen Band umgehend bereuen ließ. Er hätte es verstanden, wenn die emotionale Schockwelle von Faust gekommen wäre, doch irritierender Weise stammte sie von Winter!
Niemand fasst Antilia an!, meldete sich plötzlich auch noch Tyrail zu Wort. Gleich, was diese Teufelshure uns aufgetragen hat!
Antilia? Woher kennst du ihren…? Grimwardt fasste sich zähneknirschend an den pochenden Schädel. Bei Tempus‘ haarigen Eiern, bin ich hier der einzige, der NIEMANDEN KENNT?! Und jetzt raus aus meinem Kopf, alle miteinander und zwar plötzlich!
Er trat vor und sank vor Mephistopheles auf die Knie.
„Ikrem.“ Als der Höllenfürst die Stimme erhob, wurde es still in der Berghalle. Alle Augen waren auf Grimwardt gerichtet. „Der ganze Palast spricht von Eurem Kampf gegen den Dämon.“
„Ich bin nur ein Diener“, murmelte Grimwardt und hoffte, dass der Fürst sein Hüsteln als Zeichen der Demut deutete.
„Und was sind die Ziele meines treuen Dieners?“
„Mein Fürst….“ Er räusperte sich. „Es wäre mein größter Wunsch das Wesen Eurer Höllenfeuer-Magie zu studieren. Leider ist mir der Zugang zu Eurer Akademie verwehrt…“
„Interessant…“ Der Höllenfürst verzog die Mundwinkel zu einem mokanten Schmunzeln und strich mit seinen geschwärzten Fingernägeln bedächtig durch seinen Ziegenbart. „Wisst Ihr, Ikrem, die meisten meiner Diener hätten die Frage wohl mit einer Auflistung all jener Dinge beantwortet, die sie für mich tun können… Aber Ihr seid nicht wie die anderen, hm?“
„Alles, was ich tue, dient meinem Herrn.“
Mephisto lachte leise und es klang wie das Klirren eines Eisdolchs, der über dem Kopf eines Arglosen zitterte.
„Das ist wohl wahr, Grimwardt Fedaykin, Auserwählter des Tempus.“ Plötzlich war es so still, dass man das Schneeknistern der Wände hören konnte. Mit eisig sanfter Stimme fuhr der Höllenfürst fort: „Bleibt lieber bei Eurer Axt, Grimwardt. Die Maske des fanatischen Eiferers steht Euch nicht.“
„Tempus sei Dank“, brummte der Priester mit grimmiger Erleichterung. Noch mehr Schleim und er hätte sich vor Ekel übergeben!
„Das war Blümchen, diese kleine Ratte!“, zischte Faust gedämpft. 
„Glaubt Ihr wirklich, ich sei auf die Spione meiner Feinde angewiesen, um ein paar Seelenräuber zu entlarven, die sich in mein Nest schleichen wollen?“ Genüsslich lehnte sich Mephisto in seinem Thron zurück und schnippte mit dem Finger: „Ares! Erledigt das. Ihr habt doch keine Einwände?“ Wieder dieses Eisdolch-Grinsen.
Grimwardt starrte ihn verblüfft an. Wenn er Fausts Spitznamen für Baalzebuls Informanten kannte, dann wusste er alles! Er wusste von Omegas Seele, von dem Pakt mit dem Herrn der Lügen, von Fausts Suche nach seinem Vater… Und er hatte es die ganze Zeit gewusst und sich ins Fäustchen gelacht, während er, der Auserwählte des Tempus, sich als „Ikrem der Hitzige“ zum Narren gemacht hatte! Und nun besaß dieses Kerlchen die Dreistigkeit sich zurückzulehnen und Ares zu befehlen seinen Sohn zu töten! Als Höhepunkt der Schau. Als Teil eines höfischen Intrigenspiels. Dieser geschniegelte Lackaffe hatte nicht mal den Anstand sich ihnen persönlich im Kampf zu stellen!
Grimwardts Zornader pochte ganz gewaltig.
Ein Zauber ließ ihn zu heldenhafter Größe anschwellen und im nächsten Augenblick stürmte er auf Mephistopheles zu. Eine mentale Barriere ließ ihn zurückprallen.
Plötzlich erkannte der Priester, dass hier etwas nicht stimmte.

Faust
Er spürte den Zeithubbel – eine kaum merkliche Unebenheit im Zeitfluss – und nutzte die Gelegenheit, um sich in Ares‘ Zeitstarre hinein zu mogeln.
„Gibt es irgendetwas, das du mir sagen willst?“
Ares fuhr zusammen, während die Welt um sie herum zum Stillstand kam. Doch sofort hatte er sich wieder im Griff. Hinter seiner düsteren Konzentration spürte Faust Anspannung und Zorn.
„Wärst du früher gekommen, hätte ich gesagt: Mach, dass du hier verschwindest!“, sagte er gepresst. „Aber dafür ist es zu spät. Also lass es einfach geschehen.“
Faust stieß ein bitteres Lachen aus.
„Also was?“, knurrte er. „Bist du ein guter Hund und führst den Befehl deines Herrn aus?“
Zur Antwort begann Ares einen Zauber zu weben. Faust hatte schon viele Verstärkungszauber gesehen, die Menschen in übernatürliche Kampfmaschinen verwandelten; die meisten beherrschte er selbst. Doch keinen, der den Wirker zu Titanengröße anwachsen ließ! Ares breitete die Flügel aus, die in dieser Gestalt den gesamten Seelensee überspannten, und schwang sich in die Lüfte, da die Eisscholle unter seinem Gewicht zerbrechen würde, sobald die Zeitstarre endete. Dann zog er ein Schwert von der Länge eines Eisenwalls, dessen Klinge von schwarzen Flammen umtanzt wurde.
Faust schluckte heftig und nutzte den Rest der Zeitstarre, um sich eiligst selbst mit Flug- und Kampfzaubern zu versorgen. Mit einem einzigen gut gezielten Schwertstreich konnte Ares ihn und all seine Gefährten zweiteilen! Und durch die Zeitstarre hatte er alle Gunst auf seiner Seite, denn seine Riesengestalt würde die anderen völlig unvorbereitet treffen. Faust schloss die Augen. Sein einziger Vorteil war seine Schnelligkeit: Die enorme Größe machte den Halbteufel schwerfällig und die Berghalle begrenzte seine Manövrierfähigkeit.
Mit dem Schwert voran preschte Faust in die Höhe, kaum dass die Welt wieder begonnen hatte, sich um ihn zu drehen. Brüllend hielt er auf das Herz seines Vaters zu, doch die stählerne Brust des Halbteufels widerstand dem Großteil seiner schmetternden Hiebe. Aus dem Augenwinkel sah Faust, wie die Flammenklinge wie ein Henkersbeil auf ihn zuraste.
Er ließ sich fallen.
Dieser Wucht hatte er nichts entgegenzusetzen; allein der Fall konnte ihn retten. Doch er fiel nicht schnell genug. Die Riesenklinge schnitt durch sein Schulterblatt wie durch Papier und versengte seine rechte Körperhälfte mit Höllenfeuer.
Er stürzte in bodenlose Dunkelheit.
Heilender Schmerz holte ihn in die Wirklichkeit zurück.
„Miu…“
Sie war zu tief in ihr Heilgebet versunken, um sein Krächzen zu hören. Sein zerschmetterter Körper protestierte mit Schüttelkrämpfen gegen ihre Resolution, ihn wieder zusammenzuflicken, doch irgendwo hinter dem Nebel aus Schmerz wollte Faust sie vor Erleichterung durch die Luft wirbeln. Er hatte seine Miu wieder! Gut, er hatte sich zu Brei schlagen lassen müssen, um sie aus ihrer Lethargie zu reißen, aber sie war wieder die alte! 
Doch da war immer noch… Ares! Abrupt wurde er von einer Welle kalter Wut überschwemmt. Er hätte ihn getötet! Zu Mephistos Erheiterung hätte sein Vater ihn zu Fleischpastete verarbeitet! Und warum? Um seine eigene Haut zu retten? Um…?
Keine Warums mehr.
Stolpernd kam Faust auf die Füße und umklammerte Zwiespalts Schwertheft so fest, dass es schmerzte. Über ihm hatte der Kampf seinen Lauf genommen: Grimwardt und Tyrail hatten den Halbteufel fliegend in die Zange genommen, während Winter verbissen Bannzauber um Bannzauber nach ihm warf. Sie hatte Ares bereits um einen Großteil seines magischen Schutzes gebracht, doch den Titanenzauber hatte sie nicht knacken können. Die Kampfszene wurde von einem düsteren Schlachtenlied untermalt, das Mephistos Geliebte zu dessen Unterhaltung angestimmt hatte. Antilias Stimme beschrieb einen dramatischen Gesangsbogen, als Tyrail in einem Augenblick der Unachtsamkeit von Ares‘ Klinge durchbohrt wurde. Leblos glitt der Elf von der Flammenklinge und stürzte dem Seelensee entgegen.
Zeitgleich schoss Faust in die Höhe.
Dicht an den Körper des schwebenden Halbteufels gepresst, sodass er ihn nicht treffen konnte ohne sich selbst zu verletzten, glitt er sein Rückgrat hinauf; wurde schneller und schneller, bis er die Schultergegend erreicht hatte. Ohne seinen rasanten Flug zu bremsen, stieß er zu und schlitzte ihn schneller auf, als Ares seine Wunden regenerieren konnte. Abrupt wirbelte der Halbteufel herum und ein schmetternder Flügelstreich verfehlte Faust um Haaresbreite. Doch nun hatte er seinen Gegner genau dort, wo er ihn haben wollte. Seine ungeschützte Kehle war keine zwei Meter von Zwiespalts Schwertspitze entfernt. Farbensprühend stob die Chaosklinge durch zähes Gewebe.
Ein Ausdruck düsterer Konzentration trat in Ares‘ Augen, während Blutfäden ein Muster rings um seine aufgeschlitzte Kehle zeichneten. Dann wurden sie plötzlich kalt und hart und schwarze Flammen fraßen sich durch die Phönix-Tätowierung auf seiner Brust. Im nächsten Augenblick implodierte der riesige Körper des Halbteufels zu einer schwarzen Kugel, die alles um sie herum in ihren Sog zog. Dann zerbarst die Kugel in einem Hagelsturm aus Höllenfeuer-Federn, die sich wie brennende Dolche unter Fausts Haut gruben und ihn in die Tiefe rissen. 
Der Schwarze Phönix…
Prustend tauchte er aus dem Seelensee auf und stählte seinen Geist gegen die erinnerungsraubende Macht des Styxwassers. Als er sich keuchend an Land zog, stieß er auf Winter, die den bewusstlosen Tyrail aus dem See gerettet hatte. Er folgte ihrem Blick und traf auf Mephistopheles, der seine Fingernägel mit wachsender Verärgerung in die Eislehnen seines Thronsessels grub. Die kleine Bardin harrte zitternd hinter ihm.
„Enttäuschend“, murmelte er. „Wirklich enttäuschend, Ares.“
Der Thron hatte begonnen unter dem Zorn des Höllenfürsten zu schmelzen.
„Amüsiert Ihr Euch?“, knurrte Faust und trat wankend auf ihn zu.
Mephisto sprang auf. Seine Goldaugen hatten Feuer gefangen und der Thron war bloß noch eine dampfende Pfütze. Und während Mephistos Höllenfeuer die Eisscholle schrumpfen ließ, legte sich eine eisige Klaue um Fausts Herz. 
Er keuchte auf.
Etwas war falsch. Mephisto war nicht mehr er selbst… Es lag keine Illusion auf ihm. Es war auch nicht so, dass er sich plötzlich verwandelte. Trotzdem spürten es alle, die in dieser Halle versammelt waren. Er sollte jemand anderes sein. Er sollte…
Asmodeus.“
Grimwardt hatte es ausgesprochen und der gesamte Hofstaat hielt den Atem an.
„Asmodeus ist nicht mehr“, erwiderte der Höllenfürst, während er seinen Ranseur auf sie richtete. In Fausts Geist schwoll er zu etwas Monströsem an. „Ich bin der Herr der Neun Höllen.“
Die Eisklaue um Fausts Herz drückte zu und er ging keuchend in die Knie. In hilflosem Entsetzen sah er zu, wie Winter und Miu leblos zusammenbrachen. Erst als Grimwardt ihn an der Schulter berührte, erwachte er aus seiner Starre und ließ sich von dem Priester auf die Füße helfen. Er wagte es nicht, Grimwardt in die Augen zu sehen aus Furcht, seine eigene Verzweiflung in dessen Augen zu sehen. Gemeinsam stürmten sie los.
In den sicheren Tod.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 01. März 2012, 15:54:33
Oh man, ich hasse die Hölle! ;)
Wie immer sehr schön! Zeigt sehr gut, wie klein wir uns irgendwann aufeinmal gefühlt haben und wie sehr die Gruppe inzwischen zusammengeschweißt ist, trotz aller Differenzen.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 02. März 2012, 17:53:34
Tolles Kapitel!
Finde Grims inneren Zwispalt besonders ausdrucksstark dargestellt. Ganz großes Kino!
Ich hasse die Hölle auch. Und rote Kleider... *brrrr*
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 08. März 2012, 07:32:34
Kapitel V: Fünfzehn Jahre

Grimwardt
Am nächsten Morgen in der Abtei des Schwertes.
Der erste Sonnenstrahl des anbrechenden Tages kitzelte ihn, als er sich in der Rüstung brach, die frisch poliert auf dem Schreibpult in seinem Arbeitszimmer ruhte. Schmatzend wälzte er sich auf die andere Seite und kuschelte sich in die weichen Kissen…
Die weichen Kissen?!
Mit einem Ruck fuhr Grimwardt auf.
„Borgo!“
Der Zwerg, der die Nacht auf dem Wolfsfell vor dem Kamin verbracht hatte, erwachte mit einem Grunzen.
„Wieder unter den Lebenden?“, brummte er.
„Seit wann besitze ich weiche Kissen?“
„Tja…“ Borgo fuhr sich verlegen über den kahlen Schopf. „Wisst Ihr, unter Sir Silas‘ Herrschaft… Ach, bei den Neun Höllen, Grimwardt! Ich schlafe hin und wieder in Eurer Kammer, wenn Ihr fort seid, und ich bin alt und mir sitzt die Gischt in den Knochen. Da habe ich mir ein klein bisschen Bequemlichkeit verdient, sapperlot!“  
„Bei den Neun Höllen“, wiederholte Grimwardt abwesend und mit einem Mal fiel ihm alles wieder ein… alles, bis zu dem Punkt, an dem Mephistopheles ausgeholt hatte, um ihn ins Jenseits zu befördern. „Borgo, wie bin ich hierhergekommen?“
„Das wüsste ich auch gerne“, brummte der Zwerg. „Einer der Nachtwächter fand Euch gestern Abend mehr tot als lebendig vor den Toren der Abtei. Meinte, ihr wärt plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht.“
„Und die anderen?“
„Welche anderen?“
„Winter, Faust… meine Gefährten!“
„Es war niemand bei Euch.“
Fieberhaft irrte Grimwardts Blick durch den Raum auf der Suche nach einer Erklärung… Seine Ausrüstung! Eilig inspizierte er die Gegenstände, die Borgo fein säuberlich auf dem Tisch aufgereiht hatte. Ambrosia, seine Rüstung, sein Schild… alles da! Warum hätte Mephistopheles ihn mitsamt seiner Schätze zurückschicken sollen? Irgendwer musste ihn und seine Gefährten gerettet und nach Hause gebracht haben. Nach Hause… Nun, Winters Zuhause war während der Zauberpest im Meer versunken und falls Faust ein Zuhause hatte, dann vermutlich… die Neun Schwerter!
„Borgo, ich brauche ein Pferd!“
„Zum Reiten?“
„Nein, zum Melken! Natürlich zum Reiten!“
„Ich meine ja nur, wenn Ihr es eilig habt, könntet Ihr auch den Magier bitten Euch zu teleportieren.“
Grimwardt hob eine Augenbraue. „Wir haben einen Magier?“
„Na, den Kerl, den Ihr in Rabenklippe bestellt habt. Meister Toibin.“
„Hmpf.“ Er hatte schon nicht mehr daran geglaubt, dass sich die Schlafmützen vom Orden der Mystischen Flamme bei ihm melden würden. „Na, worauf wartest du, bring ihn her! Oder scheuch dafür einen unserer Rekruten aus dem Bett!“
Borgo deutete ein Nicken an.
„Aber, Grimwardt… Beurteilt ihn nicht nach dem ersten Eindruck. Er mag nicht viel hermachen, aber er versteht was von seinem Handwerk.“
Als kurz darauf ein dürrer, sommersprossiger Morgenmuffel barfuß mit Schlafmütze ins Zimmer schlurfte, lernte Grimwardt diesen Hinweis zu schätzen. Der Zauber gelang jedoch tadellos und so klopfte er keine fünf Minuten später an die Tür des Hades’chen Anwesens.
„Grimwardt Fedaykin.“ In voller Rüstung erschien der Hausherr zu dieser frühen Stunde auf der Türschwelle. „Euer Begleiter trägt noch sein Nachtgewand. Das zeugt von mangelnder Disziplin.“
Sofort stand Meister Toibin stramm wie eine Eins.
„Ist Faust hier?“
„Bedauerlicher Weise nicht. Seine Freilassung geschah widerrechtlich und wurde bereits geahndet.“
„Hades, Ihr müsst mir einen Gefallen tun.“
„Ich bezweifle, dass ich dazu verpflichtet bin, aber wenn Ihr mir den genauen gesetzlichen Rahmen…“
„Ihr müsst Faust und meine Schwester für mich aufspüren. Wir hatten keine Chance. Mephistopheles hat Asmodeus getötet. Ich schätze, das macht ihn zu einem höheren Gott. Wir müssten tot sein. Aber ich bin hier, also müssen auch die anderen noch am Leben sein.“
Hades musterte ihn eindringlich.
„Ihr seid verrückt“, urteilte er schließlich.
„Bitte?!“
„Wahnsinn ist für gewöhnlich die einzige Erklärung dafür, dass ein Mann ohne Sinn spricht, ohne zu lügen.“
„Ihr haltet mich für verrückt?!“
„Das ist korrekt.“
Notiz an mich selbst: Stelle Hades nie wieder eine rhetorische Frage!
Zähneknirschend ließ er den Richter stehen und machte sich auf die Suche nach Elijas. Er fand den Schwertmagier in seiner verwinkelten Dachstube, wo er allem Anschein nach an der Entwicklung eines Zaubers arbeitete. Als er Grimwardt erblickte, erbleichte er.
„Was ist schiefgegangen?“, fragte er leise.
„Erst muss ich wissen, wo Faust und Winter stecken.“
Elijas verlor keine Zeit und machte sich sofort auf die Suche nach Komponenten für einen Aufklärungszauber, doch er kam nicht mehr dazu, den Zauber zu wirken. Plötzlich begann die Luft zu flirren und eine Kreatur mit pechschwarzen Flügeln materialisierte sich in der Mitte des Zimmers.
Ares!
Während Grimwardt noch seine Axt zückte, spürte er einen schneidenden Luftzug, gefolgt von singendem Metall. Der Schwarze und der Grüne Phönix. Der Halbteufel beantwortete Elijas‘ Blitzattacke mit einem prismatischen Schutzschild, der den Gegner geblendet zurücktaumeln ließ und Boden und Zimmerdecke ansengte. Dann wandte er sich unbeeindruckt an Grimwardt: „Ihr solltet mit mir kommen. Ich habe Eure Schwester.“

Winter

Mephistar, Achter Höllenkreis, am Abend zuvor.
Sie erwachte in einem Himmelbett aus Eis. Irgendein Zauber verhinderte, dass sie vor Kälte erfror. Trotzdem packte sie das kalte Grauen, als sie erkannte, wo sie war. Eine Weile blieb sie mit geschlossenen Augen liegen und wartete, bis ihr Herzschlag sich beruhigt hatte. Als sie es nicht länger hinauszögern konnte, zwang sie sich schließlich zum Aufstehen. Dabei verhedderte sich ihr Kleid am Fuß des Bettes.
Ihr Kleid?!
Sofort kehrte das Herzrasen zurück. Es war aus hauchzarter roter Elfenseide und schien nicht dazu zu dienen, irgendetwas zu verhüllen. Und wenn sie sich vorstellte, auf welche Art es an ihren Körper gelangt sein musste… Panisch blickte sie sich um: das Bett, ein Nachttisch, ein Eisspiegel, ein vergittertes Fenster. Keine Spur von ihren eigenen Sachen. Mit bebenden Lippen sprach sie einen Teleportationszauber, doch sie kam nicht einmal bis zur zweiten Silbe. Ein mentaler Befehl hieß sie innehalten.
Ihr wollt uns doch nicht schon wieder verlassen, Winter? Das kann ich als Gastgeber wirklich nicht verantworten. Ihr würdet erfrieren, wenn Ihr in dieser Gewandung die schützenden Mauern des Palastes verließet.
Flüchtig streifte sie eine fremde Erinnerung. Schwarze Fingernägel, die über ihren Körper glitten, während Mephisto ihr das rote Kleid überstreifte.
Winter biss die Zähne zusammen.
„Was wollt Ihr?“, fragte sie mit dünner Stimme.
Diese Art der Unterhaltung ist doch sehr unpersönlich… Warum kommt Ihr nicht herunter in den Speisesaal? Ihr müsst am Verhungern sein.
Nicht dass sie eine Wahl gehabt hätte. Ihre Beine schienen ihr über Nacht untreu geworden zu sein. Zielstrebig trugen sie Winter durch vereiste Korridore und kalte Hallen. Sie versuchte sich den Weg einzuprägen, gab jedoch schon nach kurzer Zeit auf. Der Palast war einfach zu groß. Nach einer Viertelstunde hielt sie vor einer Doppeltür an. Ihr graute davor, den nächsten Schritt zu tun, doch wieder blieb ihr keine Wahl.
Die Speisetafel war ganz offenbar für mehr Leute gedacht als die vier einsamen Gestalten, die an ihrem Kopfende saßen.
„Winter, Ihr seht bezaubernd aus!“
Mephistopheles erhob sich mit sardonischer Ehrerbietigkeit und setzte sein charmantestes Eisdolch-Lächeln auf, während er sie zu dem Platz zu seiner Rechten dirigierte. Lady Antilia zu seiner Linken musterte sie mit einer Mischung aus Beunruhigung und Abwertung. Neben ihr harrte Tyrail, der noch schlechtere Laune zu haben schien als sonst. Hatte er etwa die Seiten gewechselt? Soweit Winter das beurteilen konnte, bedachte er die Teufel mit derselben Verachtung, die er jedem Nichtelfen entgegenbrachte. Nur wenn Antilias Arm den seinen streifte, durchfuhr ihn ein Schaudern und eine Erinnerung ließ seine Mundwinkel zucken.  
Der Vierte war Lord Ares. Winter klopfte das Herz bis zum Hals, als ihre Blicke sich trafen. Er sah jünger aus als der Seelenmagier, den er ihr in der Wüste vorgespielt hatte. Offenbar war er nicht gealtert, seitdem Mephistopheles ihn in einen Halbteufel verwandelt hatte.
„Nun, da wir alle versammelt sind, lasst uns anstoßen“, leitete der Herr des Hauses die Mahlzeit ein. „Auf Eure Seele, Winter!“
Winter hatte schon lange nichts mehr gegessen, trotzdem rührte sie die üppigen Speisen, die Mephisto auftischen ließ, nicht an. Sie glaubte nicht, dass er ihr Gift unterjubeln wollte. Doch wer wusste schon, woraus diese Pasteten gemacht waren…  Und wo waren Grim, Faust und Miu? Ihr Blick glitt zurück zu den Pasteten und nun wurde ihr wirklich übel. Bildete sie sich das nur ein oder geisterte da plötzlich ein finsteres Lachen durch ihre Gedanken?
„Schluss damit“, flüsterte sie gepresst. „Was wollt Ihr von mir?“
„Nichts, was nicht ohnehin schon mir gehört“, erwiderte der Höllenfürst. „Alles, was ich möchte, ist, dass wir es offiziell machen.“
Winter sah erstaunt auf. Ihr Blick wanderte zu Lord Ares.
„Er hat sich mir nicht offenbart. Darum ist der Pakt nicht endgültig, nicht wahr? Noch habe ich eine Chance. Zwingen könnt Ihr mich nicht, denn Euer dreckiges, kleines Geschäft funktioniert nur, wenn ich Euch meine Seele aus freien Stücken überschreibe.“ Sie lachte leise. „Ich werde sicher nichts unterzeichnen!“
Sein Lächeln gefror. Mit einer Handbewegung schickte er die anderen aus dem Raum. Dann erhob er sich und schlenderte betont langsam die Tafel entlang. Seine Fingernägel kratzten nervenaufreibend über die eisglatte Oberfläche.
„Ihr irrt Euch, Winter“, sprach er. „Euer Schicksal ist besiegelt. Die Frage ist nur, ob Ihr es an meiner Seite oder in den Wassern des Styx erfüllen wollt. Die Rituale, die Opferungen, der Seelenkrieg….“ Er schüttelte den Kopf. „Das ist Asmodeus‘ Werk, nicht das meine. Für ihn wart ihr nur Mittel zum Zweck, um den Göttern eins auszuwischen. Ich kann Euch so viel mehr bieten, Winter. Schaut Euch Ares und Antilia an. Keine Sklaven, sondern meine engsten Vertrauten!“
Winter verschränkte fröstelnd die Arme, als sie seinen schwefligen Atem in ihrem Nacken spürte.
„Ares‘ Sohn und die Karaturianerin sind tot.“
Das kam so unvermittelt, dass es sie wie ein Dolchstoß aus dem Hinterhalt traf. Winters Herz verkrampfte sich.
„Doch Euer Bruder lebt. Ich ließ ihn gehen, weil seine Seele bereits an einen anderen Herrn gebunden ist. Euer kleines Geheimnis habt Ihr immer gut vor ihm verborgen, nicht wahr? Es wäre doch eine Schande, wenn er nun trotz aller Bemühungen dazu gezwungen würde, die schwerste Entscheidung seines Lebens zu treffen… Und was würde eure tugendhafte Tochter sagen, wenn sie wüsste, welcher Quelle Ihr Eure dunkle Magie verdankt?“
„Ich glaube nicht, dass es ihren Hass noch steigern könnte“, erwiderte Winter düster. „Und nun lasst mich gehen! Eure Bemühungen sind vergeblich!“
Ein mentaler Befehl fesselte sie an ihren Stuhl. Sie keuchte auf. Doch nichts geschah. Statt des erwarteten Angriffs spürte sie, wie er sich von ihr entfernte.
„Also schön, Winter. Geht zurück auf Euer Zimmer. Sehen wir, wie Ihr in ein paar Wochen über diese Sache denkt…“
… wenn der Seelenhunger Euren Geist vernebelt.
Als ob sie diese Drohung gebraucht hätte, um daran erinnert zu werden, wie sehr sie ihm ausgeliefert war! Wieder fanden ihre Füße den Weg von selbst, doch diesmal sträubte sie sich nicht. Sie wusste, sie konnte ihn nicht aussperren. Trotzdem schlug sie die Tür hinter sich zu, ehe sie sich schluchzend auf das Bett in ihrem vereisten Gefängnis warf. Sie wollte nicht an Faust und Miu denken, nicht solange er in ihren Gedanken war. Vielleicht hatte er ja gelogen… Vielleicht gab es noch Hoffnung.
Plötzlich senkte sich magische Dunkelheit über den Raum. Ein Flügelschlag, dann spürte Winter eine Hand auf ihrer Schulter und die Luft begann zu vibrieren.
„Ich bringe Euch hier fort“, sagte Ares. „Wenn Ihr es zulasst.“
Ihr blieben nur Sekunden, um eine Entscheidung zu fällen. Der Halbteufel hatte ihr Leben zerstört, doch im Moment hätte sie alles getan, um dem Kerl zu entkommen, der ihr diesen grässlichen Fummel übergezogen hatte wie einer leblosen Puppe! Dann spürte sie einen stechenden Schmerz hinter der Stirn: Mephisto, der einen Wirbelsturm in ihren Gedanken entfesselte, als er erkannte, was los war. Das gab den Ausschlag. Hastig gab sie dem magischen Drängen des Dimensionszaubers nach, ehe der Höllenfürst ihr befehlen konnte, zu bleiben.
Sie sprangen ins Ungewisse.
„Schließt die Augen! Er sieht alles, was Ihr seht!“
Winter gehorchte und wehrte sich auch nicht, als Ares ihr in Windeseile eine Augenbinde anlegte und sie mit Händen und Füßen an einen Stuhl fesselte. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Es war wärmer als in Mephistos Palast und sie umgab eine angenehme Stille.
„Wir sind nicht mehr in Baator“, erklärte Ares. „Mephistos göttlicher Blick kann Euch außerhalb seines Reiches nicht orten. Außerdem liegt ein Dimensionsbann über diesem Ort, falls er Euch befehlen sollte, fortzuteleportieren… Ihr seid im Moment ein lebendes Ortungsgerät und ich bin ein erhebliches Risiko eingegangen, indem ich Euch hergebracht habe, denn er weiß jetzt, dass ich ihn verraten habe. Das Spiel hat begonnen.“
 „Könnt Ihr seinen Zauber nicht bannen?“, knirschte Winter, die unter Mephistos mentalem Wutausbruch Schmerzen litt.
„Ich kann seine Magie nicht kontern“, erwiderte Ares. „Ich habe die arkanen Künste bei den Wu Jen von Shou Lung erlernt. Zauber, die ihre Macht nicht aus den fünf Elementen schöpfen, sind mir verwehrt… Ich hole Hilfe. Versucht an nichts Bestimmtes zu denken, während ich weg bin. Lange werden meine Schutzvorkehrungen ihn nicht von hier fernhalten.“
Winter nickte.
„Wartet…“, bat sie, ehe er ging. „Faust und Miu… Ist es wahr? Sind sie tot?“
Der Halbteufel zögerte.
„Nein“, sagte er und wandte sich zum Gehen. „Schlimmer.“

Faust
Hallen des Schmerzes, Achter Höllenkreis.
Er hatte sich an einen Ort tief in sich selbst zurückgezogen, wo er den blutigen, krampfenden Klumpen, der einmal sein Körper gewesen war, nur noch aus dumpfer Entfernung wahrnahm. Zu Anfang hatte er die Zähne zusammengebissen, um nicht vor Schmerz aufzubrüllen. Inzwischen wusste er nicht einmal mehr, ob die Schreie, die gelegentlich zu ihm durchdrangen, von ihm oder einem der anderen Gefangenen stammten.
Plötzlich wurde er von der stechenden Giftwolke eines ekelerregenden Parfums eingehüllt. Der Schock katapultierte ihn zurück in seinen Körper und der Schmerz raubte ihm für kurze Zeit das Bewusstsein.
„Na, du bist mir aber ein strammer Bursche“, flötete die fette Tunte, die sich ihm als Kerkermeister Ahriman vorgestellt hatte, und tätschelte ihm die Wange. „Das ist genug für heute, wir wollen ja nicht, dass du uns gleich am ersten Tag abnippelst.“
Ein bleichgesichtiger Schmerzteufel bediente einen Hebel, der die mechanische Folterkonstruktion zum Stillstand brachte. Widerhaken rissen Hautfetzen mit, als sie sich aus seinem Körper zurückzogen, rotierende Schrauben hinterließen klaffende Löcher und Metallklauen, die ihn an den dehnbaren Rahmen der Konstruktion gefesselt hatten, entließen ihn abrupt aus ihrem Griff. Zwei weitere Folterknechte fingen ihn auf und zerrten ihn auf einen Stuhl, der dem Foltergerät zugewandt war. Wieder schlossen sich Metallringe um seine Arme.
Faust wollte etwas sagen, doch stattdessen ergoss sich ein blutiger Schwall aus seinem Mund.
„Lasst mich raten…“, krächzte er. „Jeden Tag ein bisschen länger und irgendwann bricht jeder?“
„Kluges Herzchen“, lobte der Kerkermeister. „Doch ich glaube, du gehörst zu der Sorte, die einen ganz besonderen Anreiz braucht.“ Er schenkte ihm ein anzügliches Grinsen und klatschte zweimal kurz in die Hände. „Auf, auf, bringt sie rein!“
Faust schloss mutlos die Augen, als Miu in die Folterkammer geführt wurde; ihr Körper unerträglich blass und rein gegen den blutverschmierten Hintergrund. Als die Teufel sie packten und in den Metallrahmen spannten, verkrampfte sich seine Eisenhand – der einzig intakte Teil seines Körpers - so schmerzhaft um die Stuhllehnen, dass ihm schwindelte. Er wollte sich abwenden, doch Ahriman packte sein Kinn mit seinen fettigen Wurstfingern und zwang ihn hinzusehen.
„Ah-ah-ah, du willst dir dieses Spektakel doch nicht entgehen lassen“, maulte er gekränkt. „Sie ist der Hauptakt, Herzchen!“
Er blickte Miu in die Augen. Die würden sie ihr nicht ausstechen. Geblendet war das Grauen der Kerker schließlich nur halb so entsetzlich... Nie in seinem gottlosen Leben war Faust näher davor gewesen, die Götter anzuflehen; sie zu bitten, Miu das Bewusstsein zu rauben, ehe sie ihr Schweigegelübte brechen konnte.
Halte durch, Miu.
Der Folterknecht legte den Hebel um.
Sie klammerte sich an seinen Blick wie eine Ertrinkende an einen Holzscheid. Hacken, Schwerter und Schrauben fraßen sich wie hungriges Getier durch ihren Körper. Doch sie schwieg. Totenbleich und reglos wie in Stein gemeißelt schleuderte sie ihren Peinigern ihren stummen Protest entgegen. Faust ließ ihren Blick nicht los, wagte es kaum zu blinzeln. Fast eine Stunde harrten sie so aus, bis der unbeugsame Funke in ihren Augen erlosch und Ohnmacht sie erlöste.
Stille.
„Amüsant“, befand Ahriman schließlich, zog dabei jedoch eine pikierte Schmolllippe, als ob Mius Triumph etwas Anstößiges sei.
Faust schloss erschöpft die Augen. Dann lachte er leise. Es tat höllisch weh, aber diesen kleinen Ausdruck des Stolzes konnte er sich nicht verkneifen. Der Kerkermeister warf ihm einen verärgerten Blick zu. Dann schlug er ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Als Faust noch immer weiterlachte, schlug er noch einmal zu. Und noch einmal. Wie ein trotziges kleines Kind. Faust hörte nicht auf zu lachen, bis ihn die Dunkelheit umfing.
Aufwachen ist keine gute Idee, war sein erster Gedanke, als er die Augen wieder aufschlug.
Es war dunkel und kalt in der kleinen Zelle. Ein vergittertes Türfenster, das auf den fackelerleuchteten Flur hinausging, war die einzige Lichtquelle. Nur schemenhaft erkannte er Miu, die neben ihm kniete und seine Wunden mit Wasser benetzte – wie er sie kannte, hätte sie dafür auch ihre letzte Ration Trinkwasser gegeben. Heilen konnte sie ihn nicht, denn die eisernen Sklavenringe, die sie beide um den Hals trugen, unterdrückten alle Art von Magie. Faust wollte sich aufsetzen, doch sein pochender Schädel schien nicht viel von dieser Idee zu halten.  
„Bleib liegen“, sagte Miu so leise, dass er erst glaubte, er hätte sich verhört.
„Du sprichst!“ Verwundert sah er zu ihr auf und erst jetzt erkannte er, dass sie unversehrt war. Schmutzkrusten bedeckten ihren nackten Körper, doch sie schien nicht einen einzigen Kratzer zurückbehalten zu haben. Eilig wandte er den Blick ab, bevor sie falsche Schlüsse ziehen konnte. Nicht, dass er sich nach der Folter sicher gewesen wäre, dass er bestimmte Körperteile überhaupt noch besaß… Lieber nicht dran denken.
„Warum, Miu?“, fragte er. „Du hast keinen Ton von dir gegeben. Du hast mir einen Mordsschrecken eingejagt, aber, verdammt, du hast nicht mal gezuckt! Meister Schwabbelbacke hat sich fast ins Knie gepisst vor Wut. Also warum hast du dein Gelübde gebrochen?“
„Es spielt keine Rolle“, murmelte sie. „Mein Schweigegelübde ist nicht das einzige, das sie mich zwingen werden zu brechen. So ist wenigstens das meine eigene Entscheidung.“
„Naja, ich bin auch nicht gerade scharf drauf, zu erfahren, wie’s in den Gedanken der fetten Tunte so aussieht.“ Ächzend setzte er sich auf und lehnte den Kopf gegen die kalte Wand. „Hör mal, Miu, ich weiß, im Moment sitzen wir ziemlich in der Scheiße. Aber du kennst mich doch… Ich bring‘ uns wieder hier raus.“
Du kommst sicher wieder hier raus.“ Ihr Blick glitt mutlos über die Wände. „Du bist der Auserwählte.“
„Ach, inzwischen denke ich, das ist Schwachsinn. Niemand hat mich auserwählt. Ich habe immer selbst meinen Weg gewählt.“
„Das ist nicht ganz wahr… Kennst du die Geschichte deines Schwertes?“
„Die Legende der Schwerter Hass und Liebe? Ja, Omega erzählte sie mir vor langer Zeit.“
Sein Schwert Zwiespalt, so wollte es die Legende, war entstanden, als die beiden Schwerter Hass und Liebe, zwei mächtige Artefakte, im Kampf aufeinander trafen. Der Gegensatz war so groß, dass ihre Träger zu Staub zerfielen und das Universum etwas völlig Neues erschaffen musste, um das Gleichgewicht aufrecht zu erhalten. So entstand Zwiespalt. Der erste, der das volle Potential des Schwertes erkannte, war ein entehrter Samurai namens Faust, dessen Namen zum Ordensnamen des Trägers der Chaosklinge wurde. Im Laufe der Jahrhunderte erwählte das Schwert viele Kämpfer. In manchen siegte die Liebe, in anderen der Hass.
„Der Träger des Schwertes Liebe ist mein Vorfahr“, erklärte Miu. „Es war sein Ahnengeist, der mich darum bat, über deine Seele zu wachen. Damit nicht der Teil von Zwiespalt in dir siegte, der aus Hass geboren wurde, wie in deinem Vorgänger.“
„Das Schwert beherrscht mich nicht“, verteidigte sich Faust.
„Damals bei dem Engel…“
„Das tat ich, weil ich es wollte.“
„Es war falsch, Faust! Du hättest niemals einen Diener des Pantheons angreifen dürfen!“
„Diener des Pantheons!“, knurrte er verärgert. „Was kümmert es dich überhaupt? Es sind nicht einmal deine Götter.“
„Ob Götter oder der Rat der Ahnen“, erwiderte Miu ernst. „Es muss etwas geben, das über uns steht. Ich weiß, du hältst nicht viel von kosmischen Hierarchien. Aber was wäre die Alternative?“
„Freiheit“, sagte Faust überzeugt. „Ohne die Götter wären wir frei.“
„Anarchie“, widersprach Miu leise. „Die Herrschaft des Stärkeren. Nur eine andere Art von Hierarchie.“
Faust schwieg. Er wusste, sie hatte nicht Unrecht. Und dennoch: Zu viele Gräueltaten wurden im Namen von Göttern und Teufeln verübt. Die Welt wäre vielleicht nicht eine bessere, wenn jeder gezwungen wäre, in seinem eigenen Namen zu handeln. Aber wenigstens eine ehrlichere.
„Am Anfang hatte ich solche Angst vor dir“, sagte Miu plötzlich unvermittelt. Sie senkte verlegen den Blick. „Ich hielt dich für brutal, vulgär und unmoralisch.“
„Ich bin brutal, vulgär und unmoralisch!“  
Sie lächelte, doch es war ein trauriges Lächeln.
„Faust, du musst mir etwas versprechen. Wenn mir hier… Wenn mir etwas Schlimmes widerfahren sollte, dann darfst du nicht… ausrasten.“
Faust runzelte die Stirn.
„Du weißt, ich hab’s nicht so mit Versprechungen.“
„Du hältst dich an die, die dir wichtig sind.“
„Ich versuch’s.“
Miu schien zufrieden. Doch Faust hatte plötzlich einen schrecklichen Verdacht.
„Miu“, sagte er alarmiert. „Ich will, dass du mir auch ein Versprechen gibst.“ Er kniete sich ihr gegenüber und hielt ihr die Hand hin. „Lass uns darauf einschlagen, dass wir keinem dieser Folterknechte das geben, was sie von uns wollen!“
Sie wurde blass und wandte betroffen den Blick ab.
„Tu nichts Dummes, hörst du“, murmelte Faust mit belegter Stimme.
… sonst tue ich etwas sehr viel Dümmeres.

Winter
„Ja, wir sind Piraten und fahren zu Meere; wir fürchten nicht Tod und den Teufel dazu!“, grölte Winter aus vollem Hals und beschwor Bilder von feiernden Matrosen und stürmischen Hafennächten. Ob es nun an ihrer haarsträubenden Gesangsstimme lag oder ob Mephisto bereits an einem neuen Plan arbeitete, sich an ihr und Ares zu rächen – jedenfalls hatte er sich seit Stunden nicht mehr in ihrem Kopf blicken lassen.
Endlich hörte sie, wie die Tür geöffnet wurde.
„Lord Ares?“, fragte sie bang.  
In nächsten Moment wurde sie von einer antimagische Welle erfasst, die jeden Zauber schluckte, der auf ihr lag. Doch auch Mephistos Beherrschungszauber fiel dem Bannsturm zum Opfer. Jemand befreite sie von Fesseln und Augenbinde.
„Grim!“ Sie schluchzte vor Erleichterung auf und fiel ihrem Bruder um den Hals. „Oh, Grim, es war so schrecklich!“
Der Priester trat einen Schritt zurück, um sie kritisch in Augenschein zu nehmen.
„Mit dem Fummel kommst du mir aber nicht in die Abtei“, brummte er und legte ihr seinen Umhang um die Schultern. Oh, tat das gut wieder Opfer seines grimmigen Humors zu sein! Erst als sie ihren Bruder ausgiebig gedrückt hatte, wandte sie sich seinen beiden Begleitern zu: Ares und Elijas.  
„Ihr schuldet uns eine Erklärung!“, brummte Grimwardt.
„Ich schulde euch gar nichts“, erwiderte Lord Ares mit der mutwilligen Arroganz eines Mannes, der es gewohnt war, andere vor den Kopf zu stoßen.
Etwas versöhnlicher forderte er sie auf sich zu setzen.  Die Farben des Wohnraums, in dem sie sich aufhielten, waren seltsam gedämpft und das Kaminfeuer spendete nur spärliches Licht.
Die Schattenebene, erkannte Winter erstaunt.
Als sie zum ersten Mal hier gewesen war, hatte sie die Ebene als kalt und abweisend empfunden. Inzwischen hatte sie ihre düstere Schönheit zu schätzen gelernt und die Schatten umschmeichelten sie wie stumme Verehrer.
Sie versammelten sich um den Tisch und Ares ließ seine Abishai-Diener Speisen und Getränke auftischen. Winter wagte es endlich, ihrem knurrenden Magen nachzugeben und langte kräftig zu. Der Halbteufel lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Fenstersims, an dem hin und wieder Schatten-Wächter vorbeihuschten. Er schien dieses Versteck schon seit langem zu pflegen und Winter begann sich zu fragen, wie lange er den Verrat an seinem Herrn wohl schon plante.
„Erwartet keine Entschuldigung dafür, dass ich euch am Seelensee nicht gerade mit Samthänden angefasst habe“, begann er. „Mephisto ahnte, dass ich etwas gegen ihm im Schilde führte. Hätte er zu diesem Zeitpunkt an meiner Loyalität gezweifelt, wären wir alle verdammt gewesen.“
„Was ist mit Faust und Miu?“, fragte Winter ungeduldig. „Wo sind sie?“
„Er hat sie in die Folterkammern geschickt. Dort sind sie für uns unerreichbar.“
Betroffen wartete sie auf mehr, doch es kam nichts.
„Und damit hat sich die Sache für Euch erledigt?!“, fragte sie empört. „Aber… Er ist Euer Sohn!“
„Es wäre Wahnsinn dort aufzukreuzen“, erwiderte Ares scharf. „Wir würden geradewegs in Mephistos Falle laufen. Sein göttlicher Sinn würde uns aufspüren, sobald wir Baator betreten.“
„Nun, das werden wir riskieren müssen! Wir können sie doch nicht…!“
Grimwardt legte ihr mäßigend die Hand auf den Arm.
„Dann ist es also wahr?“, murmelte er düster. „Er hat Asmodeus getötet und seinen Platz eingenommen…“
„Nein, Asmodeus lebt“, sagte der Halbteufel. „Aber hört euch die Geschichte vom Anfang an: Vor einigen Monaten fiel mir auf, dass Mephistopheles oft für längere Zeit verschwand und bei öffentlichen Auftritten ein Double für sich auftreten ließ. Ich ging der Sache nach und fand heraus, dass er viel Zeit in einem außerdimensionalen Laboratorium in der Höllenfeuer-Akademie verbrachte. Das ließ mich aufhorchen: Mephistopheles ist seit jeher der Ansicht, dass er Herr der Neun Höllen sein sollte, nicht Asmodeus. Er ist sich seiner Sache so sicher, dass er das Asmodeus sogar ins Gesicht gesagt hat. Ich schloss darum, dass dieses Labor ihm als Rückzugsort diente, wo er an seinen Plänen arbeiten konnte, ohne Asmodeus‘ göttlichem Blick ausgeliefert zu sein. Es dauerte lange, bis ich einen Weg in das Labor fand und als es mir schließlich gelang, fand ich den Raum verlassen und leer vor. Also befragte ich die Wände mit Hilfe eines Historienzaubers. So erfuhr ich von dem Zauber: ein Ritual, das es ihm erlaubt, die Ränge eines Gottes zu stehlen – die kosmische Energie, die göttliche Macht definiert. Er hätte dieses Ritual niemals allein entwickeln können! Ich weiß nicht, welcher Gott sein Verbündeter ist, denn hier versagte mein Aufklärungszauber, doch ich bin mir sicher, dass er höheren Beistand hatte. Ich ahnte auch nicht, dass er seine Pläne bereits in die Tat umgesetzt hatte, bis ihr auftauchtet. Doch ich vermute, dass Asmodeus noch lebt. Sonst hätte Mephisto seinen Coup niemals so lange geheim halten können. Der Tod eines Gottes wäre dem Pantheon gewiss nicht entgangen. Ich glaube, er hält Asmodeus irgendwo in Nessus gefangen. Vermutlich kann Mephisto ihn nur anzapfen, wenn er am Leben ist.“
„Hm, also dann wart Ihr Baalzebuls Informant in Cania?“, schloss Grimwardt.
Ares runzelte argwöhnisch die Brauen. Als der Kriegspriester ihm von ihrem Pakt mit dem Herrn der Lügen erzählte, nickte er widerwillig. „Ja, es stimmt, ich habe seit langem auf eine solche Gelegenheit gewartet und ich brauchte Verbündete in den Neun Höllen.“
„Auf eine solche Gelegenheit?“, schnaubte Winter. „Nun, die Gelegenheit dürfte Euch gründlich durch die Lappen gegangen sein. Mephisto ist Herr der Neun Höllen!“
Er lächelte hart. „Ich hatte nie vor, ihn daran zu hindern. Er hat seinen Triumph nur deshalb bis jetzt geheim gehalten, weil er genau wusste, dass es zum Krieg kommen würde, wenn die anderen Höllenfürsten von Asmodeus‘ Sturz erfahren würden. Einige von ihnen – allen voran Baalzebul – werden Mephistos Herrschaftsanspruch nie und nimmer anerkennen. Er spielte auf Zeit, denn er ist noch nicht so stark wie Asmodeus: Er kann nicht all seine Ränge auf einmal absorbieren; das würde ihn umbringen. Insofern habt ihr ihm vermutlich einen größeren Stich versetzt, als er zugeben will: Euer Angriff am Seelensee war heftig genug, um ihn zu zwingen, Asmodeus‘ göttliche Kraft in aller Öffentlichkeit gegen euch einzusetzen. Der Krieg der Legionen ist nun nicht mehr aufzuhalten. Und ich werde ihn anführen.“
Ares‘ Augen glühten vor Tatendurst. In diesem Moment erinnerte er Winter so sehr an Faust, dass es ihr einen eisigen Stich versetzte.
„Natürlich würde keiner der sieben Höllenfürsten mir folgen“, fuhr er fort. „Ich bin schließlich nur ein Halbblut; Mephistos sterblicher Lakai. Aber ich werde etwas haben, das keiner von ihnen hat: ein Mittel, Mephisto seiner gestohlenen Göttlichkeit zu berauben: Omegas Schwert.“
Elijas, er bis jetzt schweigend im Schatten geharrt hatte, runzelte argwöhnisch die Stirn.
„Was hat Omegas Schwert damit zu tun?“
„Himmelssplitter ist vermutlich die mächtigste Waffe, die je geschmiedet wurde. In Kara-Tur ranken sich unzählige Legenden um diese Klinge. Ihre volle Macht kann sie nur mit der Hilfe von neun Kugeln entfalten. Ich weiß, dass Omega eine dieser Kugeln besitzt, Terra, die Kugel der Erde. Die meisten jedoch gingen über die Jahrtausende verloren. Eine der Kugeln, Chaos, hat der Legende nach die Fähigkeit, einem Gott für eine Zeitlang seine Ränge zu rauben. Um Mephisto zu besiegen brauche ich also beides – das Schwert und die Kugel.“
Der Avariel schüttelte entschieden den Kopf. „Die Ordensschwerter offenbaren ihre Macht nur ihren erwählten Trägern. Himmelssplitter wird Euch niemals als Träger akzeptieren.“
„Doch, das wird es“, erwiderte Ares unbeeindruckt. „Himmelssplitter wird alles dafür tun, um zu Omega zurückzukehren. Wenn ich Mephisto besiege, macht mich das zum Herrn über Cania. Omegas Schicksal liegt dann in meiner Hand…“
„Ihr wollt einen Pakt mit einem Schwert schließen?“, fragte Winter ungläubig.
„Ja“, erwiderte Ares ruhig. „Und wenn ihr Omegas Seele erlösen und Desmond und das Mädchen befreien wollt, werdet Ihr mich dabei unterstützen. Ihr müsst für mich die Chaos-Kugel finden, während ich mich um Verbündete unter den Höllenfürsten bemühe.“
Eine Zeitlang herrschte Schweigen.
„Wo ist dieses Schwert nun?“, fragte Grimwardt schließlich.
„Am Grund des Teichs der Neun Schwerter“, antwortete Elijas. „Nur durch den Stein des Ordensführers können die Klingen beschworen werden.“
Der Priester maß Ares mit einem verdrießlichen Blick.
„Nun, wenn niemand einen besseren Plan hat, schlage ich vor, dass Ihr dieses Schwert vom Grund des Teiches holt.“
„Da gibt es nur ein Problem“, murmelte Elijas verlegen. „Ich bin nicht mehr Omegas Stellvertreter. Hades ist der neue Ordensführer der Neun Schwerter.“
Ein dreistimmiges Stöhnen hallte durch das Gebäude.

Faust
Drei Tage später.
Zwei Folterknechte schubsten ihn durch die Tür des Verhörraums und drückten ihn unsanft auf einen der beiden Stühle. Kurz darauf öffnete sich die gegenüberliegende Tür und Ahriman hievte seine schwere Wampe in den Raum. Wie üblich war der Kerkermeister von einer süßlich-fäkalen Nebelwolke umhüllt, die selbst einem Stinktier Kopfschmerzen bereitet hätte. Genüsslich puhlte er sich fremdes Blut unter den Fingernägeln hervor, ehe er einmal kurz schnipste, worauf sich ein Pergamentbogen in der Luft entrollte.
„Der Fürst hat dein Angebot einer genauen Prüfung unterzogen und besteht auf ein paar kleine Änderungen.“
Argwöhnisch studierte Faust das Dokument.
„Fünfzehn Jahre?“, knurrte er. „Ich hatte dreißig gefordert!“
„Herzchen…“ Meister Schwabbelbacke hatte begonnen seine Krallen mit einer Nagelfeile zu bearbeiten. „Dreißig Jahre wurden Omega gewährt. Deine Seele ist nicht einmal halb so viel wert. Der Fürst ist äußerst großzügig.“
„Und Miu…“
Eine Seele, ein Fahrschein. Wir verteilen hier keine Freifahrscheine. Das kleine Zuckerpüppchen bleibt hier.“
Hätte er sein Schwert zur Hand gehabt, hätte Faust das gepuderte Schleusen-Grinsen des Kerkermeisters liebend gern um ein paar blutige Fingerbreit vergrößert. Doch er riss sich zusammen und las sich den Pakt bis zum Ende durch. Dem Rest seiner Forderungen hatte Mephisto entsprochen: Er würde aus den Kerkern entlassen werden und all seine Gegenstände zurückerhalten. Bevor die Frist von fünfzehn Jahren abgelaufen war, durfte ihn kein Teufel Canias aufsuchen mit der Absicht ihn zu töten.
Fünfzehn Jahre.
Faust schloss die Augen und fuhr unschlüssig über die Tätowierung auf seinem Arm.
Was er vorhatte, war riskant. Es gab keine Garantie dafür, dass er jemals in der Lage sein würde, die Zeit zu manipulieren und den Bedingungen des Paktes zu entgehen. Aber er musste es versuchen. Er musste in Erfahrung bringen, was mit Winter, Grim und Tyrail geschehen war. Er musste verhindern, dass Miu ihre Seele für ihn hingab. Es brach ihm das Herz, sie allein hier zurückzulassen. Und er wusste, es würde sie zerstören, wenn sie hiervon erfuhr. Doch dieses Opfer musste er um jeden Preis verhindern.    
Vergib mir, Miu…
Er holte noch einmal tief Luft und zog den Zeremoniendolch über seine Handfläche. Hastig setzte er seinen blutigen Namen neben Mephistos Unterschrift, bevor er es sich anders überlegen konnte. Eilfertig rollte sich das Pergament zusammen und fiel ihm in den Schoß.  
Meister Schwabbelbacke ließ ihm seine Sachen bringen und schloss ihn mit einem tiefen, rührseligen Seufzer in seine stinkenden Arme.
„Und so geht er dahin“, jammerte er. „Sei ein böser Bub, Herzchen, bis wir uns in fünfzehn Jahren wiedersehen!“
„Oh, wir werden uns schon früher wiedersehen“, sagte Faust mit tödlichem Ernst. „Verlasst Euch drauf: Ich komme zurück!“
„Ach, Herzchen, das sagen sie alle“, seufzte der Kerkermeister und kniff ihm schäkernd in die Wange. „Also, wo darf’s denn hingehen?“
Gute Frage.
Er würde magische Hilfe brauchen, um Winter und Grimwardt aufzuspüren. Elijas, war sein erster Gedanke, aber bei den Neun Schwertern würde er sich auch Hades stellen müssen. Und in seiner gegenwärtigen Verfassung konnte er nicht garantieren, dass er den Richter nicht zu Pastete verarbeiten würde, wenn er noch einmal versuchen sollte, ihn in einen Käfig zu sperren. Ihm fiel nur ein Mann ein, der ihm ohne zu zögern helfen würde, wenn es darum ging, den Fedaykin-Geschwistern zu helfen: Nimoroth Lyrael.
„Bringt mich nach Myth Drannor.“  
Schwabbelbacke konnte es sich nicht verkneifen, ihm einen eiternden Kuss auf den Mund zu drücken, ehe er den Dimensionszauber sprach.
Die Mittagssonne strahlte so hell, dass sie Faust die Tränen in die Augen trieb. Verdammt, er hatte völlig vergessen, wie grün die Welt sein konnte. Für einen Augenblick schloss er die Augen und gab sich der schlichten Freude hin, die Sonne wieder auf seiner Haut zu spüren. Er stand auf einem bewaldeten Hügel, von dem er in einiger Entfernung die Türme der Elfenstadt erblickte. Faust folgte dem Plätschern eines Baches, um sich zu waschen und den scheußlichen Abschiedskuss wegzugurgeln. Dann legte er seine Rüstungsgegenstände an. Als er hinter sich das Knacken eines Zweiges hörte, fuhr er herum.
Tyrail zog sein Schwert.
Er sah schrecklich aus. Was auch immer er in den letzten Tagen durchgemacht hatte, es hatte alle Überheblichkeit aus seinen Zügen gewaschen und die bittere Verzweiflung darunter bloßgelegt. Alarmiert hielt Faust Ausschau nach Zeichen einer Verwandlung: rote Augen, der Ansatz einer Schuppenhaut…
Nein, natürlich nicht.
Er stieß ein grimmiges Schnauben aus.
„Er kann mir keinen seiner Teufel auf den Hals hetzen, um meine Seele zu verdammen, also schickt er dich? Was bekommst du dafür, wenn du mich jetzt tötest?“
„Niemand schickt mich.“ Tyrails Stimme klang düster und rau. „Ich werde heute meinen Blutschwur erfüllen.“ Sein Blick glitt den Hügel hinunter und verweilte eine Zeitlang auf den Dächern der Elfenstadt. „Bezeichnend, dass du ausgerechnet diesen Ort für unseren letzen Kampf ausgewählt hast. Einst ein Juwel meines Volkes, das nun von eurem Gift durchdrungen ist.“
Faust verdrehte die Augen.
„Hör auf mit dieser Eldreth-Veluuthra-Kacke. Ich habe überhaupt nichts ausgewählt und ich werde mich auch nicht schon wieder mit dir schlagen!“
Der Elf lachte leise in sich hinein. „Weißt du, Faust, ich bin froh, dass ich dir in die Hölle gefolgt bin. Ich habe nie klarer gesehen. Sie ist wie euer Herz: das Zentrum all des Bösen, das ihr in die Welt gebracht habt.“
„Wenn du das glaubst, bist du wirklich verloren!“
„Es waren eure Götter, die Asmodeus verbannten!“, zischte Tyrail mit Nachdruck. „Die Götter, die euch nach ihrem Abbild schufen! Die Götter, die die Zauberpest über Faerûn brachten und damit die letzten von uns ins Exil nach Arvandor trieben! Die einzigen, die noch übrig sind, sind Verräter wie die Teufelsbuhle Antilia, die ihr Volk vergessen hat, und diese Hexe von Myth Drannor, die euch die Tore öffnet und euch einlädt, euer Blut mit dem unseren zu vermischen, bis nichts mehr von uns übrig ist!“ Tränen der Überzeugung liefen ihm übers Gesicht. „Der Kampf der Tel-Quessir ist längst verloren und ich habe kein Interesse, länger in eurer vergifteten Welt zu leben! Diesmal wirst du mich nicht am Leben lassen, sollte ich versagen. Dafür habe ich gesorgt.“ Er trat so nah an Faust heran, dass er Tyrails Atem auf seiner Wange spürte. „Ich weiß ja, du bist ein Tier! Du brauchst den Rausch und die Wut! Also hör mir gut zu: Ich habe die beiden brutalsten Kultisten, die ich auftreiben konnte, zu deiner Ordensschwester geschickt! Die haben immer Bedarf an Jungfrauen! Ich wette, die werden viel Spaß mit deiner kleinen Freundin haben!“
Fausts Gesichtszüge erstarrten.
„Du hast eine Minute, um dich vorzubereiten“, sagte der Elf kalt und wandte sich ab, um sich kampfbereit zu machen.
Oh, Tyrail.
Das war Mephistos Werk. Er hatte auch das letze bisschen Ehre in Tyrail mit Hass und Verzweiflung verseucht. Um Mius Willen versuchte Faust in ihm den zurückgezogenen, jungen Elfen zu sehen, der mit ihm zusammen die Ausbildung bei den Neun Schwertern begonnen hatte. Doch er sah nur den selbstzerstörerischen Fanatiker, der mit blutunterlaufenen Augen und wirrem Haar auf seinen Angriff lauerte. Was auch immer Thallastam und die Klinge Blauzorn an Gutem in ihm gesehen hatten – es war ausgelöscht.
Du hast es so gewollt, du mieses Schwein!
Faust zog sein Schwert.
Zur Vorbereitung sprach er nur einen einzigen Zauber – wie schon bei ihrem letzten Kampf umgab er sich mit einer antimagischen Zone, um den Klingengeist von seinem Gegner abzuschneiden.
Ein Fehler.
Tyrail machte keinen Fehler zweimal. Die Klinge stoßbereit über der Schulter, schnellte er auf ihn zu, stieß sich ab und katapultierte sich mit solcher Wucht vorwärts, dass der Sprung Faust von den Füßen riss. Er schnappte nach Luft, als Blauzorn seine Magendecke durchstieß. Die antimagische Zone unterdrückte den Schutz, der für gewöhnlich seine inneren Organe vor Schaden bewahrte und er war gezwungen, den Zauber aufzugeben, um Schlimmeres zu verhindern. Tyrail hatte seine Lektion aus ihrem letzten Kampf gelernt! Faust wälzte sich zur Seite, um den rasanten Folgestößen auszuweichen. Tyrail ließ ihm keine Gelegenheit für einen Gegenangriff - seine Bewegungen flossen schneller als die Zeit. Ein Schulterhieb, der ihm beinahe das Bewusstsein raubte, nagelte Faust zu Boden, sodass er nicht einmal mehr ausweichen konnte. Ein wahnwitziges Funkeln flackerte in Tyrails Augen, als er sich aufrichtete und zum Todeshieb ausholte.
Das war’s.
Fieberhaft suchte Faust nach einem Ausweg. Er zog sich an den Ort in seinem Innern zurück, den er in den Folterkammern von Cania entdeckt hatte. Der Ort, wohin kein Schmerz ihm folgen konnte. Miu! Er klammerte sich an ihr Bild, klammerte sich an den Gedanken, dass er zurückkehren musste, um sie zu retten! Brüllend stieß er sich ab und warf sich auf seinen Gegner. Hieb um Hieb drängte er Tyrail zurück ohne sich um Gegenangriffe zu kümmern. Tyrails Überlegenheitssinn schwand mit jedem erfolgreichen Schlag. Er spürte, dass der Elf am Rande seiner Kräfte war. Mit einem letzten zornigen Schlag nagelte er ihn gegen einen Baumstamm. Als Faust die Klinge aus seinem Körper riss, sackte der Elf zu Boden.
Gefangen in dem Wahn, in den er sich selbst versetzt hatte, schleuderte Faust seine Waffe von sich, packte Tyrails Schädel und rammte ihn gegen den Baumstamm. Er wusste, wenn er ihn jetzt tötete, hatte Tyrail erreicht, was er beweisen wollte. Trotzdem konnte er nicht aufhören. Rinde splitterte, bis sein Gesicht nur noch eine blutige Fratze war.
Faust, du musst mir etwas versprechen…
Er heulte auf. Er hatte es ihr versprochen! Er hatte ihr versprochen, dass er nicht ausrasten würde! Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung riss er sich los. Stolpernd rannte er durchs Dickicht, während Zweige ihm ins Gesicht peitschten. Am Fuße des Hügels brach er schließlich zusammen. Lange lag er blutend und zitternd im Gras, ehe er die blasse Gestalt im Schatten der Bäume wahrnahm. Mühsam richtete er sich auf.
„Lasst mich in Frieden!“, schleuderte er Thallastam entgegen, während ihm Tränen der Wut über die Wangen strömten. „Schönen Dank für Eure Hilfe!“
„Ich schätze, diesmal habe ich deinen Zorn verdient“, murmelte der Geist. „Aber es war meine freie Entscheidung sein Klingengeist zu werden. Ich habe nicht das Recht ihn zu verlassen, wenn mir seine Taten nicht gefallen. Ich kann nur darauf hoffen, sie zu beeinflussen…“
„Na, das klappt ja großartig!“
„Du hast Recht.“ Nicht einmal die tiefe Traurigkeit in Thallastams Augen konnte Fausts Bitterkeit lindern. „Tyrail ist verloren. Es tut mir leid, dass ich das nicht früher erkannt habe. Ich hätte ihn niemals bitten sollen, dir in die Hölle zu folgen.“ Der Geist schwebte näher. „Ich schätze, ich war stets nachsichtiger mit ihm als mit dir, da ich mich für sein Schicksal verantwortlich fühlte. Als er noch sehr jung war, wurde er Zeuge eines Massakers, bei dem die meisten Elfen seines Dorfes ums Leben kamen. Ich hatte die Angreifer ins Dorf geführt in der Hoffnung, dass es eine Aussprache zwischen ihnen und den Elfen geben würde. Ich ahnte nicht, welches Grauen sie anrichten würden. Das Dorf wurde von einem Eldreth-Veluuthra-Rat regiert. Antilia war eine der Anführerinnen. Ich dachte, sie sei bei dem Angriff ums Leben gekommen. Sie als Mephistos Mätresse wiederzusehen, hat Tyrail in eine tiefe Düsternis gestürzt, aus der er sich nicht mehr befreien konnte. Sie stand einst für alles, woran er glaubte.“
„Nichts kann rechtfertigen, was er Miu angetan hat“, murmelte Faust. Während Thallastams Enthüllung war ihm klargeworden, wie er Tyrail zur Rechenschaft ziehen konnte. Nichts, was er tat oder sagte, würde je durch seinen gleißenden Schleier der Verblendung dringen. Nur das Wort eines Elfen konnte diesen Schleier lüften.  „Er verdient es nicht zu sterben. Ich werde dafür sorgen, dass er in Myth Drannor verurteilt wird. Ich kenne einen Elfenfürsten des Hohen Rates, der mir mit Sicherheit dabei behilflich sein wird, wenn er von seinen Verbrechen erfährt. Soll sein erwähltes Volk ihn in die Verbannung schicken! Vielleicht erkennt er dann den Wahnwitz seiner Irrlehren!“
Sein Lehrmeister wirkte betroffen, aber er widersprach ihm nicht.
„Einem N’Tel‘Quessir erscheint die Verbannung eines dhaerow oft als geringe Strafe, verglichen mit der Todesstrafe“, sagte er schließlich leise. „Doch das stimmt nicht. Der Tod ist für uns nicht das Ende, sondern nur eine Reise an einen anderen Ort. Wir verlieren nicht unsere Erinnerung an unser sterbliches Leben so wie ihr, wenn wir nach Arvandor gehen. Für einen Ausgestoßenen jedoch ist die Verbindung nach Arvandor für immer durchbrochen. Für jene, denen es nicht gelingt, sich in die menschliche Ordnung einzufügen, ist der Tod endgültig – ihre Seele löst sich einfach in Nichts auf. Ich erzähle dir das nicht, um dich aufzuhalten“, fügte er hinzu. „Ich will nur sichergehen, dass du weißt, was du tust.“
„Das weiß ich sehr genau“, erwiderte Faust düster.
„Aber ich bitte dich noch um eines: Bring uns nach Rabenklippe, bevor du Tyrail den Ark’Vellahr überantwortest.“
„Wieso?“
„Wenn Tyrails Verbindung nach Arvandor durchtrennt wird, werde ich ihn verlassen müssen. Doch es gibt noch etwas, das ich im Diesseits erledigen will: Ich werde Hades darum bitten, das Ordensurteil gegen dich aufzuheben.“
Kennt Ihr Hades?“, fragte Faust sarkastisch.
„Besser als du denkst“, murmelte der Geist rätselhaft.
Faust zuckte gleichgültig mit den Schultern.  
„Tut, was Ihr nicht lassen könnt.“  
Er war zu erbittert, um zu hoffen.

Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 08. März 2012, 12:30:51
Wow! Das geht ja flott! Sehr spannend geschrieben! Und Hades ist natürlich auch immer wieder ein Genuss ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 10. März 2012, 14:19:16
Das war sooo schlimm in der Hölle!
Ich bin sehr beeindruckt vom neuen Kapitel.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 31. März 2012, 12:12:10
Bin immer noch aufs Ende gespannt! Und dann schon auf die nächste Geschichte... ich glaub wir müssen Hades zurückholen, sonst geht der Spaß-Charakter Nr. 1 verloren ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 27. April 2012, 12:46:38
Wie schauts denn aus? Nähert sich die Geschichte langsam dem Finale? Hast du eigentlich schon nen Plan wie´s mit dem Abenteuer weitergeht, also beim nächsten mal spielen?
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 29. April 2012, 16:13:00
Danke fürs Spielleitern gestern/heute, war wieder sehr cool :-)

Komme im Moment leider nicht viel zum Schreiben oder Ausarbeiten, aber mal sehen... Wie es weitergeht, kommt drauf an, was ihr als nächstes geplant habt... Wolltet ihr euch der Schlacht in Rasilith anschließen oder eigene Nachforschungen betreiben? Bräuchte da noch ein bisschen Input...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 03. Juni 2012, 23:21:30
Kapitel VI: Himmelssplitter

Grimwardt
Schwerterteich, nachts. 
Stundenlang quälte sich Grimwardt durch Gesetzestexte, die in drei verschiedenen Sprachen verfasst und teilweise so alt waren, dass die Seiten unter seinen Händen zu Staub zu zerfallen drohten. Als er endlich fand, wonach er suchte, hörte er vor dem Fenster der Ordensbibliothek bereits die ersten Vögel zwitschern.
Jetzt habe ich dich, Hades.
Mit grimmiger Befriedigung klemmte er sich den Folianten unter den Arm und lief über den Hof zur Halle der Schwerter. Die meisten Ordensmitglieder hatten sich längst zurückgezogen. Nur Hades und Elijas stritten noch immer um die Aushändigung von Omegas Schwert – sofern man Hades‘ staubtrockene Litaneien, gelegentlich unterbrochen von Elijas‘ frustrierten Einwänden, als Streit bezeichnen konnte. Winter hatte sich in einer Ecke des Raumes zusammengekauert und war eingeschlafen, während sich Faust gelangweilt im Münzenschnipsen übte.
Auf Drängen des Klingengeists hatte Hades Faust eine zweite Chance eingeräumt und die Ordensmitglieder über die Aufhebung des Todesurteils abstimmen lassen. Das Ergebnis war einstimmig gewesen: Faust war frei und als Ordensmitglied rehabilitiert. Das bedeutete allerdings auch, dass Hades als Teil seiner Pflicht betrachtete gemäß Omegas letztem Wunsch alles zu tun, ihn daran zu hindern in die Hölle zurückzukehren. Nicht, dass Faust einen feuchten Dreck auf Hades‘ Meinung gegeben hätte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie Hades längst niedergehauen und ihm den magischen Stein abgenommen, der Omegas Schwert aus dem Teich zu rufen vermochte.
Hades schluckte Staub, als Grimwardt den alten Folianten vor ihm auf den Tisch wuchtete, und Winter fuhr aufgeschreckt aus dem Schlaf.
„Lest!“, befahl Grimwardt schroff.
Nachdem der Richter den Absatz einer genauen Prüfung unterzogen hatte, hob er stirnrunzelnd den Kopf.
„Was hat das zu bedeuten?“
„Der Paragraph besagt, dass der Anführer der Neun Schwerter gemäß den alten Kriegsgesetzen bestimmt wird“, klärte Grimwardt ihn auf. „Ihr hattet also überhaupt kein Recht, den Titel des Anführers für Euch zu beanspruchen, ohne Elijas vorher im Duell zu besiegen!“
„Das ist nicht korrekt“, erwiderte Hades. „Elijas ‚Thallastam‘ Avalior beanspruchte für sich nicht den Titel des Anführers, sondern handelte als Omegas Stellvertreter, weil er fälschlicher Weise glaubte, sie retten zu können. Er handelte dem Orden zuwider, als er sich über ein Gemeinschaftsurteil hinwegsetzte und Faust aus der Haft entließ, darum wurde er abgesetzt. Das Kriegsgesetz greift in diesem Fall nicht.“
„Aber Ihr erhebt den Führungsanspruch.“
„Gewiss. Omega ist tot und der Orden kann nicht länger ohne Führung bleiben.“ 
„Dann steht es also jedem Ordensmitglied frei Euch zum Duell zu fordern und die Führung des Ordens für sich zu beanspruchen?“
Hades‘ Mundwinkel zuckten. Die Wahrheit schmeckte ihm nicht, aber er hätte sich eher das Herz aus der Brust gerissen, als eine Lüge auszusprechen.
„Das ist korrekt.“
Alle Blicke richteten sich auf Elijas. Der Avariel schien dem Braten nicht zu trauen und bewegte unschlüssig die Flügel. Jedem in diesem Raum war bewusst, dass die Chancen des Kelemvor-Priesters gegen den elfischen Klingensänger schlecht standen. Schließlich erhob sich Elijas schweren Herzens und sprach eine formelle Duellforderung  aus, die Hades mit einem sauren Nicken erwiderte.
 „Zur Mittagsstunde auf dem Übungsplatz“, sagte er knapp. „Ich weise darauf hin, dass der Kampf auch gemäß den alten Kriegsgesetzen endet.“
Mit diesen Worten rauschte er davon.
„Was hat er gemeint?“, wandte sich Elijas alarmiert an Grimwardt.
Der Kriegspriester seufzte.
„Die alten Kriegsgesetze besagen, dass der Kampf erst beendet ist, wenn der Unterlege sich entweder ergibt oder fällt. Gnade wird dem Sieger als Schwäche ausgelegt.“
In seiner Abtei wurde die Regelung schon lange nicht mehr angewandt, weil Grimwardt fand, dass sie zu einer sinnlosen Verschwendung von Kriegspotential führte. Hades war ganz offenbar eingeschnappt, weil er ihn mit seinen eigenen Mitteln geschlagen hatte, und wild entschlossen sich eher umbringen zu lassen, als eine Niederlage hinzunehmen.
Elijas schien zu derselben Erkenntnis zu kommen.
„Dann fangt schon mal an auf ein Wunder zu hoffen“, murmelte er düster.

Faust
Rabenklippe, zwei Tage später.
Die Flügel eng an den Körper gepresst wie ein verschüchtertes Kind vor Vaters Porzellanschrank bahnte sich Elijas einen Weg durch das Labyrinth der Büsten und Kandelaber, die sich im Laufe der Jahre in der Empfangshalle des MacLancastor-Anwesens angesammelt hatten.
Wie ein Albatros, dachte Faust belustigt. Ungeschlagen in seinem Element, aber noch immer ziemlich ungelenk in der Welt der Menschen.
Und dabei hätte Elijas längst ein großer Mann sein können. Seit seinem Sieg gegen Hades vor zwei Tagen gab es in Rabenklippe kein Augenpaar, das sich nicht bewundernd nach dem Avariel umschaute. Elijas‘ Misstrauen gegenüber derlei Lorbeeren war verständlich, schließlich hatte er schon einmal erfahren, wie flüchtig sie waren. Und schließlich hätte die Geschichte auch ganz anders enden können, wenn Hades wie angekündigt auf den Ehrentod bestanden hätte. Denn sosehr das Volk von Rabenklippe auch vor dem Todespriester zitterte – er war einer der größten Helden, derer sich die selbstverliebte Stadt je hatte rühmen können, und den Tod eines Helden nahm hier niemand auf die leichte Schulter. Doch Hades schien erkannt zu haben, dass der Orden unter seiner eisernen Herrschaft über kurz oder lang zerbrechen musste: Nur Omega konnte das Gleichgewicht der Neun aufrecht erhalten – doch sie konnte er nicht retten ohne ihrem Letzten Befehl zuwider zu handeln. Als er Elijas den Stein der Neun übergeben hatte, der die Ordensschwerter an den Teich band, meinte Faust für einen kurzen Moment sogar Erleichterung in seinen gespenstigen Augen gelesen zu haben: Erleichterung diesem Dilemma entflohen zu sein.
Nachdem sie Himmelssplitter aus dem Teich geborgen hatten, war das Auffinden der Kugel Chaos ein Kinderspiel gewesen: Mithilfe magischer Untersuchungen an der Waffe hatten die Gefährten das Artefakt auf der Ebene Pandemonium aufgespürt. Dort hatten sie die Kugel aus dem Innern einer uralten Chaosbestie herausgeschnitten. So unspektakulär war dieser Teil der Geschichte verlaufen, dass Faust sich fragte, weshalb Omega nicht schon früher nach ihr gesucht hatte. Hätte er ein Artefakt besessen, das einen Gott entmachten konnte, er hätte den göttlichen Reichen schon längst einen Besuch abgestattet… Andererseits war das vermutlich einer der Gründe, weshalb Himmelssplitter Omega als Trägerin erwählt hatte und nicht ihn…
 „Hm… Sag mir noch mal, weshalb wir hier sind…“
Unbehaglich folgte Elijas dem Hausmädchen in die persönlichen Gemächer der Hausherrin.
„Ich will dich meiner Mutter vorstellen“, gab Faust bereitwillig Auskunft und beobachtete grinsend, wie sich zaghafter Argwohn in den Zügen seines Begleiters abzeichnete. Doch der Avarielfürst war zu höflich danach zu fragen, wie er wohl zu dieser sonderbaren Ehre kam – und zu Fausts Glück kannte er ihn nicht gut genug, um bei diesem Grinsen nicht so schnell wie möglich das Weite zu suchen.
Sie fanden Lady Helena in Gesellschaft einer jungen Bekannten, die das Hausmädchen ihnen als Lady Dora vorstellte. Ein kleiner Fisch in Helenas Intrigennetz, wie Faust vermutete.
Besser hätte ich es nicht planen können…
„Mutter, Lady Dora.“ Faust konnte es sich nicht verkneifen, vertraulich den Arm um die Taille des überrumpelten Avariel zu legen: „Das ist mein Freund Elijas.“
Bedeutungsvolle Stille. Dann entfuhr Lady Dora ein quiekender Laut zwischen Kichern und Schluckauf, den sie eilig mit vorgehaltener Hand zu unterdrücken versuchte. Fausts Mutter dagegen hob nur vielsagend eine Augenbraue und nahm unbeeindruckt einen Schluck Tee. 
„Lady Dora“, bat sie mit einem säuerlichen Lächeln, während ihr Blick auf Faust ruhte. „Mein Sohn scheint seit unserer letzten Begegnung durch die Hölle gegangen zu sein. Wenn Ihr uns wohl für heute entschuldigen würdet?“
Lady Dora konnte es gar nicht erwarten, den Salonklatsch des Monats zu überbringen und raffte eilig die Röcke. Fausts Mutter ersuchte auch Elijas sie allein zu lassen, der seine verbliebene Würde darauf richtete, keinen allzu überstürzten Abgang hinzulegen. Dann schloss sie geräuschvoll die Tür.
Faust prustete los.
 „Ich weiß, es erheitert dich, mich vor aller Welt in Verlegenheit zu bringen“, kommentierte seine Mutter eisig sein kleines Theaterstück. „Ich hoffe nur, dass dein ‚Freund‘ ebenso eine diebische Freude an übler Nachrede hat wie du.“
Sie nahm ihm gegenüber in der Sitzecke des Lesesalons Platz und musterte ihn lange und kritisch wie das dubiose Kunstwerk eines exzentrischen Malers.
„Du bist aus der Hölle zurückgekehrt“, stellte sie schließlich nüchtern fest.   
Er hatte sein Versprechen gehalten und seine Mutter über sein Vorhaben auf dem Laufenden gehalten. Sie hatte ihn nicht davon abgehalten, weil sie wusste, dass es vergebliche Mühen gewesen wären. Doch es wurmte ihn, dass sie es nicht einmal versucht hatte. Darum ließ er sie zappeln, während die unausgesprochene Frage wie ein zitterndes Schwert über ihnen hing. Nachdem sie eine Weile ihr Teeservice seziert hatte, hielt Helena es schließlich nicht länger aus.
„Hast du ihn getroffen?“
Faust nickte.
„Er ist ein Halbteufel“, eröffnete er ihr in unbedarftem Plauderton. „Ziemlich hohes Tier an Mephistos Hof. Hat seine Freunde verraten und seine Seele verkauft.“
Sie nahm einen tiefen Schluck ihres Tees. „Du hast also mit deinem Vater gesprochen…“
„So würde ich es nicht nennen.“ Er spürte, wie sein Sarkasmus in Bitterkeit umschlug. „Nicht dass ich nicht gerne ein wenig mit ihm geplaudert hätte, aber ich war zu sehr damit beschäftigt, mich nicht von ihm umbringen zu lassen, während er mit einem brennenden Schwert auf mich losging.“
Er wusste nicht genau, wofür er sie bestrafen wollte. Für all die Heldengeschichten? Für ihre unerschütterliche Liebe? Dafür, dass sie in ihm die Hoffnung geweckt hatte, dass irgendeine noble Intention hinter den Gräueltaten seines Vaters stand? Er konnte sehen, dass sie um Fassung rang und dieses Mal – dieses eine Mal – würde er den verdammten Eispanzer von Helena MacLancastor durchbrechen!
„Oh, ich habe übrigens meine Seele verkauft.“
Ein Schaudern streckte ihren Rücken wie bei einem Hexenschuss.
„Ist das wieder einer deiner geschmacklosen Scherze?“
„Nein, das ist mein voller Ernst. Naja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, nicht wahr?“ 
 Seine Mutter war kreidebleich geworden. Wankend hielt sie die Lehne ihres Sessels umklammert. Faust wusste, es war Zeit, aufzuhören. Doch er war wie im Rausch gefangen. Irgendein Funke, irgendein sadistisches Vergnügen, trieb ihn vorwärts. „Ich habe noch fünfzehn Jahre - dann gehe ich über den Styx und Mephistopheles trinkt meine Seele.“ 
„Hör auf…“
„Er hat mich foltern lassen. Eine meiner Gefährtinnen ist noch immer da unten…“
„HÖR AUF!“ Sie war aufgesprungen und bebte am ganzen Körper. Niemals zuvor war sie ihm so verletzlich vorkommen. „Was willst du von mir, Desmond! Du tauchst hier auf mit deinen geschmacklosen Scherzen und deiner Unverfrorenheit und erzählst mir, dass dein Vater ein Monster ist und du deine Seele an den Teufel verschachert hast?! Was erwartest du von mir? RAUS! Raus aus meinem Haus! Geh mir aus den Augen!“
Ihr Zorn und ihr Schmerz rissen Faust aus seinem Wahn. Betroffen richtete er sich auf.
„Wann…?“ Er schluckte.
 „Geh… Geh einfach.“ 
Sie würde nicht weinen. Nicht vor ihm. Diese letzte Blöße konnte sie sich nicht geben. Betäubt, wie ein Verurteilter, der schlafwandelnd ein Verbrechen begangen hatte, folgte er ihrem anklagenden Zeigefinger aus dem Raum…
Ziellos lief er durch die Straßen. Er glühte. Er hatte das Gefühl, explodieren zu müssen, wenn er auch nur eines der Gefühle zuließ, die unter der Oberfläche brodelten.
Fünfzehn Jahre.
Erst der Flügelschlag erinnerte ihn daran, dass er nicht alleine hergekommen war. Elijas schien die empfindliche Spannung zu spüren und hielt Abstand.
Faust stieß ein raues Lachen aus.
„Wunder dich nicht, wenn morgen die ganze Stadt über dich tratscht. Aber ich schätze, das bist du nicht anders gewöhnt…“
Elijas überging den rüden Sarkasmus.
„Das lief nicht so ganz wie geplant, hm?“, bemerkte er vorsichtig, während er sich bemühte mit Fausts chaotischem Laufschritt mitzuhalten.
„Ich war nur ehrlich“, knurrte Faust grimmig. „Zu ehrlich, wie meistens….“
Der Avariel hielt erschrocken inne. 
„Du hast ihr erzählt, dass du…?“
„… meine Seele verkauft habe, verdammt, ja!“
Elijas verbiss sich einen vorwurfsvollen Kommentar und schwieg.
„Glaubst du, sie ist es wert?“, fragte er schließlich unvermittelt. „Omega…“
Faust sah ihn scharf an.
„Sie ist die beste von uns, oder nicht?“
„Ja“, erwiderte der Avariel leise. „Und darum hatte sie vermutlich Recht. Niemand von uns hätte ihr folgen sollen… Es zerreißt den Orden.“
Tyrails Verbrechen. Hades‘ Machtspiele. Vermutlich hatte Elijas Recht. Wahrscheinlich wären die Neun Schwerter aber so oder so zum Scheitern verurteilt. Und ihm war das ehrlich gesagt herzlich egal. Er war nicht für den Orden durch die Hölle gegangen. Hatte nicht für den Orden seine Seele verkauft. Im Grunde, gestand er sich ein, ging es ihm nicht einmal um Omega. Er wollte Mephisto besiegen. Mehr als jeden seiner Feinde wollte er ihn tot sehen. Für das, was er aus seinem Vater gemacht hatte. Aus Tyrail. Was mit Miu geschah… Die Frage war nur, ob der Preis nicht schon zu hoch war.
Faust schob den Gedanken beiseite.
Nicht heute…
„Schon mal etwas von damarischen Trinkmarathons gehört?“, wandte er sich unvermittelt an Elijas.
„Damarische… was?“
Faust klopfte ihm nüchtern auf die Schulter. 
„Du weißt dein Talent echt nicht einzusetzen, Mann.“
Kurz darauf schob er den sich sträubenden Elfen durch die Tür des „Hinkenden Raben“. Er mochte nicht wissen, wie die Zukunft aussah, aber er hatte eine ziemlich lebhafte Vorstellung davon, wie diese Nacht aussehen konnte. Und so wie er seinen Gemütszustand einschätzte, waren gespaltene Schädel dabei nicht auszuschließen. Da konnte es nicht schaden, jemanden an seiner Seite zu wissen, der noch nie etwas von damarischen Trinkmarathons gehört hatte…

Winter
Silbrigmond.
Xara Tantlor schien an diesem Abend guter Dinge zu sein. Summend trippelte die Magierin mit dem Fuß einen Takt, während sie die Tagesabrechnung machte.
Winter war schon an der Tür, als ihr einfiel, dass sie nirgendwo erwartet wurde. Grimwardt war gleich nach dem Kampf um Himmelssplitter in die Abtei zurückgekehrt. Die letzte Nachricht, die sie aus dem Schlachtental erreicht hatte, war, dass Lady Lucia ihren Bruder für die Pferdezucht zu begeistern versuchte. Faust war indessen von einem Besuch bei seiner Mutter noch nicht zurückgekehrt. Winter sehnte sich selten nach ihrem alten Leben in Hlondeth zurück. Eigentlich hatte sie sich noch nirgendwo wirklich heimisch gefühlt. Doch in Momenten wie diesen dachte sie, dass es schön sein musste an einen Ort zurückzukommen, an dem man gebraucht wurde. 
 Ein wenig ratlos sah sie sich in Xaras kleiner Magierstube um. Nachdem mit der Magie auch ihre besten Kunden zurückgekehrt waren, hatte die Zaubermeisterin ihr altes Handwerk wieder aufgenommen. Da allerdings ihre Teestube bei Silbrigmondern während der Zauberpest zu einiger Beliebtheit gelangt war, hatte sie den Laden nicht aufgeben wollen. So war ihr kleines Reich zu einem Gelehrtentreff geworden, wo es ständig nach frischer Tinte und fremden Gewürzen duftete. Winter mochte diesen Ort. Lange hatte sie Xara Tantlor als potentielle Gefahr betrachtet. Dabei hatte sich das durchtriebene Miststück, das sie einst an Drake verraten hatte, längst zur braven Bürgerin gemausert – wenn man einmal von ihren  dubiosen Verbindungen zur Unterwelt der Silbermarken absah, denen sie die Schmuckstücke ihrer Sammlung verdankte.
Eigentlich sind wir nicht so verschieden…
Nur, dass Xara so klug gewesen war, auf den rechten Pfad zurückzukehren, ehe ihr Sohn zu Schaden kam…
Winter gab sich einen Ruck.
„Hat Eure Teestube schon geschlossen? Es ist sehr hübsch hier…“
Xara sah auf.
„Ach, Schätzchen, heute ist eigentlich mein freier Tag“, sagte sie bedauernd. „Aber wenn dein bester Kunde hereinspaziert und deinen halben Laden leerkauft, sagst du nicht nein.“ Sie lachte geschäftstüchtig, worauf Winter höflich lächelte. Höflich und armselig, wie es schien, denn Xaras Euphorie klang ein wenig gestellt, als sie anbot: „Ich wollte heute Abend noch kurz in der Tanzenden Ziege vorbeischauen, warum kommt Ihr nicht mit! Ich denke, nach diesem Geschäft kann ich es mir leisten, euch einen auszugeben!“
Na großartig, selbst die Mutter eines Tieflingbastards findet mich bemitleidenswert!
Trotzdem nahm Winter die Einladung an. Eine Stunde und drei Kelche Feuerdrachen später musste sie zugeben, dass sie sich schon lange nicht mehr so gut amüsiert hatte. Xara plapperte munter und ungeniert drauflos, sodass Winter gar keine Zeit blieb in Schwermut zu verfallen. Bei so manch blumiger Schilderung ihrer Liebesabenteuer trieb es selbst der gestandenen Heiratsschwindlerin die Schamesröte ins Gesicht. Plötzlich fiel ihr auf, dass Xara ihren Redefluss unterbrochen hatte.
Die Magierin musterte sie neugierig. 
„Darf ich Euch eine Frage stellen?“
„Fragen dürft Ihr.“
„Läuft da etwas zwischen Faust und Euch?“
„Nein…“, erwiderte Winter überrumpelt. „Ihr… äh… könnt gerne Euer Glück versuchen.“
Eilig vergrub sie ihren Blick im Wein.   
Xara lachte freimütig. „Oh, deshalb frage ich nicht.“ Winter hoffte, dass ihr die Erleichterung nicht allzu offensichtlich ins Gesicht geschrieben stand. „Versteht mich nicht falsch. Er ist schon ein Schnittchen, Euer Faust. Aber ich muss schließlich an meinen Sohn denken. Nein, ich suche im Moment eher etwas… Solideres.“
„Wie geht es Eurem Sohn?“, ergriff Winter die Gelegenheit, um das Thema zu wechseln.
Xara seufzte tief und zuckte mit den Schultern. 
„Er ist in diesem Alter, wo er sich seiner Mutter kaum noch anvertraut. Um ehrlich zu sein, ich mache mir Sorgen um ihn. Drake taucht immer wieder auf und der Junge scheint ganz vernarrt in ihn zu sein. Keine Ahnung, was die beiden so treiben, aber… naja, wir sprechen von Drake! Wenn ich das Thema anschneide, endet es immer im Streit. Am liebsten würde ich ihm den Kontakt ganz verbieten, doch ich fürchte, dass er sich mir dann völlig verschließen würde. Aber was erzähle ich! Ihr habt ja selbst eine Tochter.“
 „Ja.“ Winter fuhr matt lächelnd mit dem Finger über den Rand ihres Kelchs. „Nur dass wir die Sturheitsphase übersprungen haben und gleich zu der Phase übergegangen sind, wo sie mich abgrundtief hasst!“
Xara stutzte und sah Winter erschrocken an. Dann nahm sie ihr energisch den Weinkelch aus der Hand.
„Schätzchen, entweder Ihr hattet schon viel zu viel von dem Zeug oder noch lange nicht genug. Noch einen davon!“ Sie drückte den Kelch samt Silbermünze einer herumwuselnden Schankmaid in die Hand. „Und was Eure Tochter angeht: Ich bin sicher, sie hasst Euch nicht. Aber die Fußstapfen, in die sie da tritt, sind verdammt groß!“
„Naja, im Moment eifert sie wohl eher den Fußstapfen ihres Onkels nach.“
Den Göttern sei Dank.
„Hm, Euer Bruder…“, sinnierte Xara. „Ein disziplinierter Mann, will mir scheinen.“
„Äußerst diszipliniert!“, bekräftigte Winter. „All die Jahre im Zölibat! Keine Ahnung, wie er das aushält!“
„Er lebt in Keuschheit?!“ Die Magierin sah aus, als könne sie auf diesen Schock selbst noch einen Feuerdrachen gebrauchen. „Für Tempus, diesen alten Sack?!“
„Vielleicht ist er auch einfach noch nicht in Versuchung geraten“, erwiderte Winter übermütig. Dann musste sie kichern. Es war schwer genug, sich Grim mit einer Frau vorzustellen. Aber eine Frau, die Tempus einen alten Sack schimpfte?! „Wenn er das nächste Mal einen neuen Waffenkristall will, schleppe ihn mit und lasse euch beide ein wenig allein, was meint Ihr?“
„Warum kommt Ihr nicht zum Grüngras-Fest in einem Monat?“, lud Xara sie ein.
„Auf jeden Fall“, versprach Winter. Dann fiel ihr ein, dass sie vorher noch einen Krieg gegen den Herrn der Neun Höllen gewinnen mussten. „Das heißt, wenn wir dann noch leben.“
Xara verschluckte sich fast an ihrem Wein.
„Also jetzt reicht es!“, hustete sie resolut. „Da hilft kein Feuerdrache mehr! Schließt die Augen!“ Winter war so überrumpelt, dass sie gehorchte. „Der nächste Kerl, der durch diese Gasthaustür tritt, ist Euer für die heutige Nacht! Glaubt mir, Ihr könnt es gebrauchen!“
Winter öffnete die Augen – im selben Moment, als ein junger Halbelf die Tanzende Ziege betrat.
„Tss“, schmollte die Magierin. „Wenn ich dieses Spiel spiele, kommt selten was Ansehnliches dabei rum!“
Amüsiert beobachtete Winter, wie der junge Mann sich mit einigen Freunden an einem Tisch in ihrer Nähe niederließ.
Hm, wieso eigentlich nicht?
Xara hatte Recht: Sie konnte wirklich ein wenig Ablenkung gebrauchen. Flüsternd beschwor sie einen Funken Magie, der sich in ihrer Hand zu einer Rose formte, die farblich ihrem Feuerhaar glich und blies sie in die Menge. Erstaunt sah der Auserkorene sich um, als das zarte Magiegebilde auf seinem Tisch landete, und ihre Blicke trafen sich. Winter lächelte siegessicher. 
„Ich glaube“, murmelte Xara, die den Austausch mit der Neugier einer lauernden Füchsin verfolgt hatte. „wenn Ihr nicht meine beste Kundin wärt, könnte ich Euch auf den Tod nicht ausstehen!“
Winter fing an, sie richtig gern zu haben.

Faust
Schattenebene, zwei Tage später.
Wo Ares die Faust gegen das dunkle Gemäuer gestoßen hatte, war ein Rußfleck zurückgeblieben. Seit diesem spontanen Zornausbruch hatte er keine Regung mehr gezeigt. Stumm und düster harrte der Halbteufel mit halb geöffneten Schwingen am Fenster und starrte hinaus in die neblig-graue Finsterlandschaft. Er hatte auf den ersten Blick erkannt, wie es um Fausts Seele stand. Der war ihm nachgegangen, als er wutentbrannt aus der Burghalle gestürmt war und lehnte nun mit verschränkten Armen im Türrahmen.
„Wundert mich, dass es dich so aufregt, dass Mephisto meine Seele zum Abendessen futtert“, bemerkte er.
„Es regt mich auf, dass Mephisto mich auf diese Art austrickst“, erwiderte sein Vater zischend.
„Ach so. Es geht hier um dich. Wie dumm von mir, was anderes anzunehmen!“, sagte Faust zynisch. „Na, dann schlag Mephisto doch ein Schnippchen und mach den Pakt ungültig, sobald du Herr von Cania bist. Würde ihn echt aus den Socken hauen, meinst du nicht?“
Abrupt wandte Ares sich um und sah ihn scharf an.
„Du bist ein Narr, wenn du glaubst, dass ich dir die Haut rette“, sagte er kalt. „Selbst wenn ich siegreich sein sollte, ein Seelenpakt ist ein Seelenpakt. Deine Seele wird unwiderruflich im Styx auftauchen, sobald du stirbst.“
„Aber du kannst mich danach wieder freilassen, so wie Omega.“
Ares lachte hart auf.
„Ein Höllenfürst entlässt keine Seele aus sentimentalen Regungen. Ganz abgesehen davon, dass dann nichts mehr von dir übrig sein wird. Hast du die Seelen im Fluss nicht gesehen? Du kannst dir die Schmerzen nicht einmal vorstellen, die sie erleiden. Omega wird nicht mehr dieselbe sein, selbst wenn ich ihre Seele gehen lasse. Und du hast nicht einmal einen Bruchteil ihrer Selbstbeherrschung. Ganz abgesehen von deiner geringen Lebensspanne. Wenn der Fluss all deine Erinnerungen auslöscht, ehe deine Seele den Seelensee erreicht, dann bist du nichts als ein schlotternder, sabbernder Irrer, sollte irgendwer so hirnrissig sein, dich zurückzubringen!“
Faust bemühte sich eine unbeteiligte Miene aufzusetzen, um Ares nicht merken zu lassen, wie hart seine Worte ihn trafen. Ja, es stimmte, ein Teil von ihm hatte gehofft, dass sein Vater ihm aus dieser Patsche helfen würde.
Grübelnd betrachtete er die düstere Gestalt am Fenster. War er für Ares tatsächlich nichts weiter als eine Figur im Spiel um Cania? Wie gleichgültig konnte sein Sohn ihm sein, wenn er ihn angreifbar machte? Oder war das nur Teil der Maske, die er trug, um seine höllische Karriere voranzutreiben? So wie seine Rolle bei den Neun Schwertern nur eine Maske gewesen war…
„Komm“, riss Ares ihn aus seinen Grübeleien. „Wir haben einen Krieg zu gewinnen.“
Sie kehrten in die Halle zurück, wo Grimwardt und Winter über den Pakt gebeugt saßen, der ihre Bedingungen für die Aushändigung von Omegas Schwert spezifizierte. Ares unterzeichnete das Schriftstück kommentarlos. Trotzdem kostete es Faust Überwindung, die Waffe in seine Obhut zu geben. Zögernd zog er das Schwert aus der Scheide und fuhr mit den Fingerkuppen über die blutscharfe Glasstahlklinge, in deren Mitte die kostbare Kugel glänzte wie eine satte rote Perle. Nichts. Nicht einmal ein magisches Glimmen.
Möge Himmelssplitter mehr Vertrauen in dich haben als ich, dachte er bitter, während er die Klinge übergab.
Zuerst geschah nicht. Dann wurde die Klinge von einem kurzen, magischen Schaudern erfasst und die Chaoskugel erstrahlte wie ein Leuchtfeuer. Ihr Schein und das Versprechen ihrer Macht strahlten noch in Ares‘ Augen nach, als die Magie längst erloschen war. Doch das Schwert hatte seine Entscheidung getroffen: Es würde Ares dienen, wenn er es im Gegenzug wieder mit Omega vereinte.
Nach der Übergabe klärte Ares sie kurz über die Lage in Baator auf. Vier der verbliebenen sieben Erzteufel hatte der Halbteufel für seinen Kriegszug gegen Mephistopheles gewinnen können. Baalzebul und Glasya, Asmodeus Tochter, die den Sechsten Höllenkreis regierte, waren die entschlossensten Gegner des neuen „Gottes“, denn beide rechneten sich unter Mephistos Herrschaft keine großen Überlebenschancen aus. Bel, Herr des Ersten Höllenkreises, führte zwar keine persönliche Fehde gegen Mephisto, war jedoch der Überzeugung, dass Baator unter einem Emporkömmling mit zweifelhafter göttlicher Legitimierung im Chaos versinken würde. Fierna schließlich, auch bekannt als das „Flittchen von Phlegtos“, hoffte sich durch die Allianz von der Bevormundung durch ihren Vater loszusagen, der Mephistos Lager unterstützte. Mephisto hatte sich öffentlich vor seinen Befürwortern zum Herrn der Neun Höllen ausrufen lassen und Asmodeus‘ Palast in Nessus bezogen. Seine Streitmacht war ein wenig kleiner als Ares‘, doch dafür befehligte er die Elitetruppe von Nessus. Die Legionen der vier Verbündeten sowie Ares‘ eigene kleine Privatarmee versammelten sich derzeit zur Heeresschau auf dem Siebten Höllenkreis. Da Mephisto Cania und Nessus abgeriegelt hatte, blieb ihnen nur der Weg über den Styx. Mephisto selbst würde sich vermutlich zunächst aus der Schlacht heraushalten, um so viel wie möglich von Asmodeus‘ göttlicher Macht aufzunehmen. 
Schließlich war es Zeit aufzubrechen.
Begleitet von zwei Höllenschlund-Leibwächtern und einer Handvoll Abishai-Dienern führte Ares die Gefährten zu einem Portal im Keller der Schattenburg. Das magische Tor führte auf einen Hügel in der Nähe von Baalzebuls Palast. Unter ihnen bahnte sich schwerfällig der Styx seinen Weg durch das Sumpfland von Maladomini. Hunderte von Segeln leuchteten ihnen aus der tristen Blutmasse des Seelenstroms entgegen. Faust erkannte Baalzebuls Fliegen-Wappen und Glasyas Bronzepeitsche: die Flotte der „Asmodeiden“, wie die Allianz hier in Baator genannt wurde.
Im Namen des Erzbösen ziehen wir in den Krieg, dachte Faust betroffen. Ein Krieg um die Frage, wer das Vorrecht besitzt, die Seelen der Sterblichen zu malträtieren. Vielleicht war es die größte Stärke der Hölle, dass sie das Gute so fern erscheinen lassen konnte, dass die größten Gräueltaten zum „geringere Übel“ verblassten.
Plötzlich stieß Winter einen erstickten Schrei aus und hielt sich entsetzt die Hand vor den Mund. Sie war kreidebleich und ihr Finger zitterte, als sie auf etwas im Wasser deutete. Alarmiert folgte Faust der Geste – und entdeckte eine kleine Kriegsgaleone, deren Segel das Emblem einer schwarzen Feder, gekreuzt mit einem dunklen Schwert auf dunkelrotem Grund zierte. Faust runzelte die Stirn und sah Winter fragend an. Dann begriff er. Das Wappen aus Grimwardts Vision! Das Symbol, für das sie seit Jahren vergeblich die Bibliotheken der Reiche durchforstet hatten! Dort schaukelte es unbedarft auf den Wellen inmitten einer teuflischen Kriegsflotte.
„Wessen Wappen ist das?“, fragte Winter mit bebender Stimme.
„Eine schwarze Phönixfeder, gekreuzt mit einem Höllenfeuerschwert.“ Ares lächelte schief. „Was glaubt Ihr wohl?“
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nappo am 04. Juni 2012, 13:23:56
*Hamjam*  :thumbup:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 04. Juni 2012, 19:23:50
Ahhhhhh, sehr schön! Jetzt wirds ernst. War bestimmt kein einfaches Kapitel, aber ich finde es wieder sehr gelungen!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 04. Juni 2012, 23:52:00
So schwierig war das Kapitel jetzt eigentlich nicht. Gab nur viel, was ich stark gekürzt habe, weil es nicht so besonders spannend war. Die Faust und Winter-Teile waren zwar nicht wirklich plottreibend, aber die wollte ich unbedingt reinbringen, weil ich beide Spielsituationen echt super fand. War schon ein bisschen arschig, wie Faust seine Mutter behandelt hat und Elijas da mit reingezogen hat ;-). Und der Dialog zwischen Winter und Xara hat einfach Spaß gemacht ^^
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 26. Juni 2012, 19:56:08
Unfassbarerweise sehe ich das neue und sehr großartige Kapitel erst heute. Hoffe, du schreibst bald schon weiter!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 26. Juni 2012, 21:39:42
Hab auch heute noch im Bus dran gedacht  ::)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 26. Juli 2012, 19:12:51
Na, wie gehts denn vorran mit Abenteuer und Geschichte? Bin wiedermal ungeduldig, ich weiß  :D
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 26. Juli 2012, 22:45:25
Puh... tja, es mangelt im Moment an Zeit für beides zugleich, deshalb habe ich mich erst mal auf die Fortsetzung des Abenteuers konzentriert. Wann ich wieder zum Schreiben komme, weiß ich noch nicht...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 23. August 2012, 20:33:44
Hach ja... freu mich schon auf den 08.! Jemand hat übrigens folgendes gepostet, über die offizielle Zukunft der Realms, könnte dich ja vielleicht interessieren: http://erikscottdebie.com/2012/08/21/candlekeep-seminar-201/ (http://erikscottdebie.com/2012/08/21/candlekeep-seminar-201/)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 23. August 2012, 21:25:37
Tja, das könnte bald von Bedeutung sein  ::).  Bin auch mal auf den Fortgang gespannt. Das große Finale rückt langsam näher...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 23. August 2012, 22:47:45
Hab durch das Lied von Eis und Feuer auch wieder ne neue Idee für eine Doppelkampagne, die in den Reichen spielen würde, aber bis dahin ist ja noch was Zeit ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 17. Oktober 2012, 00:15:09
Kapitel VII: Der Schwarze Phönix

Winter
Nessusfälle, Achter Höllenkreis, zwei Zehntage später
Winter gab sich ganz der Macht der Schatten hin. Der Zaubersturm, den sie von ihrem Standpunkt hoch über dem Schlachtfeld entfesselte, sog den Baatezu der feindlichen Legionen das Wasser aus den Körpern, bis nichts mehr von ihnen blieb als Staub und Knochen. Eine ganze Schar fiel unter einem einzigen  Magieflackern. Um sie herum toste ein Sturm aus Eis und Feuer, den Mephistopheles aus seinem Versteck in Nessus auf die Flotte der Asmodeiden herab beschworen hatte, doch Winter spürte weder Hitze noch Kälte in ihrem Kokon aus Schutzzaubern.
Sie war so gefangen im Seelenrausch, dass sie erst merkte, dass die Schlacht gewonnen war, als der Himmel sich lichtete. Das zornige Farbenspiel aus bleckenden Flammen und klirrenden Hagelkörnern wich einem statisch-blutroten Himmel. Unter ihr ergoss sich der Styx ins schäumende  Nichts; dahinter nichts als gähnende Leere. Sie war bis an Canias Grenzen vorgestoßen.  
Die Nessusfälle waren ein Ebenenportal: der einzige Weg in den Neunten Höllenkreis, den Mephisto nicht abriegeln konnte, denn er hatte keine Macht über den Styx. Der Seelenfluss gehorchte „einem kosmischen Prinzip, das älter ist als die Götter“, wie Ares es ausdrückte.  Um die Flotte des Halbteufels daran zu hindern, dem Seelenstrom nach Nessus, ins Herz Baators, zu folgen, hatte Mephisto den Fluss etwa eine Meile vor den Nessusfällen in eine undurchdringliche Eisschicht gehüllt. Dann hatte er seine Legionen auf die Festgesetzten gehetzt.
Als Winter zu den Schiffen zurückkehrte, fand sie den Styx schwarz vor vom Teufelsblut der Gefallenen. Nicht nur Mephistos Heer war zerschlagen: Von den dreißig Schiffen, die Ares in die Schlacht geführt hatte, hatten weniger als die Hälfte den Höllensturm überstanden. Mit Bedauern stellte Winter fest, dass Ares‘ Flaggschiff unversehrt war. Sie hätte nur allzu gerne darauf verzichtet, unter dem Segel des Schwarzen Phönix nach Nessus zu fahren…
„Sind das alle, die übrig sind?“, fragte sie gedämpft, als sie neben Faust und Grimwardt am Bug des Kriegsschiffes landete. Schwerfällig knarrend quälte sich der Dreimaster zwischen den Eisschollen hindurch, die von Mephistos Frostzauber übriggeblieben waren.  
„Mephistos Höllenfeuermaschinen haben die Bodentruppen zermalmt.“ Der Kriegspriester deutete auf die Überreste eines magischen Konstrukts mit einer maulartigen Öffnung, das vor seiner Zerstörung pausenlos schwarze Feuerkegel gespuckt hatte. „Bels Flugscharen haben die Schlacht gedreht, aber wir haben schwere Verluste erlitten.“
Bel, einst Heeresführer der Legionen im Blutkrieg, war der einzige der verbündeten Höllenfürsten, der sich dazu herabgelassen hatte, unter dem Oberbefehl eines Halbteufels in die Schlacht zu ziehen. Baalzebul, Glasya und Fierna hatten sich gleich nach dem Heeresaufmarsch in ihre Paläste zurückgezogen, um Mephistos göttlichem Zorn zu entgehen, sollte Ares dem selbsternannten Herrn der Neun Höllen unterliegen. Baalzebul hatte versucht, sich in Winters Gedanken zu schleichen. Doch sie hatte all seine telepathischen Umgarnungen abgeschmettert. Vermutlich suchte der Herr der Fliegen noch immer nach einem Weg, Cania für sich zu beanspruchen. Doch Winter war es gleich, ob sich seine Intrigen gegen Mephisto, Ares oder Asmodeus richteten. Sie war es leid, zum Kollateralschaden teuflischer Ambitionen zu werden.
Unruhe legte sich über die Asmodeidenflotte, je näher sie dem donnernden Rauschen der Nessusfälle kamen. Stromschnellen ließen die verbliebenen Schiffe gefährlich schlingern und Eisschollen schrammten mit besorgniserregendem Knirschen an den Bordwänden entlang. An den Decks wurden Befehle gebrüllt, Drohungen ausgesprochen. Niemandem war wohl dabei, sich von einem erinnerungsraubenden Fluss ins dimensionale Nichts reißen zu lassen. Auch Winter musste den Impuls unterdrücken, einfach davon zu fliegen, als sich vor ihr der klaffende, gischtumschäumte Schlund auftat.
Sie schloss die Augen.
Völlige Schwerelosigkeit. Dann krachte ein Schiffsrumpf, splitterten Balken. Winter schnellte in die Höhe, kurz bevor eine Welle über die Schiffswand hereinbrach.
„Faust! Grim!“
Besorgt suchte sie im aufgewühlten Wasser nach ihren Gefährten. Erleichterung überkam sie, als Faust neben ihr auftauchte, der sich ebenfalls durch einen Flugzauber hatte retten können. Gemeinsam zogen sie Grimwardt aus den Fluten, ehe die quäkenden Seelenklumpen ihn unter Wasser ziehen konnten, und retteten sich auf eines der unversehrten Schiffe.
„Hat jemand Ares gesehen?“, fragte Faust.
Winter deutete auf die Gestalt des Halbteufels, der über all dem Chaos schwebte, ohne auf die panischen Schreie der von Bord Gespülten zu achten. Starr blickte er nach oben. Winter folgte seinem Blick eine steile Felswand hinauf. Blutfäden sickerten wie Tränen aus kleinen Felsöffnungen. Und am Rande der Schlucht, viele Mannslängen über ihnen, harrten, starr und drohend, gehörnte Gestalten mit ledernen Schwingen.
Höllenschlundteufel. Mindestens ein Dutzend.
Winter zog sich an jenen ruhigen, schattigen Ort an ihrem Innern zurück, der das Zentrum ihrer Magie war. Doch die Gestalten griffen nicht an.  

Grimwardt
Blutschlucht, Neunter Höllenkreis, einige Tage später
Es hieß, als die Götter den Engel Asrael in die Tiefen des Universums verbannten, fiel er neun Tage lang. Als er schließlich auf Land traf, hörte er nicht auf zu fallen. Sein Körper bohrte sich in die Erde, die seine Schwingen brach und klaffende Wunden in sein Fleisch riss. Als Asmodeus erhob er sich am Ende seines langen Falls, um die Nessusfeste zu erbauen. Und die Schlucht dorthin, der Weg seines Falls, wurde die Blutschlucht getauft, weil selbst die Felsen, die er geteilt hatte, bei seinem Anblick Blut weinten.  
Grimwardt warf einen düsteren Blick nach oben. Die Teufelsschar, die ihnen seit den Nessusfällen folgte, war nur noch als Ansammlung kleiner Punkte über der Blutschlucht zu erkennen. Immer tiefer schnitt die Schlucht in die zerklüftete Landschaft. Die Höllenschlundteufel waren eine reine Machtdemonstration. Mephistopheles hatte es nicht nötig, die spärlichen Reste der Asmodeidenflotte zu überwachen, denn inzwischen musste er genug von Asmodeus‘ Macht getrunken haben, um sie mithilfe seiner göttlichen Sinne zu orten. Vermutlich lauschte er jedem Wort, das sie sprachen. Aber dank des telepathischen Bandes, mit dem Winter die drei Gefährten verbunden hatte, mussten sie keine Worte wechseln, um ihre Kriegstaktik abzustimmen.  
Sie mussten darauf hoffen, dass Mephisto nichts von dem Schwert Himmelssplitter wusste – falls sein Misstrauen größer war als sein Hochmut, zog er sich womöglich in die Tiefen der Nessusfeste zurück, um sie aus der Ferne mit seinen Zauberstürmen zu überziehen. Doch Grimwardt rechnete damit, dass der Verrat seines Halbblut-Dieners ihn so in Rage versetzt hatte, dass er es Ares persönlich heimzahlen wollte. Dass er noch nicht angegriffen hatte, konnte nur bedeuten, dass er seine Feinde noch nicht dort hatte, wo er sie haben wollte. Gegen dieses Spiel konnten sie nichts ausrichten – ihr einziger Trumpf war Omegas Schwert. Versagte Ares, waren sie alle verloren.  
Nach einer halben Meile scherte das teuflische Empfangskommittee nach beiden Seiten aus und verschwand über dem Rand der Schlucht.  Das panische Wehklagen der Seelenmasse sagte Grimwardt, dass der Seelensee des Neunten Höllenkreises nicht mehr weit sein konnte. Und tatsächlich gab die Blutschlucht nach der nächsten Flussbiegung den Blick auf den Nessussee frei.
Der See war größer als die Seelenseen der übrigen Höllenfürsten zusammengenommen und von allen Seiten von blutweinenden Steilwänden umschlossen. Der Styxmündung gegenüber thronten die schwarzen, fensterlosen Türme der Nessusfeste auf einem Felsvorsprung. Auf dem Festungswall, der die Struktur in drei Ringen umgab, harrten die Verteidiger zu Hunderten.  Grimwardt zog seine Axt, während die Kriegsflotte auf den offenen See hinausfuhr. Eine grimmige Ruhe überkam den Kriegspriester, als er den Duft des bevorstehenden Gemetzels einatmete und dabei seine Schutzgebete sprach. Ganz gleich, wie diese Schlacht enden mochte: Jeder erschlagene Teufel war ein Triumph im Namen des Schlachtenherrn und aller Götter.
Plötzlich verlor Grimwardt den Halt unter den Füßen.
Der See gab ein tiefes Glucksen von sich und eine unsichtbare Kraft setzte das Wasser samt der hilflosen Seelenklumpen in Bewegung. Grimwardt wurde gegen die Bordwand  gepresst, als das Schiff sich zur Seite neigte und in rasender Fahrt die steilen Seewindungen hinab schlitterte. Ein Strudel riss ein klaffendes Loch in die Mitte des Seelensees, sodass sie in Windeseile von Wasserwänden umgeben waren wie von Gefängnismauern. In aller Eile sprach der Kriegspriester ein Gebet, dass ihn über Luft wandeln ließ wie über festen Boden. Auch seine Gefährten entkamen dem Malstrom. Blutige Wasserschleier versperrten die Sicht nach oben. Doch durch die Dunstschlieren erspähte Grimwardt die riesenhafte Silhouette einer Teufelskreatur mit ausgebreiteten Schwingen. Er biss die Zähne zusammen, um der fesselnden Aura der Ehrfurcht zu entgehen, die den göttlich aufgeplusterten Höllenfürsten umgab.
Diejenigen der verbündeten Teufel, die flügellos waren, fuhren kreischend in die wirbelnde Tiefe. Der Rest erstickte im Dunst der sengenden Höllenfeuerbälle, die Mephisto auf sie niederregnen ließ. Feuer, das so heiß brannte, dass selbst die Teufel darin zerflossen wie Butter in der Sonne. Innerhalb von Sekunden zerschlug der selbsternannte Herr der Neun Höllen das gegnerische Heer. Doch keiner seiner Angriffe galt Ares oder den Gefährten. Sie sparte er sich fürs Dessert auf.
Höhnisches Gelächter ließ die Wasserwände erzittern.
„All der Aufwand, Ares!“ Die Stimme kam von allen Seiten zugleich. „Du solltest es wirklich besser wissen!“
Ein Pergament entrollte sich vor dem Halbteufel in der Luft, der verdutzt zurückwich. Eine düstere Ahnung beschlich Grimwardt. Seine Knöchel traten weiß hervor, als er den Griff um seine Axt verstärkte.
 „Ganz recht, mein voreiliger Diener“, säuselte Mephistopheles hinter seinem Schutzschleier. „Ich brauche einen Statthalter, der für mich in Cania regiert. Du hast den Ehrgeiz, aber du denkst noch zu sehr wie ein Mensch! Sonst wüsstest du, dass du Canias Thron nicht durch das Schwert eroberst. Verrat ist die einzige Währung in Baator. Unterschreibe den Pakt mit dem Herzblut deines Sohns, knie nieder vor deinem Herrn und kehre als Höllenfürst nach Cania zurück. Oder stirb hier in Nessus und ende ruhmlos wie die Besitzerin des lästerlichen Schwertes, das du trägst!“
Grimwardt spürte bei dieser letzten Bemerkung einen bitteren Knoten in der Kehle.  Ares, der mit misstrauisch gerunzelter Stirn begonnen hatte, das Schriftstück zu entziffern, hielt mitten im Satz inne. Bedächtig steckte er Himmelssplitter zurück in die Schwertscheide.
„Du bist so ein Arsch!“, fauchte Faust.
Der Halbteufel richtete sein eigenes Schwert gegen seinen Sohn.
„Dein Herr scheint ja mächtig Schiss vor uns zu haben, wenn er uns auf so eine linke Tour gegeneinander aufbringen muss!“
Faust hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als die Wasserschleier sich teilten. Trotz seiner Größe bewegte sich der Herr der Neun Höllen so schnell, dass Grimwardt nichts als einen Blitz aus schwarzen und roten Farben wahrnahm, der Feuerschlieren in die Luft zeichnete. Faust begann zu würgen, als sich eine Hand aus magischer Energie um seinen Hals legte, während seine Haut schwarze Blasen warf.
„Worauf wartest du, Ares!“, zischte Mephisto, der weit unter ihnen am Grund des magischen Strudels schwebte. Er war so aufgeladen mit gestohlener, göttlicher Energie, dass die Luft um seine riesenhafte Gestalt magisch knisterte. „Bring deinem Bengel ein wenig Respekt bei!“
Sein Folterzauber zwang Faust in die Knie.
Ares hob sein Schwert über den Kopf, doch Grimwardt kam seinem Hieb zuvor. Der Halbteufel, den der Angriff auf dem falschen Fuß erwischte, riss im letzten Moment sein Schwert herum, doch Ambrosia schmetterte die blockende Klinge achtlos ab. Grimwardt schmeckte schwefeliges Teufelsblut, während sich Tempus‘ Zorn Hieb um Hieb gegen den verräterischen Halbteufel entlud. Noch ein Schlag und er hatte ihn! Doch eine Bewegung am Rande seines Blickfelds lenkte den Kriegspriester ab – etwas in Fausts Blick ließ ihn zaudern. Für den Bruchteil einer Sekunde hielt er inne – genug für den Halbteufel, um sich in eine magische Zeitstarre zu retten.

Faust
Ares‘ Zeitstarre war die Erlösung, auf die Faust gewartet hatte, um den brennenden Schmerz abzuschütteln, den Mephisto durch seine Adern jagte. Ares stieß ein zorniges Brüllen aus, während er die Kräfte der Erde und des Feuers beschwor, die seinen Körper anschwellen ließen, bis er sogar Mephistopheles  überragte.
„Tu es nicht!“, keuchte Faust. „Du willst einen Pakt? Schön, wir können…“
„Wir bleiben bei unserem Plan!“, zischte der Halbteufel und riss Himmelssplitter aus der Scheide. „Sag deinem Freund, dass er ein Narr ist!“
Doch Faust blieb auf der Hut. Erst als die Glasstahlklinge in hellblauem Licht erstrahlte, entspannte er sich. Und dennoch… die Erleichterung, die er verspürte, hatte einen bitteren Beigeschmack. War wirklich alles nur Schau gewesen?
Ob Berechnung oder nicht, Ares‘ vermeintlicher Gesinnungswechsel hatte Mephisto in Reichweite gelockt. Faust stob seinem Vater nach, der die Flügel anlegte und im Sturzflug auf den Höllenfürsten zuhielt. Alles, was nicht innerhalb seiner zeitlichen Zwischendimension geschah, war unveränderbar, doch Ares stimmte den Zauber und seinen Angriff so aufeinander ab, dass die Zeitstarre im selben Moment endete, da er Mephisto erreichte.
Wutentbrannt wirbelte der Höllenfürst herum.
Er verfehlt ihn, erkannte Faust in einer Schrecksekunde.  
Ares hatte nicht damit gerechnet, dass Mephisto noch die Zeit hätte, auf den Angriff zu reagieren. Seine göttlichen Sinne mussten ihn gewarnt haben. Aber Ares hatte alle Wucht des Sturzflugs in den Angriff gelegt, um durch den göttlichen Schutzschild seines Gegners zu dringen. Das schränkte seine Manövrierfähigkeit ein. Mephistos unverhoffte Bewegung würde seine Klinge ins Leere laufen lassen…
Intuitiv ließ Faust seine eigene Klinge vorschnellen. Zwiespalt mochte gegen Mephistos undurchdringlichen Panzer nichts ausrichten, aber das unruhige Lichtspiel der nach Teufelsblut lechzenden Klinge lenkte die Aufmerksamkeit des Gegners in seine Richtung. Die Finte gelang: Ares‘ Angriff hinterließ zwar nur einen Kratzer an Mephistos Kinn, aber der Zauber der Chaoskugel entfaltete seine Wirkung. Kurz trafen sich die erleichterten Blicke von Vater und Sohn und zum ersten Mal glaubte Faust so etwas wie Respekt in Ares‘ Augen zu lesen.
Mephisto keuchte entgeistert auf und schlug ein paar Mal um Fassung ringend mit den Flügeln, als die gestohlene Energie aus seinem Körper entwisch. Der göttliche Schein fiel von ihm, ließ ihn schrumpeln wie einen verfaulten Apel. Doch der erste Schock wich schnell loderndem Zorn. Brennende Äderchen platzten in den Augen des Teufels, als er Ares anvisierte. Sein Blick versprach tödliche Vergeltung, die augenblicklich in Form einer schwarzen Höllenfeuersäule über den Halbteufel hereinbrach. Ares‘ riesige Gestalt verschwand gänzlich im Zentrum einer gewaltigen Explosion. Doch während Faust von den Flammen zurückgedrängt wurde, erspähte er eine schwarze Feder, die im Feuersturm tanzte. Dann noch eine, ein Federschauer, als ob ein riesiger Vogel vom Himmel gestürzt wäre: Ares musste dem Tod wie bei ihrer Begegnung in Cania mit einer Phönixtransformation entronnen sein. Bis er sich aus den Überresten der Explosion regeneriert hatte, waren sie auf sich gestellt.
Ein Flügelschlag streifte Faust: Mephisto wich nach oben aus. Faust schnellte hinterher. Sein magischer Blick verriet ihm, dass Mephisto mit einem Eisenwacht-Zauber gegen die Angriffe seines Schwertes geschützt war, darum zückte er seine Keule. Kurz bevor er den Gegner erreichte, beschleunigte er seinen Flug und hieb schmetternd nach seinem Schädel. Knochen splitterten und Mephistopheles brüllte vor Schmerz, doch der betäubenden Wirkung, die dieses Kampfmanöver für gewöhnlich hatte, widerstand er. Magische Energie pulsierte durch seinen Körper und spannte seine Muskelstränge zum Zerreißen. Im nächsten Moment explodierte der Seelensee in einem Farbenmeer aus Säure-, Eis- und Feuerkugeln. Als Faust erkannte, dass der Zaubersturm ihn zerfetzen würde, geschah etwas Eigenartiges: Instinktiv wich er dem Angriff nicht im Raum aus, sondern in der Zeit. Der Effekt erstaunte ihn selbst: Er hatte den Augenblick der Explosion schlicht ignoriert.  
Langsam wird die Sache mit den Zeitstreichen interessant, Schiefkiefer!
Doch wo waren seine Freunde? Der Feuerdunst vernebelte ihm die Sicht. Dann erhaschte er einen Blick auf Mephistos Gestalt weit über sich. Faust fluchte: Die Beweglichkeit seines Gegners vereitelte die heftigsten seiner Kampfmanöver. Winter, die aus dem Nichts neben ihm auftauchte, sorgte für Abhilfe, indem sie die Gefährten in die Nähe des Höllenfürsten teleportierte. Mit einem zweiten Zauber gelang es ihr, die Eisenwacht des Teufels zu bannen.
Vor Überschwänglichkeit sprang Zwiespalt seinem Träger förmlich in die Hand. Zusammen mit Grimwardt drängte Faust den Teufel in die Defensive. Mephisto musste klar sein, dass er ihnen im Nahkampf unterliegen würde. Doch es gelang ihm, sich noch einmal freizukämpfen, indem er einen weiteren Höllenfeuerball auf sie niederfahren ließ und in die Tiefe des Seelenstrudels floh. Grimwardt, beseelt von göttlichem Zorn, stob ihm nach. Faust wollte es ihm gleichtun, doch eine unsichtbare Barriere ließ ihn zurückprallen. Plötzlich war er ringsum von magischen Schutzwänden umgeben: ein Energiekäfig. Er war erschöpft und der Gestank von verkohltem Fleisch erinnerte ihn daran, dass er den Schmerz nicht ewig würde unterdrücken können. Umso verbissener suchte er nach einem Ausweg. Schließlich umgab er sich mit einem antimagischen Feld, das neben dem Energiekäfig auch seinen Flugzauber unterdrückte, und ließ sich in die Tiefe fallen. Als sich die kämpfenden Gestalten von Mephisto und Grimwardt unter ihm abzeichneten, ließ er die Zone fallen, um den Sturz abzufangen.  
Plötzlich spürte Faust einen Luftzug und Ares schoss mit an den Körper gepressten Flügeln pfeilschnell an ihm vorbei, sein Schwert im Anschlag.
Er gehört mir!
Zwiespalt glühte protestierend auf, doch der Halbteufel war schneller: Mephisto riss den Blick nach oben und versuchte den Angriff  mit seinem Dreizack zu blocken, doch vergeblich: Die Klinge bohrte sich bis zum Heft in seine Schulter. Der Höllenfürst schrie und tobte und bäumte sich mit einem letzten, verzweifelten Flügelschlag auf. Doch das Gewicht seiner eigenen Schwingen drückte ihn nieder, bis er keuchend am Grund des Seelensees harrte. Schwarzes Teufelsblut quoll ihm aus Nase und Mund. Seine Augen waren schwarze Löcher, versengt von seinem eigenen Feuer, als er zu seinem Bezwinger aufsah.
„So geht mit mir unter!“, brach es über seine Lippen.  
Dann sackte der Herr des Achten Höllenkreises zusammen und der Malstrom, den er beschworen hatte, versiegte. Die wirbelnden Wasserwände erstarrten und es wirkte, als hätte jemand die Schleusen des Himmels geöffnet, als der Nessussee tosend über die Gefährten hereinbrach.
Faust holte tief Luft.  
Er spürte, wie sein Kopf gegen harten Grund stieß. Die Strömung riss ihn mit sich, trug ihn empor, während er verzweifelt gegen die Ohnmacht ankämpfte. Sprudelnde Dunkelheit umfing ihn. Er wusste nicht, wo oben und wo unten war. Etwas Kaltes berührte ihn, zog ihn mit sich in die Tiefe, griff nach seinem Geist… Warum kämpfte er noch? Er musste nur nachgeben, musste nur…
Hör nicht auf die Seelenklumpen!
Verbissen konzentrierte er sich auf seine Schwimmzüge, um die erinnerungsraubenden Einflüsterungen auszublenden. Dann endlich – Licht! Ein paar kraftvolle Schwimmzüge, dann brach er keuchend durch die Oberfläche und stob aus dem Wasser.
„Winter! Grim!“
Fieberhaft wanderte sein Blick über den aufgewühlten See. Keine Spur von den anderen. Dann erinnerte er sich an das telepathische Band, das ihn mit seinen Freunden verband. Nichts. Nagende Unruhe packte ihn: Wie lange konnten sie in dem Seelensee überleben? Was geschah mit jenen, die den Einflüsterungen der Verdammten erlagen?
Plötzlich tauchte Ares an seiner Seite auf und zerrte ihn mit sich zum Rand der Schlucht, die den Nessussee umschloss.
„Hilf mir! Die anderen sind noch dort unten!“
Faust wollte sich losreißen, doch das Dröhnen von grollendem Donner ließ ihn innehalten. Er war sosehr auf den See fixiert gewesen, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie der Himmel sich verfinstert hatte. Ein Blitz krachte in einen der Türme der Nessusfeste und spaltete ihn in zwei Hälften. Der Himmel geriet in Bewegung, wo der Blitz die Wolkendecke gespalten hatte und formte eine Windhose. Die Wächter von Nessus, die noch immer auf den Festungswällen harrten, schienen gefangen in einer seltsamen Trance, die sie in monotone Gebete verfallen ließ. Plötzlich entdeckte Faust im Zentrum des Wirbelsturms eine Gestalt, die aus dem zerstörten Turm in die Höhe schwebte – unbeweglich in all dem Tumult. Als ihm klar wurde, wer das sein musste, drohten seine Knie unter ihm nachzugeben. Faust spannte jeden Muskel in seinem Körper an, um die Aura der Ehrfurcht niederzukämpfen, die ihn in eine tiefe Reverenz zwingen wollte. Neben ihm sank sein Vater auf Hände und Knie.
Vergiss deinen Stolz, wenn du die anderen retten willst!, wies Ares ihn mit Nachdruck zurecht.
Der Kämpfer haderte mit sich, während die Gestalt näher schwebte. Es widersprach all seinen Überzeugungen, vor einem Gott… einem echten Gott das Knie zu senken. Wenn es nur um sein eigenes Leben gegangen wäre, hätte er ihm die Stirn geboten, ungeachtet der Konsequenzen. Aber die Worte seines Vaters, so sehr er auch aus Eigennutz sprach, verfehlten nicht ihre Wirkung. Hilflose Wut begann in ihm zu rumoren, geschürt von den farbensprühenden Protesten seines Schwertes Zwiespalt, das er noch immer krampfhaft umklammert hielt. Widerstrebend zwang er die Waffe in die Scheide und senkte steif ein Knie.
„Asmodeus, Herr, wir kamen, um den Usurpator für Euch zu erschlagen“, sprach Ares. „Ihr seid Herr über Baator.“
Faust hielt den Kopf gesenkt, während der Herr der Neun Höllen und sein Diener eine telepathische Unterhaltung führten, die ihn ausschloss. Als er Asmodeus‘ Blick auf sich spürte, sah er auf. Er blickte in ein Gesicht, das sosehr von Geschwüren und eiternden Wunden entstellt war, dass die tränenden Augen darin wie versiegende Pfützen in einer sterbenden Kraterlandschaft wirkten.  Als Faust sich vorstellte, welche Schmerzen der Herr der Neun Höllen leiden musste, Tag für Tag seit Tausenden vor Jahren, empfand er tatsächlich so etwas wie Achtung. Hätte sich sein Kreuzzug nur gegen die Götter gerichtet, ohne diese schmähliche Verachtung für all jene, die sie ihre Schöpfung nannten, vielleicht hätte er dem Herrn der Neun Höllen sogar ein wenig Verständnis entgegengebracht…
„Werdet Ihr meine Gefährten aus dem See befreien“, fragte er. „Bitte…“, fügte er mit all der Überwindung hinzu, die er aufbringen konnte.
Ausdruckslos hob Asmodeus einen Arm, schlug den schweren, goldverzierten Ärmel zurück und schnitt sich mit einem seiner langen, geschwärzten Fingernägel ins Handgelenk. Faust wurde speiübel, als er ihm die eiternde Wunde vors Gesicht hielt.
„Trink“, befahl Asmodeus.
„Warum?“
„Trink.“
Tu es, mischte sich sein Vater ein. Er braucht Grimwardt und Winter noch.
Welche Wahl hatte er schon?
„Na dann, Prost“, murmelte Faust und schmatzte einmal schaudernd.

Winter
Im Halbschlaf leckte sich Winter über die Lippen: Der Sirup rann warm und süß über ihre Zunge. Schläfrig öffnete sie die Augen. Die eitrige Fratze, die sich hinter den Nebeln des Traums abzeichnete, war das Hässlichste, was sie jemals gesehen hatte. Winter kicherte. Fasziniert folgte ihr Blick den Bewegungen der grotesken Kreatur in den schweren, altertümlichen Gewändern: Sie hob ihren Arm an (war das ihr Arm?) und drehte ihn um. Dann stach die Kreatur ihr mit einem ihrer langen, geschwärzten Fingernägel tief ins Handgelenk, bis ein großer Schwall Blut hervorquoll -  schwarzes, dickflüssiges Blut, das sie an den Sirup erinnerte, den sie getrunken hatte. Die Kreatur spreizte Winters Arm, um die blutende Hand auf einer Art Relief zu platzieren, dessen Furchen ein labyrinthisches Muster in den Boden zeichneten, das zur Mitte hin tiefer in die Steinplatten eingelassen war. Das Blut sickerte durch die Windungen des Zirkels und sammelte sich im Mittelpunkt. Das gleiche passierte mit ihrer linken Hand. Ein dumpfes Pochen irgendwo in ihrem Schädel sagte Winter, dass sie all das äußerst beunruhigend finden sollte, doch sie konnte sich nicht entsinnen, wie sich Beunruhigung anfühlte. Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, wie sich fühlen anfühlte.
Nach und nach lichtete sich der Traumnebel und Winter erkannte, dass sie nicht allein war. Ihr gegenüber, auf der anderen Seite des Zirkels, erspähte sie Faust, dessen Blut sich in der Mitte der Struktur mit dem ihren vermischte. Neben ihr lag ihr Bruder Grimwardt. Ihre gespreizten Arme berührten sich an den Fingerspitzen, sodass sie einen dreizackigen Stern bildeten. Aber was tat Grim da nur? Warum zuckte er unablässig mit dem Kopf von einer auf die andere Seite? Mochte er den Sirup nicht, den die Kreatur ihm einflößte?  
Nachdem die Kreatur ihre Arbeit verrichtet hatte, betrat Ares der Halbteufel den Zirkel. Von irgendwo erklang Trommelwirbel. Ares kniete nieder und als er mit den Händen in das Blut fasste, wurde die zähe schwarze Masse lebendig. Klebrige Klauen griffen nach seinen Armen und spannen feine Netzstrukturen um seinen Körper. Ares schrie und bäumte sich protestierend auf, während die Blutfäden ihn an den Boden fesselten. Seine Schreie wurden immer schriller, bis ihnen nichts Menschliches mehr anhaftete. Winter fühlte sich an den Beuteruf eines Greifvogels erinnert. Als die klebrige Masse in seinen Rachen kroch, verstummte er abrupt. Kurz darauf war er völlig von einem Kokon aus Blutmasse umsponnen. Lange wand und krümmte er sich wie eine Raupe vor der Verwandlung. Mit einer gewaltigen Anstrengung durchstieß er sein Gefängnis schließlich mit einer Flügelelle. Die Kreatur, die sich in einer langwierigen Prozedur aus dem Kokon befreite, war größer als der Ares, den Winter kannte. Aus den Hornansätzen auf seiner Stirn waren gewundene Widderhörner gewachsen. Die Haut war ölig und pechschwarz bis auf die rote Phönixtätowierung auf seiner Brust. Statt Füßen waren ihm Klauen gewachsen und anstelle der ledrigen Hornschwingen schüttelte er stolz sein prächtiges Gefieder.  
Jetzt ist er wirklich ein Phönix, dachte Winter. Der Schwarze Phönix von Cania.

Faust
Hauptstadt des  Achten Höllenkreises, ein Tag später.
Miu saß am Fenster des Schlafgemachs und starrte blicklos in die Winterlandschaft. Cania hatte bereits begonnen sich zu verwandeln: Gelegentlich brachen schwarze Feuerfontänen durch die Eisschicht und es hieß, dass seltsame Kreaturen in der Nähe des Palasts gesichtet worden seien: prächtige schwarze Vögel mit brennendem Gefieder, die ein schreckliches Kreischen ausstießen, wenn man sich ihnen näherte. Das Land begann sich der Seele seines neuen Herrschers anzupassen.
Faust war schon seit einer Weile wach, doch er gab vor, noch zu schlafen, um den Augenblick hinauszuzögern, da er Miu in die Augen sehen musste. Es graute ihm davor, was er dort finden mochte. Einen ganzen Monat hatte sie in Canias Folterkammern verbracht. Mius Befreiung war Teil des Paktes, den sie mit Ares geschlossen hatten. Doch es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich auszumalen, was Mephistos Folterknechte ihr in diesem einen Monat alles hatten antun können. Faust zweifelte nicht daran, dass er sie für die Rebellion ihrer Gefährten hatte büßen lassen.
Schließlich gab er sich einen Ruck und öffnete die Augen.
„Miu?“
Sie fuhr zusammen. Für einen Augenblick trat ein gehetzter Ausdruck in ihre Augen, als hätte sie vergessen, dass sie in Sicherheit war. Dann entspannten sich ihre Züge.
„Wie geht es dir?“, fragte sie, doch ihr Blick blieb hohl und ihre Besorgnis war nur ein fahles Echo ihrer üblichen Fürsorglichkeit.
„Ich bin in Ordnung… Tut gut dich zu sehen.“
Selbst ihr Lächeln war wie ausgebleicht.
„Du hast dich also entschlossen, deine Stimme zu behalten, hm?“
Miu zuckte kaum merklich zusammen und zupfte verlegen an den langen Ärmeln ihres Kleides. Faust sah genauer hin und meinte eine tiefe Narbe zu erkennen, die sich quer über ihren Handrücken zog. Etwas in ihm zog sich zusammen, als er erkannte, was das bedeuten musste: Miu musste die Kraft des Geistes verloren haben, die ihrem Körper die Fähigkeit verlieh, sich selbst zu regenerieren. Zorn keimte in ihm auf, als er erkannte, wessen Werk das sein musste.
„Es war Tyrail, der die beiden Mistkerle zu dir in die Zelle schickte“, begann er zähneknirschend. „Ich habe ihn nicht getötet, weil du das nicht gewollt hättest. Aber er wird bezahlen, für das, was er dir angetan hat.“
Miu maß ihn mit einem seltsamen Blick.
„Sie hatten keine Gelegenheit zu tun, wozu sie gekommen waren“, sagte sie. „Ich tötete sie.“
Erstaunt sah Faust auf. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber das nicht. Doch die Erleichterung, die er ihm ersten Moment verspürte, wich schnell der bitteren Erkenntnis, dass der Tod der beiden Schänder nichts weiter war als eine boshafte Falle: Mephistos Folterknechte hatten Mius Willen weder mit der Streckbank noch mit Teufelszungen brechen können – also hatten sie dafür gesorgt, dass sie aus eigener Hand ein Verbrechen beging, das ihr Glaubenskodex als unverzeihlich erachtete: Sie hatte zwei Menschen getötet, Teufelsanbeter, gewiss, aber für Miu war jedes Leben heilig. Tyrail mochte sich an seinen Hass klammern, aber er war in diesem Spiel nichts weiter als Mephistos Vollstrecker. Plötzlich flammte Fausts Zorn gegen den Höllenfürsten erneut auf und er bedauerte es, dass Ares ihn um die Gelegenheit betrogen hatte, seinen Kopf rollen zu sehen. Er ballte die Fäuste.
„Sag mit bitte, dass er nicht auch noch deine Seele bekommen hat“, knirschte er.
„Nein.“ Es klang fast kalt und der Ausdruck in Mius Augen war eine bittere Anklage.
Ja, schon gut, ich sollte mir kein Urteil erlauben….
„Miu, deine Ahnengeister werden sicher Verständnis haben für das, was du getan hast.“
„Sie sind sehr gnädig“, bestätigte Miu. „Gegenüber jenen, die Reue zeigen. Aber ich kann nicht bereuen. Ich fühle... Ich weiß es nicht. Alles fühlt sich gleich an. Wie betäubt.“
Faust gab sich alle Mühe das Dilemma aus Mius Sicht zu sehen, sich in ihre fremde Welt der unumstößlichen Wahrheiten und ehernen Gesetze hineinzuversetzen. Aber der Fakt blieb: Sie hatte unter unmöglichen Bedingungen eine unmögliche Entscheidung getroffen und war dafür mit dem Verlust ihrer übernatürlichen Kräfte bestraft worden. Und anstatt den Mächten zu zürnen, die sich anmaßten, sie zu verdammen, suchte sie die Schuld in sich selbst.
„Vielleicht musst du nur ein wenig Geduld haben“, versuchte er sie zu ermuntern. „Tu mal etwas für dich. Deine Ahnengeister werden schon noch erkennen, dass sie Hornochsen wären, wenn sie dich gehen ließen.“
Miu lächelte – um seinetwillen. Doch sie wirkte wenig überzeugt.
 Faust wusste nicht, was er noch sagen sollte. Fast war er dankbar um das Erscheinen des Gelugon-Dieners, der kam um ihm mitzuteilen, dass der Schwarze Phönix nun bereit sei, ihn „zur Seelenübergabe“ zu empfangen.
Missmutig führte der Eisteufel Faust zum Seelensee unter dem Berg Nargus. Offenbar erfreute Ares sich bei Mephistos Dienerschaft keiner großen Beliebtheit. Schon unter Mephistos gespaltener Persönlichkeit und seinen feurigen Zornausbrüchen hatte die Heimat der Eisteufel gelitten. Nun war abzusehen, dass Canias ewiger Winter unter der Herrschaft des Schwarzen Phönix ein baldiges Ende finden würde. Außerdem war Ares‘ schwindelerregender Aufstieg vom Halbteufel-Diener zum Fürsten des zweitmächtigsten Höllenkreises ein Skandal – keiner hatte vor ihm auf so dramatische Weise Baators strikte Herrschaftshierarchie durchbrochen. Er würde sich gegen zahlreiche Neider behaupten müssen, wenn er diesen Posten behalten wollte.
Der Schwarze Phönix harrte am Ufer des Seelensees und sog mit halb geschlossenen Augen den Duft der Macht ein. Unwillkürlich griff Faust nach seinem linken Handgelenk, wo eine kleine Narbe an das Ritual erinnerte, mit dem Asmodeus seinen Vater zum vollwertigen Teufel erhoben hatte. Wenn seine Seele nach der Verwandlung so schwarz war wie sein neues Kostüm, dann sollte er wohl besser auf der Hut sein.
Verrat ist die einzige Währung in Baator.
Er hatte Mephistos Worte nicht vergessen. Plötzlich wünschte er sich, Winter und Grimwardt wären hier. Wer wusste, welchen Preis Asmodeus für Cania gefordert hatte…
„Ich hätte versagt.“ Ares‘ Stimme klang dunkler und voller als vor der Verwandlung. Langsam wandte er sich Faust um. „Wärest du nicht gewesen, hätte ich Mephistopheles im entscheidenden Moment verfehlt.“  
„Ich hab’s nicht für dich getan“, meinte Faust salopp. „Wir wären alle im Arsch gewesen.“
„Das ist nicht der Punkt“, erwiderte Ares unwirsch. „Ich habe ihn unverdient besiegt.“
„Du hast ihm den Todesstoß verpasst.“
„Ungenügend.“
Faust verdrehte die Augen. Er war nicht hergekommen, um sich die Selbstkritik eines Höllenfürsten anzuhören.
„Du dachtest, ich würde dich verraten, wie?“, fragte  Ares unvermittelt. „Als Mephisto mir sein  Angebot unterbreitete.“
„Hatte ich so Unrecht?“
Er war sich noch immer nicht sicher, was dort unten am Nessussee passiert war. War alles nur Schau gewesen? Hatte Ares Mephisto zum Narren gehalten, um ihn zu ihnen in den Strudel zu locken? Oder war er auf sein Angebot eingegangen, hatte sich aber im letzten Moment anders entschieden? Grimwardt hatte ihn schwer verwundet… schwer genug, um seine Meinung zu ändern? Faust hätte zu gern diesen Pakt gesehen. Hätte Ares wirklich riskiert, alles zu verlieren, um das Leben seines Sohns zu schützen?
Ein hartes Lächeln umspielte die Mundwinkel des Teufels.
„Ich würde dir kein Leid zufügen, Desmond, solange es einen anderen Weg gibt“, sprach er. „Weißt du, indem ich mich aus deinem Leben herausgehalten habe, aus deinem, dem deiner Schwester und deiner Mutter, habe ich euch all die Jahre beschützt – auf meine Weise. Es war deine Entscheidung hierher zu kommen und diesen Schutz aufzuheben. Also ist es auch deine Verantwortung“
 „Ich verstehe.“
Solange es einen anderen Weg gibt…
Für seine Macht, für seine Ambitionen, würde Ares alles opfern. Vielleicht liebte er seinen Sohn tatsächlich. Doch es spielte keine Rolle, weil Liebe für ihn nur einer der Einsätze war, die er in diesem Spiel auf den Tisch warf – im Spiel um… tja, um was eigentlich?
„Warum hast du es getan?“, wollte Faust wissen. „Warum hast du damals deine Freunde verraten? Hades, Thallastam, Nachtmond… Omega?“
„Weil ich das Recht dazu hatte“, erwiderte Ares ohne zu zögern. „Weil ich mehr bin, als sie jemals sein werden. Glaubst du, all das“ –  er ruckte den Kopf in Richtung des Seelensees – „ist mir genug? Cania? Die Seelen? Baator? Ich bin zu Größerem bestimmt, Desmond. Aber ich wurde als Mensch geboren. Meine geringe Lebensspanne begrenzt mein Potential.  Eine Ungerechtigkeit für eine noch größere, kosmische Ungerechtigkeit… Es war mein Recht.“
Er will ein Gott werden!
Faust schauderte, als er erkannte, wie sehr ihre Gedankengänge sich manchmal ähnelten, so grundverschieden ihre Überzeugungen auch waren.
„Was ist mit Winter?“, fragte er. „Was gab dir das Recht, sie zum Seelenraub zu verführen?“
„Ich bin ein Teufel“, erwiderte der Schwarze Phönix schulterzuckend. „Wir verführen. Wir lügen. Winters Seele wird sich verändern und am Ende wird sie hier landen mitsamt der Seelen, die sie leergesaugt hat. Eine Langzeitinvestition, mit der sich darüber hinaus das lästige Prinzip des freien Willens umgehen lässt. Uns Baatezu ist es nur erlaubt, jene Seelen zu übernehmen, die den Bedingungen zugestimmt haben. Aber Winter…“
„… ist kein Teufel.“ In diesem Moment hätte Faust liebend gerne den Drängen seiner Chaosklinge nachgegeben, die süße Bilder von aufgeschlitzten Phönixkehlen in ihm beschwor. „Warum Winter?“
„Sie war ein leichtes Opfer. Mächtig und verzweifelt. Sie war schon verloren, ehe ich kam.“
Ares kniete sich nieder und beschwor eine Phiole. Dann sprach er ein paar Worte in der Sprache Baators. Aus der Seelenmasse löste sich ein handgroßer Klumpen – ein hässliches gelblich-weißes Gebilde, fleischig und unförmig wie ein Embryo, der sich in der Fruchtblase wand – und waberte auf die beiden Gestalten am Ufer zu. Ein weiterer Befehl saugte Omegas Seele in die Phiole, wo sie mit stummen, mundlosen Schreien gegen ihr gläsernes Gefängnis trommelte.
„Hast du mich deshalb hierher bestellt?“, murmelte Faust angewidert, „um mir zu zeigen, was aus uns werden wird?“
Ares wog die Phiole in seiner Hand und schüttelte grübelnd den Kopf.
„Ich finde es erstaunlich, dass du all dieses Leid auf dich genommen hast für eine Frau, die du nicht einmal kennst.“
„Ich glaube an ihre Philosophie.“
Der Teufel lachte leise.
„Hättest du Omega vor ein paar Jahrhunderten gekannt, wärst du womöglich durch die Hölle gegangen, um sie aufzuhalten.“
„Was weißt du über sie?“
„Genug, um zu erkennen, dass sie die Mitte gewählt hat, weil sie alle Extreme bereits durchlebt hat. Vermutlich hat sie ebenso vielen Sterblichen den Tod gebracht wie das Leben.“
„Passt doch zu ihrer Überzeugung...“
Als Faust die Phiole entgegen nehmen wollte, spürte er Ares‘ Widerwillen, der ihm wie eine faulige Aura entgegenschlug. Offenbar fiel es dem Höllenfürsten schwerer sich von seiner wertvollsten Seele zu trennen, als er Faust Glauben machen wollte.
„Ares, gib sie her“, sagte er ruhig, aber mit einem drohenden Unterton.
Mit einem Zwinkern löste der Schwarze Phönix den Blick von der Phiole und ließ von ihr ab.
„Wenn du meinen Rat hören willst“, murmelte er düster. „Zerstör diese Seele! Du weißt nicht, an welche Omega sie sich erinnern wird.“
„Du glaubst doch nicht, dass ich dafür meine Seele verkauft habe!“, knurrte Faust.
Ares verfiel in beredtes Schweigen und Faust hätte sich dafür knüppeln mögen, dass er dieses unsägliche Thema auf den Tisch gebracht hatte.
„Was ist deine Hintertür?“, fragte sein Vater unvermittelt.
„Was?“
„Ich glaube nicht, dass du diesen Pakt eingegangen wärst, ohne dir eine Hintertür offen zu lassen… Immerhin bist du mein Sohn.“
Faust maß ihn mit misstrauischen Blicken. Er konnte Ares nicht trauen. Andererseits… von wem konnte er mehr über seine Chancen erfahren, aus diesem Pakt auszusteigen, als von einem Fürst der Neun Höllen?
„Fünfzehn Jahre Galgenfrist hat Mephisto mir gewährt“, begann er. „Was ist damit gemeint? Was passiert, wenn ich in fünfzehn Jahren nicht mehr da bin?“
„Wenn du vorher stirbst, führt der Styx dich dennoch deiner Bestimmung zu.“
„Gut, aber was wäre, wenn ich nicht aufzufinden wäre?“
„Du kannst dich vor deinem Schicksal nicht verstecken.“
„Nicht einmal in der Zeit?“
„Du meinst, in einer Art ausgedehnten Zeitstarre?“
„Zum Beispiel.“  
Ares schüttelte entschieden den Kopf.
„Warum sollte dir gelingen, was den mächtigsten Magiern nie gelungen ist?“
„Nehmen wir an, es wäre möglich.“
„Deine Lebenszeit würde trotzdem weiterlaufen. Die fünfzehn Jahre werden an deiner Seele gemessen, nicht am Lauf der Geschichte.“
Grübelnd biss sich Faust auf die Unterlippe. Was, wenn es ihm möglich wäre, in eine Vergangenheit zu teleportieren, in der die Hölle noch nicht existierte? Oder in eine Zukunft, in der sie längst zerstört war? Wohin konnte der Styx ihn ohne kosmischen Zielhafen führen? Doch diese Überlegungen wollte er lieber nicht mit dem Nutznießer seines Untergangs teilen.
„Dann werde ich eben doch die Hölle stürzen müssen“, bemerkte er lapidar.
Ares lachte ihn schallend aus. Doch Faust meinte es bitterernst. Er hatte die Nase gestrichen voll von diesem Laden. Er war sicher, dass er Baator nicht zum letzten Mal lebend gesehen hatte, denn auf mysteriöse, schicksalhafte Weise schien der Name Faust untrennbar mit der Hölle verknüpft.
„Auf Wiedersehen, Ares“, sagte er darum mit herausfordernd vorgeschobenem Kinn und bot seinem Vater die Hand zum Abschied.
„Leb wohl, Desmond“, erwiderte der Schwarze Phönix schmunzelnd.  
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 17. Oktober 2012, 01:08:30
 :thumbup:
Schön! Das kam unverhofft! Sehr schöner Showdown. Die Story ist auch echt Gold wert. Habe gemerkt, wie viele Details mir erst beim Lesen wieder eingefallen sind. Und natürlich eine nette Anlehnung am Schluss:
"denn auf mysteriöse, schicksalhafte Weise schien der Name Faust untrennbar mit der Hölle verknüpft. "
... Hast du vor den Rest ins nächste Buch mit rein zunehmen, oder wird es noch ein Kapitel VIII geben?
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 17. Oktober 2012, 08:34:55
Ja, es wird ein achtes Kapitel geben, um die Akte "Omegas Seele" abzuschließen (und natürlich für die Grüngras-Ausschweifungen :-D)

Was die intertextuelle Faust-Anlehnung angeht: Laut meinen Notizen kam das sogar in dem Dialog zwischen Ares und Faust so oder so ähnlich zur Sprache.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 17. Oktober 2012, 19:51:23
Vielen Dank für dieses Kapitel! Das war ein wieder sehr düsterer Abschnitt, und sehr bewegt erzählt.
Ich freue mich besonders auf das Grüngrasfest! Hoffentlich gibt es bald mehr!!!  :lol:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 18. Oktober 2012, 16:08:40
Stimmt, das war einfach zu passend mit dieser Faust-Hölle Kombi. Wenn eines fernen Tages das Abenteuer und alle Bücher fertig sind, dann bin ich dafür, dass wir das alles nochmal korrekturlesen, Tom Susi und ich zusammenschmeißen und 3 gebundene Ausgaben für uns alle draus machen! Weiß jemand was sowas kostet?
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 19. Oktober 2012, 10:45:56
Das sollten wir auf jeden Fall machen. Eine überschlägige Google-Suche sagt, selbst mit Hardcover ist das bezahlbar.

Ich wäre dann aber sehr dafür, dass unsere Autorin vorher den ersten Teil, der noch mit anderer Gruppenbesetzung gespielt worden ist, ganz überarbeitet, und dem neuen Stil anpasst. Den vor dem 8-Jahres-Aussetzer. Der noch so stichwortartig durch das Geschehen hetzt.

Das ist ein Berg voll Arbeit, ich weiß...aber es würde sich doch lohnen.

Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 19. Oktober 2012, 11:46:08
Waren die Sachen nicht sogar noch von Thalas aufgeschrieben? Vermutlich würden ja ohnehin mehrere Bücher daraus. Daher wäre es natürlich einfacher erstmal alles ab "Stadt der gläsernen Gesänge" in Buchform zu bringen. Fürs Cover fänd ich dann quasi das Wappen der Schicksalsstreiter am passensten.
Hat die Autorin vielleicht gerade eine bisherige Seitenzahl parat? Wobei die sich im Buchformat ja vermutlich noch stark erhöhen wird. Oh, und wie soll das nachste Kapitel mit Drizzt heißen?
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 19. Oktober 2012, 22:12:57
Also im Word-Lesemodus (entspricht etwa Normseiten):
Stadt der Gläsernen Gesänge: 112 Seiten
Wüste der Schatten: 196 Seiten
Quell der Seelen: 162 Seiten
Insel der Rätsel: 166 Seiten
Fluss der Verdammten: bisher 183 Seiten

:)

Die Vorgeschichte wäre schon irgendwie wichtig - immerhin beginnen dort viele der Plotfäden, die in den späteren Abenteuern aufgenommen, aufgelöst oder weitergesponnen werden. Dazu müssten die alten Seiten aber gründlich überarbeitet werden - abgesehen von dem Telegrammstil (war anfangs mehr als Erinnerungsstütze gedacht) fehlen einige Stücke in der Mitte und am Ende völlig, weil ich mich daran nicht mehr richtig erinnern konnte. Das müsste dann mit "Fiktion" aufgefüllt werden. Und genaugenommen reicht die Geschichte ja sogar noch weiter zurück... Das alles zu überarbeiten könnte Jahre dauern - ich wäre daher wohl auch eher für die Version "Schicksalsstreiter überarbeiten und dann abwarten, was aus dem Rest wird".

Wie das neue Drizzt-Kapitel heißen soll... äh, keine Ahnung. Ist ja noch ein ganzes Stück bis dahin. Was meinst du eigentlich? Den Kampf oder das kurze Stück, als Drizzt mit euch durchs Immermoor gelaufen ist?

Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 19. Oktober 2012, 23:35:49
jaja, durchs immermoor und so, aber ich bemerke gerade, dass das ja zum gerade erst (fast?) abgeschlossenem Abenteuer gehört, von daher ist es natürlich wirklich noch was bis dahin.
Also bisher 819 Seiten auf Word. Ist ja schon ne ordentliche Menge. Zumindest ein dickes oder 2 relativ dicke Bücher werden da wohl bei rumkommen.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 23. Oktober 2012, 22:13:15
Kapitel VIII: Grüngras

Winter
Schwerterteich, ein Tag später.
Hades hatte Omegas Leiche in der Kelemvor-Kapelle hinter dem Friedhof aufgebahrt. Während der Todespriester seinen Platz hinter dem Altar einnahm, ließen sich Winter und ihre Freunde auf der Gebetsbank nieder. Außer den vier Gefährten, denen Omega ihre Rettung verdankte, wohnte nur Elijas als stellvertretender Anführer der Neun Schwerter der Zeremonie bei. Hades hatte erklärt, dass es keineswegs sicher sei, dass Omegas Seele den Übergang bewältigte. Falls die monatelange Folter sie sosehr geschwächt hatte, dass sie keine Erinnerung mehr an ihre fleischliche Hülle hatte, würde sie keinen Einlass in ihren Körper finden und stattdessen den Weg in die Stadt der Seelen antreten.
Die Phiole hoch über dem Kopf erhoben, sprach der Priester des Totengotts ein Gebet, das den Seelenbehälter mit einem schwachen Licht erfüllte. Das traurige Seelengebilde begann an- und abzuschwellen wie ein viel zu schnell schlagendes Herz, während das Licht erstarkte. Schließlich schmolz das Glas unter der Kraft des Seelenlichts, sodass Hades einen leuchtenden Stern in den Händen zu halten schien. Ohne Vorwarnung stockte Winter der Atem und ihre Finger bohrten sich wie Krallen in das Holz der Sitzbank. Plötzlich war ihr Geist erfüllt von einer Seelenmelodie, die von so schmerzhafter Schönheit war, dass alles andere keine Bedeutung mehr hatte. Sie musste um jeden Preis diese Seele haben!
Winter!
Erst als Faust ihr unsanft in die Schulter kniff, drang sein eindringlicher Ruf durch den Seelennebel. Es kostete sie ungeheure Anstrengung, die Melodie zurückzudrängen, um sich ihrer Umwelt wieder bewusst zu werden. Alle starrten sie an - alle bis auf Hades, der noch immer in ritueller Trance über Omegas totem Körper harrte. Plötzlich riss die Leiche die Augen auf und bäumte sich auf. Etwas riss ihre Kinnlade herunter und das Seelenlicht strömte gierig in den zuckenden Körper.
Alles in Winter drängte sie dazu, vorzustürzen und die Seele, diese unbeschreiblich wertvolle Seele, aufzuhalten, bevor sie unerreichbar für sie war.
Ich muss hier raus!
Wankend richtete sie sich auf und stürzte stolpernd aus der Kapelle. Sobald die Seelenmelodie sie aus ihrem Griff entließ, rannte sie los. Erst als sie den Teich der Neun Schwerter erreicht hatte, hielt sie inne. Keuchend ließ sie sich auf die Knie fallen und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht.
„Kannst du mir mal sagen, was da drin los war?“
Erschrocken fuhr sie auf: Grimwardt stand ihr mit verschränkten Armen gegenüber. 
„Und was ist mit deinen Augen passiert?“
„Oh, Grim“, stammelte sie. Das Verlangen nach der befreiten Seele hatte sie völlig unvorbereitet getroffen. Hatte sie sich am Morgen nicht vorsorglich zu einer Hinrichtung in Atkatla davongestohlen, um solch unangenehmen Szenen vorzubeugen! Aber keine der zahlreichen Seelen, die sie getrunken hatte, hatte je eine solche Wirkung auf sie gehabt. „Mir war plötzlich ganz anders… vielleicht eine Nachwirkung dieses scheußlichen Teufelsbluts, das Asmodeus uns aufgezwungen hat“, griff sie nach der erstbesten Lüge, die ihr in den Sinn kam.
Grimwardt zog die Stirn in Falten und kniete sich zu ihr ins Ufergras.
„Also ich spüre nichts. Lass mal sehen.“
Er legte ihr die Hand auf die Stirn, um ein Heilgebet zu sprechen.
„Nein!“ Eilig entwand sie sich seiner Berührung. „Nein…“ Sie lachte nervös auf. „Es ist nichts, ich… Die Vorstellung hat mich wohl nur überwältigt, dass das Ritual misslingen könnte. Stell dir vor, unsere Höllenfahrt wäre völlig umsonst gewesen!“
Ihr Bruder maß sie mit durchdringenden Blicken. Er glaubte ihr kein Wort. Umso mehr überraschte es Winter, als er sich aufrichtete, ihr die Hand reichte, und etwas grummelte, das so klang wie „Na gut, war ‘ne harte Zeit für uns alle.“
Erstaunt begriff sie, dass Grimwardt die Wahrheit gar nicht wissen wollte.

Faust
Wenig später in der Halle der Schwerter 
Omega war blass und ihre Schritte wirkten noch ein wenig steif, als sie ihren Platz an der Tafel der Neun einnahm. Ehrerbietig erhoben sich die Ordensmitglieder, um die Wiederauferstandene willkommen zu heißen. Bis auf Tyrail, den Faust zur Verurteilung für seine Verbrechen nach Myth Drannor überführt hatte, waren alle Schwerter vereint.
Die Ordensführerin hatte auf diese Versammlung bestanden, obgleich Hades ihr Ruhe verordnet hatte. Sie selbst sprach wenig und ließ stattdessen die anderen von den Ereignissen berichten, die sich in ihrer Abwesenheit zugetragen hatten. Aus Fausts „knapper Berichterstattung“ wurde eine zweistündige Lektüre seines Höllenabenteuers. Er hielt nichts zurück – nicht einmal die pikanten Details von Tyrails Fall und seinen eigenen Seelenhandel. Als er geendet hatte, kehrte Stille ein. Faust las Schrecken, aber auch Ehrfurcht und Bewunderung in den Gesichtern der anderen. Fast auf den Tag drei Monate war es her, seit sie ihn hier an dieser Tafel zum Tode verurteilt hatten. Nun genoss er ihre Anerkennung. Faust musste sich eingestehen, dass Thallastam wieder einmal Recht behalten hatte: Von den Neun Schwertern akzeptiert und respektiert zu werden, war ihm wichtiger, als er sich all die Jahre auf der Flucht hatte eingestehen wollen. Ob er nun wollte oder nicht – durch Zwiespalt war er für immer mit dem Orden verbunden.
„Faust, ich bitte Euch vorzutreten“, sprach Omega. „Euer Schwert braucht Ihr nicht“, fügte sie hinzu, als Faust Anstalten machte, die Klinge aufzunehmen, die er zwischen den anderen Schwertern auf dem Schicksalsrad platziert hatte.   
Verwirrt kniete er sich gemäß ihren Aufforderungen vor sie hin. Was sollte das werden? Irgendein östliches Dankeszeremoniell?
„Als Ordensführerin“, erklärte Omega feierlich, „obliegt mir die Vollstreckung des Todesurteils an Faust, Träger des Schwertes Zwiespalt, das vor meiner Abwesenheit durch dieses Ordensgericht gefällt wurde.“
Faust brauchte einen Moment, um ihre Worte zu fassen. Erst als Himmelssplitter singend in ihre Hand sprang, wurde ihm klar, dass sie es ernst meinte. Ungläubig hob er den Blick, doch er fand nichts als Gleichmut in Omegas zeitlosen, grauen Augen. Auch die anderen Schwerter begriffen nicht, was in ihre Anführerin gefahren war, und Widerstand regte sich unter den Versammelten. Hades brachte sie mit einem Räuspern zur Ruhe.
„Ich muss Einspruch einlegen“, sprach der Richter. „Wie bereits zur Sprache gebracht, wurde das Urteil gegen Faust in einer zweiten Abstimmung revidiert. Grund dafür war ein Gnadengesuch des Geistes Thallastams, eben jenes Thallastams, für dessen Tod Faust schuldig gesprochen wurde. Da die Grundprämisse, dass ein Schuldspruch dem Opfer zu Gerechtigkeit zu verhelfen hat, durch diese Wendung in Frage gestellt wurde, hielt ich eine Neuaufnahme des Verfahrens für unabdinglich.“
„Die Abstimmung fand ohne mein Beisein statt und ist damit ungültig.“
„Ihr wart de facto tot.“
„Aber jetzt bin ich hier.“
„Das ändert nichts an der Rechtsgültigkeit der Abstimmung zur Zeit ihrer Durchführung.“
„Die auf einer Wendung beruhte, die nur zustande kam, weil der Verurteilte rechtswidrig aus der Haft entlassen wurde.“
Faust schwirrte der Kopf. Er fühlte sich wie bei einem Jahrmarktsstück, bei dem der Autor zwei zeternde Witzgestalten in einem Rededuell gegeneinander antreten ließ.
„Ich schätze, dass ich Omegas Seele aus der Hölle gerettet habe, hat keine Rechtsrelevanz, hm?“, warf er zynisch ein. 
„Das ist korrekt“, fühlte sich Hades genötigt zu bestätigen.
„Faust, Ihr und Eure Gefährten, Ihr habt meinen aufrichtigen Dank“, erklärte Omega. „Aber so wie die Dinge liegen, muss das Urteil vollstreckt werden. Es ist das Beste für den Orden – es tut mir leid. Wenn Ihr all die Dinge sehen könntet, die ich sehe, würdet Ihr verstehen…“
Er spürte Himmelssplitters kalte Klinge an seiner Kehle.
„Ihr seid nicht Ihr selbst!“, murmelte Faust angespannt. „Was waren die letzten Worte, die Ihr zu mir spracht in der Nacht vor meiner Verurteilung? Wenn ich Euch meine Kehle hinhalten soll, dann will ich wenigstens sicher sein, dass das nicht ein weiterer fauler Trick der Hölle ist!“ 
Sie erwiderte seinen Blick aufrichtig und gefasst.
„Ich sagte Euch, dass es kein Zufall sei, dass Ihr gerade zu diesem Zeitpunkt zurückkehrtet.“
„Weil Ihr mir die Möglichkeit einräumen wolltet, Abbitte zu leisten!“
„Es war niemals mein Wille, ein Ordensurteil zu übergehen.“
Als Faust keine Widerworte mehr leistete, begann Omega einen rituellen Abgesang zu sprechen. Faust schielte nach seinem Schwert – zu weit, um danach zu greifen, aber mit einer Rolle käme er hin. Was auch immer das alles zu bedeuten hatte, er würde sich hier und jetzt sicher nicht umbringen lassen! Irgendetwas musste bei Hades‘ Ritual schiefgelaufen sein. Oder… Plötzlich fielen ihm die Worte seines Vaters ein: Wer weiß, an welche Omega sich ihre Seele erinnern wird.
Im selben Moment, als Faust sich zur Seite werfen wollte, um Omegas Henkersschlag auszuweichen, sah er aus den Augenwinkeln eine Bewegung – ein Flügelschlag. Elijas packte ihn an der Schulter und die Halle verschwamm im Dimensionsstrudel. 
Sie tauchten im Wald wieder auf.
„Flink wie immer. Danke, Mann.“
„Was ist mit ihr passiert?“ Elijas war aschfahl; seine Flügel zitterten. Faust hatte den ernsthaften Avariel noch nie so furchtsam erlebt. „Hat man euch in Cania um ihre Seele betrogen?“
 „Nein.“ Frustriert ließ sich Faust gegen einen Baumstamm sinken. „Die Seele ist die richtige, denke ich. Ihre Erinnerung scheint auch in Ordnung zu sein, nur die emotionale Brille, durch die sie sich erinnert, ist irgendwie kaputt. Ares… Er warnte mich davor, als er mir Omegas Seele überreichte. Ich dachte, er wollte sich nur aus unserem Pakt herauswinden, um die Seele für sich zu behalten. Wollte er vermutlich auch, aber seine Ahnung hat sich bestätigt: Omega war nicht immer unsere Omega. Und im Moment haben wir… zweimal Hades! Und Hades ist sogar der gute Hades!“
Elijas war angemessen verwirrt, begriff jedoch, worauf Faust hinauswollte.
„Gibt es denn keine Möglichkeit, unsere Omega zurückzuholen?“ 
Faust hob mutlos die Schultern.
„Keine Ahnung… Ich dachte, es wäre endlich vorbei.“
„Das dachten wir alle.“
Für eine Weile verfielen beide in betretenes Schweigen.
„Wo sind wir?“, fragte Faust schließlich.
„So nah an Myth Drannor, wie es mir erlaubt ist“, erwiderte Elijas. „Die Stadt liegt hinter dem nächsten Hügel in nördlicher Richtung. Du solltest dich vermutlich besser eine Weile nicht in Rabenklippe blicken lassen…“ Er überlegte eine Weile, ehe er hinzufügte: „Ich werde zum Orden zurückkehren und versuchen mit Hades alleine zu sprechen. Vielleicht hat er eine Idee, was wir tun können. Wenn es um Seelen geht, kennt er sich am besten aus. Omega ist sehr mächtig, das macht sie gefährlich.  Falls ihre Seele unwiderruflich zersplittert ist...“ Er bewegte unbehaglich die Flügel.
 „… müssen wir sie wohl oder übel aufhalten“, ergänzte Faust düster. Er begann sich zu fragen, ob die Hölle am Ende doch den Sieg davontragen sollte…

Grimwardt
Im Gasthaus "Zu den Neun Schwertern", abends
Er hatte den Schemel zum Fenster des Gasthauszimmers ausgerichtet, das nach Westen ging, wo die untergehende Sonne blutrot den vergangenen Schlachten huldigte. Natürlich hätte er zum Gebet auch eine Tempus-Kapelle in Rabenklippe aufsuchen können. Doch der Ritt in die Stadt dauerte eine halbe Stunde und falls Faust noch vor dem Morgen auftauchen sollte, wollte er aufbruchsbereit sein, damit sich die Rückkehr in die Abtei des Schwertes nicht noch länger hinauszog.
Demütig kniete er sich vor den Schemel, sein Glaubensamulett fest umklammert.
Tempus, mein Herr, warum erhörst Du mich nicht?
Wie schon auf seine letzten fünf Gebete erhielt er keine Antwort. Der Teil seiner Seele, der in Kriegersruh weilte, fühlte sich kalt und leer an. Anfangs hatte Tempus‘ Schweigen Grimwardt mit Sorge erfüllt: War sein Herr in Bedrängnis? War das Unheil über Ihn hereingebrochen, das Er prophezeit hatte? Doch bei Veiros‘ Ungestüm, Grimwardt war nicht irgendein Priester! Er war der Auserwählte seines Gottes! Er sollte nicht fragen müssen, wie es seinem Herrn erging! Also musste der Fehler bei ihm selbst liegen. Doch weshalb zürnte ihm Tempus? Er hatte die Streitaxt Ambrosia aus den Klauen des Dämons befreit, wie der Feindhammer es ihm befohlen hatte. War es die Rettung Asmodeus‘, des Höhnenden Gottes, die Er ihm verübelte? Hatte Asmodeus‘ Blut ihn für Tempus vergiftet?
„Grim!“
„Was?!“ Ungehalten fuhr der Kriegspriester herum.
 „Hast du mir überhaupt zugehört?“, seufzte Winter.
Er hatte nicht einmal gehört, wie seine Schwester und Miu den Raum betreten hatten.
„Siehst du nicht, dass ich gerade bete?!“
„Schon wieder?“ Achtlos schwang sich Winter auf die Fensterbank und verrückte dabei den Schemel, der Grimwardt als Betstuhl diente. Sein Zähneknirschen überhörte sie geflissentlich. „Übermorgen beginnen die Grüngras-Festlichkeiten. Ich habe Miu gerade erzählt, dass man im Nordwesten Faerûns an Grüngras nach elfischer Tradition den Frühlingsanfang feiert. Xara Tantlor hat uns zum Fest nach Silbrigmond eingeladen. Faust und ich wollen auf jeden Fall hingehen. Ihr beiden kommt doch auch, oder?“
„Wie kannst du jetzt ans Feiern denken!“
„Xara wäre bitterlich enttäuscht, wenn du ihre Einladung ausschlagen würdest!“
„Was interessiert es mich, was Xara Tantlor denkt!“, fuhr Grimwardt sie an. „Faust musste fliehen, Omegas Seele liegt in Scherben, ich habe noch kein Wort aus der Abtei gehört UND DU TRÄUMST VON FESTGELAGEN!“
Mühsam zügelte er seinen Zorn, als er sah, wie Miu bei seiner Tirade zusammenzuckte. Stirnrunzelnd fragte er sich, was ihn eigentlich derart in Rage versetzt hatte. Faust war ein großer Junge, Omegas Seele war nicht mehr sein Problem und wenn etwas im Schlachtental passiert wäre, hätte Borgo sich längst gemeldet. Es war Winter, die in ihm den Teufel weckte, aber warum? Ihre Leichtlebigkeit und Achtlosigkeit waren ja nun wirklich ein alter Hut. Er rügte, er schimpfte, er zürnte, aber bei allem geschwisterlichen Zank konnte er ihr doch nie lange gram sein. Irgendetwas war diesmal anders.
Plötzlich ging die Tür auf und Faust trat ein.
„Faust, was ist passiert!“ Winter sprang auf, um den Freund in die Arme zu schließen. „Warum bist du zurückgekommen? Geht es Omega besser?“
„Sie hatte einen weiteren Anfall“, berichtete Faust. „Den dritten, seit sie zurück ist. Hades sagt, die Anfälle sind verantwortlich für ihr Seelenroulette. Danach ist sie stets eine andere und kann sich nicht mehr an das erinnern, was vorher war.“
„Dann will sie dich nicht mehr um einen Kopf kürzer sehen?“
„Im Moment ist sie wieder die Omega, die ich kenne. Sie versteht, dass sie im Moment eine Gefahr für sich und für den Orden darstellt. Darum hat sie ihr Schwert Himmelssplitter abgegeben und will fortgehen nach Shou-Lung. Sie glaubt, wenn es jemanden gibt, der ihre Seele heilen kann, ist es ihr alter Meister im Tempel der Vier Winde. Im Gewölbe unter der Halle der Schwerter soll es ein Portal geben, das nach Kara-Tur führt.“
„Und wenn es nicht gelingt?“
„Die Anfälle haben sie sehr geschwächt. Wenn sie weiter in dieser Häufigkeit auftreten, wird sie das nicht überleben.“
Betretenes Schweigen. Schließlich räusperte sich Miu.
 „Ich gehe auch fort“, sagte sie leise. „Du hattest recht, Faust, ich muss etwas für mich tun. Ich muss zum Orden der Schweigenden Schwestern zurückkehren und um Vergebung bitten.“
Faust nickte zögernd.
„Wirst du zurückkommen?“
„Ich weiß es nicht.“
Sie wirkte fast schuldig, als sie das sagte.
Grimwardt hatte die Beziehung zwischen Faust und Miu nie ganz verstanden. Ein bisschen erinnerten die beiden ihn an einen Blinden und seinen Hund – man wusste nicht recht, wer von beiden den anderen dringender brauchte. Wenn Miu Fausts Gewissen war, war er ihr Draht zur Wirklichkeit. Es würde schwer für sie werden, in ihre stumme Welt zurückzukehren und sich Gesetzen zu unterwerfen, die, wie sie nun gelernt hatte, in der Welt da draußen nicht immer aufrecht zu erhalten waren. Jedenfalls hatte Grimwardt so eine Ahnung, dass dies kein Abschied für immer war…

Winter
Silbrigmond, drei Tage später. 
Winter zog die Nase kraus, als die Strahlen der Morgensonne sie durch die Fensterläden von Xara Tantlos Schlafgemach kitzelten. Murrend vergrub sie das Gesicht tiefer in Fausts Haarschopf.
Fausts Haarschopf?!
Erschrocken fuhr sie auf, worauf ihr pochender Schädel sie ungnädig darauf hinwies, dass abrupte Bewegungen sich nicht mit einem Morgenkater vertrugen. Der nächste Schock folgte, als sie feststellte, dass sie keinen Fetzen Stoff am Leib trug. Auf Zehenspitzen sammelte sie ihre ums Bett verstreuten Kleider ein, schlüpfte in ihren Unterrock und trippelte zur Tür des Schlafzimmers. Der Ausgang wurde von einem schnarchenden Fremden versperrt, der sich bei genauerem Hinsehen als Drake Noar entpuppte. Winter unterdrückte einen Schrei. Nachdem sie dreimal tief durchgeatmet hatte, zwängte sie sich vorsichtig an dem schlafenden Assassinen vorbei. Auf halbem Weg zur Küche stieß sie mit Xara Tantlor zusammen, die rumpelnd aus der Besenkammer torkelte.
„Falls du den Donnerstuhl suchst – da drin ist er nicht“, gab die Magierin lallend kund und kratzte sich undamenhaft am Allerwertesten. Winter packte sie resolut am Handgelenk und zog sie mit sich in die Küche.
„Xara, ich muss unbedingt wissen, was letzte Nacht passiert ist!“, flüsterte sie eindringlich.
„Schätzchen“, erwiderte ihre Freundin rülpsend, „ich erinnere mich nicht mal mehr daran, wo ich in meiner eigenen Wohnung für gewöhnlich mein Geschäft verrichte…“
„Kannst du mir wenigstens sagen, ob Faust und ich… Ich meine, hast du vielleicht irgendetwas gesehen?“
„Habt ihr es etwa getrieben?“
„Schsch!“ Winter hielt ihr erschrocken die Hand vor den Mund. „Es gibt gewisse Hinweise, aber ich bin mir nicht sicher!“
Ein schelmisches Lächeln stahl sich auf Xaras Gesicht.
Hättest du es denn gerne mit ihm getrieben?“
„Ich... äh… keine Ahnung. Wenn, dann würde ich mich schon gerne daran erinnern… Hör auf so zu grinsen!“
 „Vielleicht solltest du einen Zauberspruch anwenden, um deinem Gedächtnis auf die Spr… AHHH!“ Winter unterdrückte einen Schrei, als Xaras Finger sich in ihre Schulter bohrten. Entgeistert zeigte die Magierin mit dem Finger auf etwas hinter Winter. „Warum beim Unterberg ist da ein Loch in meiner Küchenwand!?“
Winter wandte sich um und erblickte in der Tat ein klaffendes Loch in der Zimmerwand. Die mannsgroße Öffnung gab den Blick frei auf die Wohnstube der Nachbarwohnung, die einem nächtlichen Überfall zum Opfer gefallen zu sein schien. Ebenso mysteriös wie die grundlose Verwüstung waren die Worte, die in blutroten Lettern neben dem Loch prangten: GRIMWARDT BRAUCHT MICH. Winter schluckte, als sich eine neblige Erinnerung in ihr zu regen begann.
„Also ich sehe keinen Schutt“, begann sie vorsichtig, „Um ein Loch in eine Hauswand zu brennen, ohne Schutt zu hinterlassen, bräuchte es schon einen Auflösungsstrahl…“
„Ein Auflösungsstrahl?!“ Xara stemmte die Hände in die Hüften wie ein giftiger, kleiner Zwerg. „Und wer zum Henker kam auf die glorreiche Idee, meine Küche in ein magisches Versuchslabor zu verwandeln?“
„Gemeinschaftsbeschluss“, kam es aus Richtung der Tür. Faust lehnte im Türrahmen und betrachtete das Chaos mit philosophischer Faszination. „Zu dem Zeitpunkt schien uns das eine gute Idee.“
Dass er im Gegensatz zu Winter noch nicht bemerkt zu haben schien, dass er über Nacht jeglicher Kleidung verlustig gegangen war, trug nicht eben zum Eindruck seiner Zurechnungsfähigkeit bei.
„Ich hatte dich nach Mietpreisen in Silbrigmond gefragt, Xara“, klärte Winter die Situation auf, wobei sie Mühe hatte, den Blick von Fausts unverhüllter Erscheinung zu wenden. „Daraufhin kamen wir darauf zu sprechen, was für schreckliche Langweiler und Nörgler deine Nachbarn sind, und du schlugst vor, dass… äh… Du meintest, dass sie vielleicht nur einen Anreiz bräuchten, um sich eine neue Bleibe zu suchen und da dachten wir… Zum Teufel, Faust, zieh dir endlich was über!“
 „Oh.“ Faust blickte überrascht an sich herunter und nahm abwesend den Umhang entgegen, den Winter ihm reichte. „Kacke, was habe ich bloß gesoffen?“   
 Immerhin, dachte Winter nüchtern, klärt das wohl die Frage, ob er sich an mehr erinnert als ich… 
„Als ob Elfenwein schon jemals zu geistigen Höhenflügen angestachelt hätte“, knurrte Drake, der in muffeliger Katermanier in die Küche schlurfte und sich den nächstbesten Wasserkrug übers Gesicht kippte, den er finden konnte.
„Drake?!“, schnappte Xara. „Was macht der denn hier?“
„Und woher kam der Elfenwein?“, wunderte sich Winter.
„Hat Kalith den nicht mitgebracht?“, meinte Faust sich zu entsinnen. „Also den Elfenwein, nicht Drake.“
Nun fiel es auch Winter wieder ein: Bevor sie mit Faust zum Grüngras-Fest nach Silbrigmond aufgebrochen war, hatten sie einen kurzen Abstecher nach Myth Drannor gemacht. Während seines kurzen Exils hatte Faust von Nimoroth erfahren, dass ihr alter Freund Kalith eine harte Zeit durchgemacht hatte: Nach der Besetzung von Zhentilfeste durch die Ark’Vellahr war Kalith in der kriegsgebeutelten Stadt als Statthalter eingesetzt worden. Die Verantwortung hatte ihn derart zermürbt, dass der Elfengeneral Fflar Melruth ihm einen Zwangsurlaub verordnet hatte. Um den Freund ein wenig von seinen Sorgen abzulenken, hatten Winter und Faust ihn zum Fest nach Silbrigmond eingeladen. Ein fataler Fehler: Denn in Xaras Zauberladen waren sie ausgerechnet auf Drake gestoßen, Kaliths erklärten Erzfeind… 
„Du hast dich mit Kalith geprügelt!“, fuhr Winter den Schurken an.
„Genaugenommen habe ich ihn auseinandergenommen wie eine Festtagsgans“, erwiderte Drake selbstgerecht. 
„Er ist krank!“
„Sein Pech – er hat mich angegriffen. Ich hätte ihm die Kehle aufgeschlitzt, wenn ihr nicht alle zugesehen hättet.“
„Inwiefern spricht das denn jetzt bitte für dich?!“
„Dein Tischtanz war jedenfalls legendär, Mann!“ Spöttelnd klopfte Faust dem Albino auf den Rücken, was dieser mit einem unwirschen Zischen quittierte. „Hey, ich habe noch niemanden mit solcher Inbrunst die Worte GRIMWARDT BRAUCHT MICH singen hören“, frotzelte Faust weiter.
„Wenn du mich noch einmal anfasst, gibt’s Saures!“, giftete Drake. „Und ich singe nicht!“ Ein unliebsamer Erinnerungsfetzen ließ ihn innehalten. Argwöhnisch huschte sein Blick von Gesicht zu Gesicht. „Habe ich das wirklich gesungen?“
„Gesungen? Du hast die halbe Stadt damit tapeziert“ Grinsend trat Winter zur Seite, um den Blick auf die Wandbemalung freizugeben. „Nach deiner tänzerischen Glanzleistung bist du mit einem Pulk von Anhägern und einer Handvoll Farbtöpfen zum Palast gezogen. Selbst der Hochfürst von Silbrigmond dürfte inzwischen wissen, dass GRIWARDT DICH BRAUCHT!“
Fasziniert stellte sie fest, dass Albinos grau wurden statt rot anzulaufen. Entgeistert stürzte Drake zum Fenster. Kaum hatte er den Kopf durch die Fensterläden gesteckt, als ein Passant „GRIMWARDT BRAUCHT DICH“ zu ihnen hinaufrief. Drei weitere antworteten im Chor. Drake zog den Kopf eilig wieder zurück.
„Schätze, nach Mord und Betrügerei wirst du jetzt auch noch wegen Vandalismus gesucht“, mutmaße Faust. „Steile Karriere, Mann.“
„Klappe“, knurrte Drake. „Warum braucht mich Grimwardt denn nun?“ 
Ratlose Blicke.
„Ich erinnere mich nur daran, dass er irgendwann im Laufe des Abends telepathisch bei mir anklopfte und mich bat dir auszurichten, dass er deine Hilfe braucht“, sagte Faust. „Keine Ahnung, worum es ging.“
Drake sah Winter an und hob eine Augenbraue.
„Finden wir es heraus?“ 

Grimwardt
Abtei des Schwertes, kurz darauf
Frustriert schob Grimwardt den Papierstapel beiseite, den Borgo ihm hereingereicht hatte: Rechnungen, Bittbriefe, eine Auflistung magischer Forschungsutensilien, die Meister Toibin erbeten hatte… Auf nichts davon mochte er sich an diesem Morgen konzentrieren.
Nachdem er sechs Stunden auf den Knien vor Tempus‘ Altar ausgeharrt hatte, hatte der Feindhammer sein Schweigen endlich gebrochen. Seine Worte waren nicht tadelnd, aber zu zeremoniell, zu unpersönlich gewesen. Der einzige Hinweis darauf, was ihn bei seinem Herrn in Ungnade hatte fallen lassen, war der rätselhafte Hinweis: „Vielleicht könntest du besser sehen, wenn du deine Augenbinde hin und wieder ablegtest.“ 
Grimwardt besaß eine magische Augenbinde, die er manchmal in der Schlacht einsetzte. Der Verlust des Augenlichts stärkte seine anderen Sinne, sodass er selbst unsichtbare Gegner ausmachen konnte, doch die Binde machte ihn blind für Feinde, die ihn nicht unmittelbar in den Nahkampf verwickelten. Missfiel Tempus diese Kampftechnik? Nein, wegen solch einer Lappalie hätte er ihn nicht mit tagelangem Schweigen gestraft. Außerdem hatte Grimwardt genug göttliche Gespräche geführt, um zu wissen dass Götter und ihre Boten grundsätzlich in Metaphern sprachen. Sie taten das nicht, wie viele Unwissende glaubten, um ihre mystische Aura zu pflegen. Nein, Aos Gesetze verboten es den Unsterblichen, aktiv in die Geschicke der Sterblichen einzugreifen, also mussten sie auf subtilere Mittel zurückgreifen. Versuchte Tempus also ihn auf einen verborgenen Gegner oder eine unsichtbare Gefahr aufmerksam zu machen, die er versäumt hatte, zu erkennen?
Silas, dachte Grimwardt grimmig. Er muss Silas meinen.
Der abtrünnige Ritter, der die Abtei während der Zauberpest in Verruf gebracht hatte, war noch tiefer in die Dunkelheit abgeglitten. Während Grimwardts Abwesenheit hatte er sich einer Abenteurergruppe um eine junge, charismatische Shar-Klerikerin namens Lydia angeschlossen, die im Namen der Dunklen Herrin gegen das Böse kämpfte. Verdächtig war nur, dass „das Böse“ seit geraumer Zeit immer gerade dort auftauchte, wo es von den Machenschaften Netherils ablenkte. Ein Lindwurm tyrannisierte ein kleines Dorf im Misteltal, während das gebeutelte Narbental einen wirtschaftlichen Knebelvertrag mit einer von Netheril kontrollierten Handelsorganisation unterzeichnete. Orks fielen über eine Siedlung im Grenzgebiet zu Cormyr her, während sich der Bürgermeister von Federtal öffentlich zur Kirche der Shar bekannte…
Zu Grimwardts Verdruss waren die Bürger der Talländer leicht zu beeinflussen: Die „Schattentänzer“ waren durch ihre Heldentaten in der Umgebung zu einigem Ruhm gelangt und die talisische Kirche der Shar gewann dank Lydias Missionierungserfolgen in beängstigendem Maße an Einfluss. Am meisten jedoch wurmte es ihn, dass Silas, den er, Grimwardt Fedaykin, einst öffentlich zum Ersten Schwertbruder gekürt hatte, diesen Scharlatanen durch seine Verbindung zur Abtei des Schwertes den Anschein der Achtbarkeit verlieh! Zwar hatte sich der Priestergeneral öffentlich von dem Abtrünnigen distanziert, kaum dass er von dessen Machenschaften Wind bekommen hatte, doch der angerichtete Schaden war nicht mehr rückgängig zu machen.
Ein Rekrut, der die Ankunft von Faust, Winter und Drake ankündigte, riss Grimwardt aus seinen Grübeleien.
„GUT GESCHLAFEN?“, begrüßte er in dröhnendem Bass und nicht ohne Häme die drei übernächtigten Gestalten, die kurz darauf in sein Arbeitszimmer schlurften.
Kollektives Gestöhne.
„Wenn du nicht willst, dass ich quer über deinen Schreibpult reihere, mach das nicht nochmal“, knurrte Drake, der tatsächlich ein wenig grün um die Nase war. 
„Offenbar ist meine Nachricht also doch angekommen“, brummte Grimwardt. „Drake, ich habe möglicherweise einen Auftrag für dich.“
„Ich dachte, ihr Tempus-Anhänger bevorzugt direktere Methoden.“
„Nicht so ein Auftrag“, schnaubte der Priester. Dann erzählte er, was er von den Machenschaften der „Schattentänzer“ in Erfahrung hatte bringen können.
„Silas ist ein gewissenhafter Narr“, beendete er seinen Bericht. „Ich denke nicht, dass er gegen die Abtei oder gegen die Regierungen der Talländer intrigiert. Vermutlich glaubt er die Lügen tatsächlich, die Netheril hierzulande verbreiten lässt. Sembia hat Hochprinz Telamont Tanthul über den Handel an sich gebunden – in den Talländern versucht er es nun über die Kirche der Shar. Gefährlicher als Silas ist also diese kleine Klerikerin, Lydia. Meister Toibins Nachforschungen haben ergeben, dass sie in einem Tempel im Schattental ausgebildet wurde. Ich würde meine Axt darauf verwetten, dass die Umbranten den Tempel kontrollieren. Womöglich wurden von dort sogar die ominösen Angriffe koordiniert, durch die Lydia und ihre Gefährten zu Volkshelden wurden. Das alles ist aber reine Spekulation – ich brauche Beweise.“
„Warum stattest du den frommen Sharianern nicht einfach einen kleinen Besuch ab?“, schlug Faust vor. 
„Das hier ist nicht Baator“, erwiderte Grimwardt. „In den Tempel einzufallen hätte unabsehbare politische Folgen. Was, wenn ich mich irre und es keine Verschwörung gibt? Was, wenn mein Angriff Unschuldige träfe? Ich habe geschworen, die Taliser zu schützen. Alle Taliser!“   
„Also willst du, dass sich bei den Schattenpriestern jemand für dich umhört, dessen Verbindung nicht zu dir zurückverfolgt werden kann“, erriet Drake. „Jemand, der sich unsichtbar zu machen weiß.“
Grimwardt brummte nickend in seinen Bart hinein. Drake schürzte die Lippen und dachte eine Weile über das Angebot nach.
„Du hast noch nichts zur Bezahlung gesagt“, sagte er schließlich. „Schon gut, ich weiß, die Abtei des Schwertes schwimmt nicht gerade im Geld. Ich habe sowieso einen besseren Vorschlag: Ich will Winter.“
„Entschuldige?!“, erwiderte Winter pikiert.
Drake streifte sie mit einem anzüglichen Blick, ehe er erklärte: „Während der Zauberpest sind Duzende von Städten zugrunde gegangen. In den verpesteten Gebieten liegen ungeahnte Schätze – versunken im Meer oder vergraben unter Erdschichten. In einigen dieser Gebiete wütet noch immer das Zauberleuchten, aber andere müssten inzwischen mit dem nötigen magischen Schutz wieder erreichbar sein… Ich weiß, wo es sich lohnt zu graben, aber ich brauche magische Unterstützung. Für deine Hilfe und sechzig Prozent des Gewinns helfe ich Grimwardt bei seinem Schattenproblem. Was sagst du?“
Winter erwiderte seinen Blick mit Argwohn. Der Preis war angemessen, doch offensichtlich war ihr nicht wohl dabei, allein mit Drake auf Schatzsuche zu gehen. Das entging auch Faust nicht. 
„Klingt vielversprechend“, bemerkte er. „Ich bin dabei.“ 
„Hat dich irgendwer eingeladen?“, knurrte Drake, dessen Vorstellung einer Abenteuerreise in trauter Zweisamkeit gerade unter einer geballten Eisenfaust zu zerplatzen drohte. Doch Winters Blick sagte ihm, dass er entweder mit ihnen beiden Vorlieb nehmen musste oder mit keinem. 
„Na schön“, murrte er. „Aber es bleibt bei sechzig Prozent!“
Nachdem sie eingeschlagen hatten, klatschte Faust tatendurstig in die Hände: „Schön, dann können wir ja jetzt zur Bescherung übergehen!“
Grimwardt und Drake wechselten gequälte Blicke, während Faust sein breitestes Festtagsgrinsen aufsetzte und Winter mit viel feierlichem Trara eine mit bunten Schleifen umwickelte Schriftrolle überreichte, die sich als äußerst wertvoller Kosmetik-Zauber entpuppte. Auf Winters stürmische Dankesbekundungen folgte die Enthüllung, dass sie zum Grüngras-Fest eine kleine Wohnung in Silbrigmond ganz in der Nähe der Mondscheinbrücke erstanden hatte, die sie sich mit Faust zu teilen gedachte.
„Was für ein Humbug“, schnaubte Grimwardt, während die beiden Beschenkten sich glücklich in die Arme fielen. „Was hat es damit zu tun, den Frühling zu ehren, wenn irgendwelche nutzlosen Kinkerlitzchen den Besitzer wechseln!“
„Warte nur, bis du dein Geschenk gesehen hast“, grinste Faust.
„Ich habe euch doch gesagt, dass ich bei diesem Mummenschanz nicht mitmache!“
Sein Widerstand stieß auf taube Ohren. Faust pfiff einmal kurz durch die Finger, worauf der Rekrut, der vor Grimwardts Arbeitszimmer Wache hielt, die Tür öffnete und eine Gruppe ausgemergelter Gestalten in den Raum führte. Grimwardt zählte fünf Personen: Vier hatten die dunkle Haut und feinen Gesichtszüge von Rashemi oder Mulan, der fünfte trug eine tätowierte Glatze wie die Roten Magier von Tay.  Eine angespannte, wenn nicht furchtsame Haltung war ihnen allen gemein.
„Was bei allen Göttern…?“ Grimwardt klappte die Kinnlade herunter. 
„Darf ich vorstellen“, sagte Faust stolz. „Deine neuen Rekruten. Branko hier ist eine Kampfsau, auch wenn er im Moment nicht danach aussieht. Die Geschwister Venya und Kadir sind hervorragende Reiter. Aman ist sehr geschickt mit dem Kurzschwert und Moroi hat bei den Roten Magiern von Tay gelernt, bevor er durch die Intrigen eines anderen Lehrlings in Ungnade fiel und sein Meister ihn an Sklavenhändler verkaufte.“
Grimwardt sank entgeistert gegen sein Arbeitspult.
„Du schenkst mir MENSCHEN?“
„Rekruten“, verbesserte Faust. „Du beklagst dich doch ständig über den Rückgang an Novizen. Ich komme für sämtliche Ausbildungs- und Verpflegungskosten auf. Außerdem sind sie freiwillig hier. Den Rest habe ich gehen lassen.“
„Den REST?“
„Ich habe sie aus der Sklaverei befreit.“   
„WESSEN Sklaven sind sie?“
„Ein tayanischer Sklavenhändler hielt sie gefangen.“ 
„SOLL DAS HEISSEN, DASS DEMNÄCHST EIN TYAYANISCHER ZAUBERZIRKEL BEI MIT ANKLOPFT UND SEIN EIGENTUM ZURÜCKVERLANGT?!“
Grimwardts Zornader war nahe daran, seine Stirn zum Explodieren zu bringen. 
„Das halte ich für unwahrscheinlich, ich habe keinen am Leben gelassen. Außerdem habe ich die Zeit manipuliert, um in meiner Greisengestalt aufzutreten: Desayeus, der Sklavenbefreier. Mich hat ganz sicher niemand erkannt.“
Der Kriegspriester schloss die Augen und zwang sich langsam bis drei zu zählen. Zurückgeben konnte er sein „Geschenk“ wohl nicht. Also blieb ihm nur, das Beste daraus zu machen… oder es zumindest zu versuchen.
„Du!“, wandte er sich an eines seiner Geschenke. „Was weißt du über Tempus den Schlachtenherrn?“
Der junge Mann trat unsicher von einem Fuß auf den anderen. Offenbar verstand er kein Wort von dem, was Grimwardt sagte.
„Sieht so aus, als ob da noch einiges an Arbeit auf uns zukäme“, knirschte der Priestergeneral. „Wenn ihr mich also weiter meinen Pflichten nachgehen lassen würdet, wäre ich euch äußerst dankbar.“
Als seine Gefährten und Drake bereits an der Tür waren, wandte Faust sich noch einmal zu ihm um.
„Weißt du, ein ‚Dankeschön‘ würde dich nicht umbringen“, meinte er beleidigt. 
„Dankeschön“, brummte Grimwardt.
Doch im Geheimen spürte er große Erleichterung, als sich die Tür hinter seinen beiden Freunden schloss.

Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 24. Oktober 2012, 20:53:51
 :lol: :lol: :lol:
Ich hab mich weggeschmissen, großartig umgesetzt!
Da ist ja soviel passiert, an das ich nicht mehr gedacht hatte! Das mit den Geschenken hatte ich ganz vergessen. Es lebe Grüngras.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 24. Oktober 2012, 20:59:56
Sehr schönes Ende!  :thumbup:
Wiedermal stilistisch perfekt und nachvollziehbare Gedankengänge der Helden. War aber auch ein schöner Hangover ;)
Jetzt freu ich mich natürlich auch die nächste Geschichte! Da dürfte ja quasi fast jedes Kapitel in einem Highlight enden, wenn ich so zurückdenke ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 31. Oktober 2012, 01:32:32
Hast du evtl. noch ein paar Gegnerwerte die ich auf die Seite packen könnte und die nicht geheim sind? ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 07. November 2012, 17:02:55
Sind alle eingebaut. Echt krasse Brocken dabei... und Shar hätte uns mit einem Happs gefressen. Ist ja quasi die Über-Version von Winter...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 07. November 2012, 22:10:35
Shar: *schluck*  :blink:
Wir hatten ja so unfassbares Glück!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 08. November 2012, 01:23:46
Die Änderungen an der Seite gefallen mir gut...  :thumbup:  Es wächst und gedeiht.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 08. November 2012, 01:33:05
Wie ein Tamagotchi...  :D
Sag mal... als der letzte Endgegner starb... ist da seine Ausrüstung zurückgeblieben? Wenn ja haben wir auf jeden Fall genug Geld für viele schöne Dinge und Winter nen krassen neuen Mantel  :D
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 08. November 2012, 01:38:32
Du meinst Rivalen Tanthul? Im Grunde schon. Aber er schwebte über dem Realitätsmaelstrom, als Faust ihn köpfte... Muss mir noch überlegen, wie ich das regele, aber irgendwie werdet ihr wohl noch an ein wenig Kohle kommen ;-)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 08. November 2012, 02:15:16
Meinte Shar, aber das war ironisch gemeint ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 12. November 2012, 21:23:45
Fürs Theaterspielen gibt es Fragelisten zur Charakterisierung einer Figur. Einige der Fragen passen auch auf DnD-Charaktere. Wenn ihr Lust habt, könnt ihr das ja mal auf eure Chars anwenden. Würde mich jedenfalls interessieren :)

Welchen Schauspieler würdest du für deine Figur casten?
Welche fiktive oder historische Person könnte als Vorbild dienen?
Welches Lied beschreibt deine Figur am besten? 
Welchen Akzent/Dialekt würdest du deiner Figur am ehesten geben?   
In welche Epoche passt deine Figur am besten? 
Welches Tier wäre deine Figur?
Welces Accessoire ist für deine Figur am wichtigsten?
Welches (Lebens-)Motto hat deine Figur?
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 12. November 2012, 22:00:23
Welchen Schauspieler würdest du für deine Figur casten?
Josh Holloway

Welche fiktive oder historische Person könnte als Vorbild dienen?
Faust, Sawyer aus Lost, Achilles

Welches Lied beschreibt deine Figur am besten?
30 seconds to mars - closer to the edge; Florence and the machine - 7 devils; Otep - I, alone

Welchen Akzent/Dialekt würdest du deiner Figur am ehesten geben?  
prolliger slang

In welche Epoche passt deine Figur am besten?
Antike, Zeit des Trojanischen Krieges

Welches Tier wäre deine Figur?
Löwe oder Vielfraß

Welces Accessoire ist für deine Figur am wichtigsten?
Schwert und Stahlfaust

Welches (Lebens-)Motto hat deine Figur?
Besser stehend sterben als auf den Knien zu leben
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 13. November 2012, 16:03:47
Spannend  :)

Welchen Schauspieler würdest du für deine Figur casten?
Angelina Jolie – sie müsste sich die Haare rot färben – oder Marcia Cross (ein paar Jahre jünger)

Welche fiktive oder historische Person könnte als Vorbild dienen?
Saffron alias Bridget alias Yolanda aus Firefly (Mrs Reynolds), Cersei Lannister aus Lied von Eis und Feuer, oder Lucrezia Borgia

Welches Lied beschreibt deine Figur am besten?
Da muss ich passen.

Welchen Akzent/Dialekt würdest du deiner Figur am ehesten geben?   
italienischer Akzent

In welche Epoche passt deine Figur am besten?
Renaissance

Welches Tier wäre deine Figur?
Mischung aus Elster, Papagei und Glucke

Welches Accessoire ist für deine Figur am wichtigsten?
Spiegel

Welches (Lebens-)Motto hat deine Figur?
Alles hat seinen Preis.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 13. November 2012, 19:05:55
Hihi, sehr schön  :D
Finde vor allem die Frage nach der Epoche interessant...

Hier mal ein paar NSCs:

Drake

Welchen Schauspieler würdest du für deine Figur casten?
James Marsters

Welche fiktive oder historische Person könnte als Vorbild dienen?
Loki, Rochefort (Die drei Musketiere), Sawyer (Lost), Benjamin Linus (Lost)

Welches Lied beschreibt deine Figur am besten?
Falcon in the Dive (The Scarlet Pimpernel), Snuff (Slipknot)

Welchen Akzent/Dialekt würdest du deiner Figur am ehesten geben?  
Amerikanisch (Ostküstenslang)  

In welche Epoche passt deine Figur am besten?
Industrielle Revolution

Welches Tier wäre deine Figur?
Ratte

Welches Accessoire ist für deine Figur am wichtigsten?
Glasauge

Welches (Lebens-)Motto hat deine Figur?
„Wenn du für nichts einstehst, kann dich auch nichts zu Fall bringen.“


Miu

Welchen Schauspieler würdest du für deine Figur casten?
Ziyi Zhang
 
Welche fiktive oder historische Person könnte als Vorbild dienen?
Jesus von Nazareth, Mahatma Gandhi, Miho (Sin City)

Welches Lied beschreibt deine Figur am besten?
Enjoy the Silence (Depeche Mode)

Welchen Akzent/Dialekt würdest du deiner Figur am ehesten geben?
Japanisch (bzw. stumm)  
 
In welche Epoche passt deine Figur am besten?
?

Welches Tier wäre deine Figur?
Taube

Welches Accessoire ist für deine Figur am wichtigsten?
Keines

Welches (Lebens-)Motto hat deine Figur?
„Jedes Leben ist heilig.“, „Die meisten Übeltaten beginnen mit Worten.“


Dorien

 Welchen Schauspieler würdest du für deine Figur casten?
Travis Fimmel, Theo Theodoridis  
 
Welche fiktive oder historische Person könnte als Vorbild dienen?
Dorian Gray, Lestat de Lioncourt (Vampirchroniken)

Welches Lied beschreibt deine Figur am besten?
Denk an mich (Schandmaul), Chasing Cars (Snow Patrol)

Welchen Akzent/Dialekt würdest du deiner Figur am ehesten geben?
Französisch
 
In welche Epoche passt deine Figur am besten?
Barock

Welches Tier wäre deine Figur?
Pfau

Welches Accessoire ist für deine Figur am wichtigsten?
Roter Gehrock

Welches (Lebens-)Motto hat deine Figur?
„Liebe dein Leben, lebe die Liebe.“  
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 13. November 2012, 21:42:44
Gute Casts. Für Winter hätte ich mir auch Milla Jovovic gut vorstellen können. Und Josh Holloway muss sich natürlich auch die Haare dunkel färben und noch was trainieren.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Zophael am 18. November 2012, 20:03:59
Welchen Schauspieler würdest du für deine Figur casten?
Brendan Gleeson, Gerard Butler

Welche fiktive oder historische Person könnte als Vorbild dienen?
Kratos (God of war)

Welches Lied beschreibt deine Figur am besten?
Sgt. McKenzie, The crown and the ring

Welchen Akzent/Dialekt würdest du deiner Figur am ehesten geben?
Schottisch-gälisch oder walisisch

In welche Epoche passt deine Figur am besten?
Hochmittelalter

Welches Tier wäre deine Figur?
Bär

Welches Accessoire ist für deine Figur am wichtigsten?
Die Axt

Welches (Lebens-)Motto hat deine Figur?
In hoc signo vinces
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Zophael am 19. November 2012, 18:58:04
Für Fardo:

Welchen Schauspieler würdest du für deine Figur casten?
John Goodman

Welche fiktive oder historische Person könnte als Vorbild dienen?
Platon

Welches Lied beschreibt deine Figur am besten?
Trink, trink, Brüderlein trink.

Welchen Akzent/Dialekt würdest du deiner Figur am ehesten geben?
Russisch

In welche Epoche passt deine Figur am besten?
griechische Antike

Welches Tier wäre deine Figur?
Igel

Welches Accessoire ist für deine Figur am wichtigsten?
Der Ledermantel und meine Ratte

Welches (Lebens-)Motto hat deine Figur?
Wissen ist Macht, nichts zu Wissen macht aber auch nichts!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 20. November 2012, 11:38:05
Cool, kann mir John Goodman auch gut als Fardo vorstellen... Wie heißt eigentlih Fardo mit Nachnamen?
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Zophael am 21. November 2012, 21:40:36
Der lebenslustige heißt "Andrus" mit Nachnamen ;-)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 07. Dezember 2012, 16:22:06
oh, Herbert Grönemeyer mit "Bleibt alles anders" würde noch sehr zu Faust passen!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 12. Dezember 2012, 21:29:55
Obs wohl zu Weihnachten noch ein neues Kapitel gibt? ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 12. Dezember 2012, 21:46:43
Hm, mal schauen... Grim leistet gerade Sterbehilfe ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 12. Dezember 2012, 21:56:59
ah! :thumbup:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 02. Januar 2013, 23:31:01
Sechstes Buch: Das Netz des Schicksals

Prolog

Drake
Silbrigmond, Hammer 1400 TZ, morgens.
Drake zischte einen Fluch, als ihm auf der Außentreppe zu Winters Stadtwohnung zwei durchzechte Gestalten entgegen stolperten. In nicht einmal fünf Jahren war ihre Adresse zum berüchtigtsten Treffpunkt der Stadt avanciert. Der Assassine fand die Wohnungstür unverschlossen vor. Auf sein Rufen antwortete niemand, doch in der Eingangsdiele entdeckte er die magisch schimmernde Aura eines Torbogens. Die Losung zur außerdimensionalen Villa von Silbrigmonds bekanntester Salondame hatte sich seit seinem letzten Besuch nicht geändert. Drake ignorierte die Horde beflissener Geisterdiener, die gleichmütig die Überreste eines ausgelassenen Festgelages beseitigten, und steuerte zielstrebig die Privatgemächer der Hausherrin an.
Winter schlummerte, eng umschlungen mit einer jungen Frau, in ihrem Himmelbett. Drake ertappte sich dabei, wie er für einen Moment im Anblick ihres makellosen Antlitzes versank. Ein Teil von ihm hätte nur allzu gern erfahren, „wie heiß der Winter werden kann“, wie man in gewissen Kreisen flüsterte. Ein anderer Teil war eher geneigt, einen Dolch tief in ihre hübsche Kehle zu stoßen. Beides ärgerte und irritierte ihn, denn er erfüllte nicht gerne die Erwartungen.
Du wirst nachlässig, Winter…
Rumpelnd zog er einen Sessel zum Bett und begann geräuschvoll seine Dolche zu wetzen. Winter wachte auf. Als sie ihn erkannte, fuhr sie erschrocken auf und befreite sich eilig aus der Umarmung der schlafenden Fremden.
„Guten Morgen“, begrüßte er sie und setzte seine gewohnt spöttisch-herablassendes Miene auf. „Willst du mich nicht mit deiner neuen Freundin bekanntmachen?“
„Drake.“  Unbehaglich zog sie ihr Nachtgewand enger um den Körper und rieb sich die Nasenflügel, um ihren Morgenkater einzudämmen. „Was denkst du dir dabei, einfach in mein Schlafzimmer zu platzen!“
„Was denken sich die zahlreichen anderen Leute dabei, die neuerdings einfach in dein Schlafzimmer platzen?“ 
Winter stutze.
„Hast du mich gerade eine Hure genannt?!“, fragte sie mit entzückender Empörung.
„Du kannst ja wohl kaum abstreiten, dass du einen gewissen Ruf genießt.“
„Was willst du?“ Verdrossen setzte sie sich an ihren Spiegeltisch, um ihren unnatürlich schattigen Teint zu überschminken. Eine morgendliche Routine: Illusionsmagie verbarg die sichtbaren Auswirkungen ihrer Seelensucht vor der Öffentlichkeit, doch es war niemals auszuschließen, dass sie Zauberkundigen begegnete, die ihre Maskerade durchschauten.
„Es geht um Xaras Jungen.“ Drake steckte die Dolche weg und trommelte fahrig mit den Fingerspitzen gegen die Sesselarme. „Hier in Silbrigmond, wo jeder sein schwefliges Geheimnis kennt, wird er es zu nichts bringen.  Ich kenne einen Magier in Baldurs Tor, der einen Lehrling sucht. Aber wenn er noch einmal von vorne anfangen will, braucht er eine magische Verkleidung…“   
„Riven hat bereits einen Lehrmeister“, erinnerte ihn Winter. „Xara sagt, er macht sich ganz gut an der Arkanen Akademie.“
 „Da hat man ihn doch nur aufgenommen, um ihn kleinzuhalten“, schnaubte Drake.  „Und weil seine Mutter der Zauberwacht ein kleines Vermögen gespendet hat. Sie baut ihm ein hübsches, kleines Kartenhaus. Sobald er spitzkriegt, was da läuft, ist er auf und davon mit seinen Freunden aus der Unterwelt.“
„Du meinst, mit deinen Freunden aus der Unterwelt“, seufzte Winter. „Weiß Xara von deinen Plänen?“ 
„Natürlich nicht.“
„Na, großartig!“ Sie rieb sich stöhnend die Schläfen. „Drake, sie bringt mich um, wenn ich dir dabei helfe!“
„Sie muss es ja nicht erfahren.“
„Warum interessierst du dich so für diesen Jungen?“ 
„Weil er...“ Drake biss sich auf die Lippen. Eigentlich war der Junge nur ein Vorwand, um bei Winter aufzukreuzen, aber andererseits spürte er tatsächlich eine seltsame Verantwortung gegenüber dem Tiefling. „Ach, vergiss es.“
Plötzlich war ihm die Lust daran vergangen, Winters Unpässlichkeit auszunutzen.
„Überleg’s dir“, murmelte er und wollte sich davonstehlen.
Im nächsten Moment lag er flach auf dem Boden von Winters Stadtwohnung. Sein Sessel, das Schlafgemach, der Palast – alles war verschwunden. Winters Bettgefährtin erlebte ein böses Erwachen und begann in Panik loszukreischen. Ein Werwesen, halb Mensch und halb Raubkatze, setzte fauchend über Drake hinweg, schmetterte Winter zu Boden und verbiss sich in ihrer Schulter. Die Überrumpelte versuchte sich durch eine Teleportation zu retten, doch was auch immer ihren Palast gebannt hatte, unterdrückte auch weiterhin ihre Magie.
„Was zum…!“
Drake folgte ihrem gehetzten Blick und erspähte – silhouettenhaft gegen das trübe Licht der aufgehenden Sonne – zwei weitere Gestalten: ein Hüne, der den gesamten Türrahmen vereinnahmte, und eine kleinere Gestalt mit Engelsflügeln.
Ein schmetternder Prankenhieb raubte Winter das Bewusstsein.
„Nachtmond, das reicht“, befahl der Geflügelte. „Lass den Schurken nicht entkommen!“
Als sich die gelben Katzenaugen auf ihn richteten, befand Drake, dass es höchste Zeit war sich zu verabschieden. Mit einer Rolle wich er der Sprungattacke des Tiermenschen aus und wechselte in derselben Bewegung auf die Ätherebene. Während sich sein verwirrter Gegner schnüffelnd im Kreis drehte, floh Drake durch eine Wand hindurch in Winters Speisekammer und von dort ins Freie. So schnell es seine neblig-verzerrte Umwelt zuließ, ließ er Winters Wohnung hinter sich. Zwar würde Tigerpranke ihn auf der Ätherebene nicht aufspüren können, doch bei seinen beiden Begleitern war er sich da nicht so sicher.
Er hatte Winter und ihre Gefährten lange genug nachspioniert, um zu wissen, mit wem er es zu tun hatte. Aber warum hatte es diese Freakshow plötzlich auf Winter abgesehen? Hatte Faust mal wieder irgendeinen Mist ausgefressen, den sie jetzt ausbaden durfte? Nein, nach allem, was Drake über die beiden Köpfe der Neun Schwerter wusste, war Vergeltung nicht deren Stil.  Das ließ nur einen Schluss zu… 
Kurz entschlossen kehrte er auf die materielle Ebene zurück, denn nur innerhalb des magischen Gewebes konnte er auf die Verknüpfungen zugreifen, die sein Auftraggeber zwischen ihnen gewoben hatte.
Zulkir? Winter Fedaykins Essgewohnheiten sind den falschen Leuten übel aufgestoßen… Wenn Euer Interesse an den Schicksalsstreitern noch besteht, wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, zuzuschlagen.
Ungeduldig schabte er mit dem Stiefel im Straßenstaub, während er auf die Antwort seines Auftraggebers wartete. Nichts. Drake stieß einen Fluch aus. Sein Gefahrensinn sagte ihm, dass Winter in größeren Schwierigkeiten steckte, als sie ahnte. Er würde Hilfe brauchen, um die „Zukunftsinvestition“ des Zulkirs zu schützen.
Geht es dir wirklich bloß um den Auftrag?
Drake zwinkerte. Wo war Faust mit seinem köpfesäbelnden Angeberschwert, wenn man ihn mal brauchte?
Grummelnd schlug er den Weg zu Xaras Zauberladen ein.


Kapitel I: Der Exorzismus 

Faust
Tempel der Vier Winde, Shou-Lung, Kara-Tur
Er spürte seine Knochen nicht mehr und in seinen Ohren klang ein grässliches Fiepen. Als es ihm endlich gelang sich auf den Ellbogen zu stützen, sah er sich nach seiner Gegnerin um. Sie lag zwei Mannlängen von ihm entfernt im Sand und rührte sich nicht.
Es hat geklappt. 
Ächzend robbte er zu Omega hinüber und drehte sie auf den Rücken. Es hatte fast ein bisschen zu gut geklappt. Ein schmales, schnurgerades Blutrinnsal zog sich von ihrem Haaransatz, über ihr Gesicht, den Hals und den Torso. Faust schauderte: Ohne die abmildernde Magie des Übungsrings hätte sein Manöver sie in zwei Hälften gespalten. Omega hatte darauf bestanden, ihn durch seine Meisterprüfung zu führen. Trotzdem hatte er ein mulmiges Gefühl. Die Seelenkrämpfe traten nur noch selten auf und meistens gelang es Omega, die Kontrolle über sich zu behalten. Doch Stress und körperliche Anstrengung verstärkten die Wahrscheinlichkeit eines Anfalls. Faust hoffte, dass er den Kampf nicht auf Kosten ihrer Genesung gewonnen hatte.
Erwartungsvoll sah er zu den Drei Unberührbaren auf, die mit undurchdringlichen Mienen auf der Tribüne harrten und etwas in ihre steinernen Schreibtäfelchen eingravierten. Würden sie seinen Sieg anerkennen? Omega war ihm an Erfahrung weit überlegen; um sie zu besiegen, hatte er sich selbst an seine Grenzen gebracht – in einem echten Kampf hätte sein eigenes Manöver ihn umbringen können. Manch einer mochte den Ausgang des Kampfes darum als Unentschieden werten. Aber hier ging es nicht um Sieg oder Niederlage: Er hatte die letzten sechs Monate damit zugebracht, dieses Manöver zu entwickeln – es war so etwas wie die Krönung seines Kampfstilstils. Wenn die Drei Unberührbaren es akzeptierten, würde sein Name auf den Listen der Großmeister geführt, jenen wenigen Schwertmeistern, denen es gelungen war, über die Neun Wege der Schwertmagie hinauszuwachsen und etwas wahrlich Neues, Eigenes zu erschaffen.
Endlich richtete sich der Älteste der Unberührbaren auf.
„Faust, ich erkläre Euch hiermit zum Großmeister der Neun Wege“, sprach er feierlich. 
Im selben Moment entrollte sich vor Fausts geistigem Auge eine Schriftrolle mit einer magischen Eilmeldung aus Silbrigmond: „Deine idiotischen Ordensfreunde haben Winter entführt. Sieh zu, dass du deinen Arsch nach Rabenklippe bewegst. Drake.“
„Was soll denn der Mist?“, murmelte Faust.
Die beiden Schreiber sahen für einen Moment irritiert von ihren Steintafeln auf.
„Äh, das schreibt Ihr jetzt aber nicht auf, oder?“
Er sah die Annalen der Großmeister schon vor sich: „Und seine ersten Worte als Großmeister waren: ‚Was soll denn der Mist?‘“
Schönen Dank auch, Drake!
Unschlüssig kniete er sich zu Omega in den Sand.
„Ich könnte hier wirklich ein wenig Hilfe gebrauchen!“
Es fühlte sich an wie Stunden, ehe sich einer der Drei Unberührbaren dazu bequemte, einen Heilzauber zu sprechen. Faust reichte Omega eine Hand, um ihr auf die Füße zu helfen.
„Ein verdienter Sieg“, sagte sie mit schlichter Aufrichtigkeit, während sie ihm, wie es nach dem Kampf Brauch war, mit einer Verneigung Respekt zollte. 
Faust, der die Geste fahrig erwiderte, wollte ihr gerade von Drakes rätselhafter Aufforderung erzählen, als er von einer zweiten telepathischen Botschaft überrumpelt wurde: „Elijas und Hades haben Winter. Sie ist in großer Gefahr. Ich weiß, was du jetzt denkst, aber es ist die Wahrheit… Tyrail.“
Tyrail?!
Omegas Miene nach zu urteilen war sein Gesicht ein einziges Fragezeichen.
„Äh…“, begann Faust konfus und kratzte sich nicht eben großmeisterlich am Hinterkopf. In wenigen Worten gab er den Inhalt der beiden kuriosen Eilmeldungen wieder. „Also“, schloss er, „wenn mein Erzfeind und mein… Drake ein gemeinsames Fest schmeißen, sollte ich doch wohl zusehen, dass ich zum großen Buffet so weit weg bin wie möglich, oder übersehe ich hier irgendetwas?“
In einer abrupten Bewegung griff Omega nach seinem Arm. Aus ihren Lippen war alle Farbe gewichen und ihre Pupillen waren furchtsam geweitet. 
Nicht jetzt!, fluchte Faust in Gedanken.
Schweiß perlte von ihrer Stirn, während sie darum kämpfte, den Seelenkrampf zurückzudrängen. Faust hatte oft genug mitangesehen, wie ihre Seele zu zersplittern drohte, um zu wissen, dass er nicht viel tun konnte. Immerhin konnte er sie vom Platz geleiten – in der Dunkelheit des nahegelegenen Tempels war sie wenigstens vor neugierigen Blicken geschützt. Nach ein paar Minuten lockerte sich ihr Griff um seine Arme und sie sackte erschöpft in sich zusammen.
„Ihr dürft nicht zum Orden zurückkehren“, sagte sie mit brüchiger Stimme.
„Habt Ihr etwas gesehen?“
Sie schüttelte wage den Kopf. „Ich fürchte um die Neun Schwerter.“ 
Er zuckte mit den Schultern. „Eine Falle, sag‘ ich doch…“
Eine ziemlich offensichtliche Falle…
Eine Zeitlang wanderte er schweigend neben ihr her, während sie durch den Pagodenwald schlenderten, der sich an den Tempel anschloss. Doch Fausts Beherrschung währte nicht lange.
„Wann ist es denn wieder sicher, in Rabenklippe aufzukreuzen?“, konnte er sich nicht verkneifen zu fragen.
„Faust…“, murmelte Omega gequält. „So funktionieren diese Dinge nicht.“
Grübelnd biss er sich auf die Lippen. Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr beunruhigte ihn die ganze Sache. Es war nicht nur eine sehr offensichtliche Falle, der Vorwand schien auch mehr als weit hergeholt. Allein die Vorstellung, dass Hades eine Entführung planen könnte, ohne zuvor sämtliche öffentlichen Stellen schriftlich über seine Absichten zu informieren, war absurd. Wenn ihn jemand nach Schwerterteich locken wollte, gäbe es schlüssigere Köder.
Vielleicht vertrauten die Drahtzieher ja auch darauf, dass sein Beschützerinstinkt Amok lief, sobald es um Winter ging. Er hatte keinen Hehl daraus gemacht, was er für sie empfand. Eine Zeitlang hatte er sogar geglaubt, das mit ihnen könnte funktionieren. Ihre Schatzsuche im Zauberpest-verseuchten Osten, die anschließende Drachenjagd, ihre gemeinsame Zeit in Silbrigmond – es hatte während der letzten fünf Jahre genug Gelegenheiten gegeben, sich näherzukommen. Und doch wanderte er nun durch einen Tempel am anderen Ende der Welt ohne einen blassen Schimmer, wo Winter war oder wie es ihr ging. Ein paar ausgelassene Nächte, eine Schulter zum Ausheulen, wenn sie von ihren nächtlichen Streifzügen zurückkehrte – für sie war das genug gewesen. Er hatte sich gesagt, dass er nur ein wenig Geduld bräuchte; dass er ihr Zeit geben musste, die Geister der Vergangenheit zu vertreiben…
Nur war Geduld leider keine der Eigenschaften, für die man ihn in den Heldenliedern rühmte.
„Ich muss zurück“, seufzte er. „Zumindest zurück nach Faerûn, damit ich Winter über unser  telepathisches Band kontaktieren kann. Nur um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist.“ 
Omega sagte nichts, doch ihr wehmütiges Lächeln sprach Bände.
„Vielleicht solltet Ihr mit mir kommen.“ Es war nicht das erste Mal, dass er versuchte, sie zur Rückkehr zu bewegen. „Was auch immer da los ist – ohne Euch sind die Neun Schwerter ein Pulverfass.“
„Ich bin noch nicht bereit.“
Zwecklos, sie umstimmen zu wollen.
„Dann muss ich mich jetzt verabschieden…“
Sie nickte und entließ ihn mit einer formellen Verneigung.
Der Tempel der Vier Winde bestand aus einem riesigen Komplex von Shugenja-Tempeln, Hallen, Verwaltungsgebäuden, Übungsplätzen und Verteidigungswällen. Die Anlage war auf einem der östlichen Berge des Salju-Gebirges erbaut und nur ein einziger Weg, eine in den Fels gehauene Steiltreppe, führte hierher. Der Abstieg dauerte einen ganzen Tag, vom Aufstieg ganz zu schweigen. Bedauerlicher Weise befand sich das Portal nach Schwerterteich am Ende der Treppe und dank der asketischen Philosophie der Unberührbaren war jegliche Magie, die den Weg abkürzte, verboten. Es wäre jedoch nicht das erste Mal, dass Faust sich mit den Unberührbaren anlegte…
Vermutlich werden sie mir den Titel des Großmeisters schneller wieder entziehen, als es dauert, diesen verfluchten Berg hinunter zu fliegen.
Bevor er diese These jedoch auf die Probe stellen konnte, wurde er von einem der Mönche aufgehalten.
„Großmeister!“, rief der junge Mann, während er zu ihm aufholte und sich hastig verneigte. „Ihr habt Besuch aus Wa.“
„Ist gerade ein schlechter Zeitpunkt“, erklärte Faust und wollte sich abwenden. Als er jedoch die Gestalt erkannte, die sich hinter dem Mönch aus der Dunkelheit eines Gebäudeeingangs löste, hielt er erstaunt inne.
„Miu…?“
Er blinzelte ein paar Mal, ehe er sich davon überzeugt hatte, dass sie es tatsächlich war. Die Ordensschwester trug einen blauen Kimono und einen Zierkamm im Haar. Zwar wäre sie in dieser schlichten Aufmachung kaum dem Kaiser von Shou-Lung aufgefallen, doch Faust, der die enthaltsame Gefährtin nur in ihrer abgetragenen Lumpentracht kannte, glaubte im ersten Moment einen Doppelgänger vor sich zu haben.
Sie nahm zur Begrüßung seine Hände in ihre und lächelte – ein warmes, ungezwungenes Lächeln.
Faust war sprachlos. Als er sie vor fünf Jahren das letzte Mal gesehen hatte, war sie ein Wrack gewesen. Die Hölle hatte sie gebrochen. Doch die Miu, die ihm nun gegenüber stand, strahlte geradezu vor Zuversicht. 
„Wenn ich’s nicht besser wüsste, würde ich sagen, was für ein Zufall, dass du gerade jetzt hier auftauchst…“, murmelte Faust.
„Du bist im Begriff, irgendetwas Gefährliches zu tun“, erwiderte sie lächelnd. „Deshalb bin ich hier.“
„Deine Ahnen kommunizieren also wieder mit dir?“ 
Schamesröte überzog ihre Wangen.
„Ich habe meine Fähigkeiten wieder, wenn du das meinst“, sagte sie ausweichend und knetete schuldbewusst die Hände hinter dem Rücken wie ein Schulmädchen, das beim Abschreiben erwischt wurde. Faust musste ein Grinsen unterdrücken, doch zugleich beschlich ihn Sorge um diese „neue Miu“. Wenn sie ihre Schwüre aufgegeben hatte, wie konnte sie dann ihre Fähigkeiten widererlangt haben? Aber im Moment saß er zu sehr auf heißen Kohlen, um ihr auf den Zahn zu fühlen.
„Du kommst genau richtig“, sagte er. „Ich kehre zurück nach Faerûn.“
„Wo geht es denn hin?“
Er verzog den Mund zu einem sauren Lächeln. 
„Geradewegs in eine  Falle.“

Grimwardt
Essembra, Schlachtental.
Kriegskanzler Ilmeth von Essembra harrte breitbeinig auf einem schlichten Lehnsessel. Er saß leicht zur linken Seite gebeugt, um das rechte Bein mit der alten Kriegsverletzung zu entlasten. Der alte Krieger mit dem narbenzerfurchten Gesicht und dem kahlen Schädel blickte Grimwardt sauertöpfisch entgegen. Das war es jedoch nicht, was Grimwardt beunruhigte – einer der subtileren Dichter hatte einmal angemerkt, dass es nicht allein an Ilmeths unbeheizter Halle liegen konnte, dass so manch gestandenem Krieger beim Anblick des alten Misanthropen das Schlottern kam. Vielmehr verwunderte es den Kriegspriester, dass der Kanzler unter dem dicken Winterumhang all seine Kriegsauszeichnungen zur Schau trug: eine Tapferkeitsmedaille aus dem Lashankrieg, eine Reihe militärischer Rangabzeichen, den Feuerschild des Kriegskanzlers… Man mochte Fürst Ilmeth vieles nachsagen, doch ein Prahlhals war er nicht. Das konnte nur bedeuten, dass es einen hochoffiziellen Anlass für Grimwardts Besuch in Essembra geben musste. Während er die Halle durchquerte, suchte er in den Gesichtern der Anwesenden  nach Hinweisen. Außer ihm selbst waren nur die drei Söhne des Fürsten und ein berobter Schreiberling zugegen. Sie hatten sich mit respektvoller Distanz um Ilmeths Regierungsstuhl geschart und hielten mit ernsten Mienen die Blicke zu Boden gesenkt.
„Kriegskanzler.“ Grimwardt sank auf ein Knie. „Ihr habt nach mir schicken lassen?“
„Pah!“, schnaubte der Fürst und bedeutete ihm mit einer ungeduldigen Geste sich zu erheben. „Ein Auserwählter des Feindhammers geht nicht vor einem Ratskanzler in die Knie.“
„Euer Anliegen ist also religiöser Natur?“
„Das will ich hoffen“, knurrte Ilmeth. „Ich gedenke zu sterben.“
 „Seid Ihr krank?“
Ilmeths Versuch, die Frage mit einem höhnischen Lachen abzuschmettern, endete in einem kläglichen Hustenanfall.
„Mein Knie trachtet schon seit zwanzig Jahren danach, mir den Rest zu geben“, krächzte er. „Mein Arsch brennt beim Kacken wie Feuer und kein Feind hat mich so zum Schlottern gebracht wie dieser gottverdammte Husten! Es war mir nicht vergönnt, auf dem Schlachtfeld zu sterben – also habe ich beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Aber zuvor muss ich noch eine Angelegenheit klären. Ich will, dass Ihr meine Nachfolge als Kriegskanzler des Schlachtentals antretet, Priestergeneral.“ 
Grimwardt zog die Stirn in Falten.
„Aber laut Verfassung wird der Kriegskanzler vom Bürgerrat gewählt.“
„Ich pisse auf die Verfassung!“, schnaubte Ilmeth. „Solange Netherils Schatten über den Talländern hängt, soll sich der Rat mit seiner Verfassung den Arsch abwischen! Federtal ist bereits Shars Schattennetz in die Fänge gegangen; die Schwertfürsten von Bogental haben den Netherhändlern Tür und Tor geöffnet, und nur die Götter wissen, wie lange Narbental den Verlockungen der Schattenfürsten noch standhält. Mein Notar hier“ – er deutete auf den Robenträger – „verwaltet mein Testament. Darin ernenne ich Euch zu meinem Nachfolger. Wenn der Rat der Talländer den Wisch beanstandet, dann zeigt denen, wie man Demokratie im Schlachtental definiert! Sagt ihnen, sie sollen einen Blick nach Federtal werfen, wenn sie sehen wollen, was passiert, wenn man dem Pöbel das Regierungszepter in die Hand drückt! Wie ein liebestoller Lausebub hat sich Baleira vom Geschwätz dieser kleinen Shar-Sirene einlullen lassen! Pah!“ Mit einer wegwerfenden Geste wies Ilmeth auf seine drei Söhne, die in böser Erwartung den Kopf einzogen. „Nicht dass ich die Erbdynastie wieder einführen wollte bei den drei Schwachköpfen, die sich meine Söhne schimpfen. Nein, ich will, dass jeder schlangenzüngige Schattenflüsterer erst an Grimwardt Fedaykin vorbeimuss!“
Er hatte sich so in Rage geredet, dass er nun ausgelaugt und schlotternd in seinem Lehnsessel zusammensank. Grimwardt brummte zustimmend in seinen Bart hinein. Die Landeschroniken mochten Fürst Ilmeth einen Tyrannen schimpfen, aber er hatte Recht – die Prinzen von Netheril hatten ihr Intrigennetz um die Talländer in den letzten Jahren immer enger gesponnen. Was die Föderation jetzt brauchte, war eine eiserne Faust, die sie zwang, sich dem Wesentlichen zu stellen.
Lydia und die „Schattentänzer“ waren nur der Anfang. Drake hatte in Grimwardts Auftrag herausgefunden, dass Fürstin Zia hinter den mysteriösen Angriffen auf die Talländer stand – eben jene Nether-Intrigantin, die während der Pestjahre die Kontrolle über die Abtei des Schwertes an sich gerissen hatte. Grimwardt hatte Zias Hexennest im Schattental persönlich ausgeräuchert – leider hatte sich dabei auch herausgestellt, dass Lydia und die „Schattentänzer“  von dem abgekarteten Spiel, das sie in so kurzer Zeit zu Volkshelden gemacht hatte, nichts geahnt hatten. Nachdem die junge Shar-Priesterin öffentlich für ihre Rolle in der „Schattental-Affäre“ Buße getan hatte, war ihre Beliebtheit beim talisischen Pöbel sogar noch gestiegen. Ihr größter Coup war die Konvertierung des Regenten von Federtal zur Kirche der Shar. Federtal, das kleinste Mitglied der Föderation, war ein unbedeutendes Bauernnest, doch Grimwardt glaubte, dass Netheril und die Sharianer dort eine Basis errichteten, um die benachbarten Länder Narbental und Eggental, die einzigen Täler mit einem Seezugang, in ihre Abhängigkeit zu zwingen. Sollte das gelingen, so bräche der Handel in den Tälern ein – und Netheril könnte großmütig seine helfende Hand ausstrecken. Grimwardt konnte ebenso wenig wie Fürst Ilmeth zulassen, dass seine Heimat zu einem zweiten Sembia wurde.
„Gut, ich mache es“, sagte er darum schlicht.
„War auch keine Bitte“, grunzte der Alte. „Ihr solltet einen Verwalter einstellen, wenn Ihr Euch nicht tagtäglich mit nörgelnden Bittstellern herumschlagen wollt, die glauben, der Kriegskanzler von Essembra hätte nichts Besseres zu tun, als jeder entlaufenen Sau nachzustellen. Wenn’s schnell gehen soll, würde ich meinen Sohn Olek vorschlagen. Ist nicht grad‘ so ein elender Jämmerling wie die anderen.“
Grimwardt nickte dem ältesten Fürstensohn wohlwollend zu. Er war plumper als sein Vater und Schweiß perlte ihm von der Stirn, während er mit stoischer Miene die Beleidigungen seines alten Herrn über sich ergehen ließ. Olek von Essembra diente in der städtischen Miliz und aus Erzählungen wusste Grimwardt, dass es ihm nicht an Beherztheit fehlte. Vielleicht hatte er einfach zu oft zu hören bekommen, dass er ohnehin zu nichts taugte, um es über den Rang eines einfachen Gardeoffiziers hinauszuschaffen.
„Dann ist also alles geklärt.“ Fürst Ilmeth machte Anstalten, sich zu erheben, kam dabei jedoch so sehr ins Schnaufen, dass Grimwardt ihn stützen musste.
„Priestergeneral.“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht umklammerte der Kanzler seinen Arm. „Würdet Ihr mein Schwert für mich halten? Wäre mir eine Ehre.“
Grimwardt stutzte. „Ihr wollt Euch hier und jetzt…?“
„Nein, ich warte, bis es so schlecht um mich steht, dass ich mich in meiner eigenen Scheiße suhlen kann!“, geiferte der Fürst. „Also nehmt ihr nun das verdammte Schwert?“
Grimwardt sah ein, dass es zwecklos war, dem alten Griesgram Widerworte zu leisten. Zweifellos würde er selbst genauso handeln, würde Tempus ihm den Kriegertod verwehren. Also tat er Ilmeth den Gefallen, riss mit beiden Händen dessen Schwert aus der Scheide und richtete es auf das Herz des Alten. Mit festem Griff packte der Fürst die Schultern des Kriegspriesters. Mit einem grimmigen Grunzen nickte er Grimwardt zu.
„Auf dass wir uns widersehen, wo man Tempus‘ Eier schon von Meilen riecht“, brummte er und stieß seine Brust in die offene Klinge.
Sein Tod war wie seine letzten Worte – kurz und dreckig. 
Grimwardt hatte den Toten kaum von der Klinge gleiten lassen, als er mit seinem göttlichen Blick eine geisterhafte Bewegung wahrnahm. Mit blutigem Schwert wirbelte er herum – im selben Moment, als Drake sich keine sechs Schritte von ihm in der Halle materialisierte.
„Oha.“ Der Assassine pfiff spöttisch durch die Zähne: „Komme ich irgendwie ungelegen?“
„Was du nicht sagst“, knurrte Grimwardt, das Schwert noch im Anschlag.
„Macht Tempus neuerdings Hausbesuche oder wie nennst du das?“
„Das hat alles seine Richtigkeit“, erwiderte der Kriegspriester unwirsch und gab den Anwesenden, die das Auftauchen des bewaffneten Fremden in helle Aufregung versetzt hatte, ein Zeichen sich zu entspannen.
„Es geht um Winter“, begann Drake. „Sie wurde…“
„Moment“, schnitt Grimwardt ihm das Wort ab. Es geht um Winter… Wenn er schon so anfing, konnte das nur wieder in einer Irrfahrt enden, die Grimwardt monatelang von seinen Pflichten in den Talländern abhalten würde. Dank des telepathischen Bandes stand er in gelegentlichem Kontakt zu seiner Schwester, doch gesehen hatte er sie seit Jahren nicht. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie wieder in sein Leben stolpern und alles auf den Kopf stellen würde.
Nun, er hatte aus früheren Erfahrungen gelernt.
„Ihr zwei“, wies er die beiden jüngeren Fürstensöhne an. „Bringt die Leiche weg und bereitet sie für die Beisetzung vor. Fürst Olek, zur Beerdigung werde ich offiziell mein Amt als Kriegskanzler antreten. Bereitet alles vor. Ich gedenke außerdem, den Rat der Talländer einzuberufen. Schickt Einladungen an alle zehn Fürsten. Notar, setzt eine Bürgerratswahl an und sorgt dafür, dass niemand zur Kandidatur antritt, der eine reelle Chance gegen mich hat.“ 
Erst als die vier Männer aus der Tür waren, wandte sich der frischgebackene Kriegskanzler in düsterer Erwartung an den ungebetenen Gast.
Was ist mit Winter?“

Faust
Schwerterteich bei Rabenklippe, kurz darauf.
Faust hätte Drake dafür knüppeln mögen, dass er Grimwardt in diese Sache reingezogen hatte. Winter hatte auf keinen seiner telepathischen Anrufe reagiert. Falls es hier um das ging, was er befürchtete, war Grimwardt eher eine Gefahr als eine Hilfe.   
„Worauf warten wir?“, murmelte Drake ungeduldig.
Faust warf ihm einen misstrauischen Seitenblick zu, dann starrte er unentschlossen aus seinem Versteck am Waldrand auf die Siedlung. Alles schien ruhig. Erstaunlich ruhig. Warum trainierten keine Schüler auf dem Gelände? Wieso drangen keine Geräusche aus dem Wirtshaus?
Plötzlich durchschnitt ein gellender Schrei die Stille.
„Das kam aus der Kelemvor-Kapelle!“
Zeitgleich mit Grimwardt und Drake zog er seine Waffe. Dann preschten sie los.   
- FAUUUUST!
Wie elektrisiert fuhr er zusammen, als Winters panischer Hilferuf durch seinen Geist zitterte.
- Winter? Was ist los? Wir sind fast da.
- Er bringt mich um. Er…

Ein weiterer Schrei. Diesmal klang es wie ein weidwundes Tier im Todeskampf. 
- Wer? Wer bringt dich um?
- Hades! Die Seelen… Ich glaube, er… EXORZIERT mich!

Fluchend hämmerte Faust gegen die Kapellentür. Als niemand öffnete, stemmte er sich mit Grimwardt gegen das Holz. Die Tür brach krachend aus den Angeln:  Winter war mit Händen und Füßen an den Kelemvor-Altar gefesselt, während Hades‘ düstere Gestalt über ihr thronte. Ihr Körper wand und bog sich unter seinem Gebet, dass es ihr das Rückgrat zu brechen drohte, und ihre Pupillen waren wie im Irrsinn nach oben gerollt. Vor dem Altar kniete betend die Zwergin Mechthild, Fünfte der Neun Schwerter, um Winters Leid mit Heilzaubern zu lindern, doch ihre Heilkunst war zu schwach für Hades‘ unerbittliche Teufelsaustreibung. Aus dem Halbdunkel, abseits des trüben Winterlichts, leuchteten Nachtmonds Katzenaugen den Eindringlingen mit bedrohlicher Intensität entgegen. Faust fiel auf, dass die Pupillen des Tiermenschen unnatürlich geweitet waren – ein Zeichen dafür, dass er beherrscht wurde. Hinter ihm harrte Elijas. Für einen Augenblick trafen sich ihre Blicke, dann sprach der Avariel einen Zauber, um die Zeit anzuhalten. Faust folgte der stummen Bitte.
„Faust, komm nicht näher.“ Elijas hob beschwichtigend die Hände. „Ich wollte dich da raushalten, weil ich weiß, was dir Winter bedeutet, aber… Sie trinkt Seelen. Ich weiß, das klingt…“
„Lass sie gehen!“, schnitt ihm Faust das Wort ab. Er sah keinen Sinn darin, den Überraschten zu spielen. „Ihr bringt sie um!“
„Du wusstest davon?!“
„Ich weiß, dass ihr das, was Hades da tut, nicht helfen wird! Glaubst du, ich hätte nicht jede Bibliothek durchforstet auf der Suche nach einem Heilmittel? Wie grottig habt ihr das Ganze geplant?! Wenn ihr alle absorbierten Seelen auf einmal von ihr löst, tötet sie das!“
„Nun, vielleicht ist das der Preis für das, was sie getan hat!“
Die Kälte, mit der er das sagte, verblüffte Faust.
„Und vielleicht läufst du schon viel zu lange mit dem Ordensschwert des Bösen herum“, murmelte er und machte einen Schritt auf ihn zu. Elijas reagierte, indem er die Zeitstarre fallen ließ und sie beide zurück in den Zeitstrom katapultierte. Ein hastig gewobener Zauber ließ Faust geblendet zurücktaumeln: Der farbensprühende Schutzwall, den der Klingensänger zwischen ihnen von Wand zu Wand gezogen hatte, verbrannte zwei Gebetsbänke innerhalb eines Lidschlags.
„Verfluchter Mistkerl“, knurrte Faust. Selbst wenn er die nötigen Zauber hätte wirken können, um die magische Wehrmauer zu bannen, hätte das mehr Zeit in Anspruch genommen, als Winter blieb. Die zündende Idee kam ihm, als er sah, wie Drake die Regenbogenwand umging, indem er auf die Ätherebene wechselte und durch die Wand verschwand. Faust hatte Drake im magietoten Osten oft genug dabei zugesehen, wie er zwischen den Dimensionen wanderte, um den Effekt zu kopieren.
„Versucht es auf der Rückseite der Kapelle!“, rief er Grimwardt und Miu zu.
Ein eilig gemurmelter Zauberbefehl ließ die Wirklichkeit um ihn verschwimmen und er folgte dem Assassinen durch die grau-verzerrte Umgebung.
„Bring Bleichauge zum Schweigen, ich hole Winter da raus“, drangen Drakes herumgeisternde Worte  verzerrt zu ihm durch.
„Geht klar.“
Nachdem er hinter dem Schutzwall aus der Wand getreten war, kehrte Faust auf die materielle Ebene zurück. Elijas war mit einem Flügelschlag neben ihm. Doch anstatt sich auf seinen Klingentanz einzulassen, empfing Faust seinen Hieb  mit einer Schwertparade, die Elijas‘ Angriff auf ihn selbst zurücklenkte. Betäubt taumelte der Klingensänger zurück und während er darum kämpfte, sein Gleichgewicht zu bewahren, war Faust bereits an ihm vorbeigeschnellt. Ehe er den Altar erreichte, sprang ihm Nachtmond mit gezückter Klinge in den Weg. In seinen Augen stand blanke Todeswut. Faust wusste, dass er in diesem Zustand unbesiegbar war – eine ungebändigte Naturgewalt. Ihr Schlagaustausch war kurz und blutig. Bereits der erste Hieb ließ Faust vor Übelkeit aufstoßen, doch Winters Schmerzensschreie, inzwischen kaum mehr als ein Wimmern, spornten ihn an. Als es ihm gelang, unter den nächsten Schwerthieb des Tiermenschen hindurch zu tauchen, sah er sich der Zwergin gegenüber, die eine breitbeinige Verteidigungspose eingenommen hatte. Achtlos stieß Faust die unerfahrenere Kämpferin aus dem Weg, setzte zum Sprung über den Altar an und riss Hades mit sich zu Boden. Sein Gebet brach jäh ab.
Während Faust mit dem Priester rang, beobachtete er aus den Augenwinkeln, wie Drake neben dem Altar auftauchte und Winter dabei half, sich aus ihren Fesseln zu befreien. Plötzlich materialisierte sich einige Schritte entfernt eine Gestalt aus den Schatten: Der Fremde war von durchschnittlicher Statur und vollständig in rote Gewänder gehüllt. Drake stützte Winter, die kaum etwas um sich herum wahrnahm, und führte sie zu dem Fremden.
„Drake, was…? Oh, Mann, du mieser Verräter!“
Faust stieß Hades von sich, rappelte sich auf und stürzte auf den Fremden zu, der im Begriff war, mit Drake und Winter davonzuteleportieren. Doch ein weiterer Unbekannter versperrte ihm den Weg: Vor ihm schwebte ein Elfenmagier, den Faust noch nie zuvor gesehen hatte. Sein Körper war der eines einst muskulösen Mannes, den eine schwere Krankheit in ein Knochengespenst verwandelt hatte. Sein Kopf und die Arme waren von eitrigen Quaddeln übersät, aus denen eine schwarz-rote Flüssigkeit quoll, die an Lava erinnerte, und sein ausgemergeltes Gesicht war zu einem boshaften Grinsen verzerrt. Unverwandt blickte er Faust an.
Es knirschte unter seinen Füßen. Als er den Blick nach unten richtete, erkannte er, dass der Boden der Kapelle übersät war mit schwarzen Perlen, die einen Augenblick zuvor noch nicht dagewesen waren. Faust fragte sich, warum er plötzlich an Höllenfeuer denken musste – bis ihm blitzartig einfiel, dass rote Perlen als magische Komponente für spätzündende Feuerbälle dienten. Was bedeuten musste, dass schwarze Perlen…

Grimwardt
Grimwardt, der gerade im Begriff war die Hintertür der Kapelle einzutreten, hatte gerade noch Zeit, sich zu Boden zu werfen und Miu mitzureißen, ehe der glühende Feuerball hinter den Kapellfenstern zu etwas Monströsem anschwoll, das wie ein eingezwängter Riese seine Fesseln sprengte. Plötzlich war die Luft so heiß, dass sich seine Armhaare kräuselten. Nach dem Explosionsknall folgte betäubte Stille. Grimwardt hielt schützend die Arme über dem Kopf, während Glassplitter und Mauerreste auf ihn niederhagelten.
Als sich der Aschenebel ein wenig gelegt hatte und der Druck auf seinen Ohren nachließ, hob er den Kopf. Miu war, genau wie er selbst, über und über mit Asche bedeckt, schien jedoch weitgehend unversehrt.  Ein paar Schritte entfernt kauerte Elijas, grau wie ein Friedhofsengel, am Boden und starrte fassungslos auf den riesigen Schutthaufen, der dort aufragte, wo eben noch die Kelemvor-Kapelle gestanden hatte. Entweder er hatte das Feuer selbst gelegt oder er war ihm mithilfe eines seiner magischen Ausweichtricks entkommen. Grimwardt unterdrückte den Impuls, dem Avariel gleich auf der Stelle die Federn zu rupfen.
Winter? Faust?
Keine Antwort. Also machte er einen Schritt auf die Brandruine zu und begann in grimmigem Schweigen, sich einen Weg durch den Schutt zu bahnen. Miu und Elijas taten es ihm gleich. Keiner von ihnen sprach ein Wort, während die Frage, ob irgendwer dieses Inferno überlebt haben konnte, wie ein Todespendel über ihnen hing.
Der erste, den sie fanden, war Hades. Er lag bewusstlos fast vier Mannslängen von der Ruine entfernt. Vermutlich war er durch die Explosion durch eines der Kapellenfenster geschleudert worden. Das oder sein Gott mussten ihm das Leben gerettet haben, denn das Höllenfeuer hatte seine Haut nur oberflächlich angesengt. Die Zwergin Mechthild hatte weniger Glück gehabt – sie fanden die Schwertmeisterin fast zur Unkenntlichkeit verbrannt und zu Tode zerquetscht unter einem Mauerblock. Nachdem fast eine Stunde vergangen war ohne ein Lebenszeichen von den übrigen Vermissten, ließ ein grunzender Laut aus der Tiefe des Trümmerbergs die Suchenden aufhorchen. Unter ein paar eilig zur Seite geräumten Trümmern kam eine schwarz verbrannte Klauenhand zum Vorschein. Grimwardt hielt das, was sich mit einer gewaltigen Kraftanstrengung aus dem Schutt grub, zunächst für einen Zombie. Das Feuer hatte sich bis in Nachtmonds Eingeweide gefressen, ein Drittel seines Gesichts existierte nicht mehr und seine Füße waren nur noch schwarze Klumpen. Er müsste tot sein. Doch anstelle umzukippen, wie es sich für eine Leiche gehörte, wankte er mit einem düsteren Knurren und erhobene Schwert auf ihn zu. 
„Er ist noch immer im Kampfrausch gefangen“, erkannte Elijas mit einem Schaudern. 
„Dann befehlt ihm, damit aufzuhören!“, knurrte Grimwardt. „Er ist doch unter Eurer Kontrolle!“
„Wenn ich das tue, stirbt er“, erwiderte der Avariel. „Sein Hunger ist das einzige, was ihn am Leben hält.“
Sie verständigten sich darauf, dass Grimwardt und Elijas die Kampfwut des Tigermenschen auf sich lenkten, um Miu die Gelegenheit zu verschaffen, ihn zu heilen, ohne ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Kaum war er wieder halbwegs zusammengeflickt, erteilte ihm Elijas den magischen Befehl sich auszuruhen, und Nachtmond sackte besinnungslos zu Boden.
Auch Grimwardt war der Erschöpfung nahe, doch er schwor sich, die Suche nicht aufzugeben, ehe er Gewissheit hatte. Es dauerte nicht lange, bis er in den Trümmern Zwiespalt fand, Fausts Schwert. Doch von dem Gefährten fehlte jede Spur. Mit zornumwölkter Stirn stapfte Grimwardt zu Elijas, der trauernd bei Mechthilds Leiche kauerte, und wuchtete Fausts Schwert vor ihm in den Boden.
Elijas hob langsam den Kopf.
„Ist er…?“
„Sagt Ihr es mir!“, knurrte Grimwardt mit vor der Brust verschränkten Armen. „Was ist da drin passiert? Für welches kranke Ritual habt Ihr meine Schwester missbraucht?!“
Der Avariel richtete sich verdutzt auf.   
„Ihr seid Priester“, sagte er vorwurfsvoll. „Ihr solltet erkannt haben, dass Hades‘ ‚krankes Ritual‘ dazu diente, Eurer Schwester den Teufel auszutreiben. Sie tötet Unschuldige, um ihre Seelen zu trinken. Habt Ihr Euch niemals gefragt, wie Sie ohne Shars Segen das Schattengewebe anzapfen konnte? Die Seelen machen sie mächtig, aber sie zahlen einen schrecklichen Preis dafür. Winter saugt sie aus, foltert sie und  beraubt sie ihrer Freiheit. Statt ins Jenseits zu fahren, werden sie zum Teil ihrer Seele. Es ist wie eine Sucht, sie kann es nicht kontrollieren. Hades‘ Ritual diente dazu, die gestohlenen Seelen von ihr zu lösen, um sie ihrer rechtmäßigen Bestimmung zuzuführen.“
Der Rest seiner Worte verschwand hinter dem dämpfenden Schleier der Betäubung, der sich über Grimwardts Wahrnehmung gelegt hatte. Er zweifelte keinen Augenblick an dem, was er hörte. Er war auch nicht erstaunt. Er hatte immer gewusst, dass dieser Moment kommen musste. Trotzdem fühlte es sich an, als ließe etwas seine Eingeweide erst zu Eis erstarren, um sie dann mit voller Wucht zu Boden zu schmettern und zu zertrampeln.
„Seit wann wisst Ihr davon?“ Seine Stimme klang in seinen Ohren wie die Stimme eines sehr müden, alten Mannes.
„Tyrail informierte Hades vor einigen Monaten über ein Gespräch zwischen Mephisto und Winter, das er in Cania belauscht hatte und das ihn gewisse Schlüsse ziehen ließ.“
„Der irre Elf?“
„Ich weiß“, seufzte Elijas. „Auch ich war davon überzeugt, dass das eines von Tyrails Ränkespielchen sein musste. Ich wollte ihm nicht einmal glauben, als Hades‘ Göttergespräche ergaben, dass in den letzten sechs Jahren einige Seelen kürzlich Verstorbener nicht in der Stadt der Seelen angekommen waren. Doch dann sah ich es mit eigenen Augen in einer magischen Vision – in einem der Gefängnisse, in dem Winter… wildern gegangen war.“
In den letzten sechs Jahren…
Grimwardt spürte, wie das Taubheitsgefühl in Übelkeit umschlug.
„Wenn ihr keine Teufelsanbeter seid, was hat es dann mit dieser Höllenfeuerexplosion auf sich? Und wer war dieser verrottende Elfenmagier?“
„Was für ein Elfenmagier?“
„Ich sah ihn über der Kapelle schweben und irgendwelche Zauber weben, kurz bevor hier die Hölle losbrach. Er hielt sich wohl für unbeobachtet unter seinem Unsichtbarkeitszauber. Als er bemerkte, dass ich ihn sehen konnte, verschwand er. Der Kerl sah aus, als ob ihn Pest und Lepra gleichzeitig heimgesucht hätten.“
Der Avariel schüttelte ratlos den Kopf.
„Ich schwöre Euch, ich weiß nicht, von wem Ihr sprecht. Dieses Feuer hatte nichts mit Hades‘ Ritual zu tun.“
Grimwardt maß ihn mit durchdringenden Blicken, befand aber, dass er die Wahrheit sprach. Warum sollten sich die Neun Schwerter auch selbst in die Luft jagen?
Elijas sah ihn merkwürdig von der Seite an, als ob ihm etwas auf der Zunge brannte.
„Was ist?“, brummte Grimwardt.
„Faust weiß von Winter“, sagte der Avariel. „Er wird sich gegen jeden stellen, der sie aufhalten will. Ich muss wissen, auf welcher Seite Ihr in dieser Sache steht, Grimwardt... Sie stiehlt Seelen von den Göttern.“
Mit düsterem Blick starrte der Kriegspriester durch ihn hindurch. Lange stand er so da, bis eine Bewegung am Rande des Trümmerfelds seine Aufmerksamkeit erregte. Es war Drake in seiner Geistergestalt. Mit einer Geste bedeutete ihm der Assassine ihm zu folgen. Grimwardt zögerte nur für einen Augenblick. Dann riss er mit einer jähen Bewegung Fausts Schwert aus der Erde und band sich die Waffe an den Gürtel.
„Ich muss meinen Gefährten finden“, murmelte er und stapfte auf die unsichtbare Gestalt zu. 

Winter
Nachdem sie die Seelenmelodie ihres Opfers bis auf den letzten Akkord ausgekostet hatte, ließ sie das junge Mädchen auf den Diwan zurückgleiten und zog den Dolch aus ihrer Kehle. Mit wildem Blick und unnatürlich beschleunigten Bewegungen wirbelte sie zu dem Fremden herum, der ihr gegenüber am Wirtshaustisch harrte. Wo war sie? Und wie war sie hierhergekommen? Der Seelenhunger lag wie ein dichter Nebel über ihrer Erinnerung.
Ihr Gegenüber war mittleren Alters und gutaussehend, mit einem kantigen Gesicht, das von einer hohen Stirn beherrscht und von rabenschwarzem Haar umrahmt wurde. Unter dem roten Kapuzenmantel trug er ein Samtwams, edel, aber nicht protzig. Nur der Duft nach teurem Rosenwasser war ein wenig aufdringlich. Er hatte es mit einem duldsamen Lächeln hingenommen, dass Winter wie eine Verdurstende über sein „Geschenk“  hergefallen war. Mit der Linken umklammerte er den Totenkopfknauf seines Gehstocks, mit dem er nun zweimal auf den Boden pochte. Auf den Befehl wurde der Vorhang, der ihre Sitznische vom Rest des Gasthauses abtrennte, zur Seite geschoben und ein junger Mann in bunter, östlicher Kleidung trat mit einer Verbeugung an ihren Tisch. Seine geweiteten Pupillen deuteten darauf hin, dass er beherrscht wurde. Eilig wischte er das Blut vom Tisch, schulterte Winters Seelenopfer und verschwand wieder. Winter widerstand  einem spontanen Fluchtimpuls. Falls der Fremde sie am Gehen hindern wollte, hatte er genug Zeit gehabt, sie zu bezaubern oder die Umgebung zu sichern: Der Seelenhunger hatte sie ihm schutzlos ausgeliefert. Bemüht darum, Haltung zu bewahren, brachte sie ihr zerzaustes Haar in Ordnung und reckte forsch das Kinn.
„Wer seid Ihr?“, verlangte sie zu wissen. „Und wohin habt Ihr mich verschleppt?“
„Ihr kränkt mich“, erwiderte der gutgekleidete Herr. „Dafür, dass ich Euch gerade das Leben gerettet und Euch, ausgehungert wie Ihr wart, ein Mahl spendiert habe, hätte ich mir doch ein wenig mehr Respekt verdient. Da meine Meinung von Euch offenbar höher ist als die Eure von mir, will ich mich Euch in aller Förmlichkeit vorstellen.“ Er erhob sich und verneigte sich mit der einen Hand auf dem Gehstock und der anderen auf der Brust. „Ich habe mehr Namen als Feinde. Aber Ihr mögt mich unter meinem Zulkirnamen kennen: Szass Tam von Thay.“ Winter zuckte beinahe unmerklich zusammen. Das Oberhaupt der Roten Magier von Thay quittierte die Reaktion mit einem zynischen Lächeln. „Ihr mögt einen modernden Leichnam erwartet haben. Verzeiht die Enttäuschung, ich habe nie verstanden, wieso alle Welt den Liedern glaubt, in denen sich auf meinen Befehl Armeen von Untoten aus dem Erdboden graben, mich jedoch für unfähig hält, meinen eigenen Körper verfallsfrei zu halten. Und um Eure zweite Frage zu beantworten: Wir befinden uns im Gasthaus ‚Zur Drachenhöhle‘ in Mulptan, Rashemen. Mein Land steht mit den Wychlan im Krieg – es schien mir darum nur angemessen, Euch zum Essen hierher auszuführen. Ich hoffe, die Kleine war nicht zu zäh. Drake erwähnte, dass Ihr in letzter Zeit eine besondere Vorliebe für hübsche junge Frauen entwickelt hättet.“
 „Was wollt Ihr?“, fragte sie düster. Sie hätte niemals zulassen dürfen, dass Drake sie durchschaute. Es war zu erwarten gewesen, dass er sein Wissen an den Höchstbietenden versteigern würde.
Szass Tam lehnte sich mit belustigter Geringschätzung in seinen Kissen zurück und formte die Hände zu einem Dreieck: „Ich glaube, Ihr missversteht meine Absichten. Euer schattiges Geheimnis ist bei mir sicher. Ich beobachte Euch und Eure Freunde schon seit einer ganzen Weile. Zum ersten Mal habt Ihr meine Aufmerksamkeit erregt, als Ihr den Sieg über den jüngsten Sohn meines ältesten Feindes davontrugt: den Hochprinz von Netheril. Ihr seid wie Figuren in einem Schachspiel, das von größeren Männern gespielt wird. Ihr seid die wichtigsten Figuren in diesem Spiel, aber eure ganze Welt besteht daraus, ihr vermögt nicht über den Tellerrand eurer eigenen Existenzen hinauszusehen. Wärt Ihr so alt wie ich, hättet ihr gelernt, die Welt als Spielbrett zu betrachten, statt eure Träume auf ihr zu bauen und enttäuscht zu werden, weil ihr das Spiel der Macht spielt, ohne die Regeln zu kennen. Ich kann euch die wichtigsten dieser Regeln beibringen. Ich kann euch magische und materielle Ressourcen zur Seite stellen, die ihr brauchen werdet, um den Krieg, der im Westen aufzieht, gegen Netheril zu wenden. Doch bevor ich weiter Zeit und Magie in euch investiere, brauche ich einige Zusicherungen. Seit Hadhrune waren eure Schläge gegen Telamont Tanthuls Imperium eher unbedeutend. Ich will einen Vertrag, der sicherstellt, dass ich auf das richtige Pferd setze.“
„Nicht für Euer ganzes Königreich würde der Auserwählte des Tempus ein Bündnis mit einem Mörder und Sklavenherrn eingehen, der den Tod und die Götter verhöhnt!“, antworte eine bekannte Stimme in tiefdröhnender Überzeugung. Winter sprang erleichtert auf, als Grimwardt mit Drake im Schlepptau den Vorhang zur Seite zog, doch der harte Blick des Kriegspriesters ließ sie erschrocken zurücktaumeln. Etwas Erhabenes und Schreckliches lag in diesem Blick, etwas, das schon immer dagewesen war, aber jetzt konnte sie sich nicht mehr davor verstecken. 
„Telamont Tanthuls imperialistischer Ehrgeiz hat Eure Strategie, den Westen durch Handelsmonopole an Euch zu binden, zunichte gemacht.“ Grimwardt machte einen Schritt auf den Zulkir zu, ohne Winter eines weiteren Blickes zu würdigen. „Er tut nichts anderes als Ihr, nur ist er im Vorteil, weil die Zauberpest sein Volk geeint hat, während das Eure im Bürgerkrieg versunken ist. Und er hat die Sharianer auf seiner Seite, die seinen Raubzügen eine göttliche Legitimation verleihen. Er baut seine Lügen auf das Versprechen von Sicherheit, statt auf die Androhung von Gewalt und Vernichtung. Telamont Tanthul ist ein falschzüngiger Usurpator, doch Ihr seid mitnichten das geringere Übel!“
Die herablassende Eleganz, mit der sich Szass Tam erhob und sein Wams glattstrich, stand in starkem Kontrast zu Grimwardts kämpferischem Auftritt.
 „Eure moralischen Überzeugungen ehren Euch, Kriegskanzler“, sprach der Rote Magier. „Doch sie sind strategisch unangebracht. Jeder Eurer Schritte in der Vergangenheit war auf einen Krieg mit Netheril ausgelegt. Dieser Krieg wird kommen und dann werdet Ihr jede Hilfe nötig haben, die Ihr kriegen könnt. Ich biete Euch Geschenke für die ich nichts weiter fordere, als dass Ihr sie in unser beider Interesse verwendet. Für Euer Volk rate ich Euch Eure Entscheidung noch einmal zu überdenken. Vergesst nicht, dass die Schlachtfelder, die Euer Gott heiligt, ebenso die Eures Feindes sind wie die Euren. Solltet Ihr dies einsehen, so lasst es mich wissen. Der Albino weiß, wie ich zu erreichen bin. Ich empfehle mich.“
Er nickte Grimwardt und Drake kurz zu und verabschiedete sich von Winter mit einem angedeuteten Handkuss. Dann drückte er den Totenkopfknauf seines Gehstocks wie eine Klinke herunter und sprach ein magisches Befehlswort, woraufhin Nebel aus den Augenlöchern des Schädels strömte und ihm einen dramatischen Abgang ermöglichte.
„Grim…“, murmelte Winter.
Ihr Bruder machte auf dem Absatz kehrt und stapfte mit geballten Fäusten aus dem Gasthaus. Leichtbekleidete Tänzerinnen sprangen verschreckt aus dem Weg und Gäste drückten sich tiefer in ihre Stühle, als er wie der Feindhammer persönlich durch den Raum fegte. Drake stieß ein gefrustetes Seufzen aus und folgte ihm im Laufschritt, während Winter zurückblieb und wie betäubt zurück auf den Diwan sank.
Er weiß es.
Sie hatte den Preis gekannt, den sie für ihre Schattenmagie zahlte. Doch sie hatte immer die Hoffnung gehabt, dass Grimwardt davon verschont blieb. Mit seiner Wut konnte sie leben, vielleicht sogar mit seinem Hass. Aber nicht mit der Schuld, dass ihn seine Liebe zu ihr seine geistliche Karriere kosten könnte: das Einzige, was ihm im Leben wichtig war…
Schließlich gab sie sich einen Ruck und machte sich auf die Suche nach ihrem Bruder und Drake. Sie fand die beiden inmitten des bunten Treibens eines Basars.
„Verdammt, einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul“, redete Drake gerade auf den Kriegspriester ein. „Er ist kein Teufel. Du verkaufst nicht deine Seele, wenn du einen Kriegspakt mit ihm eingehst.“ 
„Ach ja? Wie viel zahlt er dir, wenn ich das tue?“, schnaubte Grimwardt, der mit düster umwölkter Stirn auf und ab lief, wie er es sonst nur tat, wenn seine Rekruten beim Bogenschießen statt der Zielscheibe Borgos Hinterteil trafen. „Du sagtest, er kann uns dabei helfen, Faust zu retten. Nur deshalb bin ich hier.“
„Was ist mit Faust?“, fragte Winter.
Grimwardt, der sie erst jetzt bemerkte, unterbrach jäh seinen Kampflauf. Wieder maß er sie mit diesem Priesterblick, als ob er von ihr erwartete, im Tageslicht in Flammen aufzugehen.
„Es gab eine Explosion in der Kapelle“, antwortete Drake für ihn. „Höllenfeuer, meint dein Bruderherz. Faust ist jedenfalls verschwunden“, fügte er ohne großes Bedauern hinzu.
„Höllenfeuer?“, wunderte sich Winter. Höllenfeuer war Mephistos Markenzeichen, doch der Erzteufel war tot. „Vielleicht war es Ares.“
„Nein.“ Es war das erste Wort, das Grimwardt zu ihr sprach. „Ich tippe eher auf einen Bekannten von Fausts speziellem Spitzohrfreund mit dem sonnigen Gemüt, diesem Tyrail“, knurrte er und erzählte von dem mysteriösen Elfenmagier.
Winter konnte sich darauf ebenso wenig einen Reim machen wie die anderen beiden, doch ihre Sorge um Faust wuchs. Wenn Tyrail hier seine Finger im Spiel hatte, war er auf Rache aus. Hatte womöglich er ihre Entführung eingefädelt, um an Faust heranzukommen? Der Schlüssel zu diesem Geheimnis war der kranke Elfenmagier.
Winter schloss die Augen und zog sich in ihr Inneres zurück, tauchte immer tiefer in den Schatten, bis sie an die Grenzen ihrer Seele stieß. Dort, wo sie eins wurde mit all den Seelen, die sie getrunken hatte. Es war ein gefährlicher Ort, denn er war voller fremder Erinnerungen. Wenn sie nicht aufpasste, vergaß sie, welche Erinnerungen ihre eigenen waren und welche sie gestohlen hatte.  Doch sie war vorsichtig genug, das Wissen der getrunkenen Seelen von den Empfindungen zu trennen. Und tatsächlich wurde sie fündig.
„Seelenkeim… Wenn Teufel dem Tod entgehen wollen, spalten Sie ihre Seele und pflanzen den Keim einem sterblichen Anhänger ein...“
Erschrocken riss sie die Augen auf.
„Was faselst du da?“, knurrte Grimwardt.
„Der Elfenmagier…“, erkannte Winter entsetzt. „Es ist Mephisto! Mephistos Seelenkeim!“


Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 03. Januar 2013, 02:52:10
Grandioser Auftakt!  :thumbup:
Man liest einfach durch und will einfach weiter lesen und wissen wie diese Gruppe, die eigentlich keine mehr ist wieder zusammenfindet!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nappo am 03. Januar 2013, 10:40:04
Danke! Und ein frohes Neues Jahr.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 03. Januar 2013, 12:13:57
Einfach fabelhaft!

Ich kann mich kaum entscheiden, welche Szene mir diesmal am besten gefällt. Ganz vorne dabei auf jeden Fall Ilmeths herrlicher Auftritt!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 03. Januar 2013, 13:50:28
Oh ja, das stimmt!  :D
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 03. Januar 2013, 13:55:52
Ja, der hat mir auch viel Freude bereitet...

@Nappo:
Bitte und gleichfalls :-)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 05. Februar 2013, 01:06:16
Schade, dass wir jetzt vermutlich erst mal ein Weilchen bis zum nächsten Mal Spielen warten müssen, aber vielleicht geht dafür mit dem Fortlauf der Geschichte noch was?  :)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 05. Februar 2013, 20:19:36
Puh, das könnte noch etwas dauern, meine Schreibzeit ist derzeit auf um die 3 Stunden Zugfahrt pro Tag reduziert. Je nach Neuigierigkeitsgrad des Bankpartners weniger  :suspious:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 05. Februar 2013, 20:26:22
Tja, in der Bahn ohne Buch ist ja auch langweilig, da bietet sich das Mitlesen an  :wink:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 31. März 2013, 19:50:55
Kapitel II: Blut ist dicker als…

Faust
Er erwachte vom dumpf-düsteren Klang einer Trommel. Es war eiskalt und roch nach verbranntem Fleisch – vermutlich seinem eigenen –, doch er spürte keinen Schmerz. Seine Lider waren schwer wie Blei und als es ihm endlich gelang sie zu heben, war da nichts als Nebel; dann das eitrige Grinsen des Elfenmagiers, der ihm den Kiefer auseinanderbog, um ein dickflüssiges Gebräu seine Kehle hinunter zu zwingen. Faust stieß ein unartikuliertes Knurren aus und würgte das Zeug wieder aus. Sein Blick harrte für einen Moment auf der Hand des Fremden – oder besser gesagt, der schwarzen, mit Narben übersäten Klaue, die aus seinem Armstumpf wuchs. Dann sank er zurück in die Bewusstlosigkeit.
Als er die Augen zum zweiten Mal öffnete, klärte sich sein Blick. Undeutlich nahm er wahr, dass er mit dicken Eisenketten an einen Holzpfahl gefesselt war. Sieben weitere Pfähle mit angeketteten Opfern ragten rechts und links von ihm in kreisförmiger Anordnung aus dem Boden. Hinter jedem der Pfähle harrte ein verhüllter Kuttenträger. Sie hielten Fackeln in den Händen und der Lichtschein erhellte acht schmale Elfengesichter mit pechschwarzen, blicklosen Augen. In Trance summten sie zum Takt, den der Trommler vorgab. Dessen Gestalt lag im Schatten, doch Faust erkannte wage den Umriss einer geflügelten Kreatur. Ein neunter Kuttenträger ging reihum und schnitt den Opfern die Kehlen durch. Niemand schrie oder wehrte sich, während der Kehlenschneider sein blutiges Werk verrichtete – die Gefangenen hingen, betäubt vom Gift des Magiers, in tiefer Bewusstlosigkeit in ihren Ketten. Da die Pfähle leicht schräg in den Boden gerammt waren, ergoss sich das Blut der Getöteten in ein ringförmiges Wasserbecken, das einen Beschwörungskreis mit blasphemischen Symbolen umfloss. In der Mitte des Kreises harrte der Elfenmagier mit der schwarzen Klaue. Konzentriert zuckten seine Augen hinter den geschlossenen Lidern und Schauer durchliefen seinen dahinsiechenden Körper, während seine Lippen beschwörende Worte formten. Fausts Blick jedoch war auf seine entblößte Brust fixiert. Schweißglänzend prangte dort das Symbol einer schwarzen Hand. Mephistopheles‘ Zeichen.
Wer war der Kerl? Ein irrer Kultist, der seinen Herrn wiederauferstehen lassen wollte? 
Da ihm niemand besondere Aufmerksamkeit zu schenken schien, spannte Faust probeweise seine Muskeln. Die Ketten hielten stand – vermutlich waren es magische Ketten, sonst hätte Faust sie mit seiner Eisenhand mit Leichtigkeit gesprengt –, doch das Klirren entlockte der Gefangenen neben ihm ein heiseres Stöhnen. Unruhig ruckte sie im Schlaf den Kopf in seine Richtung, sodass er ihr Gesicht sehen konnte. Der Schreck fuhr ihm wie Eiswasser in die Glieder.
„Claire?!“
Mit klopfendem Herzen sah er sich nach dem Henker um. Noch zwei Opfer, ehe er seine Schwester erreichen würde. Seine Gedanken rasten. Warum Claire? Warum seine Schwester? War das alles eine großangelegte Racheaktion an ihrem Vater? Waren sie hier, um für Ares‘ Verrat an Mephisto zu büßen? Wage erinnerte er sich an etwas, das er einmal gelesen hatte – Teufel beschwor man, indem man sie bei ihrem wahren Namen rief. Und es hieß, dass der wahre Name eines Wesens in dessen Blut geschrieben stand. Vielleicht ging es hier um mehr als Rache. Wenn das Ritual nur ihr Blut erforderte, konnte er vielleicht mit dem Magier verhandeln…
In diesem Moment trat der Henker hinter Claire und das veränderte Licht enthüllte kantig-elfische Gesichtszüge und graue, unerbittliche Augen. Faust erstarrte – und fragte sich gleichzeitig, warum er das nicht hatte kommen sehen.
„Tyrail.“ Seine Stimme klang brüchig, denn im Grunde wusste er, dass er von dem Elfen keine Gnade zu erwarten hatte. Er hatte dafür gesorgt, dass man ihn aus der Gemeinschaft der Elfen verstieß – nach Tyrails eigenen Maßstäben war das schlimmer als der Tod. Dennoch flehte er: „Tu es nicht… Bitte.“
Tyrail sah ihn nicht einmal an, als er seiner bewusstlosen Schwester den Zeremoniendolch an die Kehle setzte. Sein Blick war starr auf die Gestalt im Zentrum des Beschwörungskreises gerichtet. Es war nicht der fanatische Blick eines Anhängers oder der triumphierende Blick eines Rächers – eher der leere Blick eines Toten.
Mit kalten, mechanischen Bewegungen stieß er zu.
Für einen Augenblick wurde alles taub und still um Faust, so als hätte er sich in eine fremde Zeitstarre geflüchtet. Erst als er den kühlen Stahl des Zeremoniendolches an seiner eigenen Kehle spürte, erkannte er, dass die Zeit um ihn herum weiterlief. Plötzlich begriff er, wer der dahinsiechende Elfenmagier mit der schwarzen Klauenhand war. Und es weckte in ihm eine unbekannte, stille, eisige Art von Zorn.
 
Winter
Hullack-Wald, Grenzgebiet zwischen Cormyr und den Talländern, später Abend.
Grübelnd biss sich Winter auf die Lippen und stemmte frustriert die Hände in die Hüften, während sie den Steinkreis ihrem magischen Blick unterzog.
„Nichts!“, sagte sie gereizt. „Dieser ganze Ort schreit nach einem Portal! Aber ich sehe es einfach nicht!“
„War ein ziemlich harter Tag für uns alle.“ Drake lehnte sich gähnend gegen einen der Findelsteine – seltene, mannshohe Gesteinsbrocken, die nach oben spitz zuliefen. „Lass uns für heute Feierabend machen.“
Winter warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Drake machte nicht gerade einen Hehl daraus, dass sich seine Motivation Faust zu finden auf seine Vereinbarung mit Szass Tam beschränkte, und wer wusste, welche Hintergedanken er darüber hinaus noch hegte. Aber der Exorzismus hatte ein schmerzliches Loch in ihren Seelenvorrat gerissen, das ihr schmähliches Mahl in Rashemen schwerlich decken konnte. Da käme ihr ein Besuch auf dem Henkersplatz von Atkatla gerade recht. Bei diesem Gedanken sah sie unwillkürlich zu Grimwardt hinüber, der so grimmig und starr zwischen den Findelsteinen harrte, als sei er Teil des Steinkreises. Und da war schon wieder dieser Priesterblick! Als ob er genau wusste, woran sie gerade dachte! Sie hätte vor Frustration aufheulen mögen.
„Nein“, meldete sich unerwartet Miu zu Wort. „Wir müssen Faust finden. Er hat nicht mehr viel Zeit.“
Auch ohne ihren Schwur ergriff die Ordensschwester fast niemals das Wort. Ihre schlichten Worte waren darum alarmierender als es Fausts Name, mit Blut auf einen der Steine geschmiert, hätte sein können.
Resolut wandte Winter ihrem Bruder und seinem stummen Urteil den Rücken zu und fokussierte ihren arkanen Blick. Die acht Findelsteine standen wie Wächter im Kreis um eine sprudelnde Quelle. Einst war dies ein Ort der Freundschaft gewesen, wo sich menschliche Druiden mit Elfen eines befreundeten Adelshauses  getroffen hatten. Doch als die Eldreth Veluuthra in dem Elfenclan an Macht gewannen, hatten sie die Quelle entweiht. Einige der Steine waren umgestoßen, auf anderen standen in altelfischen Runen Veluuthra-Parolen wie „Das siegreiche Schwert des Volkes wird über euch kommen“ und „Reinigt Myth Drannor“.
Die Schmierverse deuteten darauf hin, dass Szass Tams Vermutung stimmte: Nachdem Grimwardt zähneknirschend einem Kriegspakt gegen Netheril zugestimmt hatte, hatte der Zulkir ihnen bei der Suche nach Faust geholfen: Mithilfe seines berühmt-berüchtigten Spionagenetz hatte er nach einer Verbindung zwischen Mephisto und den Eldreth Veluuthra gesucht und herausgefunden, dass im Hullack-Wald, einer der Hochburgen der Abtrünnigen, vor einigen Tagen ein Menschendorf überfallen worden war, dessen Bewohner davon berichteten, dass Veluuthra-Attentäter unter der Führung „einer Elfenfrau mit Teufelsflügeln“ sechs Männer und Frauen entführt hätten. Eine alte Druidin aus dem Dorf, die sich noch an die alten Zeiten erinnerte, hatte von dem Steinkreis zu erzählen gewusst, der für die Eldreth Veluuthra zum Symbol ihres Widerstands geworden war. Sie vermutete, dass die Abtrünnigen hier ein Versteck unterhielten. Winter tippte auf ein Portal, weil sie glaubte, dass der Seelenkeim Faust auf einer anderen Ebene gefangen hielt, da er sich sonst gewiss schon gemeldet hätte.
Und dann endlich spürte sie es: Die schimmernde Aura des Portalbogens, der sich über zwei der Findelsteine spannte, hatte sich ihrem Blick entzogen, weil mächtige Bannmagie ihn verhüllte. Doch kaum war der Bann gebrochen, malte ihr Zauber ihr ein verschwommenes Bild dessen, was sich auf der anderen Seite befand.
Winter schauderte.
„Folgt mir“, sagte sie angespannt.
Dann flüsterte sie einen Bannzauber, um den Schutzmechanismus zu unterdrücken, der das Portal mit einem Losungswort belegte, deckte sich und die anderen mit genug Schutzzaubern ein, um für alles gewappnet zu sein, was sie auf der anderen Seite erwarten mochte, und trat zwischen den beiden Steinen hindurch.
Die klirrende Kälte, die sie empfing, weckte dunkle Erinnerungen. Besonders Miu wurde aschfahl, als ihr Blick den schneebedeckten Hügel hinaufwanderte, auf dem ein Eispalast thronte, der erschreckende Ähnlichkeit mit Mephistos Herrschersitz in Cania hatte. Doch betrachtete man den Palast genau, so verschwammen Teile des Anwesens vor den Augen und entpuppten sich als Illusion. Dies war nicht Cania – das neue Cania, das Cania des Schwarzen Phönix, hätten sie vermutlich gar nicht wiedererkannt. Dies war Mephistos kläglicher Versuch, sein Cania wiederauferstehen zu lassen.
Ein Pfeil traf Winter an der Schulter und prallte von ihrem magischen Schutzschild ab. Im nächsten Moment surrte eine ganze Pfeilsalve wie ein Schwarm wütender Hornissen auf sie zu, doch kein einziges Geschoss überwand ihren Schutz. Winter schnaubte abfällig. Mephistopheles musste wissen, dass ein Trupp elfischer Bogenschützen sie nicht aufhalten würde, doch offenbar hatte der gestürzte Erzteufel nicht die nötigen Ressourcen, um ihnen einen ebenbürtigen Gegner entgegenzustellen – ein gutes Zeichen. Winter schloss die Augen und tastete sich mit ihrem Geist vor, bis sie glaubte, alle Angreifer lokalisiert zu haben. Dann schlug sie zu – ein Verdorren-Zauber erledigte das lästige Schützenproblem. 
Kurz darauf standen sie in der Eingangshalle des Anwesens.
Schwacher Feuerschein drang durch die eisglatte Bodenplatte aus den Tiefen des falschen Palasts, doch die einzige Treppe, die Winter erblickte, führte in die oberen Geschosse. Gedämpft klangen Kampfgeräusche und der dumpfe Klang einer Zeremonientrommel durch die Eisschicht. 
„Er ist dort unten“, flüsterte Miu mit bebenden Lippen.
Winter brannte mit einem Auflösungsstrahl ein Loch in den eisigen Boden. Die Platte war kaum in die Tiefe gestürzt, als Grimwardt luftwandelnd an ihr vorbei stürmte. Mitten im Lauf stockte er. Nach einem hastig gemurmelten Flugzauber war Winter an seiner Seite – und erstarrte.
Den verbitterten Kampf zwischen dem Seelenkeim und Ares, dem Schwarzen Phönix, der in der Höhle unter ihr wütete, nahm sie nur am Rande wahr. Was ihren Blick bannte, war die leblose Gestalt, die in schweren Eisenketten an einem Holzpfahl über einem Becken aus Blut hing. Fausts linke Körperhälfte war schwarz verbrannt und aus dem klaffenden Schlitz in seiner Kehle tropfte ein letzter, klebriger Blutstropfen in das Opferbecken, wo er sich mit dem Blut der anderen sieben Opfer vermischte. Hinter ihm harrte Tyrail – sein Arm, der den Zeremoniendolch hielt, war bis zum Ellbogen mit Fausts Blut besudelt. Winter schüttelte verwirrt den Kopf.
Faust kann nicht sterben.
Sie wusste nicht, weshalb sie sich dessen so sicher gewesen war. Vielleicht weil Faust nicht alterte, seit er angefangen hatte, mit dem Zeitstrom zu experimentieren. Oder weil sie niemanden kannte, der sein Leben so kompromisslos lebte wie er – als ob ihm nichts etwas anhaben konnte. Aber nicht einmal Faust konnte eine bis zum Halswirbel aufgeschlitzte – nein, eher aufgefetzte -  Kehle überleben. Sie schluckte den Schrei hinunter, der ihre Kehle hinaufkroch, und zog sich tief in den Seelenschatten zurück. Dann zwang sie sich, den Schmerz, der in ihr aufwallte, in ihre Magie zu lenken.
Mephisto war geschwächt. Seine Höllenfeuermagie hatte den Körper seines Wirts fast aufgezehrt und nur die magischen Gesänge der Veluuthra, die im Kreis um den Beschwörungszirkel harrten, schienen den Leib des Elfen davor zu bewahren, an der Hitze der Teufelsseele, die in ihm tobte, zu verglühen. Als Winters Schattenwelle auf ihn zu brandete, hüllte er sich und Ares in einen Dimensionsmantel und die beiden Teufel verschwanden. Alle anderen, die Winters Zauber erreichte, brachen unter blutigen Schweißausbrüchen zusammen. Nur zwei der Kultisten überlebten ihren Zorn: Der eine war Tyrail, den irgendetwas gegen ihre Magie zu schützen schien; die zweite war die Trommlerin, die Winter als Mephistos Kurtisane Antilia erkannte. Schwerverletzt rappelte sich die Halbteufel-Elfe auf und ehe Winters eilig gezielte Energiekugel sie erreichte, entkam sie durch ein verborgenes Portal.
Elendes Miststück.
Winters ganzer Zorn richtete sich nun gegen Fausts Mörder, den Grimwardt und Drake in die Zange genommen und mit einer antimagischen Zone belegt hatten. Blut quoll zwischen Tyrails Fingern hervor, wo Drake ihn an der Kehle erwischt hatte, und einer von Grimwardts göttlich beseelten Axthieben zwang ihn taumelnd in die Knie. Tyrail war ein toter Mann, doch er schien entschlossen, wenigstens einen seiner menschlichen Angreifer mit ins Grab zu reißen. Aber plötzlich weiteten sich seine Augen wie im Schock und er erstarrte mitten im Kampf. Scheppernd glitt ihm das Schwert aus dem starren Fingern und seine Lippen formten ein stummes „Nein“.  Grimwardt und Drake hätten ihm mit einem einzigen Hieb den Rest geben können, doch etwas ließ auch sie zögern.
Winter folgte ihren Blicken und wäre fast aus dem Gleichgewicht geraten und abgestürzt.
 „Faust!“
Unter Mius heilenden Händen regte sich Leben hinter seinen geschlossenen Augen. Langsam hob er den Kopf und ein heiseres Stöhnen drang aus seiner zerfetzten Kehle. Sofort war Winter bei ihm, um einen Eisenwacht-Zauber zu flüstern, der die Eisenketten von ihm abgleiten ließ, und ihn in den Armen zu halten, während er langsam zu regenerieren begann.
Faust schien von weit herzukommen, als er endlich die Augen öffnete. Seine Augen hellten sich auf, als er Winter erblickte, doch das Licht erlosch gleich wieder, als sein Blick auf die Tote neben ihm fiel.
„Ist das…?!“
Sie verstummte, als Faust sich wankend aufrichtete und auf Tyrail zutrat. So düster und blutverschmiert bot er einen fürchterlichen Anblick.
Der Elf sah aus, als sei er plötzlich um hundert Jahre gealtert.
„Das kann nicht sein“, bröckelte es über seine Lippen. „Wieso… brennst du nicht in den Tiefen der Hölle?“

Faust
Gute Frage.
Er war tot gewesen, oder etwa nicht? Er hatte am Styx gestanden, dem Fluss der Seelen, der die Toten ihrem Schicksal zuführte. Die Erinnerung drohte ihm bereits zu entgleiten, aber er hielt sie fest, denn dort hatte er seine  Schwester zum letzten Mal gesehen. Kurz bevor sie in die Barke gestiegen war, die sie ans andere Ufer, in die Stadt der Seelen, bringen sollte, hatte sie sich lächelnd zu ihm umgewandt – ein wenig ängstlich, aber abenteuerlustig, wie früher, wenn sie ihren Halbbrüdern gemeinsam Pferdeäpfel unters Kopfkissen gelegt hatten. Es war dieses Grinsen, mit dem er sie in Erinnerung behalten wollte – nicht das blutige Grinsen, das Tyrail in ihre Kehle geschlitzt hatte.
Natürlich war keine Barke für ihn gekommen. Stattdessen hatte er den Sog des Styx gespürt, der ihn immer stärker in seinen Bann geschlagen hatte – wie diese Gnomensteine, die Metalle wie magisch anzogen. Zunächst hatte er ihm nachgegeben, wie ein willenloses Stück Metall. Doch ein Teil von ihm vergaß auch im Tod nicht, dass der Styx keine Gnade mit einem gottlosen Höllengeweihten kennen würde. Mit der Erkenntnis war die Angst zurückgekehrt – und der Widerstand. Er war auf die Knie gefallen und hatte die Finger in den Boden gekrallt, um dem Drang zu widerstehen, sich in die Fluten zu stürzen; hatte sich an den Körper geklammert, der mit aufgeschlitzter Kehle irgendwo in einer eisigen Höhle lag…
„Reine Willenskraft“, murmelte er auf Tyrails Frage.
„Dann ist es also wahr“, sagte dieser, plötzlich untypisch ruhig und gefasst. „Du bist unzerstörbar.“
„Eher nicht besonders scharf darauf, meinen Seelenpakt zehn Jahre zu früh zu erfüllen“, brummte Faust. Dann wurde er schlagartig ernst. „Warum hast du es getan?“
„Warum?!“ Ein schauderhaftes Zucken durchlief die Züge des Elfen. „Das fragst du?“
„Warum Mephisto? Unsere Fehde war immer eine Sache zwischen dir und mir. Und daran hast du dich gehalten. Warum hast du die Spielegeln geändert?“
„Die hast du geändert, als du mich den Ark-Velahr in Myth Drannor ausgeliefert hast. Für meine Veluuthra-Brüder bin ich ebenso ein dhaerow wie für alle anderen Elfen. Sie verachten mich. Glaubst du, ich wollte das hier? Zusehen, wie diese Abscheulichkeit und seine Hexe sie durch dunkle Magie und falsche Versprechungen zu seelenlosen Hüllen und Teufelsmätzen machen?! Aber Hass ist wie ein Geschwür. Ich konnte es nicht länger ertragen, dass du…“ Er brach ab und schüttelte jäh den Kopf. „Was ist meine Seele noch wert, nun, da du mich aus Arvandor verbannt hast? Mein Preis war Mephistos Hilfe. Die Explosion in der Kapelle sollte alle vernichten, die dir etwas bedeuten. Deine rothaarige Freundin, ihren Bruder, die Neun Schwerter… Deine Schwester war nicht meine Idee – ihr standet euch nie besonders nahe. Mephisto brauchte euer Blut, um den Schwarzen Phönix zu beschwören.“
Faust musterte ihn voller Abscheu. Stahl klirrte, als Grimwardt auf ihn zutrat, um ihm sein Schwert Zwiespalt zu überreichen. Als sich ihre Blicke trafen, schenkte der Freund ihm ein kurzes Nicken: Meinen Segen hast du. Die Klinge blitzte blutdurstig, doch Faust schüttelte den Kopf.
Zu gut für seinen Kopf.
Tyrail hielt noch einen Augenblick seinem Blick stand. Dann sank er schweigend, mit gesenktem Kopf, vor ihm auf die Knie und lieferte sich seinem Urteil aus. Die Demut der Geste erstaunte Faust ein wenig, doch sein Maß an Mitleid für Tyrail war restlos aufgebraucht.
„Fahr zur Hölle“, sagte er leise.
Nicht einmal Miu protestierte, als sich seine Eisenfaust um Tyrails Kehle legte. Tyrails panischer Gesichtsausdruck, als sein Gesicht sich zu verfärben begann, verschaffte ihm keine Genugtuung. Den kalten Zorn, der wie Wundbrand an ihm nagte, heilte es nicht. Hass ist wie ein Geschwür, hatte Tyrail gesagt und vielleicht verstand er ihn jetzt zum ersten Mal. Aber sein Hass galt nicht dem Elfen. Er galt dem Monstrum, das Tyrail endgültig verdorben hatte. Das seine Schwester seinen düsteren Racheplänen geopfert hatte. Das den Ehrgeiz seines Vaters ausgenutzt hatte, um ihn zu vergiften. Das Miu die Unschuld geraubt hatte. Das die Schuld an Winters Seelenleiden trug. Und das er heute fast um zwei Seelen reicher gemacht hätte.
„Faust, ich glaube, du kannst ihn jetzt loslassen“, bemerkte Winter zaghaft.
Mit einem Ruck entließ er Tyrails schlaffen Körper aus seinem Griff und wandte sich ab, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Schweigend befreite er seine Schwester von ihren Fesseln und barg ihren Körper in einem Umhang, den Winter ihm reichte.
„Lasst uns nachsehen, wo dieser Dreckskerl meine Klamotten versteckt hat, und dann nichts wie weg hier.“

Grimwardt
Kurz darauf.
„Nicht… bitte“, flehte die Elfe, als Miu auf sie zutrat, und kauerte sich tiefer in ihre Zelle. Die Bewegung trieb die Pfeilspitze, die nur knapp ihr Herz verfehlt hatte, noch tiefer in ihre Brust. Mius sanfte Worte halfen nichts – die junge Frau schien mehr Angst vor ihren Befreiern zu haben als vor dem Pfeil in ihrer Brust. Die Gefährten hatten sie auf der Suche nach Fausts Habseligkeiten in einem Gefängnistrakt im oberen Stockwerk aufgelesen. Sie schien die einzige Überlebende zu sein – zwei weitere Elfenmädchen lagen tot in den Zellen.  Offenbar hatte Mephistos Kurtisane es beim Aufräumen ein wenig eilig gehabt.
Hilfesuchend wandte sich Miu zu ihren Gefährten um.
 „Wir wollen dir nur helfen“, versuchte Winter es in gebrochenem Elfisch, das in den Ohren der Kleinen furchtbar hart klingen musste. „Sag uns, was mit dir passiert ist.“
„Vergiss es“, meinte Grimwardt, der mit verschränkten Armen ein wenig abseits stand. Er hielt sich bewusst von der verängstigten Elfe fern, denn sie hatte diesen gehetzten Ausdruck in den Augen, den er hin und wieder bei Frauen auf dem Schlachtfeld gesehen hatte, die nach dem Kampf der Gier der Eroberer ausgeliefert gewesen waren. „Wenn sie bei den Eldreth Veluuthra aufgewachsen ist, hält sie dich wahrscheinlich für den Teufel in Person.“
„Dann eben anders“, murmelte Winter und setzte zu einer magischen Formel an.
Grob fing er ihren Arm ab.
„Das wirst du mir schön bleiben lassen.“
„Was schlägst du vor? Sollen wir diesem dummen Ding gut zureden, bis Mephisto mit der Verstärkung anrückt?!“
„Ich werde jedenfalls nicht zulassen, dass du mit deiner Schwarzen Magie ihren Geist vergiftest!“
„Meiner Schwarzen Mag…!“
Frustriert rollte sie die Augen und verfiel in gekränktes Schweigen. Grimwardt beobachtete seine Schwester mit misstrauisch zusammengekniffenen Augen. Er kannte diesen verbissenen Gesichtsausdruck. Er wusste, sie konnte Magie wirken, ohne sich etwas anmerken zu lassen, aber sie würde doch nicht…?
„Als Antilia in unser Dorf kam, versprach sie uns, dass wir der Großen Sache dienen würden“, setzte plötzlich die Elfe in ihrer Muttersprache und mit furchtbebender Stimme an. „Sie brachte uns hierher und sperrte uns hier ein – nur die Frauen. Sie sagte, ihr Herr brauche einen Wirt, der stark genug für seinen Seelenkeim sei. Dann beschwor sie Teufel und ließ sie auf uns los. Als sie vorhin zurückkam, war sie sehr in Eile. Sie nahm nur die von uns mit, die bereits… einen Teufelssamen in sich trugen, alle anderen...“
Als Grimwardt ihre geweiteten Pupillen bemerkte, wurde irgendwo in ihm ein Hebel umgelegt. Seine Hand fuhr wie von selbst an den Griff seiner Axt, während er zu Winter herumwirbelte. Mit der Wucht eines Henkersbeils sauste Ambrosia auf den dickköpfigen Schädel seiner Schwester zu… und hätte ihn wohl gespalten, wäre das Axtblatt nicht wie körperlos durch sie hindurch geglitten. 
Erschüttert starrte Winter ihn an.
Eisenwacht“, murmelte sie fast entschuldigend.
„Bist du von Sinnen?!“, kam es dagegen von Faust, der, die Hände voll der Sachen, die ihm bei seiner Gefangennahme abgenommen worden waren, aus der Waffenkammer trat. Scheppernd fielen die Sachen zu Boden, als er sich vor Winter drängte und Grimwardt von ihr fortstieß. 
„Tempus hat mich zu Seinem Sprachrohr ernannt, zu Seinem Streiter auf Erden, und sie verstößt gegen alle kosmischen Prinzipien!“, donnerte Grimwardt. „Was hast du erwartet, bei den Kratern von Kriegersruh!“
„Du bist ihr Bruder! Sei froh, dass du noch eine Schwester hast! Blut ist dicker als…“
„Als WAS? Als mein Glaube? Niemals! Und ihr Blut ist nicht länger das meine! Es stinkt nach Schwefel und Finsternis! Das ist nicht meine Schwester! Das ist irgendein Monster, das dein Vater geschaffen hat!“ Szass Tam hatte einige brisante Details zu diesem Thema zu erzählen gewusst.
Finster traktierten sie sich mit Blicken, die Hände am Knauf ihrer Waffen.
„Äh, ich will eure hitzige Aussprache ja nicht stören“, bemerkte Drake in die spannungsgeladene Stille hinein. „Aber könntet ihr sie wohl an einem Ort austragen, wo Pestbeule nicht jeden Moment mit seiner Höllenhorde auftauchen kann?“
Niemand schien Notiz von ihm zu nehmen.
„Manchmal ist es nötig, das Böse zuzulassen, um noch Schlimmeres zu verhindern, Grim“, sagte Faust.
„Und was verhindert sie, das schlimmer ist?“, schnaubte der Kriegspriester. „Was habt ihr in den letzten Jahren getan, das einem anderen Zweck diente als eurem eigenen! Plünderkreuzzüge, Wein und Hurereien – nichts davon rechtfertigt irgendwas!“
„Ach jetzt hör schon auf!“, begehrte Faust auf, doch dann besann er sich. „Naja, gut, vielleicht hast du nicht ganz unrecht. Vielleicht sollten wir das Schicksal öfter herausfordern, statt zu warten, bis es an der Tür klopft.“
Grimwardt schüttelte energisch den Kopf.
„Ist dir nie in den Sinn gekommen, dass Winter eine größere Gefahr ist als irgendein Schattenfürst mit imperialistischen Kriegsplänen? Inwiefern ist sie besser als ein paktierender Teufel? Sie zerstört nicht nur Leben, sie zerstört Seelen, herrgott nochmal!“
„Hades hat heute bewiesen, dass sich diese Seelen befreien lassen. Irgendwann, unter besseren Umständen, werden wir das Ritual wiederholen und…“
„Nur die, von denen noch etwas übrig ist! Die sie noch nicht mit ihrer Magie verzehrt hat! Und sie wird immer stärker. Selbst wenn du recht hast! Selbst wenn sie irgendein großes Unheil verhindert, wer verhindert danach sie? Würdest du sie töten, wenn kein anderer mehr dazu in der Lage ist?!“
„Wenn es keine andere Wahl gibt, ja, verdammt nochmal!“, schleuderte ihm Faust wütend entgegen.
Stille.
„Das wird nicht nötig sein.“ Winter hatte so still und starr im Hintergrund geharrt, dass Grimwardt und Faust sie fast vergessen hätten. Als sie nun vortrat, war sie leichenblass und ihre Entschlossenheit verlieh ihr eine düstere Würde. „Vorher bringe ich mich selbst um.“
„Und reißt all deine Opfer mit dir in die Hölle?“, erwiderte Grimwardt düster. „Niemals.“

Winter
Narbental-Stadt, zwei Tage später.
„… und dann stand sie plötzlich splitternackt auf dem Tisch und legte einen tethyrischen Stepptanz auf die Platte“, beendete Faust die Anekdote und erntete grobschlächtiges Gelächter.
Kapitän Guinges klopfte ihm lachend auf die Schulter.
„Auf verlorene Wetten und entblößte Titten“, grölte der Kapitän der Eggenstolz, dem Handelsschiff, auf dem Fausts Schwester eine Zeitlang angeheuert hatte, und drei Duzend Weinbecher schepperten gegeneinander.
Das ging jetzt schon seit einer Stunde so: Jemand erzählte einen Schwank aus Claires Leben, den der Kapitän mit einem schlüpfrigen Zuruf kommentierte, was die übrigen Gäste als Aufforderung zum Trinken auffassten. Der Wirt der Hafenspelunke hatte Winter bereits mit schweißgebadeter Stirn angedeutet, dass sein Weinvorrat zur Neige ging. Und das, obwohl Winter ein kleines Vermögen investiert hatte, um innerhalb von zwei Tagen Handelsschiffe, Spielleute und Handwerker in die Stadt zu locken, um die Vorräte der Gasthäuser und Tavernen aufzustocken und Narbental-Stadt feiertauglich zu machen. Vielleicht hätten sie die Festlichkeiten doch in die Stadthalle verlegen sollen, aber Faust war der Meinung gewesen, dass das nicht zu Claire gepasst hätte. Sir Myrian Buchenwald, der Fürst von Narbental, hatte zunächst nicht besonders viel davon gehalten, aus einer Beisetzung ein Stadtfest zu machen. „Pietätslos“, hatte er es genannt. Doch seine Stadt war nicht nur bettelarm und von den übrigen Tälern geächtet, sondern zu allem Überfluss saß ihm auch noch der Stadtrat im Nacken, der danach trachtete, ihn gegen eine pro-umbrantische Marionette zu ersetzen. Darum hatte er wohl entschieden, dass es seiner Beliebtheit beim Volk nicht schaden könne, wenn zwei so berühmte Helden die Stadt ein wenig aufmischten. Auch die Bürger waren zunächst ein wenig befremdet gewesen. „Claire wer?“, war zwei Tage lang die meistgestellte Frage gewesen. Fausts Schwester hatte gerade mal ein paar Monate in der städtischen Miliz gedient und war überdies unehrenhaft entlassen worden. Das machte sie nicht gerade zur Stadttrophäe. Ihr chronischer Geldmangel war vermutlich das einzige, was sie mit Narbental-Stadt verband. Aber für Faust gehörte sie hierher, weil er sie hier zum letzten Mal gesehen hatte, und Winter war sofort Feuer und Flamme gewesen, als er sie gebeten hatte, die Festplanung zu übernehmen.
Geschäftig tänzelte sie nun zwischen den Feiernden umher, sorgte dafür, dass kein Becher lange leer blieb, bezauberte um des Friedens willen hin und wieder ein paar Trunkenbolde und teleportierte dazwischen immer wieder hinunter zum Hafen, um die Vorbereitungen für die Seebestattung zu überwachen. Gerade war sie dabei, eine sich anbahnende Rauferei zu verhindern, indem sie ein paar tiefe Blicke in ihr Mieder gewehrte, die die Raufbolde ihre Streitigkeiten glatt vergessen ließen, als sie zwischen den Gästen, die sich am Eingang drängten, die Gestalt einer alten Dame erblickte.
Erst auf den zweiten Blick erkannte sie Fürstin Helena MacLancastor: Sie war inzwischen vollständig ergraut, ging gebückter als früher und der zynische Zug um ihren Mund hatte sich als harsche Altersfalte in ihre Mundwinkel gegraben. Nur der herrische Stolz, den ihre kühlen blauen Augen ausstrahlten, als sie sich zielstrebig durch einen Pulk lärmender Seeleute kämpfte, war ungebrochen. Begleitet wurde sie von einem hochgewachsenen Edelmann mit denselben Augen – doch bei ihm wirkten sie eher verdrießlich als herrisch. Das musste Fausts Halbbruder sein – Fürstin Helena wusste, dass Faust die Söhne seines Stiefvaters nicht leiden konnte, also hatte sie ihn vermutlich mitgebracht, um Faust zu verstehen zu geben, dass er seit Claires Tod in ihrer Gunst nicht gerade gestiegen war. Alte Schnepfe. Als Faust fünf Jahre nach seinem Streit mit Helena nach Rabenklippe zurückgekehrt war, um ihr von seiner Schwester zu berichten, hatte er erfahren, dass seine Mutter ihren Stadtsitz aufgegeben hatte und zu ihrem jüngeren Sohn aufs Land gezogen war. Dort hatte man ihn am Tor abgewiesen.
Faust, sieh mal zur Tür. Sie ist doch gekommen.
Faust war so weinselig, dass er es sich nicht nehmen ließ, seinen ungeliebten Habbruder mit einem herben Schulterklopfen die Luft aus den Lungen zu pressen. Dann führte er seine Mutter zum Gespräch unter vier Augen nach draußen auf die Hafenpromenade, während der Misshandelte ihnen nachtrottete wie ein schmollender Schoßhund.
Neugierig beobachtete Winter sie durch eines der Gasthausfenster. Die meisten Leute, selbst Magier, wussten nicht, dass Schatten eine Form von Energie waren. Man musste nur wissen, wie man sie nutzbar machte, um ein paar äußerst praktische Vorteile aus ihnen zu schöpfen - wie etwa die Verbindung zwischen den Schatten im Wirtshaus und draußen auf der Hafenpromenade zu nutzen, um zu hören, was dort draußen gesprochen wurde…
„Lass wenigstens zu, dass Winter ein telepathisches Band zwischen uns knüpft, damit du mich im Notfall um Hilfe rufen kannst“, redete Faust gerade auf seine Mutter ein.
 „Glaubst du wirklich, dein magischer Schnickschnack hätte Claire gerettet, wenn es ein Erzteufel auf sie abgesehen hatte?“ Die Fürstin lachte bitter auf. „Mit Verlaub – ich verzichte. Dir nicht zu nahe zu kommen, ist der einzige Schutz, der mich möglicherweise vor deiner zerstörerischen Aura bewahren kann.“
„Jetzt wirst du aber theatralisch.“
Sie blieb abrupt stehen.
„Kennt dein Eigensinn denn gar keine Grenzen, Desmond?“, fragte sie scharf. „Dachtest du wirklich, dass es nur Auswirkungen auf dich selbst haben würde, wenn du deine Seele verkaufst?“
Faust wollte etwas erwidern, doch sie schnitt ihm mit einer harschen Geste das Wort ab. Dann rief sie ihren Schoßhund zu sich, verabschiedete sich mit einem steifen „Adieu“ und rauschte auf und davon.
Winter erwog kurz, die Fürstin in irgendetwas Krötiges zu verwandeln, doch dann fasste sie den schlichten Entschluss nicht zuzulassen, dass dieses Biest Faust diesen Abend vermieste! Kurzentschlossen stieg sie auf den nächstbesten Tisch (da sie ein Kleid trug, das an den Seiten bis zur Hüfte aufgeschlitzt war, sicherte ihr das immer die Aufmerksamkeit) und rief: „Zeit für den großen Moment! Wer das Spektakel nicht verpassen will – folgt mir zum Hafen!“
Und ehe Faust Zeit hatte, in Trübsal zu verfallen, wurde er von einer Horde feierwütiger Trunkenbolde mitgerissen, die zum Hafen strömte, allen voran Kapitän Guinges, der ihm einen gefüllten Weinbecher in die Hand drückte und lauthals unflätige Seemannslieder zu grölen begann, die er auf die Verstorbene umgedichtet hatte.
Am Fischerkai lag das Bestattungsboot vertäut. Faust legte der Toten nach damarischem Brauch zwei Münzen auf die Augen und scherzte: „Da der Fährmann sein Werk schon getan hat, nehme ich mal an, dass sie mal wieder auf Pump durchgekommen ist.“
Nur die wenigsten Taliser verstanden die Anspielung, doch einige der Seemänner, die sich mit den Bräuchen von der anderen Seite der See auskannten, grinsten einander zu.
Nachdem das Boot zu Wasser gelassen und in Brand gesetzt worden war, blies Winter es mithilfe von Windmagie in die Hafenbucht hinaus. Auf ihr Zeichen wurde auf den Segelschiffen, die flankierend zu beiden Seiten der Bucht wippten, Bengalfeuer entzündet und die Schiffskapellen spielten Die Reise des Albatros. Und so schipperte das kleine Fischerboot wie ein Kind, dem ein Spalier von Königen die Ehre erwies, aufs offene Meer hinaus. Als es den Ausgang der Hafenbucht erreicht hatte, beschwor Winter die Illusion eines Feuerwerks. Sie hatte festgestellt, dass die Schatten jeden Feuerzauber schluckten, den sie zu wirken versuchte. Doch das Trugbild, das funkensprühende Bilder in den Nachthimmel malte, die die Reise des Albatros im Einklang mit der Musik untermalten, war so vollendet, dass am Ende kein Auge trocken blieb.
„Du hast dich echt selbst übertroffen“, meinte Faust, der plötzlich neben ihr auftauchte. „Sie hätte es so gewollt, meinst du nicht?“
Winter wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie hatte Claire kaum gekannt und wenn man ehrlich war – Faust auch nicht. Claire war Faust aus dem Weg gegangen, um nicht ewig in seinem viel zu großen Schatten zu stehen. Sie hatte nicht einmal zugelassen, dass er ihr die Miete abnahm, was hätte sie erst zu einem Staatsbegräbnis gesagt? Vermutlich hatte Faust – vermutlich hatten sie beide – dieses Spektakel dringender gebraucht als sie. Aber ging es bei solchen Dingen im Grunde nicht immer um die, die noch am Leben waren?
„Natürlich hätte sie das so gewollt“, sagte sie und schmiegte sich an seine Schulter.

Grimwardt

Er schließt die Augen und stößt ein zufriedenes Grunzen aus. Der ferne Schlachtenlärm klingt gedämpft und er vermisst den eisenhaltigen Geruch von geronnenem Blut – darum weiß er, dass es nur eine Vision ist. Aber selbst im Traum fühlt sich Kriegersruh nach Heimat an… zumindest bis zu dem Augenblick, als ein vorbeirauschendes Wasauchimmer aus dem Nichts auftaucht und Grimwardt aus den Stiefeln reißt.
„Potzblitz“, schimpft er, während er sich aufrappelt und sich den Staub von der Rüstung klopft. „Hier ist weit und breit freies Feld! Welcher Wüterich muss denn da ausgerechnet…“
Er hält abrupt inne, als er den Wüterich erkennt.
Tempus bricht in dröhnendes Gelächter aus, das irgendwo in der Nähe einen Steinschlag auslöst. Ehe Grimwardt ihm seine Ehrerbietung erweisen kann, zieht er ihn neben sich auf den Streitwagen und gibt Veiros und Deiros die Peitsche. Der Wind scheint Grimwardt die Haut von den Knochen zu reißen, als das Gefährt losstürmt.
„REITEN WIR IN DIE SCHLACHT?“, brüllt er gegen den Fahrtwind an.
„DA KOMME ICH GERADE HER! DIE SCHLACHT IST GEWONNEN! KEINE AHNUNG, AUF WELCHER SEITE ICH STAND, ABER SIE HAT GESIEGT!“
Grimwardt weiß, die Götter tragen auf den Schlachtfeldern von Kriegersruh regelmäßig ihre Streitigkeiten aus und Tempus schenkt seine Gunst willkürlich mal der einen, mal der anderen Partei. Zumindest scheint seine Wahl willkürlich. Doch Grimwardt ist davon überzeugt, dass hinter jeder seiner Handlungen, und wenn sie noch so planlos scheint, eine geheime Taktik steht.
Nach nicht einmal einer Minute kommt der Streitwagen vor einem riesigen Pavillon zum Stehen. Als die Welt um ihn herum zum Stillstand kommt, erkennt Grimwardt, dass sie meilenweit gereist sein müssen, denn die Umgebung hat sich völlig verändert. Der Pavillon ist umgeben von einem riesigen Heereslager, das sich weiter erstreckt, als er blicken kann.
„Ist das…?“
„Willkommen in der Halle der Helden.“
Tempus klopft ihm kurz auf die Schulter, schiebt die Zeltplane zurück und verschwindet im Innern, ehe sein Auserwählter seine Bedenken äußern kann. Die Halle der Helden – auch das Ewige Festzelt genannt – ist der Ort, an dem sich Tempus und sein Gefolge nach der siegreichen Schlacht zum Trinken und Feiern sammeln. Nur den Würdigsten unter Tempus‘ Anhängern ist im Jenseits ein Platz an der Tafel der Helden beschieden.
Grimwardt holt tief Luft, ehe er durch die Zeltöffnung tritt und erinnert  sich daran, dass dies nur eine Vision ist. Tempus‘ Motive sind unklar. Vielleicht will er ihn ehren, indem er ihn hierher einlädt, vielleicht will er ihn aber auch ermahnen, nicht vom Weg abzukommen, um sich seinen Platz an dieser Tafel nicht zu verspielen.
Der Gestank nach Schweiß, Met und Erbrochenem empfängt ihn mit solcher Heftigkeit, dass er fast rückwärts aus dem Festzelt heraus getaumelt wäre. Dichter Pfeifenrauch liegt über der Halle, sodass er Tempus erst nach einigem Suchen inmitten einer Traube grölender Krieger entdeckt. Mit einer Handbewegung winkt der Gott ihn zu sich, einen halblingsgroßen Humpen im einen und eine leichtbekleidete Walküre im anderen Arm. Eine zweite Schildmaid lässt sich lasziv auf Grimwardts Schoß nieder und beginnt irgendetwas Feuchtes mit seinem Hals zu tun. Da seine Abwehrversuche nicht fruchten, befördert er sie schließlich nicht ganz unsanft auf einen Nachbarschoß. Kopfschüttelnd wischt er sich schließlich den Schweiß von der Stirn. Niemals hätte er geglaubt, dass es auf Kriegersruh einen Ort gibt, an dem er sich so fehl am Platze fühlt.     
„Du hältst nicht viel von Frauen und Met, hm?“ Ihm wird bewusst, dass Tempus ihn die ganze Zeit aufmerksam beobachtet hat. Die klugen hellen Augen in dem kampfgezeichneten Kratergesicht blitzen vergnügt.
Also ein Test, denkt Grimwardt. 
„Gegen ein gutes Schlückchen ist nichts einzuwenden“, brummt er und prostet seinem Herrn grimmig zu.
Tempus lacht rau.
„Nichts für ungut, Mann, aber manchmal frage ich mich schon, warum du ausgerechnet mich zum Gott erwählt hast. All die Prinzipien, die Disziplin, die Enthaltsamkeit… Torm, Tyr, die Rote Ritterin – sie alle hätten sich die Finger nach dir geleckt. Ich dagegen habe nie so ganz verstanden, warum es ein Ausdruck von Loyalität sein soll, sich keinen Spaß mehr zu gönnen.“ Um seinen Worten jede Zweideutigkeit zu nehmen, kneift er seiner Schildmaid zwinkernd in den Hintern.
Grimwardt muss zugeben, dass es ihn ein wenig verletzt, dass sein Gott seinen Verzicht so wenig zu würdigen weiß. Erstaunt stellt er fest, dass es eine Seite an Tempus gibt, die er zwar immer gekannt, der er aber nie eine Bedeutung beigemessen hat. Er hat immer nur den Feindhammer, den ehernen Kriegsherrn, in ihm gesehen. Was Tempus‘ unzählige Frauengeschichten, seine mutwillige Willkür, seine unsteten Launen angeht, so hat seine Glaubensauslegung wohl nie dem Dogma entsprochen. Und irgendwo, tief begraben unter seinem unerschütterlichen Glauben, legt Tempus‘ Bemerkung einen leisen Zweifel in ihm frei: Wäre er jemals zum Kriegspriester, zum Auserwählten, geworden, wenn sein Leben anders verlaufen wäre? Beruht sein Schicksal womöglich nur auf der willkürlichen Wendung, dass seine Eltern ihn mit zehn Jahren in eine Klosterschule gesteckt haben, die zufällig von einem Tempus-Priester geführt wurde? Grimwardt sinkt der Mut. Hat Tempus ihn etwa hergebracht, um ihn zu der Erkenntnis zu leiten, dass ihre Wege sich letztendlich trennen müssen?
Er räuspert sich.
„Ihr wisst weshalb ich um Euren Rat gebeten habe?“
Er wähnt ein verwegenes Lächeln unter dem dichten Bart des Feindhammers.
„Einen Rat oder einen Befehl?“, fragt er, schickt seine Schildmaid mit einem Klaps auf den Hintern fort und lehnt sich breitbeinig zurück. „Lass mich dir eine Frage stellen, Grimwardt. Du weißt, ich schätze eine gute Kriegstaktik ebenso sehr wie ein planloses Gemetzel. Und ich pisse auf moralische Bedenken – das einzige, was im Krieg zählt, ist Sieg oder Niederlage. Schändungen, Brandschatzungen, zivile Tötungen – all das sind wertvolle Strategien, um den Feind das Fürchten zu lehren und ihn vom Nachschub abzuschneiden. Wenn ich dir nun befehlen würde, einen Krieg auf der Grundlage einer solchen Taktik zu führen, würdest du diesen Befehl an deine Truppen weitergeben?“
Grimwardt zögert nur einen Augenblick. Tempus kennt ihn besser als er sich selbst, er weiß die Antwort ohnehin schon.
„Nein“, sagt er schlicht.
Tempus nickt ernst.
„Und das ist der Grund, warum ich dich zu meinem Auserwählten gemacht habe. Manchmal erinnerst du mich an sie.“ Er ruckt den Kopf in Richtung einer Ritterin in roter Rüstung, die selbstvergessen in all dem Trubel vor einem Schachspiel sitzt, das sie gegen sich selbst zu spielen schien. Grimwardt weiß, dass auch die Rote Ritterin, als sie noch unter den Lebenden weilte, eine Auserwählte des Tempus war. Nach ihrem Tod erhob ihr Mentor sie zur niederen Göttin. „Um ehrlich zu sein: Manchmal macht sie mich wahnsinnig mit ihren endlosen Plänen, ihrer Kontrollsucht und ihrer eisernen Disziplin. Aber sie bietet ihren Anhänger etwas, das ich ihnen nicht bieten kann. Und weil sie meine Verbündete ist, macht sie mich stärker. Ich brauche Leute wie sie und wie dich in meiner Gefolgschaft. Keine Speichellecker, deren Bestreben es ist, mich möglichst gut zu imitieren, sondern Taktiker, die die richtigen Mittel gegen die richtigen Feinde einzusetzen wissen.“
„Ihr meint, ich… soll meine Schwester als Kriegsinstrument betrachten“, fragt Grimwardt verwundert.
„Nein“, erwidert Tempus. „Ich meine, dass ein Krieg auf euch zukommt, auf Faerûn, der bis ins Reich der Götter reicht. Der meine und deine Welt verändern wird. Es hat mit der Zauberpest angefangen und es ist noch lange nicht vorbei. Du bist mein General in diesem Kampf. Die Entscheidungsgewalt liegt bei dir. Müsstest du ein Urteil im Sinne der Menschheit fällen, wäre die Antwort einfach: Töte deine Schwester, denn sie stiehlt den Menschen ihre Freiheit! Müsstest du ein Urteil im Sinne der Götter fällen, wäre die Antwort ebenfalls einfach: Töte sie, denn sie stiehlt uns unsere Seelen! Aber du musst eine Entscheidung im Sinne des Krieges fällen.“
„Hm“, brummt Grimwardt und als er den Blick in seinem Humpen versenkt, beginnt sich die Welt um ihn zu drehen und die Vision zerbricht.


Essembra, zur Mittagssonne.

„Tretet ein, Fürst Olek“, sagte Grimwardt, während er sich auf den Feuerschild des Kriegskanzlers stützte, um vor dem Altar auf die Füße zu kommen. Nervös betrat der älteste Sohn des verstorbenen Fürst Ilmeth die Kapelle und verneigte sich fahrig. Wie lange er dort wohl schon ausgeharrt haben mochte, während Grimwardt im Gebet versunken gewesen war?
„Verzeiht, Kriegskanzler, ich wollte Euch nicht in Eurer Andacht stören. Aber Ihr habt mich gebeten, Euch Mittelung zu erstatten, sobald die Fürsten der Talländer hier eintreffen.“
„Und das habt Ihr hiermit getan. Aber das ist nicht der Grund, warum Ihr ausseht wie sieben Tage Regenwetter, will mir scheinen.“
„Herr.“ Der junge Fürst rieb sich die schwitzenden Hände. „Es… Es sind nicht alle Fürsten zur Beisetzung meines Vaters erschienen. Die Schwertfürsten vom Bogental lassen ausrichten, dass sie Eure Kanzlerschaft ohne Bürgerratswahl nicht anerkennen und Fürst Baleira von Federtal hat gar nicht erst auf die Einladung geantwortet.“
„Hmpf“, brummte Grimwardt. „Entweder die Herrn Kaufmannsfürsten vom Bogental sind plötzlich feurige Republikaner geworden oder sie fürchten, ihre großmütigen Gönner aus der Anauroch zu vergrämen. Baleira hat immerhin den Anstand, mir scheinheilige Vorwände zu ersparen.“
„Sie wissen, dass in Hochmond bald ein anderer Wind wehen wird“, sagte Fürst Olek mit einem scheuen Lächeln. „Der Rat der Talländer wird einen fürchterlichen Aufstand machen, aber im Grunde ist ihnen klar, dass den Krieg gegen Netheril nun, da der Auserwählte des Tempus Kriegskanzler ist, nichts mehr aufhalten wird.“
Grimwardt bedachte ihn mit einem anerkennenden Blick.
„Ja, vermutlich“, brummte er.
Und was für ein Heeresführer wäre er, wenn er seine mächtigste Waffe gegen die Schattenprinzen von Netheril nicht einsetzten würde?   
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 01. April 2013, 19:55:50
Wow! Fand das Kapitel extrem fesselnd und tief. So viele Stellen die mir so gut gefallen, dass ich gar nicht sagen kann, was mir am besten gefällt. Hab mich beim Lesen wieder voll und ganz nach Faerun versenkt. Freue mich schon wieder wenn wir am Ende eine Romanreihe draus machen!
Wollten übrigens evtl. Ende Mai nochmal spielen, meinte Tom. Wäre ja cool wenns klappt!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 07. April 2013, 15:35:25
Gänsehaut!
Und große Vorfreude aufs Spielen :-)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 23. April 2013, 00:45:23
Stehst der Termin fürs nächste Spielen eigentlich?
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 12. Juni 2013, 19:30:06
Fands übrigens wieder sehr sehr spannend und hatte sehr viel Spaß! Jetzt bin ich natürlich aufs Finale gespannt! :)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 12. Juni 2013, 20:35:20
Oh ja, es gibt ja noch so viel aufzuklären und zu entscheiden :-)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 20. August 2013, 00:26:49
Kapitel III: Die Frostriesen  

Winter
Silbrigmond, zwei Tage später.
Betont lässig betrat Faust zusammen mit Winter den Speisesaal der Rauvinkaserne und grüßte den Hochfürsten und seine Gäste mit einem nonchalanten Nicken. Dabei gab er sich besondere Mühe, der dunklen Gestalt im Schatten keine Beachtung zu schenken. Allerdings machten die rotgeränderten Augen, die daran erinnerten, dass er die letzten beiden Nächte wie ein Besessener für diese Wiederbegegnung trainiert hatte, das Kalte-Schulter-Manöver ein wenig zunichte. Winter unterdrückte ein Kichern. Seit Faust gehört hatte, dass Drizzt Do’Urden in der Stadt war und ihn um dieses Treffen gebeten hatte, führte er sich auf wie ein schmachtender Fünfzehnjähriger. Seine Schwärmerei für den Drow war Winter ein Rätsel. Gewiss, Drizzt hatte einmal den Ruf des „besten Kämpfers Faerûns“ besessen, aber er war längst ein Relikt vergangener Zeiten – vermutlich tauchte Faust selbst in mehr Heldenliedern auf als sein großes Vorbild.
„Faust und Winter von den Schattenstreitern. Ich danke Euch für Euer Kommen.“
Hochfürst Methrammar Aerasumé erhob sich mit einer Mischung aus militärischer Steifheit und elfischer Grazie. Der Halbelf war der Sohn von Alustriel Silberhand, die wie so viele mächtige Magier der Zauberpest zum Opfer gefallen war. Nach dem Tod der Silbernen Dame war ihr Sohn  innerhalb von zwei Jahren erst zum Oberkommandanten der Silberritter, dann zum Hochfürsten der Stadt und schließlich zum Herrscher der Silbermarken aufgestiegen. Winter mutmaßte, dass er seine rasante Karriere vor allem der Nostalgie der Silbrigmonder verdankte. Methrammar Aerasumé mochte zwar das Silberhaar und die edlen Gesichtszüge seiner Mutter geerbt haben, aber er besaß weder ihre Weitsicht noch ihre Zaubermacht. Außerdem konnte kein Mensch seinen Namen aussprechen! Naja, Winter musste sich eingestehen, dass ihr gehässiges Urteil wohl weniger mit seiner politischen Leistung als mit dem Umstand zu tun hatte, dass der Ritter bisher jede ihrer Festeinladungen mit einer gewissen steifen Höflichkeit abgelehnt hatte, die erahnen ließ, wie er zum Lebenswandel seiner berühmtesten Bürgerin stand …
„Darf ich vorstellen.“ Der Hochfürst nickte der Frau zu seiner Rechten zu – einer zierlichen alten Dame mit lebhaften braunen Augen und einem forsch gebogenen Kinn. „Tessarin Alaurun, Erste Sprecherin des Stadtrats von Nesmé. Und ein alter Freund Tessarins und der Silbermarken, Drizzt Do’Urden.“
„Wir kennen uns“, sagte Faust großspurig und ließ sich breitbeinig gegenüber dem Hochfürsten nieder.
Falls Drizzt sich ebenso wenig wie Winter erinnern konnten, wann die beiden Blutsbrüderschaft geschlossen hatten, hatte er seine Gesichtsmuskeln besser im Griff als sie.
„Ich schätze, es geht um einen Auftrag? Offenbar etwas Geheimes, wenn Ihr uns zur Besprechung hierher in die Kaserne bestellt statt in den Palast?“
„Die Erste Sprecherin von Nesmé bittet um Eure Hilfe in einer beunruhigenden Angelegenheit. Die Art von Angelegenheit, die besser nicht im offiziellen Rahmen besprochen werden sollte, um einer Panik vorzubeugen.“
Tessarin Alaurun musterte Faust mit unverhohlener Neugier, war dabei aber weder abschätzig wie mancher Adlige noch hing sie so fasziniert an seinen Lippen wie die jungen Silbrigmonder, die ihn neuerdings umschwärmten. Faust hatte es verstanden, in den Jahren, in denen er mit Winter in der Stadt gelebt hatte, eine treue Anhängerschaft von Kampfbegeisterten um sich zu scharen. Er traf den Nerv der Zeit – Silbrigmond war, verglichen mit anderen Magiehochburgen, in den Pestjahren zwar noch glimpflich davongekommen, doch auch hier war das Vertrauen in die arkane Kunst ins Wanken geraten. Kampforden aller Art lagen hoch im Kurs.
„Vor etwa einem Zehntag brach in meiner Heimatstadt eine Seuche aus“, erklärte die Stadtvorsteherin von Nesmé. „Es fängt mit Bauchkrämpfen an und endet im schlimmsten Fall innerhalb weniger Tage mit dem Tod. Noch ist die Zahl der Opfer gering und wir konnten den Ursprung der Seuche ausmachen – unsere Nachforschungen ergaben, dass das Trinkwasser verseucht war. In Proben aus dem Surbinfluss wurde ein Gift gefunden, das in manchen Pilzen des Unterreichs vorkommt, vermischt  mit einer Substanz, die sich als Schattenmaterie herausstellte.“
Winter horchte auf. Schattenmaterie war reine magische Energie des Schattengewebes. Nur Magier des Schattengewebes, die einen gewissen Machtgrad erreicht hatten, waren imstande sie zu bändigen. Ungebundene Schattenmaterie verflüchtigte sich sofort und war nicht nachweisbar, aber mit den richtigen alchemistischen Verbindungen konnte man sicher den ein oder anderen tödlichen Sud daraus brauen.
„Ihr glaubt also, dass Umbranten-Magier die Bewohner Eurer Stadt vergiften wollten?“, fragte Faust.
„Ich bezweifle, dass Netheril besonderes Interesse an einer bettelarmen Grenzstadt mit einem chronischen Trollproblem hat“, erwiderte die alte Dame lakonisch. „Silbrigmond dagegen … Der Juwel des Nordens ist wie der verlorene Sohn, den Telamont Tanthul nur allzu gern heimholen würde. Die Wurzeln der lllusker, der die Mehrzahl des Silbrigmonder Adels entstammt, reichen zu den alten Netherim zurück. Ein Großteil der magischen Schätze der Stadt geht auf das gefallene Imperium zurück … Und unsere Nachforschungen haben ergeben, dass die verseuchten Quellen im Immermoor entspringen.“
„… und das grenzt nicht nur an Nesmé, sondern auch an Silbrigmond.“
Der Hochfürst stieß angespannt die Luft aus.
„Ein Aufklärungstrupp, den ich ins Immermoor entsandte, kehrte nicht heim. Versuche, die Männer  magisch zu orten, blieben erfolglos“, fuhr Tessarin fort und starrte betreten auf ihre Hände. Es waren alte, fleckige Magierhände mit Fledermausdung unter den Fingernägeln. Hände, die vermutlich schon viele alte Freunde begraben hatten. „Es waren nicht irgendwelche Männer. Es waren gestandene Krieger, die sich in zahlreichen Trollschlachten bewiesen haben.“ Sie sah auf und blinzelte Drizzt zu, der ihr Lächeln nur mit den Augen erwiderte. „Also bat ich einen alten Freund um Hilfe, denn es gibt wohl niemanden, der das Immermoor besser kennt als Drizzt Do’Urden.“
„Von den Umbranten und ihrer Magie verstehe ich dagegen nicht viel“, bekannte der Drow. „Aber ich erinnerte mich an eine Begegnung in der Wüstenstadt Oreme vor fünfzehn Jahren.“ Drizzt sprach leise und musterte Faust und Winter dabei ernst mit seinen seltsamen lavendelfarbenen Augen. „Und daran, dass man die Schicksalsstreiter unter anderem für ihren Sieg über den jüngsten Sohn des Hochprinzen rühmt. Darum wollte ich euch beten, mich zu begleiten.“
Winter räusperte sich vernehmlich und setzte ihr schmeichelndes Geschäftslächeln auf. Gerade überlegte sie, wie sie in dieser ritterlichen Runde wohl am besten auf die Frage der Vergütung zu sprechen kommen sollte, als Faust ihr zuvorkam.
„Wir schulden Drizzt ohnehin noch einen Gefallen“, sagte er zu Winters Verdruss.
Äh, nein, tun wir nicht, er hat uns freiwillig geholfen.
Faust ignorierte ihren telepathischen Einwand und wandte sich an den Hochfürsten. Sein linker Mundwinkel zuckte vor Übermut – für gewöhnlich kein gutes Zeichen.
„Eine Bedingung hätte ich dennoch. Selbst östlich des Sternregenmeers heißt es, dass man nirgends so gut feiern kann wie in Silbrigmond.“
„Nun, Ihr habt einiges dazu beigetragen, den Ruf Silbrigmonds diesbezüglich zu festigen“, bemerkte der Fürst unverbindlich.
„Meint Ihr, Ihr schafft es, in einem Zehntag ein Turnier auszurichten?“
„Ich schätze, das wäre möglich …“, setzte der Ritter verwundert an.
Faust wandte sich mit blitzenden Augen an Drizzt und hielt ihm seine Eisenhand hin.
„Was sagst du, Drizzt? Revanche für Oreme?“
Natürlich. Winter verdrehte die Augen.
Das also war der Grund für Fausts Imponiergehabe. Drizzt hatte ihn im Zweikampf besiegt – und war damit der letzte Held Faerûns, der unbesiegt gegen ihn stand. Vermutlich würde nichts seine Besessenheit heilen, ehe Drizzt Do’Urden blutspuckend vor ihm im Arenenstaub kniete. Und das gedachte er offenbar in aller Öffentlichkeit zu bewerkstelligen. Das war wohl auch das Bild, das Drizzt in diesem Moment in seinen Augen las. Der Drow hatte zu lange mit dem Misstrauen seiner Umwelt leben müssen, um sich irgendeine Gefühlregung anmerken zu lassen. Nur der Schatten eines Stirnrunzelns verriet, was er von Fausts Geltungssucht hielt. Plötzlich fragte sich Winter, ob Faust das beabsichtigt hatte? Vielleicht wollte er den Drow provozieren. Immerhin wusste jedes Kind, dass Drizzt am besten kämpfte, wenn er für etwas einstand. Und wo war der Reiz an einem Kampf ohne ein wenig grundsoliden Antagonismus?
„Einverstanden.“
Drizzt schlug ein und ein schiefes Diesmal-krieg-ich-dich-Grinsen machte sich auf Fausts Gesicht breit.
Erst auf dem Weg nach Hause bemerkte Winter, dass sie ebenfalls angefangen hatte zu grinsen. Verdammt, warum war Fausts Euphorie für waghalsige und halsbrecherische Aktionen so ansteckend?
Das Grinsen verging ihr jedoch, als Miu die Tür öffnete und sie die Gestalt am Küchentisch erkannte.
„Grim“, sagte sie überrumpelt.
Sie hatten nichts mehr von ihm gehört seit dem Vorfall in Mephistos Brutstube. Und wie dort drohten sein Anblick und die Schuldgefühle, die er in ihr heraufbeschwor, sie zu lähmen.
Als ihr Bruder sich erhob, wirkte er noch ein wenig grimmiger als sonst.
„Na, ist das Göttergespräch nicht zu deiner Zufriedenheit verlaufen?“, knurrte Faust bissig und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen.
Grimwardt brummte etwas wage Blasphemisches. Dann musterte er Winter mit zauderndem Argwohn – wie ein Käufer, der nicht sicher war, ob man ihn übers Ohr gehauen hatte.
„Hm, Drizzt Do’Urden also, wie? Was wollte der Knabe denn von euch?“
Sie erzählten es ihm.
„Schattengift, hm?“ Er nickte grummelnd in seinen Bart hinein. „Wann soll’s denn losgehen?“

Drake
Immermoor, am nächsten Tag zur Mittagsstunde
Leute, die nichts davon verstanden, sprachen oft von „Faerûns Unterwelt“. Das war natürlich eine maßlose Übertreibung. Es gab zahlreiche „Unterwelten“ und die meisten waren nicht größer als der Straßenzug, den irgendein selbsternannter „Gildenführer“ für sich beanspruchte, der lediglich das Glück besaß, einen Kopf größer zu sein als der Rest der Gossenratten seines Viertels. Selten gelang es einem „König der Diebe“ mehrere Gilden zu einen – und meistens endete seine Herrschaft eher früh als spät. Die Enklaven der Roten Magier von Thay – offiziell ein Handelsnetzwerk für magische Exporte aus dem Zulkirreich – waren da eine Ausnahme. Da nicht die Händler selbst, sondern das Land Thay Eigentümer der Enklaven war, war jeder Angriff auf eine Enklave ein Angriff auf das Zulkirreich. Die Protektion Thays bewahrte die Händler vor feindlichen Übernahmen. Das Resultat war ein hochorganisiertes Spionagenetzwerk, das die Verbindungen zu lokalen Informanten nutzte, um Faerûns  Geheimnisse über magische Kommunikationswege nach Eltabbar weiterzuleiten.
Und nun gehören diese Geheimnisse mir, dachte Drake, während er sich geistesabwesend über den Handrücken fuhr. Dort, wo Szass Tam das arkane Mal in seine Haut gebrannt hatte, das ihn als Angehörigen des Roten Zirkels kennzeichnete, war eine sechszackige Narbe zurückgeblieben. Sein Preis dafür, dass er die Schicksalsstreiter mit Szass Tam an den Verhandlungstisch gebracht hatte. Dem ersten Test hatte das Spionagenetzwerk standgehalten. In weniger als einer Stunde hatte er alles über Tessarin Alrauruns Auftrag herausgefunden und Winter und ihre Gefährten im Immermoor aufgespürt. Andererseits war das bei deren Talent für subtile Vorgehensweisen auch kein Kunststück. Auch die Verfolgung war nicht gerade eine Herausforderung – er musste nur der Spur von Trollblut folgen, die die Gefährten auf der Suche nach dem verschwundenen Aufklärungstrupp hinter sich ließen. Selbst eine Horde tollwütiger Wildsäue war unauffälliger als …
Plötzlich lag Drake flach auf dem Boden, einen beißendem Schmerz im Rücken, und blickte in sein eigenes überraschtes Gesicht, reflektiert im kalten Stahl einer höllisch scharfen Säbelklinge. Eine zweite, lichthelle Klinge zitterte keine zwei Fingerbreit vor seiner Kehle.
„Ich gehöre zu denen“, ächzte Drake verdrießlich und ruckte den Kopf in Richtung der vier Gestalten, die hinter dem Drow aus dem Dickicht traten. Das war jetzt schon das zweite Mal innerhalb einer Woche, dass er sich kalt erwischen ließ.
 „Hab den Kerl nie gesehen“, meinte Faust, hielt Drizzt jedoch grinsend zurück, als er seinen Druck auf Drakes Kehle verstärkte.
Missmutig rappelte er sich auf.
„Warum verfolgst du uns?“, fragte Winter, ihre grünen Smaragdaugen zu Schlitzen verengt.
„Verfolgen? Ich bin Eure einzige Verbindung zu Eurem neuen Gönner“, log er und tippte sich gegen die Stirn. „Scheint so, als gehöre ich jetzt zum Klub. Danke übrigens fürs Warten.“
In Wahrheit war seine Geschäftsbeziehung zu Szass Tam mit der Unterzeichnung des Vertrags beendet. Um ehrlich zu sein, wusste er selbst nicht genau, warum er den Gefährten gefolgt war.
Mach dir nichts vor, du bist IHR gefolgt.
„Du warst mal wieder verschwunden, kaum dass wir unsere Namen unter das Papier gesetzt hatten“, erinnerte ihn Winter. „Außerdem wissen wir ja nicht mal, wo du wohnst.“
„Als ob der ein Zuhause hätte“, spottete Faust.
„Was weißt du denn schon.“
„Ich weiß, dass du lieber in der Gosse pennen würdest, als irgendwo, wo du unangemeldeten Besuch bekommen könntest. Deshalb wartet auch nie jemand auf dich.“
„Leck mich.“
Nach dieser herzlichen Begrüßung nahm Drizzt die Spur des verschwundenen Spähtrupps wieder auf. Es ging ein eisiger Wind. Die Kälte, die in den Boden drang, festigte den sumpfigen Untergrund und erleichterte ihnen das Fortkommen. Doch das nachgiebige Marschland schlief nur unter der winterstarren Oberfläche, sodass sich die Spuren der Männer, die sie verfolgten, wie Wegweiser in den Boden gegraben hatten. Vermutlich wären sie viel schneller vorangekommen, hätte Faust den Waldläufer nicht während der Arbeit mit einer Flut aufdringlicher Fragen und peinlicher Plappereien belagert. Drizzt wich ihm mit stoischer Höflichkeit aus und fuhr lediglich kurz zusammen, als Faust sich erkundigte, wie er denn damit klar käme, dass die Liebe seines Lebens während der Zauberpest ums Leben gekommen sei, er habe da so ein paar Theorien gehört … Drake hatte noch nie so viel Mitgefühl mit einem Kerl gehabt, dessen Klinge seine Kehle berührt hatte.
„Hat er sich schon zwei verschlungene D auf den Arsch tätowieren lassen?“, raunte er Winter zu, die Faust und Drizzt mit einer Mischung aus Belustigung und Befremdung beobachtete.
„An mangelndem Taktgefühl stehst du ihm jedenfalls in nichts nach“, erwiderte sie mit einem halb verhohlenen Grinsen.
 „Apropos mangelndes Taktgefühl. Ich habe mich ein wenig über die drei Kerle informiert, die dir letztens in Silbrigmond einen so reizenden Besuch abgestattet haben.“
„Oh.“
„Wenn du nicht noch mal mit einer Tigerpranke im Genick aufwachen möchtest, solltest du was unternehmen.“
„Drake …“, setzte Winter unbehaglich an.
„Den Wertiger kannst du vernachlässigen, der steht unter der Kontrolle des Elfen. Der sollte dir eher Sorgen machen, denn er hat den Ruf über Leichen zu gehen, wenn er sich in etwas verbissen hat. Und was Richter Stock-im-Arsch angeht – den hast du jetzt für den Rest deines Lebens an der Backe. Du verarschst seinen Gott: Das ist so persönlich, wie es für ihn werden kann.“ Auch das waren Informationen, die er seinen neuen Verbindungen verdankte. „Dass sie dein Geheimnis kennen, macht sie gefährlicher, als du vielleicht ahnst. Stell dir vor, Richter Bleichauge fühlt sich durch irgendeine seiner Regeln daran gebunden, dem Hochfürsten von Silbrigmond von deiner neuen Diät zu erzählen. Vielleicht würde er ein paar Mal abgewiesen, aber irgendwer würde der Sache vielleicht nachgehen und dann würdest du eines Tages feststellen, dass dein Teleportationsschlüssel nicht mehr funktioniert. Als nächstes würde die politische Karriere deines Bruders den Bach runtergehen. Und wie würden wohl die Sandkämpfer darauf reagieren, dass eine ihrer Anführerinnen die Tochter einer ‚Schattenhexe‘ ist?“
„Glaubst du, ich wüsste das alles nicht!“
Winters Gereiztheit konnte nicht ihre Beunruhigung verbergen.
„Entweder du weißt es nicht oder du handelst nicht danach“, erwiderte er. „Beides zeugt nicht gerade von Weitsicht. Von wie vielen Feinden wollt ihr euch noch in den Arsch treten lassen, bevor ihr zurücktretet?“
„Was soll ich denn deiner Meinung nach … Oh, verzeih, mir ist schon klar, was ich deiner Meinung nach tun sollte“, schnaubte sie verdrießlich, drosselte aber eilig ihre Lautstärke, als Faust zu ihnen herübersah. „Aber ich kann Elijas und Hades nicht einfach verschwinden lassen“, fuhr sie im Flüsterton fort. „Grim hasst mich auch so schon. Und Faust würde mir das niemals verzeihen. Er …“
„… steht auf flinke kleine Elfen, schon klar.“ Drake seufzte lakonisch.  „Schön, also keine einfache, saubere Lösung. War ja nur ein Angebot, ist schließlich dein Arsch.“
„Ich könnte ihre Erinnerung löschen.“
Drake schüttelte den Kopf. Er hatte keinen Zweifel daran, dass Winter dazu im Stande wäre, aber Magie hatte ihre Grenzen.
„Dazu sind sie die beiden zu bekannt – schwer, lange zu vergessen, wer man ist, wenn eine ganze Stadt es weiß.“
„Ich würde sie nur bis zu dem Punkt löschen, wo ich ins Spiel komme.“
„Sie geraten zu häufig in magietote Zonen. Ein blinder Fleck im Gewebe und alles ist wieder da.“
Winter zögerte einen Moment, ehe sie erwiderte: „Antimagie unterdrückt nur für eine kurze Zeit das magische Gewebe. Und das magische Gewebe ist bloß so eine Art künstliche Barriere, mit der die Götter die Magie regulieren. Aber es gibt Magie, die diese Barriere überwinden kann …“
„Ist das der Grund für diese Seelenvampir-Geschichte?“
„Nein … teilweise. Sagen wir, ich habe den Grundstein gelegt. Szass Tam hat mir Lehrmittel zur Fortbildung zur Verfügung gestellt.“
Lehrmittel zur Fortbildung?“ Drake hob spöttisch eine Augenbraue.
Mit einem reizenden Lächeln, in dem eine subtile Drohung mitschwang, erklärte Winter: „Ich glaube, der nächste, der versucht, mich an einen Altar zu binden und mir meine Seelen zu rauben, wird als sabbernder Irrer enden – ob mit Antimagie oder ohne.“
Drake hätte sie am liebsten geküsst. Zugleich fand er den Gedanken, dass es irgendwann kein Mittel mehr geben könnte, Winter davor zu bewahren, willkürlich in fremde Gedanken einzudringen, nicht sehr erbaulich. Vielleicht sollte er sich doch besser an den Plan halten, egal wessen Plan es war und wie übel er ihm aufstieß – bevor er sich zu sehr in diese Sache verrannte …

Faust
Wenige Stunden später.
Es musste ein blutiger Kampf gewesen sein. Im Umkreis von einigen Metern war weiß gefrorenes Moos in den Boden gestampft worden. Rotbraune Blutkrusten hier und dort bildeten ein trauriges Mosaik. Drizzt fuhr mit dem Finger über ein blutiges Farnblatt und leckte daran. Dann sprach er eine magische Formel und seine Augen füllten sich für einen Moment mit Nebel. Als sich sein Blick klärte, senkte er bedauernd den Kopf und berührte in stiller Trauer das Mielikki-Amulett, das er um den Hals trug.
„Sie sind tot“, sagte er leise.
„Das waren keine Umbranten“, stellte Faust fest. Es sah nicht so aus, als wäre der Trupp einem magischen Angriff zum Opfer gefallen. Das hier wirkte eher wie ein grundsolides, blutiges Gemetzel.
Drizzt nickte bestätigend und deutete auf einen der Abdrücke im Boden – wer immer ihn hinterlassen hatte, musste größer und schwerer gewesen sein als ein Umbrant, denn er hatte eine viel deutlichere Spur hinterlassen als die kleineren Abdrücke der Menschen.
„Frostriesen“, sagte der Drow.
„So weit im Süden?“
„Im Winter ziehen die Stämme vom Grat der Welt häufig ins Moor, um Trolle zu jagen.“ Während er sprach, folgte Drizzt den Spuren der Riesen in Richtung Norden. „Trotzdem hätte das hier nicht geschehen dürfen. Es gibt einen Friedenspakt zwischen den Städten des Nordens und den Frostriesenstämmen unter Gerti Orelsdottr. Das hindert sie nicht, Unvorsichtige anzugreifen, die in ihr Gebiet vordringen, aber Galen und seine Männer trugen Abzeichen – sie waren in offizieller Mission unterwegs; das hätten die Riesen anerkennen müssen. Entweder es waren Renegaten, die sich der Jarlstochter widersetzen, oder...“
„Oder die Schattenmagier haben den Frostriesen ein besseres Angebot gemacht“, sagte Faust.
Sie waren am Fuß eines Abhangs angekommen. Drizzt schob einige Zweige beiseite und enthüllte einen Höhleneingang. Faust folgte dem Drow ins Innere und als seine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, erkannte er die Leichen der fünf getöteten Männer, kreisförmig angeordnet, wie für ein Ritual. Fremdartige Schriftzeichen prangten auf ihren Stirnen und an den Wänden.
„Nicht berühren!“, warnte Winter. „Das sind magische Runen.“
„Frostriesenmagie“, brummte Grimwardt und kniff die Augen zusammen, um die Runen genauer in Augenschein zu nehmen. „Es sind religiöse Symbole, die Unheil fernhalten sollen. Das hier hat nichts mit den Umbranten zu tun, Faust, diese Männer wurden der Sturmmaid geopfert.“
„Nie gehört“, murmelte Faust.
„Eine Frostriesengöttin“, erklärte Drizzt. „Gerti Orelsdottr stammt von einer Blutlinie ab, die der Legende nach auf einen Titan zurückgeht, der wiederum ein Sohn der Sturmmaid gewesen sein soll. Was auch immer an dieser Geschichte dran sein mag – ihr Vater Orel Jansson war der erste Jarl, dem es gelang, die Stämme vom Grat der Welt zu einen.“
Titanen.
Faust hätte nicht gedacht, ausgerechnet hier auf Spuren von Titanen zu stoßen, nachdem er jahrelang vergeblich nach ihnen gesucht hatte. Er hatte in den letzten fünf Jahren viel Zeit in Bibliotheken verbracht. Zum einen hatte er versucht, etwas über das Wesen der Zeit herauszufinden, um die Geheimnisse des Zeitmals zu ergründen, das der alte Sarrukh ihm zum Geschenk gemacht hatte. Zum anderen galt sein Interesse den Göttern. Wer waren sie und was verlieh ihnen die Macht, die sie für sich beanspruchten? Natürlich kannte jedes Kind die Entstehungsgeschichte der Welt: Am Anfang schuf Ao das Universum, ein riesiges Nichts. Aus diesem formten sich Licht und Schatten: die Schwestern Selune und Shar. Die Zwillingsschwestern wiederum schufen Chauntea, die Verkörperung Torils. Chauntea bat um Wärme, damit auf ihr Leben entstehen könne. Selune war dafür, Shar dagegen. Die beiden kämpften gegeneinander und so entstanden die Götter der Magie, des Krieges, des Todes und der Krankheiten. Selune obsiegte und mit dem Gott der Sonne entstand das erste Leben auf Toril. So der Mythos. Die wenigsten menschlichen Gelehrten stellten diese Geschichte in Frage, doch sah man über den Tellerrand Faerûns hinweg, fand man andere Sichtweisen. Die Elfen etwa verehrten ihre Götter nicht als die Schöpfer der Welt, sondern als Helden, die ihre wahre Bestimmung gefunden hatten. Und Faerûns Schwesterebene Kara-Tur kam ganz ohne Götter aus: Die Seelen der Karaturianer verließen die materielle Welt nach dem Tod nicht, sondern lebten als Ahnengeister fort – ein Kreislauf, der sich selbst regulierte, ohne höhere Mächte. Wer die Götter Faerûns auch waren, ob die Schöpfer der Welt oder einfach nur sehr mächtige Unsterbliche, Faust glaubte nicht an ihre Unantastbarkeit. Mephisto hatte bereits bewiesen, dass Göttlichkeit übertragbar war. War sie auch revidierbar?  Die einzigen, von denen es hieß, dass sie imstande waren, einen Gott „mit der Krankheit der Sterblichkeit anzustecken“ und zu töten, waren die Titanen. Kaum etwas war bekannt über diese mysteriösen Kreaturen. Es hieß, dass sie einst einen grausamen Krieg gegen die Götter angezettelt und dafür vom Pantheon in den Abgrund verbannt worden waren. Viele Gelehrte sahen in ihnen darum eine mächtige Art von Dämonen. Andere behaupteten, sie seien die verbotenen Kinder von Göttern und Sterblichen. In jedem Fall waren sie eines der bestgehüteten Geheimnisse des Pantheons. Allein das machte sie für Faust interessant. Leider schien es kein Herankommen an sie zu geben, seit Asmodeus den Abgrund an den Grund der Dimensionen gebannt hatte. Aber vielleicht waren ja nicht alle Titanen dem Bann der Götter zum Opfer gefallen …
„Schätze, wir sollten dieser Gerti Orelsdottr mal einen Besuch abstatten“, bemerkte er mit einem Schmunzeln.

Grimwardt
Gratsgebirge, kurz darauf.
Der Schneesturm war so dicht, dass Grimwardt Miu, die vor ihm ging, nicht einmal mehr als Schemen erkennen konnte. Winter hatte die Frostriesen, die Tessarins Leute getötet hatten, mithilfe eines Haars aufgespürt, das sie in der Nähe der Höhle aufgelesen hatte. Dann waren sie ins Gebirge teleportiert.
„Sie müssen hier irgendwo sein“, brüllte Winter gegen das Schneetreiben an.
Ein Hagelkorn von der Größe einer Faust traf Grimwardt hart an der Stirn.
Das reicht, dachte der Priester gereizt, griff nach seinem Tempusamulett und befahl dem Schneesturm zur Ruhe zu kommen. Er hatte ein Aufbäumen der Elemente des Wassers und der Luft erwartet, doch stattdessen stieß er auf den Geist eines fremden Zauberwirkers, geschützt von der Macht der Sturmmaid. Grimwardt lächelte grimmig.
„Gerti sendet ihre Grüße“, ließ er die anderen wissen.
Zorn schlug ihm entgegen, als seine Rivalin um die Beherrschung des Wetters kämpfte: Ihr wütendes Aufbäumen brandete auf ihn zu wie eine Schneelawine, doch Grimwardt hielt ihm mühelos stand. Der Sturm legte sich wie weggeblasen und gab den Blick auf ihre Umgebung frei.
Sie standen in einem Tal. In nördlicher Richtung zeichneten sich die schneeverwitterten Umrisse hallenartiger Bauten ab. Grimwardts Aufmerksamkeit galt jedoch vielmehr dem Purzelbäume schlagenden Felsen, die schneefressend den Berg hinab wirbelte, dicht gefolgt von einem zweiten und dritten Geschoss. Während seine Gefährten den Schneelawinen mit Flugzaubern entkamen oder zur Seite auswischen, stemmte Grimwardt lediglich die Beine fester in den Schnee und ließ die Gebilde auf sich zupreschen. Donnernd umschloss ihn das kalte Nass, doch Tempus‘ Segen hielt allen Schaden von ihm fern und der Felsen zerstob wie Sand an seinem Plattenpanzer. Der Priester schüttelte sich einmal wie ein nasser Hund, das heilige Feuer, das seine Rüstung umgab, schmolz den Schnee zu Nichts und er wirbelte mit gezückter Axt herum.
Fünf erschlagene Frostriesen und zwei jaulende Winterwölfe lagen im Kreis um ihn herum. Drizzt erhob sich und steckte die Säbel weg.
„Angeber“, murmelte Drake, der gerade mal einen seiner beiden Dolche hatte zücken können, während der Drow die Felsenwerfer im Alleingang erledigt hatte.
Faust sagte nichts, biss sich aber grübelnd auf die Lippen.
Grimwardt schlug ihm grinsend auf die Schulter und raunte ihm zu: „Gratuliere, wenn du es schaffst, dein Schwert zu ziehen, bevor er dich zu Hackfleisch verarbeitet.“
„Hm-m.“
Derweil hatte sich Drizzt, der sich wenig darum zu scheren schien, wie sein Solomanöver bei den anderen ankam, neben einen der Frostriesen gekniet, um ihm die Waffen abzunehmen und seine Wunden abzubinden. Keiner seiner Stiche schien tödlich gewesen zu sein.
„Helft mir“, bat er Grim. „Der Friede zwischen Silbrigmond und den Frostriesen steht auf sehr wackligen Beinen. Ich will nicht noch mehr Sand in diese Wunde streuen.“
„Es sieht nicht so aus, als hätte Gerti Orelsdottr ähnliche Bedenken“, brummte Grimwardt mit einem Blick auf die dornenbesetzten Keulen der Angreifer. Dennoch sprach er ein schwaches Heilgebet für die Verwundeten.
Dem ersten Frostriesen, der sich regte, setzte Faust einen Fuß auf die Brust und sein Schwert daneben.
„Führst du uns freiwillig zur Jarlstochter oder müssen wir unsere Suche mit der Klinge fortsetzen?“
„Wer bist du, Menschling?“, knurrte der Wächter mit schmerzverzerrtem Gesicht.
„Ein Freund der fünf Männer, die ihr eurer Sturmgöttin geopfert habt.“
„Keine Ahnung, wovon du sprichst“, grunzte der Riese.
„Gerti wird es wissen.“
Der Wächter gab mit einem widerwilligen Nicken zu verstehen, dass er sie zu ihr führen würde. Schnaubend erhob er sich und blieb mit geballten Fäusten so dicht vor Faust stehen, als wolle er ihn mit einem gewaltigen Hieb seiner tellergroßen Pranke in den Boden stampfen. Stattdessen fuhr er sich nur einmal schnaubend mit dem Oberarm übers Gesicht und spuckte dann vor Faust aus. Grimwardt schrieb sein rotziges Gebaren der verletzten Würde eines schlechten Verlierers zu. Erst als er bemerkte, dass den anderen Wächtern, die ihnen auf dem Weg durchs Lager folgten, bei Fausts Anblick ebenfalls vor Zorn die Nüstern bebten, sah er ein wenig genauer hin. Ihm fiel auf, dass Faust eine neue Lederrüstung trug. War das etwa …?
- Riesenleder, Faust? Ernsthaft?!
- Sturmriese … Konnte ja nicht ahnen, dass wir hier auf Verwandten meiner verdammten Rüstung treffen würden, oder?

Für seine Faust-in-die-Fresse-Haltung belegte Grimwardt den Gefährten im Stillen mit einem Schwall derber Flüche, die Tempus stolz gemacht hätten.  
Inzwischen waren sie an der Jarlshalle angelangt – ein haushohes Zelt, das sich von den umstehenden Behausungen lediglich durch einige kostbare Yetifelle unterschied, die die Öffnung zierten.
„Waffen!“, blökte ihn einer der beiden Krieger an, die vor der Halle Wache standen. Statt mit dornenbesetzten Keulen waren diese beiden mit Schwertern und Plattenpanzern gerüstet. Ihre dichten weißen Bärte trugen sie zu drei Zöpfen geteilt, die ihnen bis auf die Knie reichten. Ein alter Kinderreim kam Grimwardt in den Sinn: Wenn im Walde einen Ries‘ ihr seht, so rennt so schnell wie lang sein Bart ihm weht. Er bezweifelte, dass sie mit diesen beiden so leichtes Spiel haben würden wie Drizzt mit den Felsenwerfern. Widerwillig gab er also seine Axt ab und warf Faust einen warnenden Blick zu, jetzt bloß keinen Streit vom Zaun zu brechen. Sie würden diese Audienz ohnehin schon auf dem falschen Fuß beginnen.
„Ich rede“, raunte er Faust schnöde im Vorbeigehen zu, während er durch die Zeltöffnung trat.
Flankiert von zwei weiteren Elitekriegern thronte Gerti Orelsdottr hochaufgerichtet auf dem Hochsessel des Jarls. Reine Machtdemonstration, erkannte Grimwardt: Für einen Riesen war die Clanführerin nicht sonderlich groß. Ohne den Jarlssitz hätte sie Faust, der fast zwei Meter maß, gerade einmal um einen Kopf überragt. Doch was ihr an Größe fehlte, machte sie durch den durchdringenden Blick ihrer eisblauen Augen wett. Und da sie nicht mit einem Bart dienen konnte, trug sie ihr bläulich schimmerndes Haupthaar nach Kriegermanier zu drei Zöpfen geflochten, die ihr bis auf die Füße fielen. Mit einem einzigen, kurzen Blick traf sie ein schnelles Urteil über jeden der Anwesenden. Als Grimwardt an der Reihe war, las er zunächst einen Hauch von Respekt in ihren Eisaugen, doch Zorn und Verachtung gewannen die Oberhand.
„Der Gratspakt zeichnet diesen Teil des Gebirges als kjempeland aus.“ Gerti trommelte mit allen zehn Fingern angriffslustig gegen die Stuhllehnen. „Ihr seid nichts weiter als Freiwild in meinem Land. Also warum, glaubt Ihr, sollte ich Euch zuhören, statt Euch den Zorn der Sturmmaid spüren zu lassen, nachdem Ihr meine Späher niedergeschlagen habt?“
 „Der Gratspakt besagt auch, dass es Euch nicht gestattet ist, Gesandte der Silbermarken im Immermoor anzugreifen“, entgegnete Grimwardt ruhig. „Die fünf Männer, die dort in jener Höhle als Opfergaben für Eure Göttin aufgereiht liegen, beweisen, dass Ihr zuerst gegen den Pakt verstoßen habt.“
„Opfergaben!“, höhnte die Clanführerin. „Nichts begreift Ihr! Menschlinge waren es, die das Monster unter dem Immermoor aufgeweckt haben! Nun vergiftet es die Sümpfe. Die Trolle fressen das Gift und wir essen die Trolle und krepieren daran! Die Menschlinge auf der Schwelle zum Unterreich sind ein Friedensangebot in Aurils Namen, um das Sumpfmonster zu besänftigen.“
„Dieses Sumpfmonster scheint euch ja mächtig Angst zu machen, hm?“, bemerkte Faust spöttisch – und ernte dafür einen strafenden Blick von Grimwardt.
„Das Immermoor ist das Monster!“, blaffte Gerti ihn an. „Die Sümpfe sind nur Fell und Narben und Furunkel auf der Haut des Immermonsters. Niemand kann es bekämpfen, ohne das Moor selbst zu zerstören!“
„Ich habe von diesem Wesen gehört – vor langer Zeit“, meldete sich Drizzt zögernd zu Wort: „Eigentlich war es mehr die Theorie eines Magiers, den die meisten in Menzoberranzan für verrückt hielten. Es kam immer wieder vor, dass Spähtrupps in dem Bereich des Unterreichs, der genau unter dem Immermoor liegt, tagelang verschollen blieben. Das Areal ist unter den Bewohnern des Unterreichs als das Labyrinth von Araumtcos bekannt. Der Magier behauptete, dieses Labyrinth sei ein riesiges Wesen, das so groß und formlos sei, dass man tagelang durch seine Eingeweide wandern könne.“
„Hm“, machte Grimwardt. „Wie sahen die Menschen denn aus, die den Zorn des Monsters geweckt haben?“
„Verschlagene Kreaturen, die mit den Schatten liefen“, erwiderte die Frostriesin. „Stets in Dunkelheit gekleidet.“
„Umbranten“, sagte der Kriegspriester. „Das waren keine Menschen, sondern Umbranten.“
„Schattenmenschen, weiße Menschen, grüne Menschen, was macht das für einen Unterschied?“, brummte die Jarlstochter. „Ihr taugt doch alle bloß als Beilage.“
Grimwardt ignorierte die verächtliche Bemerkung: „Wie lange ist das nun her?“
„Einen Sonnenzyklus vielleicht?“, mutmaßte die Frostriesin. „Ein oder zwei von ihnen sind auf unserem Speisetisch gelandet. Wir lauerten ihnen vor der Höhle auf. Vor einem Mond erfuhren wir von Trollsklaven, dass ein neuer Trupp von Schattenmenschen angekommen war. Wir sandten auch dieses Mal einen Trupp, um ihnen aufzulauern, doch sie kamen nicht wieder aus der Höhle heraus.“  
„Was würdet Ihr uns denn dafür bieten, wenn wir uns für Euch um die Umbranten kümmern würden?“, erkundigte sich Faust.
Gerti Orelsdottr lachte verblüfft auf.
„Ihr glaubt allen Ernstes, ich werde zulassen, dass Ihr ins Unterreich zieht, um das Monster noch ärger aufzustacheln?!“
„Solange die Umbranten dort unten sind, wird es nicht zur Ruhe kommen, das habt Ihr doch selbst schon erkannt.“
„Wollt Ihr sagen, unser Opfer war umsonst?“, knurrte die Frostriesin und griff reflexartig nach ihrem Morgenstern, der am Fuße des Jarlssitz ruhte.
„Wie“, höhnte Faust. „Erst nehmt Ihr uns unsere Waffen ab und dann nutzt Ihr solch einen scheinheiligen Vorwand, um uns unbewaffnet anzugreifen? Das verdorbene Trollfleisch scheint Euch nicht nur die Mägen vergiftet zu haben!“
Gerti schleuderte Eisdolche aus ihren Augenschlitzen. Grimwardt stieß ein ernüchtertes Seufzen aus. So viel zu seinem Versuch, die Sache auf diplomatischem Wege zu lösen.
„Selbst Maden haben das Recht, sich zu verteidigen“, brachte Gerti knirschend hervor. „Hakon! Jorn! Gebt unseren ‚Gästen‘ ihre Waffen zurück! Die kleine Made, die sich in die Haut unserer Vetter hüllt, gehört mir!“

Faust
„Ja, gebt Klein-Drake sein Messer zurück.“ Den Seitenhieb konnte sich Faust in Vorfreude auf den bevorstehenden Kampf einfach nicht verkneifen.
„Pass auf, dass Klein-Drakes Messer nicht die Seiten wechselt“, kam es grantig zurück.
Drake und Grimwardt nahmen sich je einen der Krieger an Gertis Seite vor, während sich Drizzt den beiden Frostriesen am Eingang zuwandte. Die Clanführerin griff in einer fließenden Bewegung nach ihrer Waffe und berührte eine heilige Rune an ihrem Thron, die sie in eine tosende Sturmaura hüllte. Brüllend sprang sie auf Faust zu. Kurz bevor sie ihn erreichte, nutzte er Winters eilig gewirkte Zeitstarre aus, um sich üppig mit Kampf- und Schutzzaubern einzudecken. Nun kam auch endlich der Vorteil seiner neuen Riesenlederrüstung zum Tragen: Gerti war nicht schlecht erstaunt, als ihr Gegner sie mit einem Mal um eine ganze Zwergenlänge überragte. Faust schmetterte ihren Schlag ab und überzog sie mit einer chaotischen Hiebserie, doch sie erwiderte wacker jeden Schlag mit einem Gegenangriff. Während des Kampfes schielte Faust immer wieder zu Drizzt hinüber. Für gewöhnlich bestand seine Taktik darin, den Gegner gleich zu Anfang in einen leidenschaftlichen Klingentanz zu verwickeln, der ihm keine Chance zu ripostieren ließ: Faust hatte am eigenen Leib erfahren, dass Drizzt für gewöhnlich überall war, nur nicht am Ende seiner Klinge. Doch die Enge der Jarlshalle und die Größe seiner Gegner machten es dem Drow schwer, den Hieben seiner Gegner auszuweichen. Am Ende war es nicht Drizzt, sondern Winter, die die beiden Frostriesen aus dem Hinterhalt mit einer Verdorren-Welle ausschaltete, die sie nicht hatten kommen sehen. Faust fragte sich, ob er sich diesen kleinen Schwachpunkt des Dunkelelfen wohl zunutze machen konnte. Dummerweise würde die Arena Drizzt mehr Platz als genug bieten, um ihn, wie bereits das letzte Mal, durch schiere Gewandtheit zu …
Zu spät sah Faust durch den Wirbelsturm, der Gerti umtoste, ihren Morgenstern auf sich zukommen. Das höllisch schmerzhafte Splittern seiner Schulterknochen ermahnte ihn, Gerti den gebührenden Respekt zu erweisen. Statt auf Drizzt konzentrierte er sich wieder ganz auf seine Klinge. Dennoch schwitzte er schon bald  Blut und Wasser. Erst als Grimwardt, der seinen Gegner bereits besiegt hatte, ihm zur Seite sprang und sie Gerti Orelsdottr mit vereinten Kräften attackierten, gewannen sie die Oberhand. Trotzdem rappelte sich die Clanführerin noch zweimal mit einem zornigen Knurren wieder auf, ehe der Wirbelsturm endgültig verebbte und sie im Innern des ersterbenden Sturmtrichters zusammenbrach.
Zähes Mädchen!, dachte Faust anerkennend.
Während er ächzend die Hände auf die Knie stützte, bemerkte er aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Es war Drake, der in Geistergestalt aus der Zeltwand neben ihm tauchte. Für einen Moment glaubte Faust, der kleine Dreckskerl wolle seine Drohung wahrmachen und ihn aus dem Hinterhalt angreifen, doch sein Angriff galt dem letzten Frostriesenkämpfer. Doch auch der Riese hatte Drake entdeckt und wich schnell genug aus, sodass Drakes Angriff knapp sein Herz verfehlte. Im Bruchteil einer Sekunde erkannte Faust, dass der Gegenangriff des rasenden Barbaren Drake das Leben kosten könnte. Geistesgegenwärtig sprang er vor und sein Diamantenschlag-Manöver brachte den überrumpelten Gegner zu Fall. Sein Einsatz überraschte ihn selbst nicht weniger als Drake. Dessen kurzes, schmallippiges Nicken in Fausts Richtung war zwar weniger eine Dankesbekundung als eine Kenntnisnahme, doch er ahnte ja nicht, welches Geschenk er Faust gerade gemacht hatte! Faust grinste wie ein Honigkuchenpferd, als sich vor seinem geistigen Auge eine Taktik abzeichnete, mit der es ihm vielleicht möglich sein würde, Drizzt in der Arena zu besiegen!
„Gerti Orelsdottr darf nicht sterben!“, holte ihn Drizzt, der an ihm vorbeistürzte und sich besorgt über die bewusstlose Clanführerin beugte, in die Gegenwart zurück. „Ohne sie würden die Clans im Streit versinken und der Friedenspakt zwischen Silbrigmond und den Frostriesen wäre ein für allemal zunichte.“
Miu und Grimwardt taten, was sie konnten, um die Jarlstochter und ihre Leibwächter zu retten. Drakes Gegner und einer der Frostriesen, die Winters Zauberhinterhalt zum Opfer gefallen waren, waren längst auf dem Weg in die Stadt der Seelen oder wohin auch immer es ihr Volk nach dem Tod verschlug. Doch Gerti hatte nichts abbekommen, was ein ordentlicher Heilzauber nicht wieder richten konnte – dafür hatte Faust gesorgt, denn es gab schließlich noch etwas, das er von ihr erfahren wollte, nun, da er seine Verhandlungsposition verbessert hatte. Nachdem er die Clansführerin entwaffnet hatte, hievte er sie zurück auf den Jarlssitz, um ihr ein Stück ihrer angeschlagenen Kämpferwürde zurückzugeben.
Mit einem Ruck kam sie zu sich und ihre eisblauen Winteraugen waren sofort hellwach.
„Wieso bin ich noch am Leben?“, brummte sie.
„Weil ich schon eine Rüstung habe?“, bot Faust an.
Er meinte den Hauch eines Schmunzelns in ihren Augen zu lesen. Ein gutes Zeichen. Vielleicht war ihre anfängliche Arroganz nur Schau gewesen. Eine Inszenierung, die nicht den Gefährten, sondern ihren Vertrauten galt, die beim ersten Anzeichen von Schwäche ihre Autorität in Frage stellen würden. Nun, da ihre vier besten Männer – und ihre gefährlichsten Gegner – tot oder bewusstlos waren, konnte sie es wagen, ihnen einen Blick hinter die Maske zu gewähren.
„Nun habt Ihr ja die Belohnung, die Ihr gefordert habt“, bemerkte sie mit einem Blick auf die Beute, die sie den Frostriesenwächtern abgenommen hatten. Nur Gertis Morgenstern, zweifellos ein Familienerbstück, hatten sie nicht angetastet. „Also macht, dass Ihr verschwindet!“
Interessant, dachte Faust. Indirekt ließ sie sie damit wissen, dass sie ihr Vorhaben, dem Treiben der Umbranten im Unterreich nachzugehen, guthieß. Für eine Frostriesin zeigte sie erstaunliches diplomatisches Geschick.
„Ich hätte da noch eine Frage“, sagte Faust. „Nur so aus Neugier: Stimmt es, dass Titanenblut durch Eure Adern fließt?“
Gerti sezierte ihn lange und ausgiebig mit ihren Winteraugen. Herausfordernd lehnte sie sich schließlich vor: „Vielleicht erzähle ich es Euch, wenn Ihr die Nacht mit mir verbringt.“
Es klang wie eine Duellforderung.
„Oh“, sagte Faust überrumpelt.
„Natürlich nur in großer Gestalt“, fügte sie hinzu.
„Na gut … Euer Angebot ehrt mich, also, wenn Ihr wollt ...“ Dann fiel ihm ein, dass der Vergrößerungseffekt seiner Rüstung nicht sonderlich lang anhielt. „Das heißt … Wie ausführlich soll das Ganze denn werden?“
Gerti zog belustigt eine Augenbraue hoch, Drake prustete los, Grimwardt verbarg stöhnend den Kopf in den Händen, Drizzt und Miu sahen aus, als wären sie am liebsten im Boden versunken, und Winter … Bei Winters Anblick fühlte sich Faust an eine Viper erinnert, die kurz vor dem Giftbiss in völliger Reglosigkeit verharrte.
Faust schluckte.
 „Äh, Winter, du könntest mir hier nicht zufällig aushelfen? Ich meine, du hast doch sicher Zauber, die … äh …“
„Die was, Faust?“ Ihr Was hätte Glas zerspringen lassen können.
„Die sein Größenproblem beheben“, grinste Drake und Faust bereute augenblicklich seine Rettungsaktion.
„Mit Verlaub, aber mir will sich der Sinn hier nicht so ganz erschließen“, erklärte Winter, jedes Wort so pointiert wie ein Rapierhieb. „Was genau ist denn so wichtig an dieser Geschichte, dass du so darauf brennst, sie zu hören?“
Faust spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach.
Oh Mann, wie komme ich aus der Nummer wieder raus?
„Ach, ist nicht so wichtig“, gab er klein bei. An Gerti gewandt fügte er hinzu: „Vielleicht bin ich ja mal bei Gelegenheit in der Gegend …“
Die Clanführerin stieß ein verächtliches Schnauben aus.
„Und vielleicht habe ich bei Gelegenheit was Besseres zu tun“, blaffte sie ihn an. „Na los, macht, dass Ihr verschwindet! Alle miteinander!“
Faust hatte sich selten so klein gefühlt – und das lag nicht allein daran, dass der Größeneffekt seiner Rüstung gerade im unpassendsten aller Momente nachließ …
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 20. August 2013, 14:42:49
 :thumbup:
Hab mir grad das neueste Pathfinderbuch runtergeladen, aber das musste jetzt erstmal warten! Hach ja... der Drizzt... ;)
Wieder sehr schön! Vor allem Grimms Kapitel mag ich sehr! Hoffe wir finden bald nen neuen Termin fürs Finale! Hast du eigentlich bereits ne neue Kampagne im Kopf?
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 20. August 2013, 21:25:56
Hm, Ideen für neue Kampagnen habe ich jede Menge, aber nichts Konkretes. Irgendwann würde ich jedenfalls gerne ein neues Setting ausprobieren - vielleicht Engel, allerdings mit anderen Klassen (die im Kampagnensetting sind echt Murks) und mit leicht abgewandelten DnD-Regeln (habe in letzter Zeit ein paar andere Systeme ausprobiert, aus denen ich ein paar Sachen übernehmen würde).
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 24. August 2013, 20:22:01
Fabelhafter Start in den Urlaub mit diesem neuen Kapitel :-)
Danke dafür!!!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 06. Oktober 2013, 00:41:39
Kapitel IV: Eileanar

Grimwardt

Araumtcos, zwei Tage später.
Die Höhle, in der die Frostriesen ihr blutiges Geschenk an das Moormonster inszeniert hatten, führte tief ins Unterreich. Auf der anderen Seite der unsichtbaren Schwelle zwischen Ober- und Unterwelt erwartete sie ein wunderliches Labyrinth aus Pilzlandschaften – manche Pilzgewächse bildeten komplexe Höhlensysteme, andere wuchsen in Schichten übereinander wie hängende Gärten und wieder andere schufen gangartige Schläuche, durch die wie durch das Adergeflecht eines komplizierten Organismus klebrige Flüssigkeiten rannen. Falls sie sich tatsächlich im Innern eines monströsen Pilzwesens befanden, schien die Anwesenheit der sechs Eindringlinge die Kreatur nicht zu stören. Nur manchmal kam es vor, dass sich – vielleicht durch Muskelbewegungen des riesigen Organismus – die Wände auf die Gefährten zubewegten und sie sich den Weg freihacken mussten, um nicht eingeschlossen zu werden. Wenn das geschah, sonderten die Wände dasselbe giftige Sekret ab, das durch die „Aderläufe“ der Kreatur floss: Araumtcos blutete. Sein Blut war es, das den Menschen in Nesmé, die aus den verseuchten Quellen getrunken hatten, das Leben gekostet haben musste. Doch wie gelangte sein Blut an die Oberfläche? Und warum hatten die Umbranten das veranlasst? Je weiter sie in das Labyrinth vordrangen, desto dichter wurde das Pilzgeflecht und desto häufiger wurden die Muskelkontraktionen. Drizzt glaubte, dass dies ein Zeichen dafür sein musste, dass Araumtcos Schmerzen litt. Selbst dem Drow war es nahezu unmöglich, in dieser sonderbaren Welt seinen untrüglichen Richtungssinn zu bewahren.
Als die Pilzformationen schließlich am zweiten Tag ihrer Wanderung eine kränklich gräuliche Färbung annahmen, wussten die Gefährten, dass sie auf der richtigen Spur waren. Schon kurz darauf endete der Höhlengang in einer Sackgasse. Wieder einmal schlugen sie sich durch nachgiebige Pilzschichten – doch schon nach wenigen Axthieben traf Ambrosia auf Widerstand. Eine unsichtbare Barriere in Form einer magischen Energiewand versperrte den Weg und gebot den Pilzwucherungen Einhalt.
Grimwardt stutzte den Pilz soweit zurecht, um erkennen zu können, was sich auf der anderen Seite der Energiewand befand, doch er erspähte nur wage einen dunklen Hohlraum sowie einige gebäudeartige Strukturen. Als Auserwählter des Tempus konnte er auch in völliger Dunkelheit sehen, allerdings nicht sehr weit. Dasselbe galt für Winter, deren körperliche Veränderungen ihr hier unten zugutekamen, und Drake, dessen Glasauge kaum etwas verborgen blieb. So blieben nur Faust und Miu, die auf eine Lichtquelle angewiesen waren.
Da sie die Wand nicht bannen konnte, ohne den Pilz zu befreien, der umgehend alles überwuchert hätte, was die Netherarkanisten hier unten verbargen, teleportierte Winter die Gefährten hinter die Wand.
Vor ihnen lag eine zerklüftete Ruinenlandschaft. Der Hohlraum selbst war kaum höher als ein Haus, dafür aber so weitläufig, dass er ein kleines Stadtviertel hätte beherbergen können, und von ihm gingen zahlreiche Wege ab. Der einstige Zweck der Gebäude war in den meisten Fällen nicht mehr erkennbar – mehr als loses Geröll war von ihnen nicht übrig geblieben. Nur von einigen wenigen waren einzelne Gemäuer und labyrinthartige Kellerstrukturen erhalten geblieben. Offenbar waren die Umbranten in den Tiefen des Unterreichs auf die Ruinen einer alten Netherenklave gestoßen. Wachen gab es nicht – scheinbar wähnten sich die Forscher hier unten vor ungebetenen Gästen sicher.
Grimwardt bat Drizzt, der sich im Unterreich von ihnen allen am unauffälligsten zu bewegen wusste, die Lage auszukundschaften. Die anderen schlenderten durch das Ruinenfeld.
„Die Stadt muss bei ihrem Fall vor Hunderten von Jahren im Sumpf versunken und zu einem Teil von Araumtcos geworden sein“, staunte Faust, der leicht zu begeistern war, wenn es um geschichtlichen Humbug ging. „Die Umbranten haben ihm praktisch ein Loch in die Eingeweide gebrannt und jetzt weicht der Pilz an die Oberfläche aus. Wahrscheinlich haben sie keine Ahnung, was sie da angerichtet haben.“
„Wie ernüchternd“, brummte Grimwardt, während sein Blick mit mäßigem Interesse ein halb verblichenes Wandbild streifte. „All die Aufregung für einen Haufen alter Steine.“
Er musste sich eingestehen, dass er ein wenig enttäuscht war. Statt auf finstere Mysterien, die ihm einen Grund hätten liefern können, gegen Netheril in den Krieg zu ziehen, schienen sie lediglich auf den Irrsinn eines fanatischen Forschers gestoßen zu sein.
Dann blieb er abrupt stehen.
„Oha“, zwinkerte Faust. „Der Kerl auf diesem ‚Haufen alter Steine‘ hat erstaunliche Ähnlichkeit mit Tempus, hm?“
Das Wandbild zeigte den Feindhammer mit wehendem schwarzem Bart im Kampf gegen eine monströse Kreatur, die einen Krummsäbel in jeder ihrer sechs Arme schwang.
„Das ist Tempus im Kampf gegen Targus.“ Grimwardts Blick flog über die Darstellung. Targus war ein altnetherischer Aspekt Garagos‘, des einstigen Gottes des Krieges. Tempus hatte ihn erschlagen, als er noch ein niederer Gott gewesen war, und seinen Platz eingenommen. Das musste kurz vor dem Fall des alten Netheril gewesen sein. Das bedeutete, dass dieser Tempel einer der jüngsten seiner Art war. Und dieses Wandbild …
„Mir ist kein einziges Artefakt in der Kulturgeschichte bekannt, das Tempus ohne seinen Helm zeigt. Dies ist womöglich das älteste Relikt, das von der Verehrung des Feindhammers zeugt.“
„Schade, dass es zu groß ist, um es mitzunehmen“, meinte Winter. „Das hätte sich doch hervorragend in deiner Abtei gemacht!“
„Gibt es keine Möglichkeit, das Bild magisch abzupausen und …?“
Während Faust und Winter über reproduktionsmagische Verfahren fachsimpelten, sog Grimwardt jedes Detail dieses ungewöhnlichen Fundstücks in sich auf. Dabei fiel ihm auf, dass die Wand aus einem fremdartigen, hellgrauen Metall geschaffen war. Trotz seiner geringen Dicke musste das Material äußerst widerstandsfähig sein, wenn es den Fall der Enklave und die Jahrhunderte, in denen es den Umwelteinflüssen der Pilzkreatur ausgesetzt gewesen war, so unbeschadet überstanden hatte. Er war gespannt, was sein zwergischer Freund Borgo dazu sagen würde.
Grimwardt hatte gerade eine Probe des eigenartigen Metalls aus den Trümmern geborgen, als Drizzt zurückkehrte. Gwenyfhar, seine Panthergefährtin, trottete lautlos wie sein Schatten an seiner Seite.
„Der Komplex ist riesig“, beschrieb der Drow die Lage. „Es arbeiten immer ein oder zwei Magier und um die zehn Sklaven zusammen. Wachen gibt es nur im Lager; ich nehme an, sie sind dort stationiert, um die magischen Fundstücke zu bewachen.“
„Wie viele Wachen sind es?“
„Zehn, die ich ausmachen konnte – ausnahmslos menschliche Netherim. Ein Umbrantenmagier befehligt sie – der Ausgrabungsleiter, schätze ich. Bei ihm ist ein weiterer Umbrant, vielleicht sein Gehilfe.“
„Führ uns hin.“
Das Lager war nicht weit entfernt vom Tempus-Tempel gelegen. Offenbar hatten die Forscher gezielt Gebäudekomplexe „entpilzt“, von denen sie sich magische Funde erhofften. Die einzelnen Ausgrabungsstätten waren durch enge Energieröhren miteinander verbunden. Aus der Finsternis eines solchen Tunnels beobachteten die Gefährten das Lager. Drei Soldaten bewachten die Zelte; fünf weitere saßen bei Fackellicht bei einem Würfelspiel zusammen. Drizzt deutete stumm auf ein größeres Zelt in der Mitte – dort mussten sich der Ausgrabungsleiter und sein Gehilfe aufhalten.
Faust stieß Grimwardt mit verschränkten Armen an und ruckte den Kopf in Richtung des Zelts. 
„Antimagische Zone?“
Grimwardt antwortete mit einem kurzen Nicken.
„Winter, kümmere dich um die Wachen beim Feuer“, befahl er. „Drizzt, schalte die Patrouillen aus. Drake, durchsuche die anderen Zelte nach den fehlenden Soldaten. Faust und ich kümmern uns um die Umbranten. Los!“
Als die beiden wenige Augenblicke später das Zelt stürmten, stand keiner der Soldaten mehr aufrecht. Faust griff im Laufen nach einer der Fackeln, während Grimwardt seinen Zauber wob. Ihr Angriff traf die beiden Magier unvorbereitet. Der Gehilfe ging bereits mit Fausts erstem Schwertstreich zu Boden. Der Ausgrabungsleiter sprang überrumpelt von einem Pult auf, auf dem Karten und andere Unterlagen verstreut lagen. Grimwardt setzte über den Tisch hinweg – doch als er mit der Axt ausholen wollte, stand ihm der Magier plötzlich in zehnfacher Ausführung gegenüber. Er stutzte. Spiegelbilder? Wie war das möglich?  Im nächsten Moment wirbelte ein Luftzug die Papiere auf dem Schreibpult auf … und zehn gespaltene Schädel sanken auf die Tischplatte. Zwiespalt hatte seinem Namen alle Ehre gemacht. Als der Tod in die Augen des Fremden trat, verschwanden die Spiegelbilder und er verwandelte sich … von einer hageren Bohnenstange in einen stämmigen Glatzkopf.
Grimwardt und Faust wechselten fragende Blicke.
„Umbranten verarschen Umbranten“, meinte Faust achselzuckend, warf sich sein Schwert über die Schulter und begann, den Fremden zu plündern.
„Woher wusstest du, welcher davon er war?“
Faust zog die Nase kraus. „Guter Riecher.“
„Was bist du, ein Trüffelschwein?“, brummte Grimwardt kopfschüttelnd. „Und warum konnte der Kerl trotz Antimagie zaubern? Sowohl seine Spiegelbilder als auch sein Verkleidungszauber schienen dagegen immun zu sein.“
„Hm, ich glaube, er war ein ziemlich hohes Tier. Sieh dir das an.“ Faust reichte ihm einen Siegelring, den er bei dem Fremden gefunden hatte: Das Siegel zeigte eine Sphäre über drei Berggipfeln.
Grimwardt kniff die Augen zusammen, als er sich daran zu erinnern versuchte, wo er das Symbol schon einmal gesehen hatte. „Ich bin mir nicht ganz sicher“, sagte er bedächtig,  „aber ich glaube, die Gehirnmasse, die da an deinem Schwert klebt, gehört einem der Prinzen von Umbra.“

Winter
Die Augen des bewusstlosen Zaubergehilfen bewegten sich unruhig hinter den geschlossenen Lidern, als Winters Zauber seinen Geist durchbohrte. Ein magischer Fingerzeig und sie hätte all seine Erinnerungen löschen und seinen Geist auf Tag Null schalten oder ihm einreden können, er sei ein dreijähriger Dunkelzwerg.
„Weck ihn auf.“
Nachdem Miu den Verwundeten mit einem Heilzauber in die Wirklichkeit zurück geholt hatte, zwang Winter ihn mit einem telepathischen Befehl, den Blick auf seinen toten Gefährten zu richten. Sie las Verwirrung und Furcht in seinen Gedanken.
„Wer ist das?“
„Das … ist einer der Zwillinge. Prinz Vattick oder Mattick Tanthul. Niemand kann sie auseinander halten.“
„Aber der Siegelring, den er trägt, gehört einem anderen, nicht?“
Sie hielt ihm das Schmuckstück unter die Nase.
„Das ist Prinz Brennus‘ Wappen – der jüngste Sohn des Hochprinzen. Er … ist ein Meister der Erkenntnismagie und derjenige, der diesen Ort gefunden hat. Er ist der Leiter der Expedition. Ich dachte …“
Er schnappte nach Luft, als Winter die Eindrücke und Erinnerungen, die ihm bei der Betrachtung des falschen Prinzen in den Sinn kamen, achtlos durchblätterte wie Seiten in einem Buch. Offenbar waren Vattick und Mattick in Umbra für ihre Intrigen berühmt-berüchtigt. Ihre Illusionen waren nicht einmal mithilfe mächtiger Magie zu durchschauen. Welches Spiel auch immer sie spielten, der Gehilfe gehörte nicht zum Kreis der Eingeweihten. Offenbar hatte sein Leben bisher hauptsächlich in der Bibliothek stattgefunden. Winter verlor schnell das Interesse an ihm.
„Was habt ihr hier unten gesucht?“
„Wissen … Wissen um das alte Netheril.“
„Was ist mit dem Expeditionsleiter? An welcher der Ruinen hat er gearbeitet?“
„Er hat die Ausgrabungen an der Akademie betreut“, sagte der Magier.
Winter spürte sein Unbehagen und zwang seinen Geist, sich ihr zu offenbaren. Sie sah einen weiteren Umbranten, der den falschen Brennus bei seinen Besuchen in der Arkanen Akademie häufig begleitet hatte, doch seine Gestalt war in Schatten gehüllt. Doch obwohl der Zaubergehilfe nicht wusste, wer der Fremde war, schien eine Aura der Macht von ihm auszugehen, die ihn vor Ehrfurcht schaudern ließ.
Sie gab ihre Erkenntnisse an die anderen weiter. Faust fand eine Karte, auf der die Lage der Akademie verzeichnet war.
„Wenn wir da vorbeischauen wollen, sollten wir uns beeilen“, bemerkte Drake. „Der Tod eines Prinzen wird nicht lange unbemerkt bleiben. Und ich will hier weg sein, bevor Hackschädels Zwillingsbruder auftaucht. Auf der anderen Seite des Lagers habe ich was Portalartiges gesehen – schätze, die hatten keine Lust, sich jedes Mal durch die Eingeweide des Pilzmonsters zu graben, um nach Hause zu kommen. Wird also nicht lange dauern, bis seine Mitverschwörer hier auftauchen.“
„Gut, brechen wir auf“, sagte Winter. „Warum geht ihr nicht schon mal vor? Ich muss noch ein wenig Gedächtnisarbeit leisten, damit unser Freund hier uns keine Scherereien bereitet.“
Grimwardt sog scharf die Luft ein. Natürlich wusste er, dass der Zaubergehilfe niemandem mehr Scherereien bereiten würde, wenn sie mit ihm fertig war. Ihre Maskerade galt lediglich Drizzt. Wenn er herausfand, mit wem er es zu tun hatte, würde sie ihn vermutlich töten müssen und sie wollte Faust nicht seinen Wettkampf verderben …

Faust
Die Arkane Akademie hatte einmal – den Plänen des Expeditionsleiters zufolge – aus einem festungsartigen Hauptgebäude und neun Türmen bestanden – ein Turm für jede Schule der Magie. Im Gegensatz zu den restlichen Gebäuden der Stadt schien der größte Teil des Komplexes erhalten geblieben zu sein. Grimwardt glaubte, dass das ungewöhnliche Metall, das er bereits in den Trümmern des Tempus-Tempels entdeckt hatte, dafür verantwortlich war. Die Akademie war vollständig daraus erbaut. Die Umbranten hatten nur die Hautfassade der Akademie aus dem Pilz befreit. Fenster gab es nicht – vielleicht hatte der Pilz also niemals einen Weg hinein gefunden. Das würde erklären, warum die Expeditionsmitglieder ihre Arbeit nicht fortgesetzt hatten. Faust konnte nur erahnen, welchen Wirbel ein solcher Fund – eine vollständig erhaltene Zauberakademie aus dem alten Imperium – in Umbra ausgelöst haben musste.
„Ein mächtiger Dimensionsbann liegt auf dem Gebäude“, sagte Winter, nachdem sie den Komplex einer magischen Untersuchung unterzogen hatte. „Und das Haupttor ist keine wirkliche Tür, sondern ein Portal. Ohne Schlüsselring gibt es kein Hineinkommen.“
„Mal sehen, was ich mit Sagenkunde herausfinden kann“, meinte Faust und kniete sich vor das kunstvoll verzierte Eingangsportal. Er hatte die Formel noch nicht zu Ende gesprochen, als er spürte, wie der Zauber die Kontrolle über seinen Körper übernahm und seine Glieder zu zucken begannen.
 „Faust! Sie sind da!“
Mius eindringliches Rütteln riss ihn jäh aus dem Bann der Vision.
„He!“, krächzte er, während er sich durch den Nebel zurückkämpfte. „Ich war noch nicht so weit, was …?“
 „… Das ist für unsere Brüder!“, hörte er noch eine zischende Stimme, ehe ein jähes Zaubergewitter über ihn herein brach.
Energiekugeln regneten auf ihn nieder, während er sich auf die Beine kämpfte und die Lage zu überblicken versuchte. Die Angreifer – drei Umbranten – waren mindestens fünfzig Meter entfernt. Der kleine Kahlkopf mit dem hassverzerrten Blick war unschwer als der Zwillingsbruder des falschen Ausgrabungsleiters zu erkennen. Der zweite Umbrant, ein Magier mit schwarzem Kinnbart, schien weitaus besonnener, wenn auch ebenso entschlossen. Der Krieger in ihrer Mitte, vermutlich ihr Anführer, war weitaus kräftiger und größer als die anderen beiden. Er trug eine kostbar verzierte Rüstung mit einem aufwendig gestalteten Klingenfänger aus Drachenzähnen am Halsstück. Das Emblem eines schwarzen Drachens zierte auch seinen Schild und den Griff seines Schwertes.
Sie standen drei Prinzen von Umbra gegenüber.
Faust rannte los.
Drizzt, die wieder einmal als erstes reagiert hatte, war innerhalb eines Lidschlags bei den Angreifern. Bevor er sie erreichte, hüllte Schwarzbart sich und den Zwilling in eine Regenbogensphäre, die von schwarzen Schlieren durchzogen war – ihre Bedeutung überstieg Fausts arkane Kenntnisse, doch die Mutation eines ohnehin schon mächtigen Zaubers konnte nichts Gutes bedeuten. Offenbar stimmte es, was man sich über die Umbranten erzählte: Seit der Zauberpest gab es – vielleicht außer Winter – niemanden mehr, der es mit ihrer Zaubermacht aufnehmen konnte.
Drizzt war nur noch ein Blitz, der sich der Wahrnehmung entzog, als er auf den Drachenkrieger zu preschte. Sein Angriff riss den viel größeren Umbranten beinahe von den Füßen, doch er zahlte es ihm mit gleicher Münze heim. Mit dem ersten Schwerthieb brachte er Drizzt zu Fall, der zweite verfehlte nur knapp das Herz des am Boden Liegenden.
Faust kam gerade noch rechtzeitig, um den schwer verwundeten Drow zur Seite zu stoßen, aus dem Angriffsbereich des Umbranten. Zusammen mit Grimwardt und Drake nahm er den Drachenkrieger in die Zange. Der stieß ein irres Lachen aus, als Stahl auf Stahl traf und er sich gegen drei Angreifer zugleich zu Wehr setzte. Das Lachen endete in einem ohrenbetäubenden Kreischen, das sie alle wie nach einem Explosionsknall in einen Kokon der Taubheit hüllte. Faust gelang es, den Druck auf den Ohren abzuschütteln, doch Drake neben ihm ging vor Schmerz in die Knie, während ihm Blut aus den Ohren quoll. Ein flüchtiger Blick nach hinten sagte Faust, dass der Schallangriff auch Winter und Miu in die Knie gezwungen hatte. Unter dem Schwarm von Energiegeschossen, die die Magier auf die vor Schmerz Gelähmten niederbeschworen, gingen die beiden Frauen zu Boden. Unmittelbar darauf folgte eine Bannwelle – Faust schien es, als ob ihn etwas bis auf die Knochen auszog und nackt und schutzlos zurückließ: Ein einziger gegnerischer Bann entriss ihm und seinen Gefährten die Kontrolle über sämtliche Schutz- und Kampfzauber, die auf ihnen lagen. Die Umbrantenbrüder hatten ihren Standpunkt klargemacht: Das war keine Drohgebärde – sie wollten sie tot sehen! Es sah wirklich mies für sie aus; trotzdem spürte Faust, wie ihm die Kampfwut in die Glieder fuhr.
- Grim!
- Schon klar.

Grimwardts antimagische Zone konnte zwar nichts gegen die Regenbogensphäre ausrichten, aber sie beraubte den Drachenkrieger seines Zaubervorteils und schützte sie zudem vor weiteren Zauberangriffen der beiden Magier. Verbissen attackierten die beiden Freunde den Krieger von beiden Seiten. Schon nach wenigen Hieben gewannen sie die Oberhand. Doch als er schon aus zahlreihen Wunden blutete, gelang es dem Drachenkrieger aus dem Klingendickicht auszubrechen. Die Bewegung riss eine tiefe Wunde in sein Knie, wo Grimwardts Axt ihn streifte, doch mit letzter Kraft schleppte er sich aus der antimagischen Zone und ehe die Freunde es verhindern konnten, hatte er sich mit einem Stoßgebet an seine Dunkle Herrin geheilt, und griff mit doppelter Wucht an.
Ein kurzer Seitenblick sagte Faust, dass Grimwardt genau wie er selbst nicht mehr lange durchhalten würde. Doch es lag ihm fern, in Verzweiflung zu verfallen. Er hatte schon lange auf eine Gelegenheit gewartet, sein Zanmatou-Manöver, das ihn zum Großmeister gemacht hatte, einmal unter realen Bedingungen zu erproben.
- Grim, wenn das nicht reicht, musst du es rausreißen!
- Mach jetzt bloß keine Dummheiten! … Faust?

Faust holte tief Luft und katapultierte sich aus dem Stand in die Höhe, das Schwert über den Kopf erhoben. Die Welt um ihn herum hielt den Atem an, während sein Körper die Kraft von zehn Schlägen in diesen einen legte: Sein Herz schlug zehnmal so schnell, seine Muskeln spannten sich zum Zerbersten und der Rausch brachte sein Blut zum Kochen. Zwiespalt schnitt durch den Schild, den der Umbrant eilig über den Kopf riss, wie durch Butter – doch etwas stimmte nicht. Statt zu zersplittern, nahm der Drachenschild eine geleeartige Konsistenz an: eine widerstandslose Masse, die die ungeheure Wucht des Schlages abfederte – nur um dann wieder zu erhärten und in tausend messerscharfe Einzelteile zu zersplittern, die mit todbringender Geschwindigkeit in alle Richtungen davonstoben.
Schildsplitter schnitten in Fausts Fleisch. Gleichzeitig forderte die ungeheure Kraftanstrengung, die er in das Manöver gelegt hatte, ihren Tribut: Es gab kaum einen Knochen in seinem Körper, der noch heil war, und er kämpfte mühsam darum, bei Besinnung zu bleiben. Als es ihm endlich gelang, den Schmerz und die Schwärze fortzublinzeln, erspähte er, wie der Drachenkrieger Hieb um Hieb Grimwardt immer näher an die tödliche Regenbogensphäre trieb. Faust biss die Zähne zusammen und versuchte vergeblich auf die Beine zu kommen – wenn nicht irgendein Wunder Grimwardt zur Hilfe käme, wären sie geliefert.
Das Wunder kam in Gestalt von Drizzt Do’Urden, der, obgleich er sich selbst kaum noch auf den Beinen halten konnte, pfeilschnell über Faust hinwegsetzte. Faust erkannte sofort, dass der Drachenkrieger ohne seinen Schild und ohne den Schutz seiner göttlichen Magie, die Grimwardts Bannzone noch immer unterdrückte, gegen den Drow verloren hatte: Wenn es um Leben oder Tod ging, war Drizzt unbesiegbar.
Du irrer, kleiner Mistkerl, dachte Faust erleichtert, bevor er endgültig das Bewusstsein verlor.
Als Grimwardt ihn schließlich mit einem Heilzauber aufweckte, war von den drei Umbranten keine Spur mehr zu sehen. Seine Gefährten wirkten erschöpft und angeschlagen, doch sie schienen noch glimpflich davon gekommen zu sein.
„Reicht es nicht, dass unsere Gegner versuchen, uns umzubringen“, knurrte Grimwardt, während er ihm unsanft auf die Füße half. „Musst du ihnen dabei auch noch behilflich sein?“
„Was ist passiert?“, ächzte Faust.
„Drizzt ist passiert. Der Krieger hatte keine Chance, aber an die beiden Magier gab es kein Herankommen. Drizzt war halbtot und ich hätte auch nicht mehr lange durchgehalten – sie waren also immer noch im Vorteil. Drake hat schließlich damit gedroht, ihrem Bruder die Kehle durchzuschneiden. Das wollten die beiden offensichtlich nicht riskieren. Sie haben sich zurückgezogen, um ihre Wunden zu lecken. Aber sie werden nicht lange fortbleiben, da bin ich mir ziemlich sicher. Was auch immer sie hier unten treiben – sie wollen nicht, dass wir es herausfinden.“
Faust nickte. Ein Blick in die Runde sagte ihm, dass seine Gefährten einem weiteren Angriff heute genauso wenig gewachsen waren wie er selbst. Es stand 1:0 für die Umbranten. Doch er würde sich nicht zurückziehen, ehe er nicht wusste, was an diesem Ort so besonders war, dass der Hochprinz vier seiner Söhne schickte, um ihn zu bewachen. Während Winter das Pilzwesen befreite, indem sie ein Loch in einen der Energiewälle bannte, sodass der Pilz zurückfordern konnte, was ihm gehörte, kniete sich Faust vor das Portal der Akademie und wagte einen zweiten Zauberversuch mit Sagenkunde.
Als er wenige Minuten später die Augen aufschlug, pochte sein Herz wild gegen seine Brust.
„Eileanar“, murmelte Faust, während der Nachhall der Vision noch durch seinen Geist spukte. „Wir sind in Eileanar – der Enklave des Karsus.“
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 06. Oktober 2013, 21:32:22
Es wird und wird! Wieder sehr schön geworden! Da kam der Tod für den Umbranten so plötzlich wie bei R.R.Martin ;)
Freu mich jetzt natürlich auf das was folgt :)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 21. Oktober 2013, 22:01:47
Das war eine ziemlich kampflastige Episode *g* Da hat die Autorin eine ordentliche Portion Fleißarbeit reinstecken müssen!
Was haben wir mal wieder Blut und Wasser geschwitzt  :D Verdammte Umbranten...intrigantes Pack...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 28. Oktober 2013, 23:23:09
Kapitel V: Senftopf

Winter
Silbrigmond, vier Tage später.
Das Rauvin-Theater war so rappelvoll, dass Winter mit dem Gedanken spielte, die vier Schritte vom Wettstand zur Ehrentribüne zu teleportieren, um der Gefahr zu entgehen, dass ihr sündhaft teures Kleid, das sie sich eigens für dieses Ereignis hatte schneidern lassen, unliebsame Bekanntschaft mit einer Weinkaraffe oder einem kandierten Apfel machte. Von Luskan im Norden bis Tiefwasser im Süden, von Niewinter an der Schwertküste bis Sundabar im Grenzland zu Netheril schien sich an diesem Tag der gesamte Nordwesten Faerûns in Silbrigmond versammelt zu haben, um Zeuge zu werden, wer die Arena als Faerûns größter Streiter verlassen würde.
„Na, wie viel hast du gesetzt?“, wollte Grimwardt wissen, als sie sich neben ihm und der elfischen Gemahlin des Hochfürsten von Silbrigmond niederließ.
„Hundert“, gab Winter Auskunft.
„Für mehr reicht dein Vertrauen in Faust nicht?“
„Wer behauptet denn, dass ich auf Faust gesetzt hätte?“, fragte sie grinsend.
Grim sah sie an wie ein Ziegenbock, dem jemand eine Sauerkirsche unters Futter gemischt hatte.
„Was?!“, verteidigte sie sich. „Du hast selbst gesehen, was Drizzt mit diesen Frostriesen angestellt hat.“
Der Priester murmelte etwas, das wie „treuloses Huhn“ klang. Winter hätte ihn dafür am liebsten geküsst – es war fast wie in alten Zeiten!
Den ganzen Tag über hatten Spielleute und Schausteller vom Fochlucan-Kolleg die Stadt bei Laune gehalten. Grimwardt hatte „dringenden Geschäften in der Abtei“ den Vorzug vor den übrigen Darbietungen gegeben: So hatte er unter anderem das Schauspiel Wie die Schicksalsstreiter dem Schattenfürsten ein Schnippchen schlugen: eine Komödie in fünf Akten versäumt. Winter hatte wenig Komödiantisches daran finden können, da sie zu sehr damit beschäftigt gewesen war, sich über die Interpretation der „Winter“ aufzuregen, deren Handlungsbeitrag bis auf ein paar hirnlose Zeilen darin bestanden hatte, lasziv in der Gegend herumzustehen.
„Wo ist Miu?“, wunderte sich Grimwardt. „Nicht dass ich erwartet hätte, Drake hier anzutreffen, aber was hält unsere treue Ordensschwester davon ab, über ihren Schützling zu wachen?“
„Das wüsste ich auch gern“, meinte Winter. „Als ich mit Faust heute Morgen aufbrach, meinte sie, sie hätte noch etwas zu erledigen. Als er nachhakte, wisch sie ihm aus …“
„Hm.“ Grimwardt schüttelte besorgt den Kopf. „Irgendwas stimmt nicht mit der Kleinen, seit sie plötzlich so mir nichts dir nichts aus Kara-Tur zurückgekehrt ist.“
„Bloß weil sie Faust nicht mehr wie ein stiller Schatten überall hin folgt?“, fragte Winter spöttisch.
Die Erwiderung ihres Bruders ging im tosenden Jubel der Menge unter: Faust hatte die Arena betreten und hielt die Zuschauer mit ein paar raffinierten Schwertkunststücken bei Laune. Kurz darauf betrat Drizzt den Sand und die Menge geriet völlig außer Rand und Band. Im Gegensatz zu Faust blinzelte der Drow nur ein wenig scheu in die Menge, ehe er die Säbel zog. So, als könne er immer noch nicht glauben, dass ihm – einst ein Flüchtling in der Heimat und ein Geächteter in der Fremde – eine ganze Stadt zujubelte.  
Die Menge verfiel in rhythmisches Klatschen, während sich die beiden Gegner mit Schutzzaubern rüsteten, und magische Lichtspiele hüllten die Arena in eine dramatische Atmosphäre. Der Theatermeister hatte die Kontrahenten mit Zaubern schützen wollen, die sie vor tödlichen Verletzungen bewahrten, doch Faust und Drizzt waren dagegen gewesen, weil sie fanden, dass das den Kampf verfälsche.
Dann sangen die Klingen und der Theatermeister gab das Signal zum Angriff.
Sofort wurde es mucksmäuschenstill.
Drizzt Do’Urden schien sich in Sekundenschnelle in einen rasenden Feuerball zu verwandeln, als er auf Faust zu stob. Doch als er ihn erreichte, war Faust plötzlich verschwunden. Ein verblüfftes Raunen ging durch die Menge.
„Hehe, gerissener Hund“, schmunzelte Grimwardt, der sich mit verschränkten Armen bedächtig in seinem Ehrensessel zurücklehnte, während alle um ihn herum aufgeregt von den Sitzen sprangen.
„Wieso, was ist denn passiert?“, drängte Winter. „Wo ist er?“
„Auf der Ätherebene“, erwiderte der Kriegspriester, dessen Auserwählten-Sinn nichts verborgen blieb. „Den Trick muss er sich von Drake abgeschaut haben. Er wusste, wenn Drizzt ihn unvorbereitet vor die Klinge bekommt, hat er schon so gut wie verloren, darum hat er sich erst einmal verkrümelt, um Drizzt das Überraschungsmoment zu nehmen. Nicht gerade poetisch, aber wirkungsvoll.“
Ein verräterisches Blitzen streifte die Augen des Tempus-Priesters – für einen überzeugten Turniergegner fand er verdächtig viel Gefallen an diesem Duell.
Verunsichert durch Fausts plötzliches Verschwinden zog sich Drizzt zurück und nahm eine Defensivhaltung ein. Sekundenlang hielt ganz Silbrigmond den Atem an. Und dann tauchte Faust plötzlich wieder auf: Wie in einer Zeitstarre gefangen schien er für die Dauer eines Lidschlags im Sprung über dem Drow zu harren: Zwei Helden, die für ein unmögliches Portrait Modell standen. Dann ein gleißendes Licht, als sich Zwiespalt auf den Drow niedersenkte. Sein Gegner versuchte auszuweichen, doch zum ersten Mal war Drizzt Do’Urden einen Lichtblitz zu langsam. Die Klinge schnitt wie Diamant durch seinen rechten Schwertarm – und ein Blutregen ging wie Konfetti auf die Zuschauer in der ersten Reihe nieder, während Drizzts abgetrennter Arm begleitet vom fassungslosen „Ahhhh“ der Menge einen grotesken Bogen durch die Luft beschrieb.
Winter sprang aufgeregt von ihrem Sitz, schlug die Hände vor den Mund und gluckste.
„Oh Mann, Grim, sieh dir das an – er hat ihn! … Grim?“
Ihr Bruder hatte stöhnend die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen. Plötzlich bemerkte Winter, dass es sehr still um sie geworden war. Sie starrte in die bestürzten Gesichter des Hochfürsten und seiner Frau. Ein wenig verlegen setzte sie sich wieder hin.
 „Dieser ruhmtolle Hirnochse“, schimpfte Grimwardt gepresst. „So gewinnt man vielleicht einen Stammeskampf unter Frostriesen, aber doch kein Duell in der Arena von Silbrigmond!“
„Ach, mit dem richtigen Heilzauber ist der Arm im Nu wieder dran.“
„Ein Heilzauber, der die Götter beleidigt! Meinst du, sie schenken uns ihre Gunst, damit wir sie in kindlichen Spielen verplempern?! Außerdem kostet so ein Gebet mehr, als die meisten hier in ihrem ganzen Leben verdienen werden. Was wird sich wohl der einfache Schmied denken, der bei der Arbeit einen Arm verloren hat, wenn Drizzt morgen fröhlich mit gesundem Arm durch die Stadt hüpft – geheilt von einem Zauber, der seine Familie vor der Armut bewahrt hätte?“
Winter biss sich ein wenig kleinlaut auf die Lippen.
Ihr war es herzlich egal, was die Götter dachten, aber mit dem Rest hatte Grimwardt vielleicht Recht. Vermutlich hatten sie nach allem, was sie erlebt hatten, längst verlernt, die Welt mit den Augen gewöhnlicher Sterblicher zu betrachten …

Faust
Komm schon, Drizzt, dachte Faust.
Wankend kam der Drow auf die Füße. Der Blutverlust hätte jeden anderen bewusstlos zusammen brechen lassen. Für eine Weile sah es so aus, als ergehe es dem Drow nicht anders: Er strauchelte, brach mit einem Knie ein und seine Lippen zitterten. Doch dann fiel sein Blick auf seine eigene tote, kalte Hand, die, halb von Staub bedeckt, noch immer die Klinge Eistod umklammert hielt. Als er zu Faust aufblickte, trat ein Ausdruck verhaltenen Zorns in seine Augen, der gleich darauf jenem düsteren Funkeln wich, auf das Faust gewartet hatte. Mit stummer Verbissenheit katapultierte sich Drizzt auf seinen Gegner zu.
Faust hieß ihn mit einem euphorischen Lachen willkommen.
Plötzlich wurde ihm bewusst, dass dieses Funkeln vielleicht der Grund war, warum er so besessen davon war, diesen Kampf zu gewinnen. Er hatte schon vielen herausragenden Kämpfern gegenüber gestanden – aber keiner von ihnen hatte um des Sieges willen gekämpft: Grimwardt hatte seinen Glauben, Omega ihre Philosophie, Tyrail seinen Hass ... Drizzt war womöglich der einzige, der Fausts Euphorie verstand. Auch wenn er es sich selbst nicht eingestehen wollte  – er war ein Besessener genau wie Faust und darum war er der einzige Gegner, der wirklich zählte.
Drizzt kämpfte mit einer Hand besser als die meisten anderen mit zwei und sein stiller Zorn verlieh jedem seiner Hiebe eine akribische Bestimmtheit. Doch Faust hatte im Grunde schon gewonnen – allein der Blutverlust würde Drizzt umbringen, wenn er sich nicht bald heilen ließ.
„Gib auf, Mann“, sagte Faust, als sie das nächste Mal die Klingen kreuzten. „Ich will dich nicht umbringen!“
Drizzt, noch immer in konzentriertes Schweigen gehüllt, antwortete mit einem Hieb in die Magengegend. Faust spürte, dass er bald an seine eigenen Grenzen stoßen würde. Also griff er auf seine Zeitmagie zurück, um sich schneller zu bewegen, als Drizzt ripostieren konnte. Aggressiv drosch er auf seinen Armstumpf ein, um ihm zu zeigen, wie ernst es ihm war. Dreckig, aber nötig: Auch dem Drow musste jetzt klar sein, dass er in wenigen Sekunden tot sein würde.
Ihre Blicke trafen sich.   
Komm schon, das ist es nicht wert!
Drizzt ließ seinen Säbel sinken und signalisierte mit einem kaum merklichen Nicken seine Kapitulation. Faust war sofort zur Stelle, um ihn aufzufangen, als er in die Knie brach. Notdürftig versorgte er seine Wunde.  
Erst als er den Jubel hörte, realisierte er, was das bedeutete. Ein breites Grinsen ergriff nach und nach jeden Muskel in seinem Gesicht. Er richtete sich auf, breitete die Arme aus, warf den Kopf in den Nacken und brüllte seinen Sieg in die Welt hinaus. Mit geschlossenen Augen wartete er auf den aufbrandenden Applaus. Doch statt lauter zu werden, wich der Jubel plötzlich aufgeregtem Stimmengewirr.  
Faust riss die Augen auf.
Nebel.
Die Angst lähmte ihn nur für einen Augenblick, aber das reichte schon aus. Ein Luftzug streifte seine Wange; dann brach er in die Knie. Erstaunt registrierte er, dass er keine Luft mehr bekam.
Erst als der Angreifer, der sich von hinten an ihn herangeschlichen hatte, die Klinge zwischen seinen Rippen hervor zog, setzte der Schmerz ein.
Faust konnte nichts sehen; der Nebel war zu dicht. Doch er hörte, wie Drizzt etwas rief, einen Namen.
Echt jetzt?, dachte er. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.

Grimwardt
„Gehört das zur Vorstellung?“, fragte Winter verwundert. „Hätte ich Drizzt gar nicht zugetraut. Weiß er von Fausts … äh … Nebelphobie?“
Grimwardt kniff misstrauisch die Augen zusammen. Drizzt hatte sich ergeben, das hatte er genau gesehen. Es passte nicht zu ihm, dass er so etwas nur vorgab, um sich mit einem miesen Trick hinterrücks den Sieg zu erschleichen.
„Da stimmt was nicht“, sagte er knapp.
Winter sprang auf. Ihr Bannzauber blies den Nebel, der wie ein monströses Tentakelgezücht durch die Arena kroch, hinweg und enthüllte ein unerwartetes Bild: Faust lag reglos am Boden. Ein Vermummter mit Kurzschwert und Dolch, der neben ihm kniete, war im Begriff ihm die Kehle durchzuschneiden. Drizzt stolperte von hinten auf die beiden zu, doch er war mit seinen Kräften am Ende – er würde es nicht schnell genug schaffen.
Grimwardt war neben Winter getreten und die Inbrunst seiner heiligen Worte ließ die Umstehenden erblassen. Die Menge schrie auf, als sein Heilgebet die Arena in gleißendes Licht tauchte. Als sich die Sicht klärte, stand Faust wieder aufrecht und auch Drizzt sah nicht mehr ganz so sehr aus wie eine Leiche, die ihren eigenen Tod nicht wahrhaben wollte. Und beide hatten es auf den Kopf des Nebelmörders abgesehen. Grimwardt wollte wirklich nicht in der Haut des Fremden stecken, der nun von beiden Seiten in ein gnadenloses Klingengewitter geriet. Die Zuschauer sollten heute mehr für ihr Geld geboten bekommen, als sie bezahlt hatten. Geschickt wich der Angreifer Fausts tödlichsten Manövern aus und lenkte den Drow für einen Augenblick mit einem Blendkniff ab. Das verschaffte ihm einen Augenblick Luft, um etwas unter seinem Umhang hervorzuholen. Als er den Gegenstand – eine hölzerne Schatulle – in die Luft warf, verwandelte sie sich in ein großes schwarzes Pferd mit rot glühenden Augen, das wild wiehernd die flammende Mähne schüttelte. Ein Nachtmahr. Als das Höllenpferd mit einem Sprung über die Kämpfenden hinweg setzte, schwang sich der Fremde auf seinen Rücken. Nicht einmal Drizzt konnte es an Schnelligkeit mit dem Nachtmahr aufnehmen, der in rasendem Galopp luftwandelnd über die Tribünen hinweg preschte. Dabei hinterließen seine Hufe eine Brandschneise und Panik brach aus, als die Zuschauer versuchten, dem Rappen aus dem Weg zu springen. Die Flüchtenden hielten auf den Ostausgang zu, der der Ehrentribüne, auf der Grimwardt und Winter standen, genau entgegen gesetzt war.
Die Geschwister sahen sich in stummem Einverständnis an und fingen zeitgleich an, ihre Zauber zu weben.
Weit kam der Attentäter nicht.
Er hatte etwa zwei Drittel der Strecke hinter sich gelegt, als der Nachtmahr plötzlich von einer riesigen Faust aus göttlicher Energie ergriffen wurde, die dem mörderischen Ritt ein jähes Ende bereitete. Der Reiter flog in hohem Bogen in die Menge, wo er von zwei Energiegeschossen lahmgelegt wurde.
„Hmpf“, brummte Grimwardt abfällig. „Man sollte meinen, dass dieser Wicht, der es sich anmaßt, Faust die Kehle durchschneiden zu wollen, sich einen vernünftigen Teleportationsring leisten können sollte!“
Hochfürst Methrammars Blick wanderte halb ehrfürchtig, halb befremdet zwischen den Geschwistern hin und her.
„Wisst Ihr, wen Ihr da gerade vom Pferd geholt habt? Das ist Artemis Entreri!“

Winter
Gefängnis von Silbrigmond, kurz darauf.
Erstaunlicherweise war das Bild von Dorien, der sie hinter Gefängnisgittern anflehte, ihm aus der Patsche zu helfen, eine der schönsten Erinnerungen, die ihr an ihn geblieben war. Seine Berührung durch die Gitterstäbe. Seine sarkastische Zerknirschtheit. Es war ihre Hochzeitsnacht gewesen. Winter schluckte heftig, um den Kloß in ihrem Hals loszuwerden. Mehr als sechs Jahre – achtzehn sogar, wenn man die Zeit mitrechnete, die sie der Aufenthalt im Zeitstrom gekostet hatte – lag sein Tod nun zurück und allein der Anblick von Artemis‘ Zelle – es war nicht einmal dieselbe, in der Dorien damals gefangen gehalten worden war – trieb ihr die Tränen in die Augen.
Winter schloss kurz die Augen, um sich auf die vor ihr liegende Aufgabe zu konzentrieren. Als sie sie wieder öffnete, blickte Artemis Entreri sie durch die Gitterstäbe unverwandt an.
Winter schauderte.
Wenn die Augen die Fenster zur Seele waren, dann war Artemis‘ Seele eine kalte, blitzende Klinge. Er blickte nicht wie jemand, der mit magiesicheren Fesseln in einem von Faerûns sichersten Kerkern gefangen gehalten wurde und gerade mit einem mächtigen Zauber belegt worden war, der jeden hässlichen Gedanken, den er hegte, jedes teure Geheimnis, das er verbarg, aus der Finsternis reißen konnte. Er blickte vielmehr wie jemand, der wusste, dass seine gegenwärtige Situation das Resultat eines bedauernswerten Missgeschicks war, das er bald gerade biegen würde. Er hatte schon in vielen Kerkern gesessen, las Winter in seinen Gedanken, und keiner hatte ihn lange halten können, und wenn er erst hier raus war, würde er mit denen, die für sein Missgeschick verantwortlich waren, abrechnen.
Wir hätten ihn töten sollen.
Außer diesem beunruhigenden Blick hatte Artemis Entreri nichts Bemerkenswertes an sich. Er war klein und drahtig wie ein Luchs, das dunkle Haar kurzgeschoren und die Bartstoppeln getrimmt und an den Schläfen ergraut. Er muss etwa Mitte Vierzig sein, schätzte Winter, aber dann erinnerte sie sich, dass die Legende vom Stillen Tod von Calimhafen  schon seit weit mehr als dreißig Jahren die Schwertküste in Atem hielt. Sie las sein Geheimnis in seinen Gedanken – und es beunruhigte sie, denn es war auch ihr Geheimnis: Ein grauer, ungesunder Schleier lag über seinen Zügen – wie bei totkranken oder übermüdeten Menschen. Sie selbst sah unter den vielen Puderschichten, die sie täglich auftrug, nicht besser aus. Er verwandelt sich in einen Umbranten, genau wie ich – wenn auch aus anderen Gründen. Sie sah ein mächtiges Artefakt in seinen Gedanken, dem er viel Leid, aber auch den Umstand verdankte, dass er nicht alterte. Und einen Umbrantenfürsten, dem er eine Mischung aus widerwilligem Respekt und blankem Hass entgegenbrachte. Auf komplizierte Weise war er an diesen Mann gebunden.
Großartig, die Umbranten haben ihn an der Leine, noch ein Grund, warum wir ihn hätten umbringen sollen.
Leider hatte Hochfürst Methrammar, der auch Anführer der Silbernen Ritter war, auf Entreris Festnahme bestanden. Grimwardt hätte Winter den Kopf abgerissen, wenn sie vor Tausenden von Zeugen einen seiner engsten Verbündeten gegen Netheril brüskiert hätte, und sie konnte es sich nicht erlauben, ihren brüchigen Waffenstillstand schon wieder aufs Spiel zu setzen. So kam es, dass Artemis Entreri trotz seines Anschlags auf Faust noch lebte. Er wurde über zehn Ländergrenzen hinweg wegen unzähliger Morde, Entführungen und Diebstähle gesucht. Das bedeutete, dass sein Tod durch den Galgen zwar so gut wie sicher war, der Prozess aber ein politisches Tauziehen und ein bürokratischer Albtraum werden würde. Entreri würde vermutlich einen Weg finden, aus diesem Gefängnis auszubrechen, ehe auch nur der Gerichtstermin für die erste Anhörung feststand.
Drizzt hatte die Ansicht des Hochfürsten, Entreri leben zu lassen, zu Winters Überraschung geteilt. Hieß es nicht in den Legenden, dass die beiden Erzfeinde sich auf den Tod bekämpften? Die Gnadenlosigkeit, mit der Drizzt sich in der Arena selbst halbtot noch auf den Assassinen gestürzt hatte, ließ vermuten, dass nicht Barmherzigkeit dahinter steckte. Vielleicht brauchte er Entreri auf dieselbe Weise, wie Faust den Kampf gegen Drizzt gebraucht hatte. Drizzt und Faust waren nicht in Freundschaft auseinander gegangen. Der Drow war kein Mann vieler Worte – aber anders als in Oreme hatte es kein „Wir sehen uns wieder“-Handschütteln, kein „Du weißt, wo du mich finden kannst“-Zwinkern zum Abschied gegeben. Nachdem Grimwardt Drizzts Arm geheilt hatte, war er auf seine unauffällige Art einfach verschwunden. Faust schien es nichts auszumachen, dass Drizzt ihm den abgeschlagenen Arm übel nahm – seine Drizzt-Besessenheit war mit seinem Sieg über den Drow mit einem Schlag geheilt.
Sie durfte jetzt keinen Fehler machen. Der Zauber konnte ihr die ganze düstere Wahrheit über Artemis Entreri enthüllen, aber das würde ihr nur gelingen, wenn sie an den richtigen Strängen zog, die richtigen Fragen stellte.
„Warum wolltet Ihr Faust töten?“, begann sie.
„Ein Auftrag“, erwiderte Entreri knapp und ohne seinen durchdringenden Blick von ihr abzuwenden. So als sei sie diejenige, die hier ins Kreuzverhör genommen wurde.  
„Wer war der Auftraggeber?“
Kurzes Zögern.
„Brennus Tanthul.“
Winter las in seinen Gedanken, dass Entreri nur noch selten Mordaufträge annahm. Er war für Calimhafen das, was der Vampirfürst Orlak für Westtor gewesen war – er beherrschte die Stadt aus der Unterwelt. Für gewöhnlich hatte er es nicht mehr nötig, sich die Hände selbst schmutzig zu machen. Doch diesen Auftrag hatte er aus Prestigegründen angenommen. Sein Mittelsmann in Netheril hatte ihm drei Namen genannt: Grimwardt und Winter Fedaykin und Desmond „Faust“ MacLancastor. Statt einer Anzahlung hatte er ihm einen Freibrief ausgehändigt, der es ihm erlaubte, seine Geschäfte in Sembia auszudehnen – unterzeichnet und besiegelt von Brennus Tanthul. Entreri bezweifelte, dass tatsächlich der jüngste Sohn des Hochfürsten dahinter steckte, denn Brennus Tanthul war als Sonderling bekannt, der sich aus allen politischen Intrigen des Imperiums heraushielt. Aber wer es in Umbra wagen konnte, die Unterschrift eines Prinzen zu fälschen, hatte zweifellos die Macht, Entreri die Privilegien zu gewähren, die er sich in Sembia erhoffte.
Winter gab ihre Erkenntnisse telepathisch an Faust und Grimwardt weiter.
- Meint ihr, das waren die Verschwörer aus Eileanar?
- Vermutlich fürchten sie, dass wir ihrem Geheimnis dort unten auf die Schliche gekommen sein könnten,
vermutete Faust.
- Aber wieso nur wir drei? Was ist mit Drizzt, Drake und Miu. Die waren doch auch dabei.
- Die Umbranten hielten es wohl für überflüssig, Entreri weitere Anreize zu geben, Drizzt Do’Urden umzubringen,
meinte Grimwardt. Und Miu und Drake stellen keine Gefahr dar. Mius einziger Ehrgeiz besteht darin, Faust zu schützen, und Drake ist einfacher zu kaufen, als zu töten.
- Was nun? Was wollen wir noch von ihm wissen?
- Mal sehen, ob er irgendwas bei sich trug, das uns Anhaltspunkte …

Faust hatte angefangen, Entreris Taschen zu durchstöbern, und hielt abrupt inne. Stirnrunzelnd hielt er einen kleinen runden Gegenstand in die Höhle.
Drakes Glasauge.
Winter spürte für einen Augenblick, wie die Seelenkälte sie überkam – jene gefährlich kalte Ruhe, die sie schützend umgab, wenn sie um die fürchtete, die sie liebte. Dann verflog der Moment und wisch Erstaunen. Drake hatte sie und ihre Freunde unzählige Male erpresst, bedroht und belogen; er hatte sogar Scarlet entführt, als sie noch ein Kind gewesen war, ganz zu schweigen von seinen endlosen Sticheleien und schnöden Annäherungsversuchen. Trotzdem war sie erleichtert, als sie in Entreris Gedanken las, dass er noch lebte. Hatte Drake sich so verändert? Oder war sie es, die sich verändert hatte? Der Teil von ihr, über den sie lieber nicht nachdachte, verstand, dass Kaltherzigkeit dem Wahnsinn vorbeugte. Wenn sie erst begann, die Vorwürfe zuzulassen, die an ihr nagten, öffnete sie ein Fass ohne Boden. Wer war sie, Drake vorschreiben zu wollen, wie er sein Fass verschlossen halten sollte?
„Drake stand nicht auf Eurer Liste. Warum habt Ihr ihn angegriffen?“
„Ich brauchte Informationen und die Verhandlungen verliefen etwas schleppend.“
Zum ersten Mal gab Entreri den Hauch einer Gefühlsregung preis – Enttäuschung? Verärgerung? Neugierig folgte Winter dem Erinnerungsfaden etwa 35 Jahre in die Vergangenheit nach Calimhafen.

„Weißt du, wer ich bin?“, fragt Artemis.
Der Junge – Artemis schätzt ihn auf etwa 14 Jahre – zuckt teilnahmslos mit den Schultern und blickt nicht von seiner Arbeit auf, aber Artemis sieht, wie seine Hände zittern, während er die unterschiedlichen Tinkturen, Arzneimittel und Gewürzmischungen beschriftet und säuberlich in die Regale von Horins Apothekenschrank räumt. Er lässt sich beim Schreiben viel Zeit und schreibt in großen, ungelenken Schriftzeichen. Vermutlich kann er noch nicht lange lesen und schreiben. Horin hat ihn erst vor ein paar Monaten von der Straße aufgelesen.
„Wie heißt du?“
„Ekard.“
„Und weiter?“
Der Junge lacht ihn aus, schaut aber immer noch nicht auf.
Ekard. Kein calimschitischer Name. Auch nicht tethyrisch. Vielleicht kommt er aus Amn oder sogar noch weiter aus dem Norden. Wer mit 14 Jahren so weit reist ohne ein Kupferstück in der Hosentasche muss vor irgendetwas auf der Flucht sein. Das ist gut. Macht ihn erpressbar.  
Artemis stützt sich auf die Theke und lehnt sich vor, bis sein Gesicht mit Ekards auf einer Höhe ist.
„Was kannst du mir über Marel Lyndwen sagen?“, fragt er leise.
Ekards erster Impuls ist Flucht. Aber als er den Stahl unter Artemis Kleidung aufblitzen sieht, überlegt er es sich anders. Jetzt hebt er doch den Kopf. Er pisst sich fast in die Hose, aber er hält seinem Blick trotzig stand, bemerkt Artemis anerkennend. Er weiß, die Harfnerin würde niemals einen unschuldigen Jungen in Gefahr bringen. Das ärgert ihn, denn es bedeutet, dass sie weiß, dass er Kindern niemals etwas zuleide tun würde. Berechenbarkeit kann in seinem Beruf den Strick bedeuten.
„Drei Silber“, sagt Ekard plötzlich.
„Was?“
„Sie zahlt mir drei Silber pro Information.“
Artemis lächelt und legt vier Silberstücke auf die Theke.
Ekard zuckt nicht mal mit der Wimper, als er das Geld nimmt.
„Ich sage ihr, in welche Tinkturen Horin Traumgras mengt und wann er sich mit den Kerlen aus der Hakengasse trifft. Und an wen er Schutzgeld bezahlt.“
Was du in deinem elitären Idealismus nicht bedacht hast, erklärt Artemis in Gedanken der jungen Frau, die jetzt tot und aufgeschwemmt in einem Hafenkanal schwimmt, ist, dass Treue ein Luxusgut ist, das einen gewissen Bildungsgrad voraussetzt. Oder Disziplinierung.
„Willst du dir einen richtigen Namen verdienen? Einen vollständigen?“, fragt Artemis den Jungen, einer spontanen Regung folgend.
Zum ersten Mal huscht so etwas wie ein Lächeln über das blasse Gesicht des Jungen.
Artemis lächelt zurück. Dann erstirbt sein Lachen, er schnellt vor, packt den Jungen im Genick und drückt ihn mit dem Gesicht auf die Tischplatte.
„Lektion Nummer eins“, zischt er. „Nur Ratten haben keine Ehre.“


„Als Lehrmeister habt Ihr offenbar versagt“, grinste Winter.
Ihre Augen blitzten vor Aufregung.
Oh, Drake … Jetzt bist du fällig.
„Erzählt mir alles, was Ihr über Drake wisst.“

Drake
Wenig später im Guteleuteviertel.
„Gib mir was von deinem Selbstgebrannten“, murmelte Drake und ließ sich ächzend am Tresen des Hammer und Helm nieder.
„Sicher, Mann?“, fragte der Wirt erstaunt.
„Na, mach schon.“
Yuris selbstgebrannter Schnaps eignete sich hervorragend, um die Wohnung eines unliebsamen Nachbarn anzuzünden. Zum Trinken war er dagegen nur zu empfehlen, wenn man das Ziel verfolgte, sich möglichst schnell schachmatt zu setzen und einen Dreck auf den Kater am nächsten Morgen gab. Drake bezweifelte, dass seine Kopfschmerzen noch schlimmer werden konnten, darum war er bereit, dem elenden Gesöff eine Chance zu geben.
Yuri wandte verlegen den Kopf ab, als er ihm den Schnaps einschenkte.
Drake betrachtete sich in dem Messingbecher. Sein Gesicht sah aus wie etwas, das Kinder sich als Spukmaske aufsetzten, um sich gegenseitig Angst einzujagen. Schwarz und höhnisch glotzte die leere Augenhöhle aus seinem Gesicht und die Blutschlieren, die eingetrocknet waren, während er bewusstlos in der Gasse gelegen hatte, in der Entreri ihn zurückgelassen hatte, malten ein schwarzes Spinnwebenmuster auf sein Gesicht.
Nur das Auge, dachte Drake.
Sein Lehrmeister hatte ihm nur das Glasauge herausgeschnitten. Wenn es ihm ums Plündern gegangen wäre, hätte er ihn bis auf die Knochen ausziehen können und wäre um einen ganzen Batzen Geld reicher gewesen. Aber er wollte ihn demütigen, deshalb hatte er sich mit dem Auge begnügt. Er hatte Drake gern als sein persönliches Experiment betrachtet und war dann enttäuscht gewesen, als das Resultat nicht ganz dem entsprach, was er sich erhofft hatte. Drake hielt von Entreris verworrenem Ehrenkodex ebenso wenig wie von der eisernen Disziplin, die er propagierte. Trotzdem hatte sein Lehrmeister in dieser Sache vermutlich recht – er hatte sich hier in etwas verrannt, das eine Nummer zu groß für ihn war.  
Es dauerte nicht lang, bis Faust und Winter ihn im Hammer und Helm aufspürten. Er brauchte nicht zu fragen, wie der Kampf ausgegangen war. Das ehrfürchtige Schweigen, das abrupt einsetzte, als Faust durch die Tür protzte, war Auskunft genug. Im nächsten Moment hatte er Fausts Eisenklaue im Rücken – es war die Art von Schulterklopfen, die leicht in einem Genickbruch enden konnte.
„Hast du mich vermisst, Arschloch?“, fragte Faust grantig, während er sich neben ihm niederließ. Dann ließ er Drakes Glasauge, das er wie einen ekligen Käfer mit zwei Fingern hielt, in seinen Becher plumpsen.
„Danke fürs Desinfizieren“, sagte Drake säuerlich, während er das Auge aus dem Schnaps fischte.
„1.000 Gold für Informationen über mich, ist das dein Ernst?“
„Hätte dich für weniger verraten, wenn ich nicht einen Ruf zu verlieren hätte.“
Dabei dachte er: Scheiße, also haben sie ihn erwischt. Ihm wurde ganz mulmig, wenn er sich vor Augen führte, was Entreri noch alles ausgeplaudert haben könnte.
„Warum wolltest du Grim und mich nicht verraten?“, fragte Winter, die sich auf seiner anderen Seite niedergelassen hatte, mit ernstem Gesicht.
„Vorrübergehende Unzurechnungsfähigkeit, kommt nicht wieder vor“, murmelte er. Er wandte sich ab, denn er wollte nicht, dass sie zusah, während er sich sein Glasauge wieder einsetzte.
„Ernsthaft, Drake!“ Winter packte ihn an der Schulter und zwang ihn, ihr in die Augen zu sehen. „Es lief doch ganz gut! Heißt das, dass wir uns wieder ständig umschauen müssen, aus Angst, dass du uns gerade einen Dolch in den Rücken rammst?!“
Ich habe einem Typen, der mich praktisch in der Hand hält, nicht eher gegeben, was er über dich wissen wollte, ehe er mir ein Auge ausgerissen und mir einen Scheißdolch an die Kehle gesetzt hat, was glaubst du wohl, warum?, hätte er ihr am liebsten wütend entgegen geschleudert. Stattdessen sah er sie nur lange ausdruckslos an. Dann kniff er sein Auge zusammen und wog lauernd den Kopf.
„Was würdest du mir geben, wenn ich dir versprechen würde, dir niemals in den Rücken zu fallen?“, fragte er herausfordernd.
„Drake, also wirklich, das ist jetzt echt nicht der richtige Zeitpunkt!“
„Glaubst du echt, du hast mit deinem Arschloch-Charme bei ihr eine Chance?“, fragte Faust trocken.
„Kannst du eigentlich irgendwann mal deine kolossale Fresse halten?!“, zischte Drake, dem jetzt endgültig der Geduldsfaden riss. „Hat dich irgendwer um deine Meinung gebeten oder warum glaubst du, zu allem deinen Senf abgeben zu müssen?“
„Hey, Mann, siehst du diesen Körper?“, erwiderte Faust mit geschwollener Brust. „Das ist ein Topf voller Senf!“
Dem war nichts mehr hinzuzufügen. Drake formte mit den Lippen ein „Was zur Hölle“, Winter kicherte belustigt vor sich hin und sogar Faust selbst kratzte sich ein wenig irritiert am Kopf.
„Mann, du hast so derbe einen an der Klatsche“, murmelte Drake schließlich, nahm einen Zug von Yuris Selbstgebrannten und verzog angewidert das Gesicht. „Lebt Entreri noch?“
„Der Hochfürst hat drauf bestanden“, murrte Winter. „Sag jetzt bloß nichts.“
„Hm.“  Wie nicht anders zu erwarten. „Und wie sehen die weiteren Pläne aus? Wollt ihr das Geheimnis von Eileanar lüften oder doch eher eine romantische Nacht bei Gerti Orelsdottr verbringen?“, fragte er zynisch.
„Niemand geht zu Gerti Orelsdottr“, schnaubte Winter verdrossen. Faust warf Drake einen vernichtenden Blick zu und Drake zeigte ihm in Gedanken den Mittelfinger.
Das ist dafür, dass du mir eben in die Parade gefahren bist, Senftopf!
Faust holte tief Luft.
„Winter, ich will dir dazu jetzt mal was sagen: Ich lebe jetzt schon seit einer ganzen Weile unfreiwillig abstinent. Wenn du eifersüchtig bist, brauchst du mich nur …“
„Ich bin nicht eifersüchtig, ich halte nur diese ganze Titanen-Geschichte für völligen Blödsinn!“
„Seit wann interessierst du dich für meine Forschungen?“
„Seit wann fällt ein Liebesbesuch bei Frostriesen in die Kategorie Forschung?!“
„Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass Titanen das Geheimnis kennen, wie man Götter …“
„Faust, ich höre mir diesen Mist nicht länger an!“, schnappte Winter. „Wenn du unbedingt zu dieser Gerti gehen willst, dann tue es! Ich halte dich sicher nicht auf!“
Und damit wirbelte sie eingeschnappt herum und verließ erhobenen Hauptes das Gasthaus.  
„Autsch“, grinste Drake.
Frustriert bestellte sich Faust ebenfalls einen Selbstgebrannten. Nach einem Becher fing er an zu fluchen, nach drei schien er vergessen zu haben, dass Drake ihm die ganze Sache eingebrockt hatte.
„Mann, ich verstehe sie echt nicht“, stöhnte er. „Was ist denn damals zwischen ihr und diesem Dorien gewesen, dass sie einfach nicht über den Kerl hinwegkommt?“
„Nichts, das ist ja der Punkt“, murmelte Drake. „Das Gute an Erinnerungen ist, dass du ihnen jede Gestalt geben kannst und sie dich nie enttäuschen.“
Faust trank seinen vierten Becher in einem Zug.
„Mist“, sagte er und rülpste. „Ich habe heute Drizzt Do’Urden besiegt. Ich sollte ein verdammtes Fest feiern, stattdessen sitze ich hier in dieser Söldnerabsteige, trinke das schlechteste Gebräu, das mir je die Kehle verbrannt hat, und rede mit dir über einen Typen, der seit fast zwanzig Jahren tot ist.“
„Tja, scheiße gelaufen, Senftopf.“
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 29. Oktober 2013, 23:04:50
Das war schön! Ein sehr unterhaltsames Kapitel! Musste sofort wieder an die ganzen Momente am Spielabend denken! Das ist eh das beste an der ganzen Geschichte, dass jedes Kapitel einen wieder zurückversetzt an den jeweiligen schönen Abend! :)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 25. November 2013, 19:21:34
Na, was passiert denn derzeit auf dem Papier so? Freue mich auf das Duell zwischen Kelemvor und Tempus ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 04. Dezember 2013, 16:42:47
Der Kampf der Auserwählten kommt wohl erst im übernächsten Kapitel. Erstmal müsst ihr Rasilith entumbranisieren ...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 05. Dezember 2013, 22:12:15
Ist es zu fassen, dass ich dieses wunderbare Kapitel erst heute entdeckt und gelesen habe???
Versüßt mir den Abend :-)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 18. Dezember 2013, 05:35:54
Kapitel VI: Für das größere Wohl

Grimwardt
Schwerterteich bei Rabenklippe, drei Tage später.
„Wusstest du hiervon?“, murmelte Winter an Faust gewandt, während die Freunde durch das Labyrinth der Katakomben irrten, das sich unter dem Anwesen der Neun Schwerter erstreckte. Sie waren nur zu dritt. Miu war seit ein paar Tagen nur noch zum Schlafen in Fausts und Winters gemeinsamer Wohnung in Silbrigmond aufgetaucht und Drake hatte es wohl für das Beste gehalten, nach seinem unliebsamen Wiedersehen mit seinem alten Mentor vorerst unterzutauchen.
„Naja, die Schwerter führt es auf ihren Missionen zu den unterschiedlichsten Orten in ganz Toril“, hallte Fausts Stimme von den Wänden wider. „Ich dachte mir schon, dass das Portal zum Tempel der Vier Winde in Shou-Lung nicht das einzige ist. Aber ich hatte keine Ahnung, dass Omega einen ganzen Unterreich-Bezirk gepachtet hat … Hey, Pranke, hiergeblieben!“
Doch der sonst so folgsame Tigergefährte ihres Freundes Nimoroth schien irgendetwas zu wittern. Fluchend rannten die drei ihm nach, als er davon preschte. Nach drei Wegkreuzungen erreichten sie einen Gefängnistrakt. Die Zellen waren leer – alle bis auf eine. Nimoroths Säbel und sein Bündel lagen ordentlich verstaut in einer Ecke. Auf einer Pritsche saß eine steinerne Elfenstatue. Mit aufgerissenen Steinaugen starrte der Druide seinen Freunden entgegen.
„Bei Veiros‘ Ungestüm, der Tiger hatte Recht“, murmelte Grimwardt. „Nerûl, Pranke weg, du brichst ihm noch irgendwas.“
Winter hatte schon zu einer Zauberformel angesetzt und kurz darauf erwachte die Statue keuchend zum Leben. Nun, da er wieder aus Fleisch und Blut war, tränkte sich Nimoroths Hemd mit Blut.
„Junge, wer hat dich denn so zugerichtet“, grummelte Grimwardt, während er den Freund heilte.
„Das war dieser Avariel …“ Der Waldelf blinzelte dankbar von einem zum anderen. „Ich bin wohl ziemlich aus der Übung gekommen“, bemerkte er zerknirscht. „Hat Nerûl euch gerufen?“
„Kalith hat uns gebeten, nach dir zu suchen“, erwiderte Winter. „Du warst seit ein paar Tagen verschwunden und der Tiger begann, sich Sorgen zu machen. Ein Druide, der ihn befragte, fand heraus, dass du zu den Neun Schwertern aufgebrochen warst.“
Nimoroth nickte.
„Ich hatte Nerûl gebeten, Alarm zu schlagen, wenn ich länger verschwunden bleibe.“ Er tätschelte seinem treuen Gefährten den Kopf.
„Klingt, als hättest du schon mit Ärger gerechnet“, bemerkte Grimwardt. „Was war los?“
„Ich weiß, ihr vertraut diesem Avariel, aber ich habe nicht vergessen, was er in Immerschwinge angerichtet hat; eine Vorsichtsmaßnahme schien mir nur sinnvoll. Er bat mich in einem Brief um ein Treffen; meinte, es ginge um Winter …“
Er suchte Winters Blick, offenbar unschlüssig, wie viel er preisgeben durfte.
„Um ihre Seelensucht“, brummte der Priester unverblümt.
Nimoroth nickte, doch seine dunklen Augen verrieten nicht, was er dachte.
„Ich habe in der Vergangenheit immer wieder Veränderungen beobachtet, die mir Anlass zur Sorge gegeben haben. Also willigte ich ein. Da es Elijas nicht gestattet ist, Myth Drannor zu betreten, kam ich hierher. Er erzählte mir von dem Ritual des Kelemvor-Priesters.“
Winter hatte schuldbewusst den Blick gesenkt und puhle sich die Hornhaut von den Fingern.
„Ich verurteile dich nicht“, sagte der Elf leise.
Sie hob scheu den Blick.
„Damals nach der Sache mit den seelenlosen Geburten in den Vampirkrypten, als wir gegen Orlak versagt hatten und ich Kalith tot glaubte … Ich glaube, wenn mir damals jemand einen Ausweg angeboten hätte, mir wäre der Preis egal gewesen“, erklärte Nimoroth mit beklemmender Ehrlichkeit. „Du hast etwas Unverzeihliches getan, aber ich glaube, dass es noch nicht zu spät für dich ist, umzukehren. Und wenn du irgendwann dazu bereit bist, dann kann ich dir helfen, Winter. Ich hoffe, das weißt du.“
Tränen glitzerten in Winters Augen und zum ersten Mal hatte Grimwardt die vage Hoffnung, dass sie tatsächlich den Willen zur Umkehr aufbringen könnte. Aber vielleicht war das auch nur die Erinnerung an die alte Winter, die Nimoroth in ihm weckte.
Faust räusperte sich.
„Wann hat die Begegnung mit Elijas denn eine so blutige Wendung genommen?“
„Er wollte von mir wissen, wo Scarlet ist.“
„Was?“ Winter erstarrte. „Warum?“
„Das wollte er mir nicht sagen.“
„Du hast doch nicht …?“
„Natürlich nicht. Aber nachdem er mich niedergeschlagen hatte, hat er sich alles, was er wissen wollte, aus meinem Hirn gezogen“, murmelte Nimoroth bitter. „Keine Sorge, er wird nicht viel damit anfangen können. Laguna ist sehr vorsichtig geworden und gibt mir nur noch sehr vage Informationen. Ich weiß nur, dass das nächste Angriffsziel der Elah’ni eine Stadt in der südlichen Anauroch ist: Rasilith.“
„Wer sind die Elah’ni?“
„Das ist der Name, den die Sandfürsten ihrer neuen Anführerin gegeben haben. Sie ist eine Gesegnete der Elah, eines altnetherischen Aspektes der Mondgöttin Selûne, der von den Wüstenstämmen verehrt wird. Die Elah’ni ist zum Symbol des Widerstands gegen Netheril geworden. Sie hat die Bedinen geeint und sammelt eine Armee um sich.“
Winter sprang auf.
„Wir brechen noch heute auf“, entschied sie.
„Nicht so hastig“, knurrte Grimwardt.
„Dein Bruder hat Recht“, pflichtete Faust ihm bei. „Falls die Umbranten dort mit einem Angriff rechnen, sind sie womöglich bis an die Zähne bewaffnet – und du bist die einzige von uns, die in der Anauroch Magie wirken kann. Außerdem hängen vermutlich unsere Visagen da nach unserem Ausflug nach Eileanar und dem Tod des Zwillings an jeder Häuserwand. Ich bin zwar ein großer Freund der Draufhauen-und-später-fragen-Methode, aber in dem Fall ist das vielleicht nicht die beste Idee.“

Winter
Rasilith, Netheril, einen Tag darauf.   
Demütig hielt Winter den Kopf gesenkt, während Grimwardt mit den Wachen am Stadttor sprach, doch in ihr brodelte es. Sie kannte die Sprache nicht, doch das Alt-Illuskisch der Netherim klang anders. Vermutlich irgendein Wüstendialekt. Mit dem schwarz gefärbten Bart und der dunklen Gesichtscreme sah Grim tatsächlich aus wie ein hartgesottener Bedine, wie Winter, der die kosmetische Leitung ihrer Mission oblag, befriedigt feststellte. Dennoch ging ihr das alles zu langsam. Am liebsten hätte sie dieses elende Wüstenloch sofort dem Erdboden gleichgemacht, wenn sie nicht hätte befürchten müssen, auch Scarlet dabei zu begraben.
Plötzlich trat eine der Wachen vor und rief Faust etwas zu.
- Er will unsere Waffen, übersetzte Grimwardt. Ich habe gesagt, wir seien Reisende auf dem Weg nach Lundeth und wollten unseren Wasservorrat auffrischen.
- Unsere Waffen? Äh … schlechte Idee, bemerkte Faust mit einem Blick nach oben. Die aufgespießten Köpfe von zehn Männern, denen Geier die Augen ausgepickt hatten, starrten von ihren Pfählen blicklos auf sie herab. Was auch immer hier vorgefallen war, ihrer Magie und Waffen beraubt, wären ihre drei Begleiter Winter keine große Hilfe. Also setzte eilig zu einer Bezauberung an.
Kurz darauf betraten die Gefährten ungehindert die Stadt, während sich die beiden Soldaten verwirrt die pochenden Schädel rieben. Der Anblick der tristen Lehmbaracken, die rechts und links den staubigen Weg säumten, trug nicht dazu bei, Winters nagende Sorge zu zügeln. Auf dem Weg zum Marktplatz schlugen ihnen weder Feilschgezeter noch Tiergeschrei entgegen. Nur wenige vermummte Gestalten huschten von Zeit zu Zeit durch die staubigen Straßen, die Gesichter furchtsam zum Himmel gewandt, wo in regelmäßigen Abständen Veserab-Flugscharen die Stadt aus der Luft patrouillierten. Die schrillen Schreie der umbrantischen Reittiere waren der einzige Laut, der hin und wieder die hitzeschwangere Mittagsstille durchbrach.
Abgesehen von Hades‘ monotoner Litanei.
Sie hörten den Kelemvor-Priester, ehe sie ihn sahen. Mit unheilschwerer Stimme schien er Selbstgespräche zu führen wie ein besessener Eremit. Winter lief ein Schauer über den Rücken: Auf dem Marktplatz ragten, bewacht von vier Soldaten und einem umbrantischen Befehlshaber, zwei Kreuze wie finstere Mahnmale auf. Man hatte Elijas und Hades mit Eisennägeln an die hölzernen Pfähle genagelt. Der Avariel, dessen zerfetzte, sandschwere Flügel hinter ihm herabhingen wie Leichentücher, bot einen furchtbaren Anblick und nur der Umstand, dass die Geier sich noch nicht über ihn hergemacht hatten, ließ vermuten, dass noch ein Rest Leben in ihm steckte. Hades dagegen war nicht nur bei vollem Bewusstsein, sondern hielt seinen Peinigern mit staubtrockenen Lippen und blutunterlaufenen Geisteraugen einen Vortrag über ihre Verbrechen und die Qualen, die sie dafür in der Stadt der Seelen erwarteten. Schweißperlen glitzerten auf den Stirnen der Krieger, von denen einige unruhig von einem auf den anderen Fuß traten. Nur die Anwesenheit des Umbranten schien sie davon abzuhalten, so schnell sie konnten das Weite zu suchen, um dem schaurigen Urteil des Todespriesters zu entgehen. Ein leises Lächeln der Genugtuung ließ Winters Mundwinkel zucken, auch wenn sie nicht so sicher war, wer hier die größeren Qualen litt.
Die Gefährten taten es den Einheimischen gleich, die mit gesenkten Häuptern an der verstörenden Szene vorbeieilten. Erst in einer Seitengasse hielten sie inne.
„Tja “, bemerkte Winter mitleidslos. „Schätze, dann können wir wieder gehen?“
„Ist das dein Ernst?“, murmelte Faust.
„Mein voller Ernst“, entgegnete Winter finster. „Die beiden haben versucht mich umzubringen und jetzt bedrohen sie meine Tochter! Was erwartest du?“
„Du weißt doch gar nicht, was sie vorhaben. Komm schon, glaubst du wirklich, Hades könnte eine Erpressungsnummer durchziehen?“
„Er hätte mich umgebracht!“
Faust fuhr sich unschlüssig über den Hinterkopf, doch dann schüttelte er entschieden den Kopf.
„Tut mir leid, Winter, aber ich werde die beiden nicht da hängen lassen.“
„Außerdem sind wir in Bezug auf die Umbranten eine Verpflichtung eingegangen“, mahnte sie Grimwardt. „Diese Stadt hat keine ersichtliche strategische oder symbolische Bedeutung. Ich kann mir nicht vorstellen, was diese Elah’ni hier will und ich gehe nicht eher hier weg, ehe ich weiß, was da los war.“
„Schön, das lässt sich auch anders herausfinden“, schnaubte Winter.
Doch das war einfacher gesagt als getan. Die Einheimischen schlugen den Fremden furchtsam die Tür vor der Nase zu, sobald sie sich nach den Gekreuzigten oder der Elah’ni erkundigten. Schließlich stieß Winter auf eine junge Frau, die vor dem Haus die Wäsche ausklopfte. Sie warf den Männern einen misstrauischen Blick zu und eilte ins Haus, doch als Winter ihr folgte, legte sie keinen Einwand ein. Sie sagte etwas, das Winter nicht verstand.
„Tut mir leid, ich spreche Eure Sprache nicht.“
„Gehört Ihr zu den Sandfürsten?“
„Nein … Aber wir haben gehört, dass sie auf dem Weg nach Rasilith sind. Stimmt das?“
Die Bedine begann angespannt eine Portion Hirse im Mörser zu zerstampfen. Zwei kleine Jungen blickten scheu um die Ecke.
„Wenn, dann werden sie genauso scheitern wie der Schwarze Priester und der Racheengel.“
„Was ist mit ihnen passiert?“
„Sie kamen vor ein paar Tagen in die Stadt. Auf dem Marktplatz fand gerade eine Hinrichtung statt und der Henker verlas die Verbrechen der Verurteilten. Offiziell gibt es keine Rebellen in Rasilith, darum wurden sie wegen Diebstahls oder Ehebruchs hingerichtet. Auf einmal trat der Schwarze Priester vor und sagte: ‚Dieser Mann lügt‘. Sie stritten eine Weile und es endete damit, dass der Henker anstelle der Verurteilten seinen Kopf verlor. Der Schwarze Priester war ganz staubig von der Reise und der Engel hatte die Flügel unter seinem Umhang verborgen, aber in der Hitze des Gefechts erkannten die Umstehenden, dass sie Gesandte der Götter waren. Alle waren so voller Hoffnung. Die Rebellen stürmten die Sandfeste und verjagten diese Schattenhexe Zia Malith aus der Stadt. Aber schon am nächsten Tag kam sie wieder. Mit einer Armee von Dunkelmenschen und dem Sohn des Hexenkönigs, Prinz Melegaunt. Sie schlugen die Rebellion nieder und ließen die Anführer hinrichten. Seitdem hören sie Geier nicht mehr auf, über Rasilith zu kreisen.“
„Die Köpfe vor dem Tor?“
Die Frau nickte.
„Nur den Schwarzen Priester und den Engel haben sie ans Kreuz gehängt. Der Hexenprinz sagt, wenn sie wirklich von den Göttern kämen, dann würden sie am Kreuz nicht verdursten wie ein gewöhnlicher Dieb. Aber der Priester harrt schon seit gestern Morgen dort aus ohne einen Schluck Wasser und es kommen immer noch heilige Worte aus seinem Mund …“
Eher irre als heilig. Doch Winter verkniff sich die Erwiderung.
„Warum ist diese Stadt für die Umbranten so wichtig?“
Die Frau zuckte die Schultern.
„Für die Schattenhexer sind wir doch nicht besser als die Sandfürsten. Dabei war mein Stamm sogar bis aufs Blut mit den D’Tairig-Nomaden verfeindet, bis die Umbranten kamen, unsere Tempel entweihten und uns wie Sklaven behandelten.“
Mit dieser Erklärung wird Grim sich nicht zufrieden geben, dachte Winter seufzend. Und natürlich hatte sie recht. Kaum hatte er gehört, dass die Stadt seiner alten Feindin, Fürstin Zia, unterstand, stand sein Entschluss, die beiden Gekreuzigten zu befreien, fest.
„Faust knöpft sich den Befehlshaber vor, Winter hängt mit Eisenwacht diese beiden Volldeppen ab, die sich ohne Magie mit einem Tanthul angelegt haben, und den Rest halte ich in Schach. Die beiden haben bereits gegen Zia und diesen Melegaunt gekämpft und wissen, wie die Sandfeste verteidigt wird. Das sind wertvolle Informationen für die Rebellen.“
„Wann haben wir beschlossen, dass wir Scarlet unterstützen, statt sie von diesem Irrsinn abzuhalten?“, murrte Winter.
„Das habe ich beschlossen“, erwiderte Grimwardt schroff. „Just in diesem Moment.“
„Schon gut“, murmelte sie.
Aber wenn sich herausstellt, dass die beiden ein krummes Ding geplant haben, werden sie sich noch wünschen, sie wären an diesem Holzbalken verreckt, dachte sie düster.

Faust
Sternwald, Cormanthyr, kurz darauf.
„Langsam, Mann“, brummte Faust und hielt Elijas das Trinkhorn noch einmal hin, nachdem der Avariel den ersten Schluck wieder erbrochen hatte. Hustenkrämpfe schüttelten ihn, aber immerhin behielt er das Wasser diesmal bei sich. Nimoroth war ein wenig sparsam mit seinen Heilsprüchen gewesen und Faust konnte es dem Druiden kaum verübeln. Wie verabredet hatten sie sich nach ihrer Flucht aus Rasilith im Sternwald getroffen, wo Nimoroth gelegentlich Zeit mit seiner dryadischen Lebensgefährtin verbrachte.
„Ich glaube, ihr schuldet uns eine Erklärung.“ Winter trat mit verschränkten Armen auf die beiden Geretteten zu. „Was hattet ihr in dieser Stadt zu suchen?“
„Ich wüsste nicht, weshalb wir Euch Rechenschaft schuldig wären“, erklärte Hades und erhob sich mit beachtlicher Würde für einen Kerl, der nur einen Lendenschurz trug und dessen Füße und Hände aussahen wie Kohleklumpen. „Doch für Eure Rettung gebührt Euch Dank. Also wisst, dass wir die Stadt aufgesucht haben, um Eure Tochter Scarlet Fedaykin über Euren Zustand aufzuklären.“
Aufzuklären?“
„Da sie, wie mir zu Ohren gekommen ist, der emotionale Beweggrund für Eure Verfehlungen ist, schien uns der Gedanke vernünftig, dass sie am ehesten dazu in der Lage wäre, Euch umzustimmen, Eure abgebrochene Behandlung fortzusetzen.“
„Du meinst den Exorzismus, der mich umbringen würde“, schnaubte Winter. „Ich schätze, dein elfischer Kumpel hat dich nicht darüber aufgeklärt, dass er ihren Aufenthaltsort aus unserem Freund hier rausgeprügelt und ihn dann mundtot gemacht hat, hm?“
Der Richter streifte Elijas mit einem tadelnden Blick.
„Das war mir in der Tat nicht bekannt. Ich werde diese Anschuldigung prüfen und den Beschuldigten im Falle, dass ihr Wahrheitsgehalt nachgewiesen werden kann, seiner gerechten Strafe zuführen.“
Winter lachte verächtlich.
„Ihr seid echt ein großartiges Duo! Ich schätze, es ist juristisch unverfänglicher, wenn du nach vollendeten Tatsachen deinen Richter…stab schwingst oder welchen rituellen Hokuskokus ihr Kelemvorianer euch so einfallen lasst, statt vorher nachzufragen, was?“ Sie wandte sich an Elijas und ihre Smaragdaugen blitzten gefährlich. „Was hast du ihm noch verheimlicht? Was, wenn Scarlet nicht nach eurer Pfeife getanzt hätte? Hättest du ihr dann etwas angetan, um mich in den Selbstmord zu treiben?! Was bist du nur für ein elender Heuchler! Inwiefern ist das, was ich tue, anders als deine Verbrechen für das größere Wohl?“
„Für das größere …?“ Elijas stieß ein tonloses Lachen aus. „Du handelst doch nur aus Eigennutz! Und es ist grausam und falsch, jemandem das Leben zu nehmen, ja, aber es ist endgültig, seine Seele zu verdammen!“
Eine tödliche Spannung ließ Winters Stimme vibrieren.
„Ich frage dich noch mal: Was hattest du mit meiner Tochter vor?“
„Ich weiß es nicht.“
„Was wolltest du ihr antun?!“
Plötzlich schien die Luft um sie herum vor unterdrückter Magie zu knistern. Faust, der ihren Zornausbruch bisher mit einer Art widerwilliger Faszination beobachtet hatte – verdammt, war sie schön, wenn sie wütend war! –  begann nun ernsthaft um das Leben seines Freundes zu fürchten. Mit einem Räuspern legte er Winter den Arm auf die Schulter.
- Wir brauchen ihn noch, du erinnerst dich?
Sie fuhr wie elektrisiert zusammen und wandte sich mit einem frustrierten Schnauben ab.
- Kümmere du dich darum. Ich … muss hier weg.
Faust biss sich grübelnd auf die Lippen, während er ihr nachsah, wie sie fluchtartig zwischen den Bäumen verschwand. Dann wandte er sich seufzend an die beiden Übeltäter.
„Habt ihr nicht eine Kapelle wiederaufzubauen und Ersatz für zwei Ordensmitglieder zu suchen?“, fragte er grantig.
„Zephyra und Garek sind nach dem Tod ihrer Freundin aus dem Orden ausgetreten“, erklärte Elijas mit matter Stimme. „Und Nachtmond wurde immer schwieriger zu kontrollieren. Ich habe ihn schließlich in den Tiefen des Dschungels von Chult ausgesetzt, wo er hoffentlich niemandem etwas zuleide tut. Den Orden der Neun Schwerter gibt es nicht mehr.“
„Führungsschwäche, hm?“
Elijas sah ihn scharf an.
„Ich kann Omega nicht ersetzen und ich teile auch nicht ihre Unparteilichkeit.“ Fröstelnd schlang er die Flügel um den Körper und wandte den Blick zu Boden. „Ich wollte, um unserer Freundschaft willen, dass ich diese Sache einfach auf sich beruhen lassen könnte, aber das kann ich nicht, Faust. Freiheit ist wertvoller als Leben, das solltest du eigentlich am besten wissen, und die nimmt Winter ihren Opfern.“
„Was weißt du schon von der Freiheit unserer Seelen?“, murmelte Faust. „Ihr verändert euch nicht, wenn ihr nach Arvandor geht. Für euch mag der Tod eine Reise sein. Wir sind Baumaterial für irgendwelche göttlichen Reiche, was hat das mit Freiheit zu tun?“
„Mehr als die Reise nach Baator, die sie ihnen aufzwingt.“
Faust wollte erwidern, dass kein Pakt endgültig war, doch da wurde er von einer mentalen Botschaft abgelenkt.
- Es ist Scarlet!, erklärte Winter aufgeregt. Ich habe ihr eine magische Botschaft geschickt, um sie zu warnen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie mir antwortet, aber das hat sie!
- Aus der Anauroch? Ist sie jetzt unter die Schattenmagier gegangen?
- Ist doch unwichtig, sie hat mir ihren Standort verraten. Sie braucht unsere Hilfe.

„Tja …“ Faust rieb sich den pochenden Kopf – langsam nahmen diese telepathischen Übertragungen überhand. „Sieht so aus, als ob wir in den Krieg ziehen würden. Interesse, es dem Typen, der euch ans Kreuz genagelt hat, heimzuzahlen?“
„Einverstanden“, erklärte Hades nach kurzem Zögern. „Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass eine Kooperation meinerseits nicht als langfristige Aufgabe meiner ursprünglichen Motivation zu werten ist.“
„Sprich, wenn du kannst, wirst du Winter trotzdem ans Bein pissen, danke für den Hinweis“, sagte Faust lakonisch. „Nicht wörtlich nehmen“, fügte er schnell hinzu, als er sah, dass Hades zu einem Einwand ansetzte. „Was ist mit dir, Elijas?“
Der Avariel wirkte unschlüssig.
„Komm schon, du hast am eigenen Leib erlebt, wozu diese Typen imstande sind“, murmelte Faust und bot ihm seine Hand an. „Frieden?“
Elijas nickte zögernd und ließ sich von ihm aufhelfen. Doch irgendetwas in seinem Blick gefiel Faust ganz und gar nicht.

Winter
Südliche Anauroch, wenig später.
Zwei Schatten zogen über sie hinweg, als sie in der Wüste auftauchten. Die Flugtiere, die Winter zunächst für Veserabs hielt, erwiesen sich als riesige, sandfarbene Greifvögel, auf denen vermummte Sandkämpfer ritten. Offenbar wurden sie bereits erwartet, denn die beiden D‘Tairig gaben der sechsköpfigen Gruppe – Miu war auf Fausts telepathische Bitte wieder zu ihnen gestoßen – ein Zeichen, ihnen zu folgen. Die nächste Düne gab den Blick auf eine Zeltstadt frei, deren sandbedeckte Dächer sich so harmonisch in die Wüstenlandschaft einfügten, dass selbst die Veserab-Reiter das Lager nur aus nächster Nähe aufspüren konnten. Winter war erstaunt unter den Rebellen zahlreiche Kinder zu finden, die lachend herbeieilten, um das illustre Grüppchen zu bestaunen. Besonders Elijas‘ Federkleid und der Tiger Nerûl wurden zum Streichelobjekt einer Vielzahl neugieriger Kinderhände. Wehmut überkam Winter, als sie an ihren letzten Besuch bei den D’Tairig dachte, und plötzlich bekam sie vor Nervosität ganz nasse Hände. Sechs Jahre war es her, dass sie Scarlet zum letzten Mal gesehen hatte. Um sie nicht in Gefahr zu bringen, war sie all die Jahre auf Abstand geblieben. Scarlet hatte niemals versucht, sie zu finden. Sie hatte ihr nie verziehen, dass sie sie als Kind verlassen hatte. Und wie recht sie damit hatte – sie hätte niemals nach Westtor aufbrechen und ihre achtjährige Tochter im Stich lassen dürfen.
Dafür verdiene ich ihren Hass …
Die Sandadler-Reiter führten sie zu einem Pavillon, der dem Lager als Versammlungsort zu dienen schien. In Grüppchen standen Sandkämpfer beisammen, tranken, aßen, reinigten ihre Waffen oder beobachteten einfach nur das Geschehen. Eine zierliche junge Frau – eher noch ein Kind -, die mit ihrem kahlen, elfenbeinernen Schädel wirkte, als hätte sie noch nie einen Sonnenstrahl abbekommen, trat auf Winter und ihre Gefährten zu, umgeben von einem Gefolge aus Wüstenkämpfern und Elah-Priesterinnen in luftigen Silbergewändern. Enttäuscht stellte Winter fest, dass Scarlet nicht unter ihnen war. Nun, vielleicht war es besser so; ein Wiedersehen in aller Öffentlichkeit hätte ihre Tochter sicher bloß in Verlegenheit gebracht. Ein wenig neidisch beobachtete sie Nimoroth, der seinen Sohn Laguna mit einem ungezwungenen Handschlag begrüßte, als sei es das Normalste der Welt!
Plötzlich trat eine der Sandkämpferinnen vor und drückte Winter an sich. Ein herb-vertrauter Geruch nach Kaffee, Sand und Waffenfett umfing sie, der die Erinnerung an so viele bittersüße Träume wachrief, dass er ihre Beine in Butter verwandelte.
„Es ist schön, dich wiederzusehen, Mutter.“
Sprachlos stolperte sie einen Schritt zurück, um ihrer Tochter ins Gesicht zu blicken. Lächelte sie etwa? Es sah nicht einmal wie ein gestelltes oder gequältes Lächeln aus! Der Gedanke, dass sich Scarlet nach der langen Zeit verändert haben könnte, war ihr gar nicht in den Sinn gekommen! Dicht gesäte Sommersprossen ließen ihr Gesicht fast so braun wirken wie das der D‘Tairig und kleine Sonnenfältchen um die Augen verliehen ihr das herbe, wettergegerbte Aussehen einer viel älteren Frau. Doch als sie mit ihrem strahlenden Grübchenlächeln die Hände ihrer Mutter ergriff, war sie wieder das kleine Mädchen, das Winters Herz zum Schmelzen brachte.   
„Onkel Grim, Mutter: Darf ich euch die Elah’ni vorstellen, die Mondjungfrau der Elah.“
Als es Winter gelang, sich für einen Augenblick vom Anblick ihrer Tochter loszureißen, erkannte sie, dass das weißhäutige Mädchen blind war. Neblige Schlieren verschleierten ihre Augen wie Wolken einen blauen Himmel. Als sie die Hände der Blinden ergriff, bemerkte sie, dass ihr Umhang sein magisches Glimmen zurückgewann. Gleichzeitig überkam sie in der Gegenwart der Mondjungfrau ein sonderbares Gefühl der Feindseligkeit.
„Habt Ihr …? Wie könnt Ihr die Magie des Gewebes hier aufrecht erhalten?“, fragte sie verwirrt.
„Das Mondscheingewebe ist ein Geschenk der Elah“, erwiderte die Elah’ni mit einer dunklen, volltönenden Stimme, die in befremdlichem Kontrast zu ihrem puppenhaften Aussehen stand. Winter machte unwillkürlich einen Schritt zurück. Doch falls die Elah-Gesegnete ihre Affinität zum Schattengewebe spüren konnte, so wie sie die Gegenwart ihrer Mondgöttin wahrnahm, behielt sie es für sich. „Mein Volk ist ganz im Norden der Anauroch beheimatet, wo die Wüste in das Ewige Eismeer übergeht. Genau wir die Bedinen und die Umbranten sind wir Nachkommen der alten Netherim. Telamont Tanthul war nicht der einzige, der den Untergang Netherils voraussah und Vorkehrungen traf. Doch während er sich der Dunkelheit verschrieb, suchte die Gemeinschaft der Mondjünger die Hilfe von Shars silberner Schwester. Sie segnete einige wenige Auserwählte, die ihre Enklaven verließen und mit jenen, die bereit waren, mit ihnen ins Exil zu gehen, Zuflucht in der Ewigen Nacht des Eismeers suchten. In jeder Generation meines Stammes wird seither ein Kind geboren, dem Elah ihre Gunst schenkt. Ich bin eines von ihnen. Lange lebten wir abgeschnitten vom Rest der Welt, bis die Umbranten uns fanden. Bei einem Angriff auf unsere Heimat kamen die meisten von uns ums Leben und ich wurde nach Umbra verschleppt, wo Telamont mich gefangen hielt, um das Mondscheingewebe zu studieren. Doch ich konnte entkommen und schloss mich den Rebellen an, um mein Schicksal zu erfüllen und die Anauroch von der Tyrannei zu befreien…“
„Und damit wollt Ihr in Rasilith anfangen?“, wunderte sich Faust.
„Unter der Stadt liegt ein Knoten des magischen Gewebes. Ihr erinnert euch sicher an den wahnsinnigen Halbgott Volumvax. Er hat ihn vor vielen Jahren mit Schattenmaterie verunreinigt, um das Gewebe an dieser Stelle zu unterdrücken. In drei Tagen ist der nächste Vollmond. Unter dem Schutz Elahs ist meine Macht am größten und ich kann versuchen, den verunreinigten Knoten wiederherzustellen und das magische Monopol der Sharianer in der Anauroch zu brechen.“
„Also dort befindet sich der letzte Knoten …“, murmelte Winter. Viele Jahre war es her, dass sie Volumvax‘ Pläne, ganz Faerûn mit einer magietoten Zone zu überziehen, vereitelt hatten. Doch den letzten Schattenknoten hatten selbst die Sieben Schwestern nicht finden können. Fürstin Alustriel Silberhand hatte ihn unter dem See der Schatten vermutet, doch offenbar hatte sie falsch gelegen.   
„Aber zwischen uns und dem Knoten steht ein Prinz Umbras, der schlimmstenfalls die geballte Kriegsmacht Netherils gegen uns ins Feld führen wird“, sagte Scarlet. „Ich weiß, dass wir dem nicht gewachsen sind – darum bitte ich euch um eure Hilfe. Das Mondscheingewebe wirkt nur in unmittelbarer Umgebung der Elah’ni. Magisch können wir den Umbranten also kaum die Stirn bieten. Melegaunt verteidigt Rasilith mit knapp 150 Soldaten und Kriegsmagiern, die Hälfte davon Umbranten. Wir sind fast doppelt so viele, doch die Mehrzahl hat kaum militärische Erfahrung. Außerdem kommen auf fünf Veserab-Reiter nur zwei unserer Sandadler-Flieger. Und wir müssen schnell sein, damit Melegaunt keine Zeit bleibt, Unterstützung anzufordern.“
Sie hat sich wirklich verändert, dachte Winter versonnen.
Die starrsinnige jungen Frau, die sie vor sechs Jahren kennen gelernt hatte, hätte eher eine Niederlage in Kauf genommen als ihre Mutter, die „Schattenhexe“, um Hilfe zu bitten. Die Rebellen schienen ihr großen Respekt entgegen zu bringen. Fühlte sich so Mutterstolz an?
„Was meinst du, Mutter?“
„Hm?“, schreckte Winter aus ihren Gedanken auf. „Entschuldige, ich war … Was meintest du?“
„Deine Mutter neigt dazu, bei meinen militärischen Ausführungen wegzudämmern“, grummelte Grimwardt.
„Grim meint, du könntest unsere Leute mit Flug- und Unsichtbarkeitszaubern belegen, um das Veserab-Problem zu lösen und uns ungesehen in die Stadt zu bringen. Was meinst du, wie viele von uns könntest du auf diese Weise verzaubern?“
„Wie viele brauchst du?“

Grimwardt
Rasilith, drei Tage später.
„Jetzt!“
Auf Grimwardts Befehl schleuderte Winter einen Verdorren-Zauber auf das Dach der Sandfeste und schaltete die wenigen verbliebenen Bogenschützen aus. Wie erwartet hatte Melegaunt die meisten seiner Soldaten von der Sandfeste – die eigentlich nichts weiter war als eine Sandbarracke mit etwas dickeren Mauern – abgezogen, als die Rebellenarmee den Sturm auf das Nordtor der Stadt eröffnet hatte. Die 70 Sandkämpfer, die Winter darüber hinaus mit Unsichtbarkeits- und Flugzaubern ausgestattet hatte, waren dem Auge seiner Veserab-Späher entgangen. So hatten sie unbemerkt in die Stadt eindringen und die Sandfeste angreifen können. Im Augenblick lieferten sie sich vor den Toren des Komplexes ein wildes Luftgefecht mit den Veserab-Reitern. Gleichzeitig stürmte Grimwardts zehnköpfige Truppe das Dach. 
Meine Glaubensinvestition zahlt sich aus
, dachte er, während er seiner Schwester einen verstohlenen Blick zuwarf. Er hatte mit sich gehadert, doch nun bestand kein Zweifel mehr daran, dass Winter ein wichtiges Kriegsinstrument war, das womöglich über Sieg und Niederlage im aufziehenden Krieg gegen Netheril entscheiden konnte. Telamont fühlte sich zu sicher in seiner magiegeschützten Wüste, sonst hätte er Rasilith mit allen Mitteln verteidigt, die ihm zur Verfügung standen, statt lediglich den Entbehrlichsten seiner Söhne hierhin zu entsenden. Das war vielleicht seine einzige Schwäche – und Winter war Grimwardts großer Trumpf.
„Los! Faust und ich gehen vor, dann die Elah’ni. Nimoroth und Laguna zu ihrer Linken und Hades und Scarlet zu ihrer Rechten. Elijas und Miu bilden die Nachhut und Winter bezieht in der Luft Stellung. Der Schutz der Elah’ni hat oberste Priorität.“
Über eine Luke auf dem Dach der Baracke drangen sie in die Feste ein, von wo Hades ihnen den Weg zur Versammlungshalle wies. Dort angekommen, überraschten sie Prinz Melegaunt und Fürstin Zia bei einem bitteren Streit um die Verteidigung der Stadt. Unverzüglich bezogen sechs umbrantische Leibwächter um die beiden Adligen Stellung.
„Winter, die Bänke!“
Augenblicklich zerstoben die Holzbänke und Tische, die den Saal vereinnahmten, in einem Auflösungsgewitter. Unter Grimwardts Befehl wälzte sich die Gruppe wie ein Würfel aus neun Leibern auf die Gegner zu, denn nur als Einheit konnten sie sich in der magischen Zone des Mondscheingewebes bewegen, das sie wie ein Schutzschild umschloss. Die beiden Umbranten eröffneten das Feuer auf die Elah’ni, doch nicht einmal ein magisches Glimmen durchdrang das enge Korsett aus Schutz- und Heilzaubern, in das sie ihr wertvollstes Mitglied geschnürt hatten. Ein Bannzauber Winters zog Zia magisch bis auf die Knochen aus. Mit einem weiteren Zauber, der den sechsköpfigen Ring der Leibwächter lähmte, besiegelte sie das Schicksal der Verteidiger. Sprachloses Grauen stand der Sharianerin ins Gesicht geschrieben, als Grimwardt zwei der Wehrlosen achtlos aus dem Weg stieß und mit der Axt ausholte. Eilig setzte sie zu einer Teleportationsformel an, doch wieder war es Winter – diesmal mit einem Ankerstrahl –, die ihr einen Strich durch die Rechnung machte. Ambrosia drang tief in ihre Schulter ein. Zias Tod kam geradezu bedauernswert schnell. Für ihren Versuch, seine Abtei mit ihrem Schattengift zu verseuchen, hätte Grimwardt der Sharianerin gerne noch den einen oder anderen Tempus-Fluch auf ihre Reise auf die andere Seite mitgegeben. Im Gegensatz zu anderen Kirchen pflegte die Gemeinschaft des Feindhammers für solche Gelegenheiten eine ausgeprägte Fluchkultur …
Melegaunt schluckte schwer, als er sich dem Klingendickicht der Angreifer gegenüber sah und hob zaghaft die Hände. Ein kapitulierendes Lächeln begleitete die Geste. Der zweitjüngste Sohn des Hochprinzen von Umbra war eine sonderbare Erscheinung: Hochgewachsen und schlank mit schwer beringten Fingern, langem, schwarzen Seidenhaar, stark geschminkten Augen und einem bauchlangen Kinnbart, sah er aus wie die Kinderbuchversion eines charismatischen Illusionisten. Dabei hatte er bisher eher durch seinen untrüglichen Geschäftssinn und seine skandalösen Etablissements von sich reden gemacht, als durch irgendwelche arkanen Erfolge.
„Hm“, brummte Grimwardt. „Als Kriegsgefangener bringt Ihr uns sicher ein hübsches Sümmchen ein.“
„Ich würde nicht darauf zählen“, erwiderte der Prinz und senkte nüchtern den Blick, sodass ihm die Haare ins Gesicht fielen. „Mein Vater hat noch neun weitere Söhne, ich denke, er kann auf den einen verz…“
„Das ist ein Trick, er will abhauen!“
Zu spät. Der Magier hatte die Formel bereits gesprochen und Winters eilig gewirkter Anker prallte von seinen Schutzzaubern ab, als er sich dimensionswandelnd aus dem Staub machte.
„Naja“, murmelte Grimwardt. „Dann müssen wir uns wohl beeilen, bevor der Rest der Bande hier auftaucht. Wo ist nun dieser Knoten?“
„In meinen Visionen stand ich am Ufer eines unterirdischen Sees“, erwiderte die Elah’ni.
„Das muss der Somaj-See sein“, vermutete Elijas. „Von dort beziehen die Stadtbewohner ihr Wasser. Ich weiß, wie man dorthin gelangt. Hier entlang.“
 Sie folgten dem Avariel erst in die Katakomben der Sandfeste und dann ins Unterreich. Bereits nach wenigen Minuten erspähten sie eine im Fackellicht glitzernde Wasseroberfläche. Grimwardt konnte keine Verteidigungsmechanismen ausmachen, doch er war auf der Hut.
„Bringt mich in die Mitte des Sees“, sagte die Elah’ni.
Winter belegte die Gruppe mit einem Flugzauber, sodass sie ihren Schutzring um die Elah-Gesegnete nicht aufgeben mussten. Schwebend leitete die Elah’ni das Ritual ein, indem sie Silberstaub über der Wasseroberfläche verstreute. Ein gespenstisches Licht, das aus ihrem Innern zu kommen schien, pulsierte im Einklang mit ihrem Herzschlag, erst schwach, dann immer stärker, bis gleißende Lichtstrahlen aus ihren Augen brachen und einen wirbelnden Strudel in den See rissen. Geblendet hielt sich Grimwardt einen Arm vors Gesicht. Als er wieder hinsah, hatten die silbernen Strahlen in der Tiefe ein schwarzes Geschwür freigelegt, das sich unter dem Lichtzauber wand wie ein gefangenes Tier. Die Elah’ni war mit aufgerissenen Augen in der Luft erstarrt und ihr zierlicher Kinderleib, der wehrlos in der Umarmung der zuckenden Riesenqualle aus weißem Licht trieb, die den schwarzen Knoten mit ihren Fangarmen umfing, bot einen gespenstischen Anblick.
„Todesalben!“, rief jemand und als Grimwardt nach unten blickte, sah er, wie sich von der Oberfläche des aufgewühlten Teiches Geister lösten, die mit klagend aufgerissenen Mäulern und durchscheinenden Klauen auf die Gruppe zu waberten.
„Keine Alben!“, dröhnte Hades‘ tiefer Bass durch die Höhle. „Das sind Schatten der Leere. Hütet euch vor ihrer lähmenden Umarmung.“
Plötzlich war der ganze See von den Kreaturen erfüllt. Der Wechselreigen aus Schatten und Licht, den die Schatten und der Zauber tanzten, hinterließ eine wirre Folge flackernder Flecken auf Grimwardts Netzhaut, wie wenn man bei Sonnenschein durch eine schattige Baumallee rennt. Einer nach dem anderen zerstoben die Untoten an den Wellen göttlicher Energie, die Grimwardt durch seinen Körper fließen ließ, wann immer sie ihre gestaltlosen Klauen nach ihm ausstreckten. Doch seine Zauber konnten die Grenze des Mondscheingewebes nicht überwinden und immer mehr Kreaturen stoben aus der Tiefe. Irgendjemand schrie und er hörte ein Platschen. Dann spürte er einen eigenartigen Sog aus der Tiefe und erspähte, verzerrt durch das Schattenflackern, ein geschwürartiges Gebilde, das sich aus dem magischen Knoten gelöst hatte. Während die Schattenkugel sich langsam und zielstrebig auf die Elah’ni zubewegte, fraß sie alles Licht in ihrem Weg. Der Sog wurde stärker und Grimwardt registrierte, wie die Elah-Gesegnete in ihrem Kokon aus Licht zu schlingern begann. Doch bevor die Kugel sie erreichte, spürte er einen Flügelschlag. Er sah noch wie Elijas sich blitzschnell mit ausgebreiteten Schwingen zwischen die Elah’ni und das Schattengebilde schob, um sie abzuschirmen, und dann passierten mehrere Dinge zugleich: Neben ihm konnte sich Scarlet dem Ansturm der Schattengeister nicht mehr erwehren und wurde in die Tiefe gezogen, der Schattenball erreichte den Avariel und dann verschwand der See in einer gigantischen Lichtexplosion.
Das nächste, was Grimwardt spürte, war das kalte Nass des Sees. Wasser drang in seine Lungen und er versuchte panisch, die Orientierung zurückzugewinnen, ehe er merkte, dass das Wasser an dieser Stelle so seicht war, dass er hindurch waten konnte. Ein paar Schritte entfernt trieb Scarlet bewusstlos im Wasser. Eilig zog er sie in seine Arme und stapfte an Land.
„Geht es ihr gut?“
Atemlos landete Winter an seiner Seite. Statt zu antworten, sprach Grimwardt ein Heilgebet, das Scarlet das Wasser aus den Lungen presste. Der Zauber wirkte!
„Scheint geklappt zu haben“, brummte er. „Das Gewebe funktioniert wieder.“
Während seine Nichte hustend zu sich kam, versuchte er die Lage zu erfassen. Alle schienen es überstanden zu haben. Lagunas Arm hatte von der Schulter abwärts eine kränklich-gräuliche Färbung angenommen, doch Nimoroth schien die Sache im Griff zu haben. Auch der irre Avariel, der sich vor dieses lichtfressende Etwas geworfen hatte, hatte einige Federn gelassen, aber Miu und Faust kümmerten sich bereits um ihn, während Hades ins Wasser zurückgewatet war, um den kläglichen Rest der Schattengeister in Staub zu verwandeln. Der Schattenball und ein Großteil der Untoten hatten die Lichtexplosion nicht überstanden. Aber wo war …?
„Wo ist die Elah’ni?“
„Sie … ist tot“, murmelte Scarlet mit zittriger Stimme. „Das Ritual war zu mächtig für sie. Es hat sie umgebracht.“
Als sie sich aufrichtete, bemerkte er einen Gegenstand in ihren Händen, den sie fest umklammert hielt. War das das Glaubensamulett der Elah’ni? Woher hatte sie das?
„Onkel Grim, ich muss mit dir reden“, sagte sie ernst.
„Scarlet, du stehst unter Schock“, sagte Winter besorgt. „Du zitterst vor Kälte. Es tut mir leid, was mit deiner Freundin passiert ist. Vielleicht solltest du …“
„Das ist es nicht. Ich … Ich muss wirklich mit Grim reden. Allein. Bitte, Mutter.“
Grimwardt nickte seiner Schwester zu und sie zog sich widerwillig zurück.
„Was ist los?“, brummte er.
„Die Elah’ni … sie hat im Geist zu mir gesprochen, kurz bevor es geschah. Sie wusste, dass sie es nicht überleben würde und sie wollte, dass ich ihren Platz einnehme.“
„Das überrascht mich nicht“, erwiderte Grimwardt ehrlich. „Du genießt den Respekt der Sandfürsten, du bist eine hervorragende Kriegerin und du kommst von außerhalb, sodass nicht die Gefahr besteht, dass deine Ernennung eine neue Stammesfehde heraufbeschwört. Es gibt niemanden, der sich besser als Anführerin eignen würde.“
„Ja, vielleicht, es ist nur …“ Scarlet biss sich auf die Lippen – wie Winter, wenn sie ihm etwas Unbequemes zu sagen hatte. „Selûne – die Elah – ist der Grund, warum sie der Elah’ni gefolgt sind. Sie ist nicht einfach nur eine Anführerin. Als Auserwählte von Shars silberner Schwester steht sie für all das, was die Umbranten zu unterdrücken versuchen. Die Elah ist … ihre Legitimation für diesen Krieg.“
Grimwardts Gesichtszüge erstarrten, als er begriff, was Scarlet ihm zu sagen versuchte.
„Du willst konvertieren.“
„Ich verehre Tempus, aber seine Priesterin bin ich nicht um seinetwillen geworden, sondern weil ich werden wollte wie du.“ Sie lachte verlegen. „Ehrlich gesagt, ich stelle ihn mir sogar ein bisschen so vor wie dich.“
Weit gefehlt, dachte er nüchtern, als er sich an seine letzte Begegnung mit dem Feindhammer zurückerinnerte.
„Vielleicht führe ich diesen Krieg schon zu lange, um noch als Klerikerin statt als Politikerin zu denken“, seufzte Scarlet. „Für mich bist du Tempus. Wenn du mir davon abrätst, werde ich es nicht tun.“
Grimwardt sog hörbar die Luft ein und stemmte die Hände in die Hüften.
„Ich antworte dir jetzt als Auserwählter des Feindhammer, Scarlet, und nicht als dein Onkel“, sagte er mit eiserner, fast bedrohlicher Stimme. Als Kriegsherr wusste er, welche Entscheidung er zu treffen hatte, doch sie gefiel ihm ganz und gar nicht. „Ich rate, nein, ich befehle dir, dich von Tempus loszusagen. Es ist in seinem Sinne, dass du diesen Krieg führst. Doch du kannst ihn besser in Selûnes Namen führen als in seinem. Ohne sie wird es nicht zum Sturm auf Umbra kommen.“
Scarlet schluckte hart.
„Gut, wenn das dein … sein Wille ist“, murmelte sie.
Unsicher flackerte ihr Blick über sein Gesicht. Sie schien noch etwas sagen zu wollen. Grimwardt wusste nicht, was er antworten sollte, wenn sie ihn fragte, was er als ihr Onkel sagen, ob er ihre Entscheidung dann verdammen würde. Darum sagte er bestimmt: „Bitte Selûne nun um ihren Segen.“
Während Scarlet sich ans Ufer des Sees kniete, um im ersterbenden Licht des Knotenzaubers zur Silbernen Dame zu beten, schirmte Grimwardt seine Nichte grimmig gegen alle neugierigen Fragen ab. Nach einigen Minuten kam Laguna, der mit Faust an die Oberfläche zurückgekehrt war, um die Lage auszukundschaften, ohne seinen Begleiter zurück.
„Unsere Leute waren siegreich!“, rief der junge Halbelf aufgeregt. „Aber ohne die Elah’ni bricht da oben die Hölle los. Einige der Stadtbewohner haben das Dunkelmenschen-Viertel gestürmt und Männer, Frauen und Kinder auf die Straße getrieben. Wenn sie niemand aufhält, werden sie sie abschlachten wie Vieh. Faust versucht bereits zu … äh … vermitteln.“
„Mit der Faust oder mit dem Schwert?“, brummte Grimwardt. „Wer sind diese Dunkelmenschen?“
„So nennen die Bedinen die Menschen von der Schattenebene, die mit den Umbranten nach Rasilith gekommen sind und sich hier niedergelassen haben. Offenbar wollen sie ihnen all die Erniedrigungen heimzahlen, die sie unter der Herrschaft der Umbranten erdulden mussten. Schnell, wir müssen sie aufhalten!“
„Hiergeblieben, junger Mann. Die Mondjungfrau ist deine Vorgesetzte. Warte gefälligst auf ihre Befehle.“
„Aber die Elah’ni ist …“
Mit offenem Mund starrte er Scarlet an, die aus ihrem Gebet erwacht war und seinen Ausführungen stumm gelauscht hatte. Ein strahlendes Licht brannte in ihren Saphiraugen und eine Silbersträhne fiel ihr in die Stirn.
„Ach du …“, setzte Laguna an. Dann verzog er skeptisch die Mundwinkel. „Mondjungfrau, Scarlet, ernsthaft?!“
„Elah’ni“, berichtigte sie ihn kühl. „Lasst uns gehen.“
„Vielleicht solltest du aufhören, ihr schöne Augen zu machen“, raunte Grimwardt dem Halbelf zu, während er an ihm vorbeistapfte.
Laguna hatte nicht untertrieben. Sie fanden das Dunkelmenschen-Viertel in heller Aufregung vor und Fausts „Schlichtungstaktik“ trug nicht gerade dazu bei, die Situation zu entschärfen. Beherzt kletterte Scarlet auf einen umgekippten Holzkarren, um die Menschen zur Vernunft zu rufen. Als sich die Umstehenden tatsächlich zu ihr umwandten, war sie so erstaunt, dass sie das für einen Moment aus dem Konzept brachte. Ein wenig zögerlich begann sie ihre Rede. In einfachen Worten berichtete sie vom Opfer der Elah’ni und ihren letzten Worten und bat ihre Mitstreiter nicht dieselben Fehler zu begehen, wegen derer sie die Umbranten aus der Stadt verjagt hatten. Als mehr und mehr Rebellen innehielten, um ihr zuzuhören, kam sie immer mehr in Fahrt, bis ihre Worte vor Leidenschaft nur so strotzten. Am Ende merkte sogar Grimwardt, dass seine Mundwinkel vor Stolz ein wenig zuckten. Fast hätte man es für ein Lächeln halten können. Doch dann fielen ihm die erweiterten Pupillen der andächtigen Zuhörer auf. Stirnrunzelnd wandte er sich zu Winter um und wollte bereits zu einer Schimpftirade ansetzen. Doch der Anblick seiner Schwester, die sich vor Rührung mit feuchten Augen die Faust gegen die Lippen presste, dämpfte seinen Ärger. Mit verschränkten Armen stellte er sich neben sie. 
„Hat sich ganz schön gemacht, die Kleine, hm?“

Faust
Rasilith, einen Tag später. 
Elijas fuhr alarmiert von der Fensterbank auf, als die Tür der Baracke aufgerissen wurde und Faust ins Zimmer stürzte.
„Du hast doch nicht wirklich geglaubt, ich würde zulassen, dass du mit mir dieselbe Nummer durchziehst wie mit Nimi?“, fragte Winter, die mit verschränkten Armen an der Wand lehnte. Offenbar war sie noch immer nicht sonderlich gut auf den Avariel zu sprechen. „Du willst mit mir reden?! Hast du damit absichtlich gewartet, bis Grim die Stadt verlässt oder ist das bloß Zufall?“ Grimwardt und Scarlet waren am Morgen aufgebrochen, um in den Ländern, die an Netheril grenzten, um Unterstützung für die Sandfürsten zu werben, da jeden Augenblick mit einem Rückeroberungsversuch der Umbranten zu rechnen war. „Wenn du mir was zu sagen hast, kannst du’s auch vor Faust tun!“
 „Also schön“, murmelte Elijas und bewegte unbehaglich die Flügel. Offenbar machte Fausts Anwesenheit ihn tatsächlich nervös. „Ich denke, ich habe eine Lösung für dein Seelenproblem gefunden.“
Winter hob höhnisch die Brauen.
„Eine, mit der wir alle leben können?“
Der Avariel biss sich auf die Lippen.
„Ich will, dass du meine Seele trinkst.“
Stille.
Dann stieß Winter ein ungläubiges Lachen aus. 
„Ja – klar – das macht auch Sinn!“
„Jetzt drehst du völlig durch, oder?“, stöhne Faust. „Sind dir etwa die schwarzen Soglöcher ausgegangen, in die du dich stürzen kannst?“
Elijas hatte wohl mit dieser Reaktion gerechnet, denn er ließ sich davon nicht aus der Fassung bringen.
„Hört mir erst zu“, sagte er ruhig. „Als ihr Omegas Seele aus der Hölle gerettet habt und Hades sie wieder mit ihrem Körper vereint hat, da hast du sie gespürt, Winter, nicht wahr? Omegas Seele. Ich erinnere mich daran, dass du wie von Sinnen aus der Kapelle gestürzt bist. Glaub mir, mit Suchtverhalten kenne ich mich aus.“
„Worauf willst du hinaus?“
„Du hast ihre Macht gespürt – und zwar aus demselben Grund wie Mephisto. Weil du wie die Baatezu umso länger von einer Seele zehren kannst, je wertvoller sie ist. Es ist vor allem ihr Alter, das eine Seele mächtig macht. Ich bin fast 250 Jahre alt, das sollte reichen, um deinen Bedarf eine Weile zu decken.“
„Liebe Güte, du meinst das ernst …“, murmelte Winter betroffen.
Elijas senkte den Blick. „Was du vor ein paar Tagen gesagt hast, Winter, vielleicht hattest du damit recht. Vielleicht musstest du zu dem werden, was du bist, damit die Tyrannei der Tanthuls ein Ende findet. Wenn es dir damit ernst ist, wirst du meine Seele annehmen, denn ich verlange nur eines dafür: Dass du deiner Sucht nach diesem Krieg ein Ende bereitest. Egal mit welchen Mitteln.“
„Elijas, das ist doch völlig absurd!“
„Das ist kein Angebot, sondern ein Ultimatum, Winter“, erwiderte der Avariel sehr leise und die bedrohliche Kälte, die sich mit einem Mal in seine Stimme schlich, bereitete Faust Gänsehaut. „Ich habe dir die Wahrheit gesagt: Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn selbst Scarlet dich nicht zur Vernunft bringen kann. Aber ich bin davon überzeugt, dass die Verhinderung eines größeren Übels für das Wohl aller gelegentlich das Opfer eines Lebens aufwiegt.“ 
Oh, Elijas.
Winter erstarrte zur Salzsäule, während ihr Gesicht eine beängstigende Transformation durchlebte, die ihre Züge völlig in Schatten hüllte, als ob alle Emotionen gleichzeitig daraus entwischten. Faust ballte die Hände zu Fäusten und schloss angespannt die Augen. Im Augenblick war er nicht weit davon entfernt, Elijas für sein manipulatives Gerede eigenhändig seinen Todeswunsch zu erfüllen.
„Sag mal, kennst du eigentlich nur Extreme?!“, fuhr er ihn an. Nur mit Mühe widerstand er dem Drang, den Avariel am Kragen zu packen und diesen selbstzerstörerischen Kuhmist aus ihm herauszuprügeln. „Das ist doch keine Lösung! Niemand von uns würde es sich jemals verzeihen, wenn er zulassen würde, dass du für diese Scheiße deine Seele verdammst!“
„Erstens ist meine Seele ohnehin schon verdammt, weil mir als dhaerow der Weg nach Arvandor versperrt ist. Das Opfer wäre also vergleichsweise gering“, erwiderte Elijas mit einer analytischen Ernsthaftigkeit, die Faust sich fragen ließ, ob Hades vielleicht ansteckend war. „Und zweitens … Wenn jemand ein Anrecht auf meine Seele hat, dann seid ihr es. Ihr habt mich aus den Sandgruben gerettet. Ohne euch wäre ich … was? Ein Vampir unter der Kontrolle der Nachtmasken? Ich schulde euch einen Gefallen.“
„Einen Gef…?“ Faust rieb sich aufgebracht das Gesicht. „Elijas, es ist ein Gefallen, wenn du ‘ne Runde Met ausgibst – das ist kein Gefallen! Dafür haben wir dich nicht gerettet! Und was hindert dich daran, irgendeinem Menschengott zu huldigen, um deine Seele zu retten?“
„Was hindert dich daran? Du glaubst nicht an die Götter; ich glaube an Götter, die nicht an mich glauben. Diese Dinge lassen sich nicht erzwingen.“
Faust konnte nur fassungslos den Kopf schütteln.
„Ich mache es“, sagte Winter plötzlich tonlos in die Stille hinein.
„Oh Mann, Winter, das ist jetzt nicht dein Ernst, oder!“
- Hör nicht auf diese Ultimatumsscheiße! Das ist dieselbe Masche wie in den Sandgruben. Er sucht bloß nach einer Möglichkeit, sich auf eine Weise, die möglichst wenig nach Selbstmord aussieht, umzubringen.
- Ja, ich weiß, und ich bin es leid, ihn vor sich selbst zu retten.
- Gut, im Moment ist er nicht zurechnungsfähig, da gebe ich dir recht. Ich schlage ihn zusammen und wir sperren ihn irgendwo ein, bis diese Sache vorüber ist, einverstanden?
- Und wann ist sie vorüber, Faust? Er wird sich nie ändern.
- Winter, bitte!
- Nein, Faust, diesmal nicht.

„Gibt es noch irgendetwas, was du erledigen musst?“, wandte sie sich an Elijas.   
Der Avariel deutete ein Kopfschütteln an.
„Scheiße Mann, tu wenigstens noch irgendwas Schönes“, murmelte Faust. „Lass dich volllaufen. Such dir ein Mädchen … oder worauf auch immer du stehst. Flieg im Gleitflug über das Sonnenaufgangsgebirge. Irgendwas!“
Elijas hatte sichtlich Mühe, den Kloß runterzuschlucken, der ihm in der Kehle brannte. 
„Faust …“, murmelte er heiser und machte einen Schritt auf den Freund zu, doch Faust wich unwillkürlich zurück. Plötzlich war ihm übel und er hatte das Gefühl, es hier keinen Augenblick länger auszuhalten. Als ob ein Fluch auf den beiden lastete, der jede Sekunde, die er hier verweilte, auf ihn überspringen konnte. 
„Ihr seid beide nicht zu retten.“
Aber in diesen Abgrund folge ich euch nicht.
Die Hände wie zur Abwehr erhoben ging er zur Tür und knallte sie scheppernd hinter sich ins Schloss. Winter rief ihm irgendetwas nach, doch er wollte es nicht hören. Ohne sich noch einmal umzublicken, stapfte er davon.

Winter
Sonnenaufgangsgebirge, kurz darauf.
Ein eisiger Gebirgswind zerrte an seinem hüftlangen Kupferhaar und fuhr durch sein Federkleid, das wie Herbstlaub erzitterte, während er mit halb geöffneten Schwingen am Rande eines Steilhangs kniete und betete. Zu wem betete ein verstoßener Avariel?
250 Jahre, dachte Winter.
Es war sein Wunsch gewesen, hier zu sterben, in der Nähe seiner Heimat. Mehr als 200 Jahre seines Lebens hatte er in der Stadt der Gläsernen Gesänge verbracht. Wahrscheinlich fühlte sich die Ewigkeit nicht viel anders an. Kein Wunder, dass er sich in der Welt der Menschen nie ganz zurechtgefunden hatte. Es war so, als ob man einen Baum aus dem Gebirge in ein Gewächshaus verpflanzte.
Schließlich wandte er sich zu ihr um.
„Noch ist es nicht zu spät“, murmelte Winter. „Ein Wort von dir und wir sind zurück in der Wüste.“
Als Antwort zog er sein Schwert. Seelentrinker. Seltsame Ironie des Schicksals.
„Muss ich irgendwas beachten?“
„Es sollte …“ Sie räusperte sich, um das heisere Kratzen loszuwerden. „Es sollte nicht zu schnell gehen.“ Gab es irgendeine Möglichkeit, das nicht sadistisch klingen zu lassen? „Ich meine, sonst … sonst verflüchtigt sich die Seele zu schnell und ich kann sie nicht … einfangen.“ Da war das heisere Kratzen wieder.
Mit seinen fremdartigen grün-goldenen Elfenaugen sah er sie eine Weile ausdruckslos an und sie musste ihre ganze Willenskraft aufbringen, um seinem Blick standzuhalten. Wenn er ihr auf diese Weise das stumme Versprechen abringen wollte, nach seiner Seele niemals wieder eine andere anzurühren, hatte er erreicht, was er wollte. 
Warum musstest du mich auch so in die Enge treiben?
Schließlich kniete er sich hin, aufrecht und würdevoll, wie zum Ritterschlag. Mit geschlossenen Augen stieß er sich nach östlicher Tradition sein Schwert in die Brust – nur dass er sein Herz um einen Fingerbreit verfehlte, um es nicht zu schnell zu beenden. Winter fing ihn auf und bettete seinen Kopf an ihre Schulter, während er zitternd und ohne einen Laut sein Leben aushauchte. Als sein Blut den Schnee zu tränken begann und sie die ersten Takte seiner Seelenmelodie vernahm, spürte sie, wie ihr vor kalter Erregung Hände und Füße taub wurden. 
Und dann war es um sie geschehen.
Das nächste, woran sie sich später erinnerte, war, dass sie im Schnee kauerte und, vom nackten Grauen gepackt, auf ihre klauenhaft verkrampften Hände starrte.
Blutige Federn.
Zitternd bog sie die eisstarren Finger auseinander, um sie abzuschütteln. Doch sie waren überall. In fiebriger Panik schrubbte sie sich mit Händen voller Schnee über Handflächen und Arme, um die Federn und das Blut abzuwaschen. Aber ihre Hände zitterten sosehr und der Schnee hob sich wie eine höhnische Leinwand gegen ihr blutiges Werk ab.
Oh Mann, ich werde verrückt.
Tränen rollten ihr lawinenartig über die Wangen und gefroren an ihren Wimpern zu Eiskristallen und ihr war so schrecklich, schrecklich kalt.
F-faust, flüsterte sie in die Leere ihres Geistes hinein. Faust, komm her, ich brauche dich. Bitte!
Aber Faust antwortete nicht.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 18. Dezember 2013, 23:18:20
Obergrusel!!! :skull: :blink:
Und was für ein tolles vorweihnachtliches Geschenk, danke :-)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 19. Dezember 2013, 00:23:02
Wow! Was für ein emotionales Kapitel! Man mochte ich Elias... war so ein toller NSC... Hast ihn echt würdig verabschiedet! Man merkt, dass da einer von den großen gehen musste...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 19. Dezember 2013, 01:56:29
Oh ja, ich habe ihn auch geliebt. Das erste Abenteuer der Kampagne habe ich sogar ursprünglich geschrieben, weil ich seine Geschichte nicht so unvollendet lassen wollte. Er war vor seeeehr langer Zeit mal ein SC von mir und dann hatte er noch mal einen Cameo-NSC-Auftritt bei Thalas und da musste ich natürlich wissen, was er denn dieses Mal im Schilde führt und so entstand Stadt der Gläsernen Gesänge :)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nappo am 19. Dezember 2013, 08:24:52
*sniff*
ließt sich wiedermal sehr gut!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 26. Februar 2014, 19:34:51
Und, ist die Trauerzeit über Elias´Dahinscheiden überstanden? ;)
Hast vermutlich auch nicht viel Zeit, hm?
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 09. März 2014, 23:29:35
Ja, an Zeit mangelt es ein bisschen und es stehen gerade ein paar zähe Verhandlungen an (Talländer, Telamont in der Kerzenburg), die nicht gerade leicht von der Feder gehen ...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 07. Juni 2014, 01:35:23
oh...dieses warten... wie beim Lied von Eis und Feuer...
Macht Telamont in der Kerzenburg dich fertig? ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 14. Juni 2014, 03:11:54
Hm, ja, aber immerhin wisst ihr, wies ausgeht ;)
Mein Gedächtnis lässt mich dagegen inzwischen etwas im Stich und meine Aufzeichnungen sind auch ein weng kryptisch ... Aber die gute Nachricht ist: Es geht voran, wenn auch nicht besonders schnell ...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 15. Juni 2014, 01:22:58
Das ist auf jeden Fall gut! :)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 06. Oktober 2014, 00:57:44
Ja, ich mal wieder... muss immer wieder in manchen Situationen oder bei manchen Songs aus Passagen der Kampage denken und denk dann auch wieder an die Story :)
Schreibst du eigentlich nur am Stück, oder hast du auch schon spätere Teile fertig aber eben noch keine Brücke dazwischen?
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 08. Dezember 2014, 22:50:13
Tja, was soll ich sagen? Shame on me ...
Vergessen habe ich die Schicksalsstreiter aber nicht, es geht weiter ... Alles Gute zum Geburtstag, Winter :)

Kapitel VII: Getrennte Wege

Faust
Hochmond, Hochtal, am nächsten Tag.

„Der magische Knoten regeneriert sich langsam – in wenigen Tagen dürfte die gesamte Anauroch wieder an das magische Gewebe angeschlossen sein. Die Silbermarken haben Truppen geschickt, um Rasilith zu sichern, und aus Cormyr und Myth Drannor erreichen uns täglich neue Ströme von Freiwilligen. Darunter ist auch ein elfischer Hochmagier, der die magische Abriegelung der Stadt in die Wege geleitet hat.“, schloss Faust seinen Bericht vor dem Rat der Talländer. Durch einen kurzen Blickwechsel mit Grimwardt vergewisserte er sich, dass er an alles Wesentliche gedacht hatte. Der Freund hatte ihm eingeschärft, auf unsachliche Ausschweifungen zu verzichten, und weil er wusste, wie wichtig Grim diese Provinzveranstaltung war, gab er sich alle Mühe. „Und damit übergebe ich das Wort wieder an den Schlachtenfürsten.“
Grimwardt, der neben ihm Platz genommen und die Präsentation genutzt hatte, um sich an dem üppigen Heldenmahl gütlich zu tun, das er beschworen hatte, um dem Kaffeekränzchen der zwölf Regenten ein wenig mehr Substanz zu verleihen, verschluckte sich bei Fausts letzten Worten an seiner Hähnchenkeule.
„Es gibt nur EINEN Schlachtenfürsten!“, hustete er.
„Kriegskanzler, meinte ich“, beeilte sich Faust, seinen Fuß aus dem Fettnäpfchen zu ziehen. „Kriegskanzler, Priestergeneral, Auserwählter des Feindhammers – bei all den Rängen kann man schon mal durcheinander kommen“, sagte er und erntete wohlwollendes Gelächter von den weniger militanten Talisern.
Erst recht, wenn man ständig von einer Flut fremder Gefühlsausbrüche überrumpelt wird, dachte er düster. Winter hatte ihn an ihren Plänen teilhaben lassen, in Rabenklippe ein monumentales Grabmal zu errichten – wohl eher für ihre Gewissensbisse als für Elijas. Fausts Schweigen kostete ihn einige Willenskraft. Leider musste er feststellen, dass eine talisische Ratssitzung als Ablenkung nicht viel taugte. Drei Stunden hatte er sich Berichte zu feldwirtschaftlichen Bepflanzungsplänen und Beschwerden über Marktrechtsverletzungen anhören müssen, bevor überhaupt die Sprache auf die „Unruhen in der Anauroch“ gekommen war. Frustriert ließ er seine Glücksmünze über die Fingerknöchel tanzen.
„Mit der Entsendung seiner Silbernen Ritter hat der Hochfürst von Silbrigmond de facto seine Bündnispartner Cormyr und den Elfenhof zu militärischem Beistand verpflichtet“, ergriff Grimwardt selbst das Wort. „Ein Krieg zwischen der Westallianz und Netheril ist nun nicht mehr aufzuhalten, denn Rasilith – oder vielmehr der Schattenknoten – ist der Kern des magischen Monopols der Tanthuls. Telamont kann es sich nicht erlauben, die Stadt an die Bedinen zu verlieren. Er wird versuchen, sie zurückzuerobern, bevor die Regneration des Gewebes Umbra erreicht. Ich selbst werde das Oberkommando über das Heer von Rasilith übernehmen. Die Talländer stehen nun vor der Entscheidung, welche Rolle sie in diesem Krieg spielen wollen. Mir ist bewusst, dass wir nicht die Truppenstärke haben, um eine Armee in die Anauroch zu entsenden – als aktive Kriegspartei würden wir zudem riskieren, in einen Zwei-Fronten-Krieg verwickelt zu werden, wenn das von Netheril kontrollierte Sembia in den Krieg eingreifen sollte. Ich schlage darum vor, unsere Truppen in den Grenzgebieten zu Netheril und Sembia zu verstärken und ein Handelsembargo gegen beide Länder zu verhängen.“
Betretene Blicke und unbehagliches Schweigen. Die talisische Geschichte war in Kriegsdingen kein unbeschriebenes Blatt. Offenbar war hier niemandem wohl dabei, die Schrecken der Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Ein Handzeichen aus den hinteren Reihen des Saals ließ einen Schatten über Grimwardts Gesicht huschen.
„Ja?“
Eine junge Priesterin in dunkelblauen Gewändern hatte sich erhoben: Lydia von Schattental, die kleine Abenteurerin, die dem Kriegskanzler in der Vergangenheit so viele Scherereien bereitet hatte.
„Ich verstehe nicht viel von Kriegsdingen, außer, dass sie sehr viel Geld und noch mehr Leben kosten“, setzte sie arglos an. Faust hätte ihr ihre Naivität fast abgekauft, wenn der Bürgerherr von Federtal, der ihr unablässig den Arm tätschelte, nicht bei ihrer wohlplatzierten Andeutung von Kriegsausgaben unruhig auf seinem Stuhl hin und her gerutscht wäre. „Aber haben die Sandfürsten nicht Netherils Souveränitätsrechte verletzt, als sie in dieser Wüstenstadt eingefallen sind? Sie liegt doch mitten in der Anauroch.“
„Rasilith ist eine Bedinenstadt, die sich Umbra ungefragt einverleibt hat“, erklärte Grimwardt schroff. „Die Sandfürsten haben nur ihr Eigentum zurückgefordert.“
„Rasilith – das ist ein alt-illuskischer Name, nicht wahr?“, gab die Shar-Priesterin zu bedenken. „Also war die Stadt bereits Teil des Imperiums, lange bevor die Bedinen kamen. Wurde sie nicht sogar von den Netherim gegründet?“
„Von den alten Netherim. Das ist über zehntausend Jahre her. Die Gründung dessen, was die Tanthuls das ‚Imperium von Netheril‘ nennen, war ein einziger Raubzug durch die Wüste.“
„So oder so ist die Legitimation für den Krieg, den Ihr uns da aufdrängt, mehr als fragwürdig“, ertönte eine blecherne Stimme. Der Sprecher war einer der drei Kaufmannsfürsten von Bogental, die ihre Gesichtern der Tradition nach hinter goldenen Tiermasken verborgen hielten. „Fast so fragwürdig wie die Grundlage Eurer Kriegskanzlerschaft.“
„Wenn Ihr hin und wieder etwas anderem Gehör schenken würdet als dem Klimpern sembianischer Münzen, die Bogentals Staatskassen so prall gefüllt halten, hätte Euch zu Ohren kommen können, dass ich meine Ernennung längst durch Bürgerwahlen habe bestätigen lassen, wie es das Gesetz von Essembra fordert“, schnaubte der Kriegskanzler.
Ein hohles Lachen ertönte hinter der Stiermaske.
„Gehören zu einer Wahl nicht mindestens zwei Kandidaten? Nun, wenn Ihr zur Urnengang mit solch kriegerischer Unterstützung erschienen seid wie heute, hätte ich es wohl auch nicht gewagt, Euch meine Stimme zu verweigern. Weniger Stahl und mehr Stoff und wer weiß, vielleicht wäre die Wahl anders ausgegangen …“
„Weniger Schwachsinn und mehr Schneid und Ihr bräuchtet Euch nicht hinter einer Bullenmaske zu verstecken“, murmelte Faust trotz Grimwardts warnender Blicke. Dieses scheinheilige Getue war ihm zuwider. Soweit er wusste, hatten die Drei Kaufmannsfürsten das Volk von Bogental noch nie um seine Meinung gefragt, also was sollte diese Farce?
„Wie auch immer Ihr an den Titel des Kriegskanzlers gekommen seid, durch ihn ist Euer Schicksal unwiderruflich mit dem der Talländer verknüpft. Für die Umbranten macht es keinen Unterschied, ob Ihr die Rebellen von Rasilith als Auserwählter des Tempus oder als Kriegskanzler von Schlachtental ins Feld führt. Mit Eurer Kriegstreiberei in der Anauroch bringt Ihr den Zorn Netherils über uns. Und wer soll uns beschützen, während Ihr diese Wüstenprovinz verteidigt?“
Damit hatte er offenbar einen empfindlichen Nerv getroffen. Aufgeregtes Stimmengewirr erhob sich unter den Regenten.
„RUHE!“, donnerte Grimwardt. Augenblicklich kehrte Stille ein. Der Auserwählte des Tempus schritt mit schwerem Tritt zwischen den Tischen entlang und ließ grimmige Blicke über die Anwesenden schweifen. „Reden wir nicht länger um den heißen Brei herum. Es ist ganz offensichtlich, dass einige der hier Versammelten nicht mehr imstande sind, für die Talländer zu sprechen. ICH stehe für einen Talisischen Rat ein, der nicht aus Furcht vor Netherils Macht den Missionierungsversuchen der Sharianer erliegt oder habgierig nach Sembias Handelsprivilegien schielt. Telamont braucht keinen weiteren Vorwand, um mit der Invasion der Talländer zu beginnen. Das hat er längst getan. All jene, die wie ich für ein Handelsembargo und für die Grenzschutzverstärkung sind, die mögen sich jetzt erheben.“
Der alte Ritterherr von Narbental und die Bürgerherrin von Misteltal waren die ersten, die sich erhoben. Nach und nach folgten die anderen Regenten, wenn auch zögerlicher. Am Ende saßen nur noch die Kaufmannsfürsten von Bogental und Baleira von Federtal auf ihren Plätzen.
Grimwardt nickte zufrieden in seinen Bart hinein.

Grimwardt
Rasilith, am Tag darauf.

„Ich habe es wirklich versucht!“
Als er eintrat, lief Scarlet aufgebracht in ihrem Zelt auf und ab. Fast wäre sie über die langen, seidenen Priestergewänder gestolpert, die an ihr noch so ungewohnt waren, und Strähnen ihrer roten Mähne lugten unter dem silbernen Kopftuch hervor. Mit einer unwirschen Handbewegung schickte sie die verschüchterte Elah-Novizin hinfort, die ihr im vergeblichen Versuch, ihre Frisur zu bezwingen, mit einer sichelförmigen Haarspange hinterher tapste.
„Ich habe versucht, mich damit abzufinden, dass meine Mutter eine Götzenanbeterin ist!“, schimpfte sie drauflos, kaum dass das Mädchen fort war. „Ich dachte, ich könnte damit leben, dass sie Shar ihre Gebete schenkt! Immerhin hat sie es für uns getan, für dich und mich, wegen dieser Vision. Aber Seelen, beim Feuersch…, äh ich meine, ach verflucht! Sieht sie denn nicht, was sie damit anrichtet? Die Clanführer werden uns beide steinigen, wenn dieser Richter seine Drohung wahrmacht und ihr Geheimnis an die große Glocke hängt! Blut ist Blut!“
„Hades hat also mit dir gesprochen“, schloss Grimwardt aus ihrer wirren Schimpftirade.
„Was hat sie sich dabei gedacht?“, wetterte Scarlet. „Dieser Avariel wird hier als Volksheld gefeiert. Dass niemand Fragen stellen würde, wenn er einfach verschwindet?“
„SCHLUSS JETZT!“, dröhnte Grimwardt. Verblüfft sank Scarlet auf einen Stuhl und sah verschüchtert zu ihm auf.
„Du weißt, deine Mutter würde alles für dich tun“, wies er sie zurecht. „Ein Wort von dir und sie würde auf Nimmerwiedersehen von hier verschwinden. Aber nicht sie steht jetzt hier, sondern ich. Also willst du mir weiter Moralpredigten halten oder sagst du  mir endlich, warum du nach mir hast rufen lassen?“
Beschämt grub sie die Sandalen in den Boden.
„Der Richter wird ernsthaft zum Problem“, sagte sie schließlich gedämpft. „Zum ersten Mal seit zehn Jahren haben wir eine reelle Chance gegen den Usurpator. Und wir … wir brauchen sie, wir brauchen euch – die Schicksalsstreiter.“ Sie sah niedergeschlagen zu ihm auf. „Kannst du ihn zum Schweigen bringen?“
Grimwardt stieß düster die Luft aus.
„Ich schätze, ich werde Hades lehren müssen, dass dies nicht die richtige Zeit ist, um Hetzreden zu schwingen.“
Er spürte Scarlets zaudernden Blick in seinem Rücken, als er sich auf den Weg zur Unterkunft des Kelemvor-Priesters machte, doch er teilte ihre Gewissensbisse nicht. So sehr er die Kaufmannsfürsten von Bogental verachten mochte, in einem hatten sie Recht: Als Kriegskanzler trug er nicht nur Verantwortung für seine Taten, sondern auch für das Bild, das der Rest der Welt von ihnen gewann. Dies wäre nicht der erste Krieg, der durch innere Zwistigkeiten verloren wurde. Und das Wort des Obersten Richters von Rabenklippe hatte Gewicht. Wenn Hades bereits damit gedroht hatte, Winter an den Pranger zu stellen, war Eile geboten.
Rasilith platzte aus allen Nähten. Mit dem Heer der Sandfürsten, den Silbernen Rittern und den Freiwilligen aus  den umliegenden Ländern beherbergte die Stadt nun fast das Vierfache ihrer Bevölkerung. Trotzdem hatte Hades eine Baracke ganz für sich allein – offenbar hatte er keine zwei Tage gebraucht, um seine Gastgeber aus dem Haus zu vergraulen. Ein Jüngling mit jenem beflissen-hysterischen Blick, der charakteristisch für jene bedauernswerten Geschöpfe war, die mehr Zeit mit Hades verbrachten, als ein gesunder Verstand ertrug, öffnete Grimwardt und ließ ihn wissen, dass „Meister Hades“ zurzeit keine Besuche empfing. Wo trieb der Richter bloß an jedem Ort so schnell einen Lakaien auf? Der Kriegskanzler trat an dem protestierenden Jungen vorbei und überraschte den „Hausherren“ beim Essen.
„Hades, auf ein Wort“, sagte er bestimmt. Unglückliche Wortwahl. „Es können auch mehrere Wörter werden“, schob er schnell nach, um dem unverbesserlichen Pedanten keine Vorlage für ein allzu kurzes Gespräch zu liefern.
„Ich muss Euch vertrösten, Kriegskanzler, in einer Viertelstunde bin ich mit dem Hochfürsten von Silbrigmond verabredet.“
Hades wischte den leeren Teller mit einem Brotrest blank. Kaum hatte er sich erhoben, war der unfreiwillige Knappe auch schon herbei, um seinem Herrn in die Rüstung zu helfen.
„Ich kann mir denken, worum es geht. Ihr beschädigt mein Kriegsinstrument und das kann ich nicht dulden.“
„Ich verstehe nicht.“
„Eine Diffamierung Winters zu diesem Zeitpunkt würde die Stellung der Elah’ni gefährden und könnte unsere Bündnispartner ins Wanken bringen. Einigkeit ist das erste Gebot im Krieg.“
„Ich diffamiere nicht, ich spreche die Wahrheit.“
Mit einem unterstreichenden Ruck rückte der Richter den Harnisch zurecht.
„Eure Wahrheit schadet meinem Krieg.“
„Es ist nicht meine Wahrheit. Wahrheit ist unparteiisch. Euer Krieg ist bedeutungslos verglichen mit der Häresie Eurer Schwester. Die göttliche Ordnung muss wiederhergestellt werden.“
„Mein bedeutungsloser Krieg dient dazu, einen Tyrannen zu stürzen“, knurrte Grimwardt.
„Es geht hier nicht um Gut und Böse, sondern um Recht und Unrecht.“
„Und nach welchem Recht wiegt Winters Schuld mehr als ihr Nutzen in diesem Krieg?“
„Nach dem Gesetz der Ewigen Seelen.“
„Darüber sollen Schwert und Axt entscheiden.“ Grimwardt sah keinen Sinn darin, das Unvermeidliche hinauszuzögern. „Hades, ich erwarte Euch in einer halben Stunde am Somaj-See.“
„Warum?“
Er riss sich seinen Panzerhandschuh von der Rechten und schleuderte ihn dem Unbelehrbaren vor die Füße.
„ICH FORDERE EUCH ZUM RICHTKAMPF“, donnerte er. „IST DAS DEUTLICH GENUG?“
Hades‘ Mundwinkel zuckten. Es schmeckte ihm nicht, dass ein Turniersieg über Wahrheit oder Unwahrheit entscheiden sollte, doch er konnte nichts dagegen tun, solange der Richtkampf von der Mehrzahl der Gerichte Faerûns als Rechtsmittel anerkannt wurde. Den Kelemvorianer schlug man am besten mit seinen eigenen Mitteln.
„Also gut.“ Er sah seinem Herausforderer in die Augen. „Aber ich bestehe auf einen anderen Austragungsort. Der Kampf soll auf dem Marktplatz stattfinden.“
Grimwardt schnaubte. Die Kehrseite seiner Taktik. Nach einem Richtsieg in aller Öffentlichkeit würde es niemand wagen, Hades‘ Worte in Zweifel zu ziehen – selbst, wenn sie sich gegen ein Mitglied der mächtigen Schicksalsstreiter richteten.
„Lassen wir die Münze entscheiden.“ Klimpernd zog er ein Goldstück hervor. „Kopf oder Zahl?“
Hades zog die Stirn in Falten.
„Sagt bloß, dafür gibt’s keine Richtlinie!“, frotzelte Grimwardt.
„Zeigt mir die Münze!“
„Ihr verletzt meine Ehre“, sagte er trocken und reichte ihm das Goldstück.
„Zahl“, sagte Hades.
Grimwardt warf die Münze. Zahl. Kopfschüttelnd sah er den Priester an.
„Zufall oder göttliche Eingebung?“, brummte er.
„Es ist eine gerade Zahl“, belehrte ihn Hades mit eiserner Miene. „Gerade ist gut.“
„Das solltet Ihr Euch auf Euren Umhang sticken lassen.“

Faust
Das Scheppern der Rüstungen und das Singen der Klingen waren bis an die Stadtgrenzen zu hören. Ansonsten war es in der ganzen Stadt so still, dass man den Sand wandern hören konnte. Auf den Stufen zur Sandfeste, auf den Dächern rund um den Marktplatz und auf der Wehrmauer tummelten sich die Zuschauer in gebanntem Schweigen. Jene, die dem Geschehen am nächsten standen, konnten spüren, wie jeder Hieb der beiden Kontrahenten bis tief in den Boden drang.
Wenn Krieg und Tod sich eine Schlacht liefern …, dachte Faust. Das klang wie der Anfang eines apokalyptischen Schauerreims. Der Auserwählte des Tempus und der Richter des Kelemvor waren so mit göttlicher Energie aufgeladen, dass sie die Gestalt ihrer Herren angenommen hatten. Und offenbar waren sie gleichermaßen entschlossen, die Redensart „unumstößlich im Glauben“ wörtlich zu nehmen. Die Sonne, die zu Beginn des Kampfes noch über dem Osttor gestanden hatte, brannte nun im Zenit auf den Markplatz und ließ ihnen den Schweiß in Strömen über die verbissenen Grimassen rinnen. Doch keiner von beiden hatte auch nur einen Fußbreit seiner Stellung abgetreten. Mit jedem Axthieb, jedem Schwertstreich stemmten sie die Füße fester in den Boden und der aufgepeitschte Sand hatte einen Ringwall um die beiden Unerschütterlichen geformt wie um einen Einschlagskrater.
Plötzlich tauchte Winter lautlos wie ein wandernder Dünenschatten neben Faust auf. Es gehörte nicht viel Kombinationsgeschick dazu, zu erkennen, dass sie auch diesmal die Ursache dieses epischen Scharmützels war. Er trug ihr die Sache mit Elijas immer noch nach – trotzdem musste er bei ihrem Anblick ein spontanes Glücksflattern unterdrücken. Immerhin konnte er die daraus resultierende Grimasse damit rechtfertigen, dass Hades gerade nach einem schmetternden Hieb in die Weichteile in die Knie gegangen war. Offenbar gab es doch einen Teil von ihm, der nicht aus Eisen war.
Oder doch nicht.
Grimwardt stieß einen unwilligen Laut zwischen Grunzen und Kampfgebrüll aus, als sein am Boden liegender Gegner schweratmend wieder auf die Beine kam. Der Tempus-Auserwählte war fraglos der zähere Kämpe, aber Hades‘ Sturheit war legendär. Zudem waren sich die beiden in ihrem Kampfstil und ihren Überzeugungen so ähnlich, dass es ihnen schwerfiel, den anderen zu überraschen. Wahrscheinlich sahen Kelemvor und Tempus in diesem Schauspiel eher eine Art waffenbrüderliche Stichelei als einen handfesten Glaubensstreit. Noch zweimal musste Grimwardt seinen Kontrahenten Sand schlucken lassen, ehe dieser besinnungslos liegenblieb.
Alles war still bis auf Grimwardts Schnaufen, als er seinen Blick über die Menge schweifen ließ, bis seine Augen an Scarlet hängenblieben.
Er hob die Axt, sodass sie wie ein Richtbeil über Hades‘ Nacken schwebte. Eine stumme Frage.
Scarlet zögerte nur kurz, dann schüttelte sie den Kopf.
Faust stieß scharf die Luft aus.
Wenn dein Bruder sich auf deine Seite schlägt, dann tut er’s richtig, wie?“ murmelte er an Winter gewandt.
„Er ist nicht auf meiner Seite; er hasst mich“, sagte sie sachlich. Ihr Blick war nachdenklich auf ihre Tochter gerichtet. „Ich sollte Hades‘ Erinnerung löschen, bevor er den nächsten Plan ausheckt, uns in die Quere zu kommen.“
„Ich habe letztens von einem Zauber gelesen, der den Körper eines Sterblichen unter der Erde einsperrt und seine Seele auf Eis legt.“ Faust verschränkte die Arme. „So eine Art Tod auf Zeit, bis der Zauberwirkende ihn wieder befreit. Xara könnte dir vermutlich eine entsprechende Schriftrolle besorgen. Danach tauchst du noch ein, zweimal in Verkleidung als Hades in Rasilith auf, murmelst irgendwas von einer dringlichen Ordensmission und die Sache sollte erst mal gegessen sein … Ich meine, es sei denn, du brauchst seelenmäßig noch einen Nachschlag.“
Den Seitenhieb konnte er sich nicht verkneifen, doch er bereute ihn sogleich, als er sah, wie Winters Kiefer zu mahlen begannen, als sie sich bemühte, ihre gerade erst zurückgewonnene Fassung zu wahren. Plötzlich kam er sich schäbig vor. Vielleicht war er auch nicht besser als diese Jämmerlinge von Maskenfürsten, die ihre Gesichter verbargen, sodass sie nicht die Verantwortung für ihre Entscheidungen tragen mussten. Mal ehrlich, was würde er schon dagegen tun, wenn Winter sich entschließen sollte, seinen gesamten Bekanntenkreis zu entseelen? Er sagte sich immer, dass sie diese Sache schon in den Griff bekommen würden, wenn die Tanthuls besiegt wären, wenn Scarlet in Sicherheit wäre, wenn sich Desayeus‘ Vision als Trug herausstellte …
Ziemlich viele Wenns.

Grimwardt
Am nächsten Abend.

Breitbeinig hatte sich Grimwardt vor dem umbrantischen Prinzen aufgebaut. Melegaunt Tanthul hatte Schweißperlen auf der Stirn, das lange Haar hing ihm strähnig in die Stirn und seine schweren Roben mussten ihn in der Hitze umbringen, die sich über den Tag in dem kleinen Nomadenzelt aufgestaut hatte. Er wirkte fehl am Platz, auf dem schlichten Schemel kauernd wie ein Büßer auf dem Beichtstuhl. Nachdem sich der Kriegskanzler das versiegelte Schreiben, das der Umbrant bei sich getragen hatte, zweimal sorgsam durchgelesen hatte, ließ er die Schriftrolle bedächtig sinken.
„Ein Sohn des Hochprinzen schleicht sich bei Nacht ins Heerlager der Bedinen. Ohne Gefolge. Ohne magischen Schutz … Die Wachen hätten Euch töten können, ohne zu wissen, wer Ihr seid, bevor überhaupt irgendjemand dieses Schreiben zu Gesicht bekommen hätte.“
 „Ich schätze, diese Möglichkeit hat mein Vater in Betracht gezogen, als er mich herschickte“, erwiderte der Netherprinz mit einem gequälten Lächeln.
„Ihr habt es verbockt, hm?“, erriet Faust. „Ihr konntet Rasilith nicht halten und jetzt lässt er Euch dafür den Kopf hinhalten.“
„Ich war 26, als ich den ersten Kreis der Magie meisterte, mein jüngerer Bruder war 5“, erwiderte Melegaunt bitter. „Ich schätze, was Rasilith angeht, habe ich den Erwartungen meines Vaters voll entsprochen.“
Faust lachte beinahe mitfühlend, aber Grimwardt war nicht bereit, Melegaunt die Schwarze-Schaf-der-Familie-Nummer so schnell abzukaufen. In dem Schreiben, das er bei sich trug, bat Hochprinz Telamont Tanthul höchstpersönlich „die Schicksalsstreiter“ noch in dieser Nacht um eine „Aussprache“ auf neutralem Territorium in der Kerzenburg. Weder die kurzfristige Einladung noch die Art ihrer Überbringung gefielen dem Kriegskanzler. Und Melegaunts Versagen als Verteidiger der Stadt verstärkte nur seine Not, gegenüber seinem Vater einen Erfolg vorzuweisen.
„Was garantiert uns, dass dies keine Falle ist?“, knurrte er und wedelte mit der Schriftrolle.
„Mein Vater ist ein Mann der Politik, kein Meuchelmörder.“
Winters höhnisches Schnauben quittierte Melegaunt mit einem herablassenden Stirnrunzeln. Er stand unter dem Einfluss eines Wahrheitszaubers. Wusste er tatsächlich nicht, wer ihnen Artemis Entreri auf den Hals gehetzt hatte?
Grimwardt musste zugeben, dass es ihn in den Fingern juckte, dem berüchtigten Schattenherrn gegenüber zu treten, den außerhalb der Stadt der Schatten kaum jemand je zu Gesicht bekam.
„Ich will mich darüber erst mit den anderen Heerführern beraten.“
„Er hat ausdrücklich verlangt, mit den Schicksalsstreitern zu sprechen.“
„Ich werde mich nicht zu geheimen Absprachen verführen lassen.“
„Das Treffen ist nicht geheim. Aber Telamont wird niemanden außer Euch empfangen.“
Grimwardt beriet sich kurz telepathisch mit den anderen beiden.
„Wir kommen mit Euch“, brummte er schließlich in seinen Bart hinein. „Aber Ihr zahlt für den Eintritt in die Kerzenburg.“
Wie sich herausstellte, als sie wenig später an der berühmten Bibliothek an der Schwertküste ankamen, erwartete man sie dort bereits. Melegaunt führte sie zu einer Nachtpforte, wo ihnen einer der Oghma-Mönche Einlass gewährte, ohne wie üblich eine teure „Leihgabe“ in Form eines Buchs im Wert von 1.000 Gold zu verlangen. Sie folgten dem Mönch durch das Labyrinth der Bücherhallen, bis sie an einer unscheinbaren Holztür ankamen. Nachdem Winter sie mit Schutzzaubern eingedeckt hatte, traten sie ein.
Kerzen brannten vereinzelt in dem Raum – einem einfachen Lesesaal –, doch ihr Licht wirkte kraftlos und verloren, als existiere es nur, um den tiefen Schatten, die in den Ecken lauerten, eine Leinwand zu bieten. Telamont Tanthul saß lesend an einem Pult. Als die Schicksalsstreiter eintraten, legte er das Buch beiseite – ohne Hast, aber auch ohne unhöfliche Verzögerung – und deutete auf die bereitstehenden Stühle. Der Hochprinz von Netheril war vor allem eines – alt. Unter der schwarzen Robe war er ausgemergelt und kahl und  tiefe Schatten zerfurchten sein langes, graues, faltiges Gesicht wie Risse ein altes Monument. Er trug keinen Schmuck bis auf einen Siegelring, keine Krone, kein Zepter, keine Symbole der Macht. Grimwardt hatte vor genug Thronen und Herrschern gestanden, um zu wissen, dass Diplomatie im Krieg eine Schlacht wie jede andere war, wo der Auftritt über Sieg und Niederlage entschied. Wenn Telamont sich entschlossen hatte, keine „Waffen“ mitzubringen, dann wollte er sie entweder täuschen oder Ihnen zeigen, dass er sie nicht brauchte. Grimwardt tippte auf Letzteres. Die Umwandlung zum Umbranten verlängerte das Leben eines Menschen, doch sie machte ihn nicht unsterblich. Telamont hätte den Untod wählen können wie Szass Tam oder sich in Illusionen hüllen können, die alle sichtbaren Zeichen des Alters verschleiern. Aber die Zurschaustellung seines Alters war eine Botschaft: Seht her, ich habe Karsus‘ Fall überlebt und den Niedergang des alten Imperiums und die Jahrtausende währende Diaspora meines Volkes. Die Jahre haben meinen Körper zerfurcht wie einen alten Baum, aber meinen Geist haben sie geschärft, den Geist, der sich noch an das Goldene Zeitalter von Netheril erinnert und nicht eher ruhen wird, bis es wieder erstrahlt.
Grimwardt war erleichtert, als er spürte, wie in ihm so etwas wie Respekt für den alten Tyrannen aufkeimte. Nichts war bedauerlicher als ein Feind, der den Stahl nicht wert war, der ihn richten sollte. Nachdem sie die üblichen Förmlichkeiten ausgetauscht hatten, kam Telamont gleich zur Sache.
„Man hat einen Angriff auf eine meiner Städte verübt.“ Der Blick der nebeltrüben Augen in den tiefen Höhlen war unverwandt auf Grimwardt gerichtet. „Es ist meine Pflicht, meine Bürger zu schützen und Rasilith zurückzuerobern. Viele werden in diesem Krieg sterben. Nicht Ihr. Nicht ich. Ihr denkt vermutlich, dass ich Tausende opfern würde, um Faerûn unter meinem Banner zu vereinen. Doch dieser Krieg nützt niemandem. Ich habe Netheril unter einem Glauben vereint und ich werde Faerûn unter diesem Glauben vereinen. Ich habe viele Tausend Jahre gewartet und wenn es mich weitere tausend Jahre kosten soll, bis die Menschen erkennen, dass die Stärke in der Einheit der Dunkelheit liegt, dann soll es so sein. Dies sind meine Forderungen: Die Sandfürsten und ihre Verbündeten ziehen sich aus Rasilith zurück und kommen für die Reparatur des magischen Knotens auf.“ Faust stieß ein empörtes Schnauben aus, das der Herr von Netheril ignorierte. „Die Stadt wird künftig von einem Rat regiert, der zu gleichen Teilen aus Bedinen und Netherim besteht. Die Bedingung: Alle Bedinen haben in Rasilith oder einer anderen Wüstenstadt sesshaft zu werden und die Sandfürsten müssen ihre Waffen abliefern und ihre Aktivitäten einstellen.“
„Das ist lächerlich“, bemerkte Faust. „Die Bedinen sollen zulassen, dass Ihr all diejenigen, die sich nicht zu Eurer Dunklen Göttin bekennen, wieder vom magischen Netz abschneidet und auch noch dafür bezahlen?  Vielleicht ist Eure Stadt nicht das einzige, das ein bisschen Erhellung gebrauchen könnte.“
Telamont Tanthul verzog keine Miene, als er Faust musterte.
„Für einen Mann Eurer Stellung seid Ihr offenbar schlecht geschult in diplomatischen Fragen, sonst wüsstet Ihr, dass Mangel an Respekt kein Zeichen von Mut ist.“
Wo er Recht hat, hat er Recht.
„Was mein Begleiter auf seine ungehobelte Art ausdrücken will“, brummte Grimwardt, „ist, dass die Bedinen in ihrer derzeitigen Situation einem solchen Handel niemals zustimmen werden.“
Was wollte Telamont mit diesem Angebot bezwecken? Ihm musste klar sein, dass seine Forderungen unrealistisch waren. Warum sollten sich die Bedinen auf einen solchen Kuhhandel einlassen, wenn sie die Unterstützung der Westallianz hatten? Hoffte er tatsächlich, einen Krieg abwenden zu können und zu seiner alten Taktik der schleichenden Unterwanderung zurückkehren zu können?
„Darum sollt Ihr es ihnen ja auch unterbreiten.“ Der Hochprinz sah Winter an. „Euch sollte am meisten daran gelegen sein, diesen Krieg zu verhindern mit Eurer Attentäterin von einer Tochter in der Schusslinie. Oder glaubt Ihr, ich hätte vergessen, wer für den Tod meines Sohnes Hadhrune verantwortlich ist?“
Grimwardt stutzte.
Hadhrune?, wunderte sich auch Faust. Das ist eine halbe Ewigkeit her. Was ist mit dem Zwilling, den ich in Eileanar geköpft habe? Entweder der Kerl kann nicht richtig zählen oder er weiß nicht, was unter seinem eigenen Dach passiert.
Womöglich ist die Intrige der Eileanar-Verschwörer gegen den Hochprinzen selbst gerichtet, mutmaßte Grimwardt. Er zögerte einen Moment, dann sagte er telepathisch: Wir sollten ihn aufklären.
Warum?,
wandte Winter ein. Was kümmert es uns, wenn seine Söhne ihn stürzen wollen.
Wir wissen nicht, was sie planen, hielt ihr Bruder dagegen.
Sehe das wie Winter, pflichtete Faust der Zauberin bei. Alles, was Umbra schwächt, stärkt uns.
Grimwardt verzog missmutig das Gesicht. In letzter Zeit wurde er nur allzu häufig überstimmt und sowohl Winters zynischer Pragmatismus als auch Fausts draufgängerische Brecheisen-Tour stießen ihm immer bitterer auf.
Wir. Sagen. Es ihm.
Grimwardts Kieferknochen mahlten. Er hatte lange genug tatenlos zugesehen, wie die beiden diesen Krieg zu ihrem persönlichen Schlachtfeld machten.
Wie du meinst.
Schulterzuckend wandte Faust sich an den Hochprinzen: „Vielleicht solltet Ihr Euren Blick statt in die Wüste einmal nach innen richten und Eure Söhne durchzählen.“
Telamont zog verärgert die Augenbrauen zusammen.
„Sofern Ihr Eure kryptischen Andeutungen nicht weiter ausführen wollt, darf ich diesen Einschub wohl als Desinteresse an unseren Verhandlungen werten.“
„Vielleicht könnte ich ausführlicher werden, wenn Ihr gewillt wäret, Euer Angebot ein wenig zu erweitern.“ Faust machte sich nicht einmal die Mühe, seinen Hohn zu kaschieren. Grimwardt konnte nur verdrossen den Kopf schütteln.
Telamonts Augen verengten sich zu Schlitzen.
„Ich glaube, Ihr missversteht meine Absicht“, sagte der Hochprinz schneidend und mit einer Kälte, die die Kerzen zum Flackern brachte und die Schatten noch tiefer in sein zerfurchtes Gesicht grub. „Ich bin kein Händler, der um ein Gut feilscht, sondern ein Bestohlener, der sein Eigentum zurückfordert. Nur dem Umstand, dass netherisches Blut durch ihre Adern fließt, haben die Bedinen es zu verdanken, dass sie nicht längst unter dem Wüstenstaub der Anauroch begraben liegen.“ Er erhob sich. „Ich erwarte Eure Antwort innerhalb von drei Tagen. Ansonsten werde ich entsprechende Schritte einleiten.“
Auf eine harsche Geste trat sein Sohn Melegaunt an seine Seite und setzte zu einer Teleportationsformel an. Das Gespräch war beendet. Kopfschüttelnd starrte Grimwardt auf die Stelle, an der er verschwunden war. Seine Zornader grub sich tief in seine Stirn. Winter und Faust schienen es nicht einmal zu bemerken, während sie ihre weiteren Schritte diskutierten, als hätten sie nicht soeben den mächtigsten Mann des westlichen Faerûns aufs Schändlichste beleidigt und jede Hoffnung auf eine diplomatische Lösung für diesen Konflikt in den Wind geschlagen. Ihre Worte rauschten an Grimwardt vorbei wie ferner Schlachtenlärm.
„ … hast recht. Wir sollten nicht zu den Sandkämpfern in die Anauroch zurückkehren und mit ihnen in den Krieg ziehen. Genau das erwartet Telmont doch. Gehen wir lieber dem Geheimnis von Eileanar auf den Grund“, drangen Fausts Worte schließlich zu ihm durch.
„Ohne mich.“
Grimwardts Worte drangen ganz tief aus dem Keller. Die beiden sahen ihn verwundert an.
„Ein General lässt seine Truppen nicht im Stich, erst recht kein Priestergeneral. Unsere Wege trennen sich hier.“
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 09. Dezember 2014, 01:20:30
Wow, das kam unerwartet, obwohl ich immer wieder überlegt habe, wie es wohl weitergeht! Aber das Warten hat sich ja gelohnt! Inhaltlich echt schwerer Stoff den du da in eine schöne Form gebracht hast! Gerade der Kampf der beiden Auserwählen war legendär! Da werden Erinnerungen wach! ...hab ja im Januar auch bald Geburtstag... ;)
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 09. Dezember 2014, 22:43:49
Oh was für ein wunderbares Geschenk   ::)
Ich denke immer wieder gern an diese Kampagne...und bin froh dass wir die Gelegenheit hatten, sie zu vollenden...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 14. August 2015, 20:06:16
Lang ists her, aber ich denk immer wieder an die alte Runde zurück... irgendwann muss ich glaub ich wieder nen Faust spielen, egal in welchem System. Ich habe die Theorie aufgestellt, dass Rollenspiel mehr ist, oder sein kann, als eine andere Rolle zu spielen. Wie Faust schon sagt "zwei Seelen wohnen ach in meiner Brust", doch ich glaube es sind eben noch mehr. In der realen Welt gibt es aber zumindest immer den Teil des eigenen Ichs, welcher eher bodenständig ist und ein "normales" Leben anstrebt und den Teil, welcher eben immer nach mehr strebt. Man kann aber nur dem einen Weg folgen, da sich beide gegenseitig mehr oder weniger ausschließen. Rollenspiel gibt einem die Möglichkeit dem anderen Ich seinen Lauf zu lassen, ihm ein alternatives Leben zu ermöglichen. Ich glaube Faust ist sozusagen mein rastloser Part, der nie zum Augenblick "verweile!" sagt. Ab und zu bricht der Gute auch so nochmal im wahren Leben aus einem raus, aber durch das Rollenspiel kann man ihn wirklich leben lassen. Wenn ich mit allen Prüfungen durch bin, werd ich die Geschichte nochmal ganz von Anfang an lesen, hab ich mir vorgenommen, da es sich anfühlt, als hätte wirklich ich diese Dinge erlebt und es einem wie ein Schwelgen in alten Erinnerungen vorkommt.

Denk also nicht wir würden nicht mehr auf weitere Kapitel warten! ;)
Hab nur leider im Moment echt viel um die Ohren...
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 20. Januar 2018, 21:58:07
 Schaue einen der diversen Teile aus Pirates of the Carribean und muss an euch, an uns denken
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 11. September 2023, 18:01:19
Muahahahaha...
da ich hier noch ein Ende brauche, habe ich mich dran gemacht mit dem Rest meiner Erinnerungen und ein paar Erfindungen und Sachen aus Meta-Gesprächen weiterzuschreiben. Natürlich nicht in der Qualität wie das Original, aber ich brauche ein Ende für die Reihe... und chat gpt hat leider nur Müll ausgespuckt...



Kapitel VIII: Schach

Winter
Irgendwo in Thay, drei Tage später
Eigentlich hätte sie damit rechnen müssen, doch als Grims Sturheit in die Schlacht zu ziehen plötzlich obsiegte, fühlte es sich dennoch an, als hätte man einen Teil von ihr plötzlich abgehackt. Sie kämpften nun nicht mehr gemeinsam. Faust und Winter hatten immer wieder auf ihn eingeredet und argumentiert, doch sie hätten genauso gut auf eine Statue von Tempus selbst einreden können.
Es stand fest: Grimwardt würde mit den Sandkämpfern in die Schlacht ziehen.
Weder Faust, noch Winter waren jedoch bekannt für ihr großes strategisches Können in der Schlacht. Doch Fausts Frust lieferte ihr einen Strohhalm, nach dem sie griff.
„Zum Kotzen, diese ganze Kriegsscheiße. Für Telamont ist das ganze doch nur ein Spiel, dass clevere Magier in ihren Elfenbeintürmen spielen. Und Grim spielt freiwillig den Bauern auf dem Schachbrett..."
Die Metapher verleitete Winter zu der Idee, entgegen ihrem Bauchgefühl den mächtigsten Magier von Thay zu kontaktieren. Sein Angebot bestand noch immer und so dauerte es nicht lange und Drake arrangierte ein Treffen. Diesmal ohne Grimwardt und somit mit sehr viel weniger Moral im Gepäck.
Der Duft der exotischen Gewürze, welche in der Küche des kleinen Gasthauses irgendwo im Nirgendwo Thays verwendet wurden, hätte Winter früher sicher ins Schwärmen gebracht, hätte sie den Moment mit Dorien verbracht und das Leben genossen. Doch scheinbar konnten auch Gerüche an Farbe verlieren und immer grauer werden, dachte sie melancholisch.
„Wie schön euch in meinen Landen willkommen heißen zu dürfen." Wie aus dem nichts stand Szass Tam in seiner unversehrten Wahlgestalt vor ihnen und setzte sich an den Tisch. „Ich kann euch nur empfehlen zum Essen zu bleiben, die Speisen hier sind ein wahrer Geheimtip." Lächelte er süffisant. Ob er wohl ihre Gedanken gelesen hatte?
Ziemlich sicher war nur, dass der Lich in seiner Planung den beiden bereits um einiges voraus war. Winter konnte die Methoden von Magiern noch nie wirklich nachvollziehen. Die wunderbare Komplexität der Magie auseinander zu nehmen und auswendig zu lernen, anstatt sie einfach zu spüren und fließen zu lassen, wäre nie ihr Weg gewesen. Doch die emotionslosen, weitreichenden Gedankengänge dieser Gruppe der Magieanwender hatten natürlich auch durchaus ihre Vorteile. Und darum brauchten sie ihn in diesem Spiel.
„Die Freude ist natürlich ganz auf unserer Seite, bla bla bla. Können wir jetzt Klartext reden?" brach es aus Faust hervor. „Es ist doch so, Wir können dich nicht leiden und du uns vermutlich auch nicht, aber das ist gerade ja auch scheiß egal. Telamont muss weg. Und das wollen wir alle. Nur wird uns dein magischer Firlefanz, den deine roten Magier an jeder Ecke verkaufen dabei nicht helfen."
„Viel mehr sind wir an eurer Erfahrung und eurem Wissen interessiert." rette Winter das Gespräch, bevor Faust den nächsten mächtigen Magier verärgern konnte. „Ihr habt schon zahllose Schlachten geschlagen und die meisten davon ohne selbst viel zu kämpfen. Einfach durch eure hervorragende Planung. Wie ihr schon sagtet: Ihr seid die Spieler, wir sind die Figuren in diesem Schachspiel. Welcher Zug könnte Telamont zu Fall bringen?"
Szass Tam lehnte sich in seinem Stuhl zurück und steckte sich in aller Ruhe eine Pfeife an. „Nun, ihr scheint euch ja dieser zugeschriebenen Rolle schon ganz gut gefügt zu haben. Das ist fast schon bedauerlich, bedenkt man das Feuer und die rohe Energie die in eurer Gruppe steckt. Aber ihr habt recht. Telamont wird euch immer zehn Schritte voraus sein, so lange ihr sein Spiel spielt. "
Faust probierte bereits das scharfe Chili, welches ihm gerade serviert wurde und sprach mit vollem Mund „Mag sein, aber vielleicht wissen wir einiges, was einige seiner Söhne gegen ihn und die anderen aushecken. So was können wir uns doch zu nutze machen? Ein kleiner Familienkrieg und wir haben die Typen nicht mehr als unser Problem."
Winter wartete gespannt auf die Reaktion und Antwort des Leichnams. „Ah, Intrigen. Auch sie gehören zu diesem Spiel und ein guter Spieler kann sie nutzen um seinen Gegner zu überraschen und sich einen Vorteil zu verschaffen." Er schaute den beiden mit seinem scharfsinnig schneidenden Blick in die Augen. „Aber ohne euch zu nahe treten zu wollen, das seid ihr nicht. Dieses Spiel zu spielen erfordert Jahrhunderte der Erfahrung und diese Zeit habt ihr nun einmal nicht."
Winter verschränkte die Arme „ Und jetzt kommt vermutlich der Teil bei dem wir EUCH diese wichtigen Informationen geben sollen, damit IHR sie in eurer Allwissenheit gegen Telamont einsetzen könnt?"
Szass Tam setzte ein gütiges Lächeln auf „Das wäre aber auch wirklich zu einfach, oder? Vielleicht würden mir eure Informationen nutzen." Er blies eine Rauchwolke aus „Wenn ich aktiv gegen ihn vorgehen würde. Doch Thay ist nicht im Krieg mit den Umbranten."
„Also willst du uns nicht helfen. Toll, danke für gar nichts. Keine Angst, ich bezahl mein Chili auch selber!" Faust wollte aufstehen, als die kalte Hand des Zulkirs sich auf seinen stählernen Arm legte.
"Ihr seid so überstürzt. Als ich sagte, welches Feuer in euch brennt, da meinte ich es ehrlich." Faust setzte sich wieder, trotz seiner Ungeduld. „Ihr werdet Telamont nie in seinem Spiel besiegen. Darum müsst ihr ein anderes Spiel daraus machen. Egal wie viele Züge man beim Schach bedacht hat, tauchen aus dem nichts mehrere Damen auf, was die Regeln nicht vorsehen, so nützt einem all sein Wissen über das Spiel gar nichts mehr und damit könnt ihr ihn bezwingen." Der Lich ließ seinen Worten ein wenig Zeit, auf seine Hörer zu wirken. Winter meldete sich als erste zu Wort.
„Ihr meint, wir tun etwas, womit er nicht rechnen kann? Aber, was sollte das sein?"
„Wisst ihr, ich plane auch gerne im voraus. Es verschafft mir Sicherheit und ich kann mich entspannt auf die nächste Situation einlassen, da es eine der vielen Situationen sein wird, die ich vorher bedacht habe. Und Plötzlich taucht eine Gruppe von Spielfiguren aus dem nichts auf, die schon lange aus dem Spiel genommen wurden." Er hatte Recht. Ihr Auftauchen aus dem Zeitstrom schien niemnd vorhergesehen zu haben. „Egal welchen Zug sie nun machen, er zerschießt alle vorher getroffenen Pläne. Euer Begleiter, der Kriegspriester, er ist zu durchschauen und Telamont wird das zu nutzen wissen. Aber ihr beiden..." Wieder musterte er Winter und Faust, als suche er etwas in ihnen, das sich versteckte „Ihr seid Chaos. Aber nicht das von der lästigen Sorte wie eine Fliege, die man erschlägt, sondern Chaos mit Macht. Nur das Undenkbare kann einen Denker zu Fall bringen. Das unaufhaltsame und gnadenlose Feuer das in euch brennt. Wenn ihr bereit seit es zu entfachen, mit dem Risiko oder der Gewissheit auch euch selbst damit auszulöschen und die Grenzen des Denkbaren zu verbrennen, dann besteht die Chance, dass Telamont all seine Pläne nichts mehr nützen." Winter und Faust tauschten Blicke aus. „Jedoch wisst ihr viel besser als ich, zu was eure Kraft euch treiben könnte, zu was ihr Fähig wäret, würdest ihr all euer Potential ausschöpfen. Darum ist das alles was ich euch bieten kann. Abgesehen von meinem magischen Firlefanz." So erhob sich Szass Tam und lächelte mit einer Mischung aus Neugier und Ermutigung und verabschiedete sich, wissend, dass sein Zug so verlief wie er es geplant hatte.


Faust
Silbrigmond, einige Tage später

Weil du das aufregendste Ergebnis versprichst... Deine Entscheidungen sind völlig unvorhersehbar ... Die Worte des Sarrukh schallten durch seinen Kopf, als er sich eine Pause von seinen Recherchen gönnte. Noch immer konnte er trotz aller Informationen, die er zu den Titanen zusammengetragen hatte keinen Anhaltspunkt finden, wie es ihnen möglich war die Götter zu töten.   Und doch klang bei dem Namen des ersten und letzten Titanen, Kronos, etwas in seinem Geist nach...
„Bist du so weit?" Winter riss ihn aus seinen Gedanken, als er sich selbst auf den manifesten Teil seiner Tattoowierung starrend ertappte. Er hatte inzwischen immer mehr feinheiten und Details des Wortes entziffern können und verstand einige der Zusammenhänge. Doch manches war ihm noch immer unklar.
„Wenn du es bist. Eileanar wird kein Spaziergang. So wie wir Karsus Zuhause verlassen haben dürfte dort nun alles zugewuchert sein von diesem Pilzmatsch."
„Ich schätze, das wird unser kleinstes Problem sein. Wir müssen damit rechnen, dass die Umbrantenprinzen wieder dort sind, aber diesmal haben wir weder Drizzt, noch Grim dabei. Und was genau uns im Allerheiligsten von Karsus selbst erwartet wissen wir auch noch nicht."
Faust runzelte die Stirn. „Mag sein, aber die Jungs haben ordentlich was auf die Fresse bekommen und nachdem Papa nun vermutlich nochmal genauer hinschaut, wird der verbliebene Glatzenzwilling damit beschäftigt sein in Umbra alles normal aussehen zu lassen. Wir bekommen raus, was die Chorknaben da gesucht haben und dann schauen wir, ob wir ihre Revolution oder Telamont selbst unterstützen um die Anauroch zu befreien, während die sich gegenseitig zerfleischen. Grim wird zwar rumheulen, wenn wir diesen glorreichen Krieg verhindern, aber Scarlet und die anderen werden heil davon kommen. Außerdem platzt du förmlich vor Energie seit..." Der stille Schmerz in seiner Brust ließ ihn stoppen und auch Winters Miene zeigte ihm, dass Elias Opfer sie beide tief verletzt hatte.
„Faust, ich..." „ich hätte es auch getan." Ohne sie anzuschauen unterbrach er sie. „Wir sind nur noch hier, weil wir sind was wir sind. Kompromisslos wenn es sein muss. Elias wusste das, weil er so war wie wir. Er war der erste, aber auch du und ich werden irgendwann an unserer zerstörerischen Art zu Grunde gehen." Er schaute ihr wieder in ihre smaragdgrünen Augen, welche der umbrantischen Blässe noch immer trotzten. „Fragst du dich manchmal, was gewesen wäre, wenn wir auf der anderen Seite gelandet wären? Ich denke die Welt hatte einfach nur Glück, dass wir durch verschiedene Zufälle gegen Teufel und Umbranten kämpfen und nicht mit ihnen. Natürlich sage ich mir, dass wir das Richtige tun, aber Macht und Chaos sind das was uns beide immer anziehen wird."
Winter setzte sich ihm gegenüber. Ihr Gesicht vermochte immer schon mehr auszudrücken als die meisten Menschen mit Worten sagen konnten. Es war Zeit offen zu sprechen.
„Ich war mit Werwölfinnen, Halblinsdamen, Riesinnen und Erzdämoninnen zusammen, aber keine war auch nur im Ansatz so wie du. Du bist die Perfektion dessen was Macht und Chaos hervorbringen können. Hades und Elias sehen ein Monster in dir, aber sie konnten nur nicht unter die Rüstung deiner Macht schauen. Ich sehe dich wie du bist. Deine innere Stärke, auch wenn die ganze Welt gegen dich ist, selbst deine Tochter für die du alles tun würdest."
Er spürte ihre zarte Hand auf seiner ruhen. Wieder musste sie kein Wort sagen. Ihre Berührung unterstrich wie sehr sie sich zueinander hingezogen fühlten, doch ihr Blick machte ihm klar, dass nicht einmal Sune selbst jemals die Wunde heilen könnte, die Dorien in ihrem Herzen hinterlassen hatte. Aber es war ihm egal. Auch wenn alle anderen sie aufgegeben hatten, er würde einen Weg finden Winter zu der zu machen die sie verdiente zu sein. Kaum jemand hatte unter der eigenen Macht so gelitten wie sie und das musste ein Ende haben. „Ich werde bei dir bleiben. Bis zum Ende. Deinem, meinem oder unserem."
Gerne hätte er die Zeit eingefroren um ihre Umarmung ewig festzuhalten. Er versuchte jede Einzelheit des Moments in sich aufzunehmen um sich daran erinnern zu können. Eines hatte die Zeit ihn gelehrt: Jeder erlebte Augenblick ist der letzte seiner Art. Und irgendetwas fühlte sich bereits nach einem Ende an, so sehr er sich auch wünschte, dass es der Anfang von etwas neuem wäre.

Einige Stunden später trafen sie sich mit Drake und Miu in Winters Haus. „Wisst ihr was ich mich frage?" Drake blickte über die Schriftrollen und die anderen schönen Dinge, die Szass Tam ihnen als magischen Firlefanz mitgegeben hatte. „Warum arbeitet ihr jedes mal umsonst?" Ihr wollt gar nicht wissen, wie viel die Thayanischen Glatzen mir für den Ausflug nach Eileanar zahlen und das alles hier gab es gratis dazu. Und ihr nehmt keine scheiß Kupfermünze, obwohl euch hier keiner mehr leiden kann. Selbst unsere kleine Kung-Fu Nonne hier scheint langsam gefallen an den angenehmen Seiten des Lebens zu finden."
Natürlich sagte Miu dazu nichts, aber Faust meinte ein kleines fick dich, Drake in ihren Augen gelesen zu haben.
„Du kannst uns doch leiden, Drake. Das reicht uns vollkommen aus." lächelte Winter entwaffnend. „Können wir dann nun endlich los?" Bereit zur Teleportation hielt Winter ihre Hand über die Mitte des Tisches, während Drake alles einpackte. „Bereit." nickte Miu nur kurz und legte ihre Hand auf Winters. „Natürlich, wer träumt nicht davon, sich von den Prinzen von Umbra schmelzen zu lassen? Wenigstens kann ich durch diese eklige Pilzmasse einfach hindurchgleiten, während ihr euch stinkend und verschleimt durchhacken müsst." Auch Drake legte seine Hand auf Winters. Faust schaute sich den Haufen den man einmal die Schicksalsstreiter nannte noch einmal an und legte seine Hand dazu. „Dann mal auf ins Verderben." Und nach einem Lidschlag versetzte Winter sie aus dem Raum.



Winter
Rasilith, einige Stunden zuvor

Ihre Unterhaltung mit Faust war ihr unter die Haut gegangen. Er war nun der vielleicht größte Krieger Faeruns geworden. Doch zu welchem Preis? Seine Schwester war tot, getötet von seinem einstigen Waffenbruder, den er daraufhin auch töten musste. Sein Freund Elias von ihr ermordet und  der Orden vernichtet. Sein Vater war nun ein Erzteufel und selbst seine Mutter war aus seinem Leben getreten. Grim, Miu, sie und sogar Drake waren alles was ihm noch geblieben war. Alle anderen wurden letztenendes von seinem Streben nach Macht vernichtet. Und Winter selbst ging es kaum besser. Ihr wurde übel beim Gedanken daran wie kurz die Vision des Desayeus davor stand in Erfüllung zu gehen. Was bliebe noch von ihr, wenn sie Scarlet nicht... nein, daran durfte sie nicht denken. Doch die Schatten einer Welt in der Faust und sie die letzten waren, die noch übrig blieben, kratzten an ihrem Verstand. Und Szass Tams Vorschlag all ihre Macht zu nutzen, befeuerte diese Vorstellung noch mehr. Sie musste hier her kommen. die letzten Anker an ihr altes Leben waren alle hier.
Grim? Nach einem Moment der Stille antwortete ihr Bruder ihr in Gedanken. Was gibt es? Hast du dich doch entschieden mir in der Schlacht zu helfen? Selbst in Gedanken war sein Ton rau, doch es war auch sein rauer Ton, der ihr immer ein Gefühl von Geborgenheit gegeben hatte. Egal wie viel er fluchte, sie wusste immer, dass sie bei ihm in Sicherheit war. Nein, aber ich wollte nach euch sehen.  Geht es Scarlet gut? Und wie geht es dir? Sie merkte noch beim Fassen des Gedankens, dass das Keine Frage mehr war, die man dem Auserwählten des Tempus stellte, aber ganz weg war ihr Bruder schließlich auch noch nicht. Er wurde immer mehr zu dem Idealbild seiner selbst, doch die kleinen Risse in seiner Fassade legten für sie doch immer noch den Blick auf ihren Bruder frei. Jaja, mir geht es wunderbar und Scarlet, Laguna und Nimoroth auch. Zufrieden? Sagst du mir jetzt, was du und die anderen Chaoten vor habt? Sie zögerte kurz, aber er würde sie ohnehin nicht aufhalten können und das wusste er genau wie sie. Wir gehen nocheinmal zurück nach Eileanar und werden herausfinden was Telamonts abtrünnige Söhne vorhatten.
Seine Schweigen hielt einige unerträglich lange Sekunden an. Das wird nicht leicht. Aber vielleicht ist es klug. Ihr könntet eine weitere Unsicherheit beseitigen, die uns im Kampf gegen Telamont in den Rücken fallen und unseren Plan zu Nichte machen könnte. Winter runzelte die Stirn. Was für ein Plan? Es schien, als hätte Grim die Zeit gut genutzt, ob als Spieler oder Spielfigur vermochte sie nicht zu sagen. Das erfährst du dann, wenn du wieder hier bist. Wir werden dich brauchen. Ich werde dich brauchen. Darum gefällt es mir nicht, dass du jetzt dein Leben auf´s Spiel setzt, aber in Karsus Bibliothek könnte auch eine Antwort liegen auf Fragen die wir noch gar nicht gestellt haben. Aber kommt wieder! Es wird nicht gestorben, ist das klar? Sie nickte, als ob er sie sehen könnte und musste kurz kichern, als sie sich dabei ertappte. Nein, wir kommen wieder und dann erledigen wir das hier zusammen. Wie früher. Und Grim, wir müssen Telamont überraschen, ich meine so richtig, etwas tun womit er niemals rechnen kann, weil er es nicht für möglich hält! Wieder eine lange Pause. Das weiß ich auch. Gut, aber lasst euch nicht zu lange Zeit!

Sie wollte gerade wieder gehen, als sie die Gestalt vor sich bemerkte. „Nimoroth?" er drehte sich erstaunt um und lächelte freudig über sein ganzes Gesicht. Eine Reaktion die Winter lange nicht mehr hervorgerufen hatte. „Winter! Es ist schön, dass du da bist!" Bei niemandem klang diese Floskel so ehrlich gemeint wie bei ihrem früheren Waldelfengefährten. Doch das war es nicht, was Winters Augen glasig werden ließ. Natürlich mochte sie ihn - wie jeder - doch sie hatte Nimoroth immer für einen naiven Weltverbesserer gehalten, der in seinem Glauben an das Gute blind war für die Komplexität der Welt. Er war sich immer treu geblieben, egal was kam. Damals dachte sie, dass es irgendwann sein Verderben werden würde, oder er an der Menge des Übels in der Welt verzweifeln würde. Doch hier standen sie nun und sie sah sich selbst. Was sie hätte sein können. Sie hätte ihm folgen können, damals, als sie die Suche nach der Bastion der ungeborenen Seelen aufgegeben hatten.
„Was ist los? So kenne ich dich gar nicht. Ist etwas mit Scarlet?" Behutsam legte er seine Hand auf ihre Schulter.
„Nein, das ist es nicht. Ich wünschte ich hätte die Welt immer so sehen können wie du. Sie zusammen mit dir, Kalid, Dorien und Grim zu einem besseren Ort machen. Du hast so viel aus deinem Leben gemacht, so vieles erreicht. Und ich... ich mache alles kaputt was ich anfasse. Warum verachtest du mich nicht, so wie es die anderen tun? du weißt, dass ich es verdient hätte."
Er hielt einen Moment inne, ehe er ihr mit seinen ehrlich gütigen Augen ansah. „Die Ältesten in meinem Stamm halten sich für reiner als die anderen, denn sie töten kein Lebewesen. Auch in den Augen der meisten anderen Waldelfen hebt sie das von den anderen ab. Aber sie verschweigen die Wahrheit, dass wir nur leben können, weil wir anderes Leben nehmen. Die Jäger schämen sich gar, wenn sie den Ältesten begegnen und zuvor ein Tier ausgeweidet haben. Doch nehmen sie die Gaben  von Wildbret gerne an, denn eigentlich wissen sie, dass sie ihr reines Leben nur leben können, weil es die Jäger gibt."Der Waldelf hatte tatsächlich die Fähigkeit in allem das Gute zu sehen. auch dort wo sie und andere nur Schatten und Leere sahen.
„Dass wir damals versagt haben, habe ich mir nie verzeihen können. Ich musste weiter mit ansehen, wie immer häufiger seelenlose Kinder geboren wurden. Ashardalon hatte damals so viel Leid über diese Welt gebracht und ich konnte nichts tun. Mir fehlte der Mut zu tun was du tatest. Du hast Recht, Kalid und ich helfen dabei diese Welt zu einem besseren Ort zu machen." Wieder eine Pause. Sein Blick wurde ernster. „Doch Heldinnen wie du sind der Grund warum es noch eine Welt gibt, in der ich Gutes tun kann. Du siehst die Dinge die ich tue, doch ich sehe auch jeden Tag die Dinge die ich nicht getan habe. Und ich danke dir, dass du diese Bürde für uns alle trägst." Nimoroth unterstrich seine Worte mit einer elfentypischen Verneigung. „Ich weiß du hast viele Schlimme Dinge getan. Doch ich freue mich auf den Tag, an dem du getan hast, was du tun musstest. Wir werden einen Weg finden, dich von deiner Last zu befreien, wenn es so weit ist... elen síla lúmenn' omentielvo, Winter. Auf dass wir uns bald unter schöneren Umständen wiedersehen!"
Sie dachte noch eine Weile über Nimoroths Worte nach und auch wenn sie sich und Faust nicht so sehen konnte wie er, ahnte sie doch, dass eine gewisse Wahrheit in seinen Worten steckte, die ihr neuen Antrieb verlieh. Sie würde sein, was sie für diese Welt sein musste.


Grimwardt
Rasilith, am Abend

„Es wird meiner Mutter nicht gefallen, aber es ist die einzige Chance, die wir haben, Onkel!" Scarlet hatte mit beidem Recht, wie er es auch wendete und welchen anderen Plan er auch in Angriff nahm, es lief immer wieder darauf hinaus. doch etwas in Grimwardt weigerte sich es zu akzeptieren.
„Vergiss es. Ich werde dich nicht zu diesem Schattenknoten bringen, damit du dich opfern kannst. Deine Tempusgefällige Bereitschaft in den Tod zu gehen ehrt dich, doch das wird nicht reichen. Telamont wird einen neuen Schattenkonten errichten und dann war dein Opfer umsonst. Der Schlachtenherr hat mich nicht zurückgeschickt, damit ich ungestüm die nächstbeste Gelegenheit nutze um mich und dich in den Kampf zu werfen."
Ihre geballte Faust donnerte auf den Tisch. „Und wie sollen wir es sonst schaffen? Ist der Knoten zerstört, sind die Umbranten lange genug geschwächt, damit ihr Telamont und seine Brut auslöschen könnt! Das ist es wert! Und ich bin es meinem Volk schuldig!"
Er sah seine eigene Zornesfalte auf Scarlets Stirn blitzen. Wie gerne er sie bis zum Ende ausgebildet hätte. „Und du denkst, sie überlassen uns den Knoten einfach so? Telamont weiß doch genau wie du, dass wir nur diese Möglichkeit haben ihn zu bezwingen. Er hat sicher schon jedes Detail durchdacht und für jeden unserer Züge einen Gegenzug parat." Grimwardt merkte selbst, wie hoffnungslos seine Worte klingen mussten. Scarlet warf sich frustriert auf eines der ledernen Sitzkissen. „Also willst du nun was tun? Gar nichts? Wirklich? Dann haben wir bereits verloren, Onkel."
Der Auserwählte des Tempus starrte den Schlachtenplan mit seinen Figürchen an, als hoffte er sie würden diesen Kampf für ihn austragen. Hatte sie Recht? War sein Urteilsvermögen getrübt, weil Scarlet die Tochter seiner Schwester war? Die zu alledem zu einer Frau herangereift war, von der sich die allermeisten Heerführer eine Scheibe hätten abschneiden können? Selbst wenn er all seine emotionale Bindung an seine Nichte beiseite schieben würde, so wäre es immer noch ein unvergleichbar hoher Preis sie zu verlieren. Sie zu opfern um möglicherweise diesen Schlacht zu gewinnen - alles daran fühlte sich falsch an. Verdammt. Rote Ritterin, steh mir bei. Was übersehe ich? Grimwardt fühlte sich in diesem Moment hilflos und er hasste dieses Gefühl. So sehr dass er gar nicht bemerkte, wie seine geballte Faust zornig auf den Tisch schlug und dabei die kleinen Figürchen wild herum purzeln ließ. Scharf sog er die warme Luft der Wüste durch seine Nase ein um wieder klar denken zu können und betrachtete das Chaos, das sein Faustschlag verursacht hatte. Die Soldaten und anderen Avatare der Kriegsbeteiligten lagen kreuz und quer verteilt, als hätte die Schlacht schon stattgefunden. Seine eigene fand er irgendwo in der Mitte wieder, die seiner Schwester war in Umbra gelandet. Dann hielt er inne. Ein Teil des Modells der fliegenden Stadt war abgebrochen und weggerollt.
Ein Schauer lief ihm über den Rücken, denn er musste unweigerlich zurückdenken an den Tag seines Todes. Der Moment, als er nur hilflos niederknien konnte, während sich die Tentakel des Gedankenschinders in sein Hirn und seine Gedanken bohrten. Und doch hatten Winter und Faust ihn besiegt, obwohl Morloch alles bedacht hatte. Wir müssen Telamont überraschen, ich meine so richtig, etwas tun womit er niemals rechnen kann, weil er es nicht für möglich hält!
Er sandte ein innerliches Stoßgebet an die Rote Ritterin und seine Mundwinkel formten sich zu einem leichten Lächeln, während Scarlet ihn fragend anschaute.
„Was? ist dir was eingefallen oder drehst du jetzt auch durch?" Er sah seine Nichte an und hielt dabei das abgebrochene Stück in der geballten Faust. „Ich weiß jetzt wie ich meine mächtigste Waffe in diesem Krieg einsetzen muss. Doch, mit Verlaub, das bist nicht du, Scarlet." Die hohen Fürsten von Umbra würden bald erfahren was Angst bedeutet, wenn die Vergangenheit sich wiederholen würde.


Winter
Eileanar, am Abend

Faust hatte dieses mal nur wenig Arbeit mit dem Zerhacken von Pilzgewebe. Winter hatte sie ziemlich nah an die Akademie des Karsus heran teleportiert und nach einigen Metern waren sie dort. Welche Magie dem Ort auch noch immer innewohnte, sie war stark genug, um auch nach tausenden von Jahren das Pilzmonster fernzuhalten.
„Ich fürchte, die sind uns zuvorgekommen." Winters Wahrem Blick war Drakes geisterhafte Gestalt zwar bereits aufgefallen, bevor er sich wieder materialisierte, doch ein wenig unheimlich war ihr seine Fähigkeit noch immer. „Warum, was hast du gesehen?" Mit verschränkten Armen blickte er in die Runde. „Da drinnen ist natürlich alles zerstört, vom Absturz, aber der Staub wurde auch vor kurzem aufgewirbelt. Gesehen hab ich aber keinen mehr von denen. Schätze die haben was sie wollten." Faust knackte mit dem Genick. „Egal, die Burschen haben vielleicht etwas übersehen oder wir finden vielleicht zumindest heraus, was genau sie denn hier gefunden haben." Unbeeindruckt wie immer stapfte er los, in der Innere der Akademie. Miu folgte ihm, während Drake mit dem Kopf schüttelte und wieder in seine Äthergestalt wechselte.
Trotz all der Zerstörung war noch zu erahnen, was für ein prachtvoller Ort Eileanar einmal gewesen sein musste. Jedoch war auch zu sehen, was Drake gemeint hatte. Sie waren nicht die ersten gewesen, die hier hergekommen waren. Auch wenn sie wenig Hoffnung hatte noch etwas zu finden, konzentrierte sich Winter auf die Auren magischer Gegenstände - was ihr sofort eine Menge Kopfschmerzen bereitete. Die Aura der Akademie selbst war so gewaltig, dass es unmöglich war auf diese Art etwas zu finden. Nachdem Faust sie stützte und sie den Zauber fallen ließ ging es ihr glücklicherweise schnell wieder besser.„Alles ok? was hast du?" „Magie entdecken wirkt hier wie tausend Nadeln direkt ins Gehirn. Aber wenn es mir so geht, wird es den Prinzen nicht anders ergangen sein. das heißt, wir haben vielleicht doch noch die Chance etwas zu finden. Aber dazu müssen wir noch tiefer rein."
Auch wenn sie ein ungutes Gefühl hatten folgten alle Winters Plan. Tatsächlich wurden die frischen Spuren hier auch weniger. Sie waren vermutlich in einem Bereich angelangt, den nur noch die Prinzen selbst betreten hatten. Um schneller fündig zu werden teilte sich die Gruppe auf, wenn auch nicht zu weit. Dass die Sklaven der Umbranten diesen Bereich nicht mehr betreten hatten machte auch Winter skeptisch. Faust schmökerte in einem Buch, welches er vermutlich kaum lesen konnte. Drake schmiss ständig ein Kleinod nach dem anderen auf den Boden, welches ihm nicht wertvoll genug erschien, Nur Sie und Miu schienen sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Der fein verzierte Schreibtisch, den Winter untersuchte war von einem Felsbrocken zerschmettert worden. Schnell war jedoch klar, das bereits jemand anders sämtliche Schubladen herausgerissen hatte und sich allem bemächtigt haben musste, was sich darin befunden haben mag. Dann stolperte sie jedoch über das abgebrochene Bein des Tisches, wodurch es einen halben Meter zur Seite rollte - und den Blick auf ein geheimes Fach preisgab! Winters Herz bebte, als ihre Hände zitternd den Inhalt herauszogen. Ein kleiner Schriftrollenbehälter. Versteckt. in der Akademie von Karsus selbst. Natürlich gut verschlossen und magisch gesichert wie sie gleich merkte und was ihre Neugier noch mehr anfachte. „Hier lag vor kurzem noch ein Buch!Man sieht die Umrisse im Staub." Miu hatte etwas gefunden und riss sie aus ihren Gedanken.
Alle betraten nun den großen Saal. Fausts Augen weiteten sich. „Das ist der Raum! hier ist Karsus..." Sein Blick fiel auf ein erbärmlich aussehendes Bündel Haut und Knochen, gewickelt in eine immer noch kostbar aussehende Robe. Winter betrachtete den Leichnam mit gemischten Gefühlen. Im Tod sahen wohl auch die größten ihrer Zeit ganz klein aus und verloren damit allen Glanz und Ehrwürdigkeit, die sie im Leben einst besessen hatten. Ein trauriges Ende... „Seltsam, dass die Prinzlein nicht noch mehr haben mitgehen lassen. Der Fummel von dem Gerippe sieht wertvoll aus!" Hallte Fausts Stimme durch durch den Saal.
Und dann erstarrte Winter. Sie konnte sich nicht mehr rühren, nahm die verwirrten Blicke ihrer Gefährten auf sie nur peripher wahr. Alles in ihr ergab sich nun der Präsenz vor ihr, die die anderen noch nicht sehen konnten. Der Geist des mächtigsten Magiers, den die Menschheit je kannte schwebte erhaben vor ihr. Als auch die anderen erstarrten wurde ihr klar, dass Karsus sich nun vor ihnen allen manifestiert hatte. Sein Blick glänzte vor Scharfsinn, doch zugleich mit einer getriebenen Rastlosigkeit. Diebe. Es ist mein Werk. Mein Meisterwerk. Ihr werdet nicht noch mehr erbeuten! Die Feindseligkeit der kalten Stimme in ihrem Kopf war unverkennbar, wie auch die Erkenntnis, was die Söhne Telamonts erbeutet hatten. Der Abdruck im Staub. Karsus´ Meisterwerk. Und sofort setzte der Geist zu einem Zauber an. Faust klappte zusammen, als hätte man ihn aller Muskeln beraubt. Sofort folgte ein weiterer Zauber und Drake wurde zur Statue, während einen Wimpernschlag später Miu erstickend im Staub landete. Es war dieser Augenblick, der Winters Geist erlaubte alle Anstrengungen zu mobilisieren und sich aus der Starre zu befreien. Nur der Umstand, dass die anderen sich um die Leiche des Erzmagiers gestellt hatten retten ihnen im letzten Moment das Leben. Winter spürte noch den Hauch der unglaublichen Kraft eines Zaubers, der sie alle vernichtet hätte, als sie sich und die Versehrten mit einem Teleportationszauber nach Rasilith brachte. Zum Glück waren Grimwardt und Nimoroth schnell zur Stelle, so dass alle Beteiligten den Ausflug nach Eileanar überlebten.
„Grim, wir müssen reden." Entmutigt nahm Winter ihren Bruder beiseite. „Ich weiß jetzt was sie vorhaben. Sie haben Karsus´ Zauberbuch. Einer von ihnen wird sich einen Gott einverleiben" „Shar..." Winter konnte sehen, dass Grimwardt besorgt war, allerdings nicht so sehr wie er es sein sollte. „Du hast einen Plan, oder?" Sein Blick musterte sie. „Vielleicht. Wie stark sind deine Kräfte inzwischen." „Jedenfalls nicht so stark wie die von Shar!" Was sollte diese Frage? Er setzte das Gespräch in ihrem Geist fort. Natürlich nicht wie Shar! Aber du hast doch selber gesagt, wir müssen etwas unerwartetes tun. Das einzig Vernünftige wäre es den Schattenknoten zu vernichten. Aber das weiß auch Telamont. Winters Blick verfinsterte sich in Anbetracht des Ernstes der Lage. Grim, ich versuche dir gerade zu sagen, dass es nicht Telamont ist, der Shar in seinen Körper zwingen will, sondern einer seiner Söhne! Grimwardts Augenrollen deutete an, dass er diesen Punkt bereits bedacht hatte. Hörst du jetzt mal zu? Wer auch immer von den Söhnen versucht seinen Vater hinters Licht, oder besser hinter den Schatten zu führen, hat uns damit einen Gefallen getan. Der Fürst von Umbra wird den Großteil seiner Verteidigung in die Bewachung des Schattenknotens setzen, weil er denkt, dass seine Söhne alles andere im Blick haben. Doch die haben nun andere Pläne, zumindest einige von ihnen. Wir werden nicht den Schattenknoten angreifen, Winter. Sein Blick war nun wie aus Stahl. Du wirst Umbra zu Fall bringen. Es ist mir egal wie du es machst, aber du zerstörst diesen Mythal, der die Stadt in der Luft hält. Den Rest erledigen Scarlet und ich dann mit unseren Truppen.
Winter konnte es nicht fassen. Mit offenem Mund und hochgezogenen Schultern starrte sie ihren Bruder an, der ganz nebenbei meinte, sie solle quasi die Welt aus den Angeln hebeln. Wirklich? Das ist dein Plan Grim? Ich glaube, du hast wirklich keine Ahnung, was für eine Macht in so einem Mythal steckt. Als der Ilithid dich getötet hat, habe ich mit all meiner Kraft geschafft den Mythal um ein paar Meter zu verschieben und nun willst du, dass ich einen zerstöre? Ich glaube die Sonne bekommt dir nicht gut! Grimwardt verzog weiter keine Miene. Das war damals, du bist heute eine andere. Und das ist die Aufgabe, die ich dir in diesem Krieg zugedacht habe. Wenn du mich enttäuschst, werden Scarlet, ich und alle die in diese Schlacht ziehen sterben. Ich schlage also vor, du nutzt die Zeit und tust was nötig ist um dein Ziel zu erreichen! Er drehte sich um und sprach nun wieder laut weiter. „Ich mobilisiere alle Truppen. Morgen schlagen die Willigen der Talländer und die Bedinen zu und greifen Umbra an!" Er blickt über seine Schulter in Winters Richtung. „Und keine Angst, ich werde an Scarlets Seite bleiben. Mit meiner Axt, keinem schwarzen Schwert."

Etwas später hatte sie sich zurückgezogen. Es dauerte eine Weile, bis sie die magischen Schutzzauber der Schriftrolle bannen konnte, doch es gelang ihr. Leider überstiegen die zweifellos sagenhaft mächtigen Zauber auf den beiden Schriftrollen ihr Verständnis für Magie. Es war viel mehr der strahlende kleine Edelstein, dem noch einen Zauber der intuitiven Magie von Mystryl selbst innewohnte. Scheinbar hatte ihn Karsus in seiner Vorbereitung auf seinen mächtigsten Zauber genutzt um seine gegebenen Kräfte noch weiter zu Verstärken. So etwas wie Hoffnung keimte in Winter auf. Vielleicht gab es doch noch eine kleine Chance, dass Grims "Plan" aufgehen würde.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 11. September 2023, 23:12:42
You did it :))
Diesmal bin ich diejenige, die gespannt ist, wie es weitergeht!
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 14. September 2023, 17:15:42
Es ist so wunderschön 🥹 ich bleibe auch dran und warte gespannt
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 26. September 2023, 17:10:21
Kapitel IX: Das Lied von Licht und Schatten

Grimwardt
Anauroch, Nacht vor der Schlacht

In den Geschichten, die er als Junge gelesen hatte, stellte er sich die Anauroch immer als einen brennend hellen Ort vor, an dem ständig das Heulen es Wüstenwindes zu hören war. Grimwardt hatte bisher nie die Zeit dazu gefunden, doch nun betrachtete er die Schönheit der Wüste bei Nacht. Die Sterne waren so klar über den Dünen zu sehen wie sonst nirgendwo und alles wurde beherrscht von der Stille. Es gab meilenweit nichts, was einen Ton hätte zurückwerfen können und so war es das völlige Fehlen des kleinsten Lautes, was ihm die Ruhe vor dem Sturm schenkte, als er außerhalb des Zeltlagers in seine Gebete vertieft war.
Mit dem ersten Purpur der sich anbahnenden Sonne, erklangen nun auch zunehmend die Zeltlager der Sandkrieger, der Elfen und der Talländer, die sich regten. Und bald der Lärm, den die Truppen der Umbranten vor sich herschoben. Er war inzwischen zu Scarlet zurückgekehrt. Zusammen mit den besten Kriegern und Zauberwirkern beider Lager, bildeten sie die Speerspitze in dieser Schlacht. Winters Gestalt, die über ihm schwebte und ihren Schatten auf sie warf, ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen, genau wie Fausts typisches Gelächter neben ihm. Es musste alles echt wirken und für alle die die beiden epischen Abenteurer nicht kannten tat es das auch. Für ihn wirkten die beiden illusorischen Doppelgänger zwar wie eine etwas überzogene Kopie seiner Gefährten, doch die Täuschung war fast tadellos. Winter hatte neben einer ordentlichen Portion ihrer neuen Macht auch sehr viel Liebe für die Details mit in den Zauber gewebt, so dass keiner ahnte, dass sie sich gerade an einem völlig anderen Ort befand. Sie hatten herausgefunden, dass der umbrische Meister der Erkenntnismagie einer von Telamonts abtrünnigen Söhnen war. Ihre Chancen standen also gut, dass ihr Bluff aufgehen würde. Doch zur Sicherheit war seine Verbindung zu Winter nun gekappt. Sollte sie jemand im stillen Gedankengespräch belauschen, könnte das alles ruinieren. Nach langen Jahren als Abenteurer war er nun also endlich wieder Teil - und Anführer - einer wahrhaften Schlacht. Faust konnte nur den Zweikampf genießen, doch das geplante Getümmel der entschlossenen Krieger die einander Vernichteten, das war es, was Grimwardts Herz innerlich beruhigte. Dieser Umstand war es wohl auch, der es zuließ, dass er seine Gefährten nicht verurteilte wie Hades es tat. Natürlich ging es ihm auch immer darum, für die gerechte Sache zu kämpfen. Doch war es seine Lust am Gemetzel, welche seine Leidenschaft immer wieder entfachte und auf das Schlachtfeld zog, anstatt in einem modrigen Saal Pläne zu schmieden und junge Soldaten als Ware des Krieges zu sehen.
„Elah steh uns bei. Warum sind es so viele, Onkel?" Der Auserwählte des Tempus wandte seinen Blick nun auch zu den Dünen, als das Ausmaß der umbrantischen Truppen sich zeigte. Doch Scarlet hatte recht. Es waren zu viele. "Scheinbar hat Telamont seine illusionsverliebten Zwillinge für diese Schlacht verpflichtet - oder was von ihnen noch übrig ist." Seine Augen gingen scharf hin und her. „Etwa ein Drittel der Truppen sind echt. Der Rest besteht aus einer mächtigen Illusion." Scarlet schnaubte ungeduldig. „Verdammt und wie sollen ich und meine Leute echte von falschen Gegnern unterscheiden?" Eindringlich blickte Grimwardt seiner Nichte in die Augen. „Tempus wird das Feld reinigen von jenen die keine Krieger sind. Nur wer blutet wird in diese Schlacht ziehen."
Ein unerfahrener Kriegsfürst hätte vermutlich bereits beim Anblick der übermächtigen Armee kapituliert. Ein erfahrenerer Heerführer hätte die Illusion durchschaut, sich aber um die Moral seiner Truppen Sorgen gemacht. Doch der Erste Heerführer des Schlachtenherrn wusste, dass dieser Zug nur eine Einladung war. Telamont würde nicht auf einen Taschenspielertrick setzen um zu siegen. Also reckte Grimwardt Ambrosia gen Himmel und sprach die heiligen Worte während seine Augen glühten. Nur die mächtigsten Priester des Krieges wurden von Tempus mit diesem Zauber gesegnet. Ehe die Sonne richtig aufgehen konnte, verdunkelten die Wolken den Himmel über dem Heer der Umbranten. Doch nun wuchs auch Grimwardts Sturm der Vergeltung weiter an als erwartet. Nein, ein weiterer Sturm gesellte sich dazu, um Grimwardts Zauber zu übertreffen und aufzulösen.
Dabei bemerkte er nun die Gestalt am Horizont, die sich ihm entgegenstellte. Er hatte bisher nur von Clariburnus Thantul gelesen und Geschichten gehört, doch ihm war sofort klar, wen er dort in den Reihen erblickt hatte. Die schwarzen Augen seiner Feindes ließen keinen Zweifel an dessen Optimismus. Er war sich sicher, diese Schlacht zu gewinnen. Groß, stark, gerüstet und Narbenübersäht. Ein Krieger wie er im Buche stand, mit einer fein gearbeiteten Rüstung, welche Tempus Wappen trug - und einer schwarzen Klinge. Fast hätte sich Grimwardt dazu hinreißen lassen sich umzudrehen um nach Scarlet zu sehen, doch sein Geist hielt stand. Ehe der Sturm von Clariburnus etwas gegen den von Grimwardt ausrichten konnte, zerfetzte der gewaltige Donner bereits die ersten Trommelfelle seiner Feinde. Grimwardt spürte, dass Clariburnus´ göttliche Kraft der seinen überlegen war, doch noch hielt er stand. Die Wolken öffneten sich und der Säureregen ergoss sich über die Umbranten. Für die meisten von ihnen war es schmerzhaft und demotivierend, doch die Trugbilder schmolzen dahin wie Kerzen. Erst jetzt obsiegte Clariburnus´ Sturm und breitete sich zur Antwort über den Kriegern der Alianz aus. Die falschen Abbilder von Winter und Faust verpufften unter einem Blitzeinschlag.
„DUCKEN UND DANN VORRÜCKEN! LASST EUCH NICHT TÄUSCHEN!" donnerte die von göttlicher Macht beseelte Stimme der Elah´ni gegen den Sturm an und Grimwardt folgte ihrem Kommando wie die anderen Kämpfer, ohne sie aus den Augen zu lassen. Er wusste, dass die Schlacht ihn zu Clariburnus spülen würde, ob er diesen Kampf suchte oder nicht.


Faust
Gefängnis von Umbra, zur gleichen Zeit

„Also nochmal, damit ich diesen ganzen Wahnsinn in meinen Schädel kriege: Was zur verfluchten Hölle machen wir hier eigentlich?! Und wo bleibt diese verkackte Katze?" Vor einer Stunde klang die Idee für Faust noch gut, die ihnen dieser seltsame Kerl namens Fardo in den Kopf gesetzt hatte. Aber nun steckten sie in einer Zelle im Gefängnis ihrer Feinde. Zwar verkleidet, aber früher oder später würde ihre Maskerade auffliegen. Der fremde Glatzkopf hatte die Katze bereits vor einer halben Stunde losgeschickt, doch sie war immer noch nicht zurückgekehrt. Langsam kamen ihm Zweifel an der Geschichte. Hatten die Prinzen wirklich ihren jüngsten Bruder, das Wunderkind Brennus eingesperrt? Und war die Katze wirklich seine Vertraute? Arbeitete dieser Fardo wirklich für Brennus? Oder wusste Telamont, dass er einfach nur eine komplett irre Geschichte auftischen musste, um ein paar komplett Irre in sein Gefängnis zu locken? Sachlich und wie ein Wasserfall sprudelnd ergoss sich Fardos Anwort wie jedesmal über seiner Zuhörer, ob sie es wollten oder auch nicht. „In Anbetracht der Strecke, die die Katze zurücklegen muss und der Variablen, wen genau sie antreffen wird, ist es durchaus nicht unwahrscheinlich, dass sie sich auf dem Rückweg zusammen mit einem Verbündeten befindet. Natürlich besteht auch die Möglichkeit, dass sie aufgeflogen und nun bereits tot ist, was das baldige Erscheinen eines unserer Feinde zur Folge hätte. Wir müssen also gerade sowohl annehmen, dass die Katze noch lebt, als auch, dass sie tot ist - Ein Klassiker, nicht wahr?" Die säuerlichen Mienen der anderen Insassen spiegelten deren Ahnungslosigkeit, wie auch Entnervtheit. Der Umstand, dass der Fremde aus Darkon kam, einer Domäne jener gruseligen Nebelwelt, der Faust einst entkam, hatten ihn neugierig gemacht und der dicke Kerl war eindeutig klüger als sie alle zusammen, aber er hatte doch auch einen ordentlichen Dachschaden, was gesunden Menschenverstand anging. Oder besser gesagt Elaner-Verstand. Die fehlenden Augenbrauen und die Art seiner Gesten, hatten Faust erkennen lassen, dass Fardo ein Exemplar der seltenen Spezies war, der auch Omega angehörte.
„Mir ist ehrlich gesagt egal, ob sich gerade wer mit der Katze den Arsch abwischt oder ob sie jetzt Kaviar futtert, Hauptsache es geht weiter! Uns fehlt die Zeit für..." „Ihr? Das kommt... unerwartet." Melegaunt Tanthul, der verzichtbare Prinz stand vor ihnen, die Katze auf seinem Arm. „Habt ihr euch einfach gestellt oder steckt hier irgendein perfides Spiel dahinter?"
Drake klatschte in die Hände. „Na siehst du Winter, die Muschi hat es geschafft, du schuldest mir 2.000 Mäuse!" Faust lenkte die Aufmerksamkeit des Prinzen wieder auf sich. „Pass auf Mann, wir haben nicht viel Zeit! Dein fanatischer Bruder Rivalen hat sich mit ein paar anderen Brüdern zusammengetan und gegen deinen Papa verschworen. Brennus hat was mitbekommen und sie haben ihn eingesperrt und jetzt ist der Irre vermutlich bereits dabei Shar in seinen eigenen Körper zu beschwören, wie Karsus höchstpersönlich vor ihm!" Es herrschte ein Moment der Stille. Dann musste Melegaunt lachen. „Eure Geschichte ist doch frei erfunden, und dabei nichtmal besonders gut! Auch wenn Rivalen radikaler ist als mein Vater wäre er niemals so töricht! Wenn er Shar in sich avatieren lässt würde die ganze Stadt..." Der Prinz geriet ins stocken und Fardo nickte grinsend ehe er fortsetzte. „Nein... sie würde nicht abstürzen. Der Mythal kann ja nun vom anderen magischen Gewebe zehren, seit ihr den anderen Knoten vom Schattengewebe befreit habt. Wenn ich es mir recht überlege... Das erklärt auch, wie die Elani entkommen konnte. Man hat sie laufen lassen... Und es war Yder, Rivalens rechte Hand, der mich entsandte um Rasilith zu schützen." Deprimiert wie ein gescholtener Hund schaute der Prinz drein und schien um einige Zentimeter geschrumpft zu sein. „Er wusste, dass ich nichts gegen euch ausrichten würde. Es gehörte alles zu seinem Plan."
Lärm und ein monströses Kreischen weiter hinten unterbrach seine Gedankengänge. „Das sind Yders Veserab-Reiter! Wir müssen uns beeilen!" Faust brummte der Kopf, er wollte nicht mehr warten. „Ja, schön! Dann bring uns doch bitte jetzt zu Papa und wir regeln die Sache." Melegaunt schüttelte den Kopf. „Unmöglich, er empfängt und traut niemandem mehr, seit er aus der Kerzenburg zurückgekehrt ist. Was auch immer ihr zu ihm gesagt habt, es hat ihn sehr misstrauisch gemacht. Ich habe keine Ahnung wo er sich versteckt hält und wohl auch sonst niemand. Ich versuche ihn irgendwie zu finden, aber ihr..." Er schrumpfte noch ein paar Zentimeter und blies dabei die Luft aus. „Ihr müsst Rivalen aufhalten. Ich teleportiere euch in den Tempel. Danach müsst ihr alleine zurechtkommen."
Vermutlich war es nicht klug gewesen, aber Faust genoss diesen Augenblick, als auf einmal er und die anderen meist gefürchteten Feinde Umbras in der Mitte des Tempels von Shar standen und  Panik unter den Umbranten ausbrach. Sie stürmten aus dem Tempel, als wäre Selune selbst in ihr allerheiligstes eingedrungen. Auf der Kanzel stand Rivalen. Höchster Priester der Shar und zugleich Erzmagier der Akademie. Faust hatte keine Zweifel, dass der mächtigste der Prinzen Fähig war Shar in seinen Körper zu befehlen. Sein Gesicht zeigte keine Furcht, nur eine leichte Verärgerung. „Es scheint, als hätte mein Vater recht gehabt, was euch und eure Manieren angeht. Aber ihr seid doch cleverer als ich gedacht hätte. Ich bin neugierig. Sagt mir, wie seid ihr mir auf die Schliche gekommen!" Fardo wollte gerade ansetzen um alles im Detail zu erzählen, doch Faust unterbrach ihn jäh. „Das spielt jetzt keine Rolle mehr, Prinzlein. Wir wissen, was du vorhast und ich werde dir nicht die Chance geben deine Grufti-Schlampe von einer Göttin auf unsere Welt loszulassen." Das überhebliche Grinsen auf Rivalens Gesicht gefiehl ihm nicht. „Mir nicht die Chance geben? Es ist wirklich erheiternd, wie naiv ihr seid. Doch eure Blasphemie wird euch bald teuer zu stehen kommen." Winter meldete sich in seinem Kopf: Faust, das ist ein Trugbild! Er will Zeit schinden! Faust rannte los, den falschen Rivalen ignorierend. „Spar dir dein Gelaber. Jetzt weiß ich, dass du es eilig hast, Prinz von Umbra!" Auf einen stillen Befehl hin wurden sie nun von einer Priesterin und Tempelkriegern angegriffen. Die Schreie und das zischende Quietschen ihrer verdorrten Körper hinter ihm, ließen Faust jedoch wissen, dass Winters Magie und Fardos Psychotricks die Lage unter Kontrolle hielten.
Miu und er erreichten Rivalens Zimmer. Melegaunt hatte ihnen eine kurze Instruktion gegeben, wie er das Portal benutzen musste. „Na los Miu, eher er den Zauber durchziehen kann." Die kleine Karaturianerin blieb stehen. „Warum eigentlich?" Was für eine bescheuerte Frage war das denn? „Was soll das heißen, warum? Hast du was auf den Kopf bekommen?" Sie schaute ihm ernst in die Augen. „Was erreichen wir denn, wenn wir Rivalen töten? Telamont wird den Krieg weiterführen. Es wird sich nichts ändern." Ungeduldig sog Faust die kühle Luft durch die Nase ein. „Das fällt dir ja früh ein. Das sind zumindest er und vielleicht noch ein paar Prinzen weniger. Hast du eine bessere Idee?" Miu schaute sich um und eine ungewohnte Kälte und Entschlossenheit trat in ihre Stimme. „Wir könnten Shar töten. Du könntest Shar töten." Eine endlos scheinende Pause zeigte ihr, dass Faust der Gedanke gefiehl, auch wenn er gerade noch andere Pläne hatte, aber es wäre nicht das erste mal, dass er seine Pläne von einem auf den anderen Moment änderte. Miu wusste das und er wusste auch, dass sie ihn gerade manipulierte. Doch es war ihm egal. „Du weißt warum ich dir folge, oder? Was dich zum Auserwählten macht? Ich habe die Wahrheit lange nicht verstanden, warum die Ahnen mich zu dir sandten. Aber du hattest recht. Wir sind besser ohne sie dran. Ohne die Götter. Ich sehe es inzwischen, Fardo sieht es genau so und auch du weißt es." Sie sprach ihm aus der Seele, doch er spürte, dass sie nicht mehr seine Miu war. Er hatte sie verändert. Es hätte ihm ein Gefühl der Genugtuung geben sollen, doch es fühlte sich falsch an. „Miu..." ihre Hand griff ihn feste am Arm. „Das ist die beste Gelegenheit. Das Schicksal hat dich dafür hier hergeführt! Du kannst jetzt die Welt retten und diesen Krieg beenden!" Scheiße, sie hatte recht.
„Warum seid ihr noch nicht durch das Portal gegangen?" Winter, Drake und Fardo waren nun auch da. Faust beendete gerade einen seiner Stärkungszauber. „Das machen wir zusammen. Sie werden wissen, dass wir kommen und uns mit Zaubern und Dunkelheit vernichten wollen. Seid ihr dafür bereit?" Alle nickten. Tatsächlich war er der einzige, der in der Dunkelheit nichts sehen konnte. Doch es gab auch andere Wege als Magie. Nachtmond, Omegas bestiales Schoßtier war immer ein unangenehmer Zeitgenosse gewesen, doch hatte er Faust auch gelehrt, seine Instinkte zu schulen. Und die meisten Gegner, die sich auf ihre leisen Schritte und Unsichtbarkeit verließen, dachten nicht an ihren eigenen Geruch. Eine Schwäche, ohne die Faust keine Chance gehabt hätte.
Sobald sie den Raum betraten umfing sie eine undurchdringliche Finsternis und ein Hagel aus Zaubern. Trotz der mächtigen Schutzzauber, die Winter und Fardo gewirkt hatten wurde es schnell brenzlig. Drake entging den meisten Angriffen durch seine Geistergestalt, Winter und Faust konnten durch ihre Zauber und Manöver zumindest den schlimmsten Wunden entgehen. Miu und insbesondere Fardo hingegen hatten stark mit der schieren Menge an roher Magie zu kämpfen und gingen fast in die Knie. Faust roch hinter einem Schleier aus Schutzzaubern die Präsenz von Yder und einem weiteren Prinzen, doch war noch etwas. „Sie haben Schattenklone dabei! Wir müssen Dethud ausschalten um sie loszuwerden!" Rief Winter, während ihre Seelenmagie langsam die Barrieren des Prinzen zersetzte. Gerade noch rechtzeitig konnte Fardo sie mit einem psionischen Schild verteidigen. Yder hingegen warf sich gegen Miu. Im letzten Augenblick bemerkte Faust die Finte, die ihn aus der Ebene hätte bannen sollen. Doch er schaffte es auch ohne in die magische Falle zu treten, Miu zu helfen. Auch wenn er dafür nun den gewaltigen Schalg von Yder ertragen werden musste. Es war jedoch Fardos Psistrahl, der dabei war Yders Geist aufzulösen und Faust vor dem Hieb bewahrte. Dafür ließ der Streiter der Shar seinen Schild gegen den Strahl gerichtet Zerfetzen und Fardo wurde von den Scherben und seiner eigenen Kraft getroffen. Gut nur, dass er quasi in Mius Arme fiel. Dumm gelaufen, aber gut für mich, dachte sich Faust, denn nun war Yders gefährlicher Schild vernichtet und Faust musste sich nicht mehr zurückhalten. Zwiespalt ignorierte die Drachenrüstung und zerfetzte Stück für Stück den Körper des Umbranten. Sein Konter hinterließ kaum mehr als einen Kratzer und Faust bekam seine Genugtuung, als die beiden Spitzen seines gespaltenen Schwertes das Herz von Yder Tanthul durchbohrten und dieser zu Boden sackte.
Ein Geschoss traf Faust an der Schulter und warf ihn nach hinten. Scheiße, nicht schon wieder, sie wollen ihn wieder retten! Unerwartet stand Winter plötzlich neben dem sterbenden Prinzen und blitzschnell fuhr ihr Dolch durch seine Kehle und besudelte sie mit einer Menge an Blut, die mit dem Leben nicht vereinbar war. Die gewaltige Macht ihrer Magie ließ ihn manchmal vergessen, dass seine Gefährtin auch eine hervorragende Attentäterin hätte werden können, deren Dolch immer die empfindlichsten Stellen traf.
Leider war das die Gelegenheit für Dethud gewesen, seine Schutzzauber wieder aufzubauen und es ging von vorne los. Verdammt, ich muss irgendwie da rein! Anstelle einer Anwort packte ihn eine kalte Hand und ließ ihn ätherisch werden. Halt die Klappe und greif an, sobald ich dich loslasse, Senftopf! hörte er Drakes Stimme in seinem Kopf, während sie durch den ungeschützten Boden waberten. Er hätte gerne mit ihm diskutiert, warum er sich nicht selbst die Hände schmutzig machen wollte, doch er kannte Drakes Talent sich aus den gefährlichsten Situationen herauszuhalten. Und ehrlich gesagt wollte er genau diesen Moment des Ruhms für sich beanspruchen. Drake ließ los. Es war nur ein einziger sauberer Schlag und Dethuds Gesicht schaute noch immer ungläubig, als sein abgetrennter Kopf auf dem Boden aufprallte. „Das war der vierte..."
„Er ist nicht hier. Uns rennt die Zeit davon!" Rief Winter gehetzt, während Miu die Wunden versorgte. „Vielleicht strengt unser schwabbeliger Katzenliebhaber mal seinen haarlosen Kopf an und sagt uns wo wir den letzten von der Liste finden. Ich würde gerne die Belohnung einstreichen, die Szass Tam mir dafür geben wird." Drängte auch Drake auf seine liebenswerte Art, worauf Fardo natürlich gleich zu einer ausführlichen Antwort ansetzte: „Betrachten wir hierbei sämtliche Variablen unter dem Licht der Wahrscheinlichkeit, so lassen sich diverse Positionen zwar nicht ausschließen, sie bewegen sich jedoch im Feld des Unwahrscheinlichen. Wir sollten unseren Fokus also auf jene Koordinaten richten, welche eine Prozentuale Wahrscheinlichkeit größer als oder gleich einiger Prozent..." „Wir kehren zu unserem ursprünglichen Plan zurück." Unterbrach Faust ihn und schaute dabei Winter tief in die rastlosen Augen. „Du musst den Mythal zerstören! Rivalen hat genau das vielleicht auch bedacht und befindet sich nun dort. Auch als Shar hat er kein Interesse daran, dass seine Stadt abstürzt und seine Anhänger sterben." Fardo nickte beipflichtend, während er sich durch den nicht vorhandenen Kinnbart strich. Winter schüttelte jedoch den Kopf. „Faust, ich..." „Nein, erzähl mir jetzt nicht schon wieder, was du nicht kannst! Du bist es Elias und den anderen schuldig! Du wirst Karsus den Mittelfinger zeigen und diese beschissene Stadt abstürzen lassen!" Winter schluckte betroffen. Doch dann trat eine fatalistische Entschlossenheit in ihren Blick. „Na gut. Gebt mir eure Hände! Wir teleportieren zum Mythal!"


Grimwardt
Anauroch, Schlachtfeld vor Umbra

Wieder und wieder durchtrennte Ambrosia seine Gegner, während ihre Angriffe an seiner Rüstung und seinem Schild zerschellten. Scarlet versengte die Umbranten mit gleißend hellen Mondstrahlen und Laguna schnitt zusammen mit Kalid, Nerul und seinem Vater ihre Reihen. Es war ein erhebendes Gefühl mit ihnen allen in die Schlacht zu ziehen und die Feinde der Allianz zu fällen. Besonders an der Seite seiner alten Gefährten, dem Löwen Mielikkis und dem obersten Marshall von Myth Draenor zu streiten verlieh ihm die Kraft das feindliche Heer zu teilen und sich dem falschen Grimwardt unaufhaltsam zu nähern. Seiner Schwester wäre es sicher lieber gewesen, wenn er sich mit Scarlett zurückgezogen hätte, doch sie verstand nichts von solchen Dingen. Ihre Tochter jedoch hatte seine Werte verinnerlicht, was ihn mit ganzem Stolz erfüllte, egal für welchen Gott sie stritt. Gerade hatte er noch einem Veserab den Flügel durchtrennt, als eine dunkle Welle der Kraft seine Gefährten zurückwarf. Geistesgegenwärtig hatte er Scarlet mit seinem Schild geschützt und nun standen nur noch sie beide vor ihrem Gegner. Der Anführer des umbrantischen Heeres grinste höhnisch, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte. Ohne es zu merken, hatte Grimwardt die fliegende Bestie von Clariburnus selbst zur Strecke gebracht.
„So begegnen wir uns Endlich,  Auserwählter des Tempus." Einander musternd umkreisten sich die Gegner, während beide sich durch ihre Zauber in immer mächtigere Abbilder ihres Gottes verwandelten. „Ich diente dem Feindhammer bereits, als er noch ohne seinen Helm in die Schlacht zog, als er noch wild und aufbrausend war, nach seinem Sieg über Targus."  Erst jetzt bemerkte Grimwardt, dass die Schlacht zum erliegen gekommen war und sich alle Blicke auf die beiden Diener des Feindhammers richteten. „Kämpfen wir, Grimwardt Fedaykin! Nach dem althergebrachten Gesetz der Vorkämpfer. Nur ihr und ich. Und der Gewinner hat die Schlacht gewonnen. Schont das Leben eurer Krieger... und Kriegerinnen." Sein Blick schielte in böser Absicht zu Scarlet.
Grimwardt hielt einen Moment inne, um die Situation abzuwägen. Dann drehte er sich um und kniete vor ihr nieder, wissend, dass alle Blicke auf ihn gerichtet waren. „Ich bitte euch, Elah´ni, im Namen meines Gottes: Lasst mich diesen Kampf austragen und bringt meine Truppen weit weg und in Sicherheit!" Mit gesenktem Haupt hielt er ihrem Blick stand. Ihren eigenen Stolz überwindend nickte sie ihm zu. „Gut. Tut es. Gewinnt diese Schlacht für uns, Onkel!" Widerwillig drehte sie sich um und verließ langsam den Schauplatz zusammen mit seinen anderen Gefährten. Ein Schmerz breitete sich in seiner Brust aus, doch zugleich das bestärkende Gefühl, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Gestärkt richtete er sich wieder auf und blickte in die Augen seines Feindes. „Gut gespielt, Grimwardt. Obgleich es für mich ruhmreicher gewesen wäre euch vor den Augen eurer Truppen zu töten. Seid ihr bereit in die Hallen von Tempus zurückzukehren?" Noch einmal sog Grimwardt die heiße Wüstenluft ein. Und da er Tempus´ Segen auf sich spürte, antwortete er gefasst und schlug seine Axt martialisch gegen seinen Schild. „Fangen wir an!" 
Und Clariburnus fing an. Von einem Auf den anderen Moment stand er in Grimwardts Rücken und rammte die Schwarze Klinge in seine Wirbelsäule. Sein herumwirbelnder Axthieb hätte Clariburnus eigentlich hart treffen müssen, doch dieser hatte sich sofort wieder hinter Grimwardt teleportiert und schlug wieder empfindlich zu. Als wäre das nicht schlimm genug, spürte er, wie das Schattenschwert ihm einen seiner Zauber beraubte und diesen auf seinen Träger übertrug. Elende Derwisch-Technik. Dachte er sich und beendete das Spiel mit einer Antimagischen Zone. Clariburnus kam zum Stillstand. Dabei fiel Grim auf, dass unter den wabernden schwarzen Wolken der Klinge eine Waffe lag, die eher einer Glefe ähnelte, länger als erwartet. Sein Gegner hielt also gerne Abstand. Dummerweise wusste Clariburnus diese Reichweite nun auch zu nutzen. Er hatte zu viele Duelle gewonnen um sich von einer Antimagischen Zone aus der Ruhe bringen zu lassen. Immer wieder tänzelte er erstaunlich behände um Grimwardt herum und erwischte ihn an seinen ungerüsteten Stellen. Auch er selbst landete immer wieder Treffer mit Ambrosia, doch er musste sich eingestehen, dass der erfahrenste Krieger der Umbranten sich ohne Magie scheinbar wohler fühlte als er selbst. „Genug herumgehüpft!" Er unterbracht den nächsten fatalen Hieb, indem er seine Zone der Antimagie fallen ließ und sich in seinen mächtigsten Schutzzauber hüllte. Die Regenbogensphäre umschloss ihn und gewährte ihm die Möglichkeit sich schnell zu heilen und zu stärken. Dabei vernahm er die Stimme seines Gegners. „Das sieht ja hübsch aus. Bei meinen Brüdern besteht das Ding immer aus Grautönen. Ihr habt wirklich Geschmack, Auserwählter des Tempus. Aber wollt ihr nicht herauskommen und kämpfen?" Was folgte war ein Katz- und Mausspiel. Grimwardt Schritt aus seiner Sphäre heraus um anzugreifen, Clariburnus teleportierte, Grimwardt hechtete wieder in seine Sphäre. So ging es eine ganze Weile weiter... Bis die Erde und der Himmel plötzlich zu beben schienen. Im letzten Moment flüchtete sich Grimwardt in seine Sphäre, als eine Lawine aus Sand sich über ihm und Clariburnus ergoss.

Winter
Umbra, Einige Minuten zuvor

Offenbar war der Raum des Mythals gegen Teleportation geschützt. So landeten sie in einem Gang, der sich in der Nähe befinden musste. An dessen Ende befand sich ein ominöser Vorhang. Schon nach dem ersten Schritt hörte sie eine bekannte und doch befremdlich klingende Stimme in ihrem Kopf und die Vision einer Schlacht im heißen Wüstensand spülte sich vor ihre Augen. Der Grim aus ihren Alpträumen stand mit einem Fuß auf der Blut spuckenden Scarlett und schaute Winter direkt in die Augen. „Ich bin hieeer! Und nun werde ich es beenden. Sag deiner Tochter aufwiedersehen!" Die Vision endete. All ihre Instinkte wollten sie sofort in die Anauroch teleportieren um Scarlet zu retten.  Doch es waren kleine Details in der Vision, die nicht passten. Der genaue Ort, Eine Leiche die im falschen Winkel da lag. Sie hatte diesen Alptraum so oft wieder und wieder durchlebt, dass sie jede grausame Kleinigkeit verinnerlicht hatte. Faust trat zu ihr „Alles klar?" Sie schüttelte ihren affektiven Wunsch zu verschwinden ab und nickte. „Rivalen. Oder ein anderer Prinz. Er versucht mich mit meiner Vision in die Wüste zu locken." Faust spuckte aus. „Dieser Bastard. Er will dich verarschen." „Ich weiß, aber er wird schlampig. Ich glaube wir sind hier genau richtig."
Sie schritten weiter den Gang entlang. Keine Fallen, keine Wächter. Nur dieser Vorhang, den Faust nun lüftete und seine Begleiter im gleichen Moment Damit bewarf. „Was soll das? drehst du jetzt komplett durch, Senftopf?"Drakes Empörung wurde durch ein Scheppern unterbrochen. Als Winter sich vom Vorhang befreit hatte, stand Faust auf einem umgeworfenen Spiegel. „Ich hab davon gelesen. Die Dinge sperren entweder deine Seele ein oder erschaffen einen rachsüchtigen Doppelgänger von dir, wenn du reinschaust. Beides keine tolle Option. " Es waren diese Momente, die Winter immer wieder ins Gedächtnis riefen, wie vielseitig begabt der Kämpfer unter seiner grobschlächtigen Hülle war.
Sie tasteten die scheinbar nackte Wand ab, bis Drake aus seiner Geisterform zurückkehrte und mit einer belanglosen Geste einen geheimen Schalter betätigte. „Gern geschehen. Dahinter ist ein Portal. Ich denke ihr seid da." Winter runzelte die Stirn. „Ihr seid da? du meintest wohl wir?" „Nein danke, den Rest erledigt ihr. Oder auch nicht. Ich hab das Gefühl, dahinter lauert nur der Tod. Also, war schön euch gekannt zu haben. Aber mit meinem Herzen bin ich ganz bei euch! Wenn ihr es verkackt bekomme ich schließlich nur einen Teil der Belohnung. Also, macht mich stolz!"
Mit diesen Worten verschwand der Attentäter. Außer Fardo war niemand überrascht. „Oh, das kam etwas unerwartet, aber euren Blicken nach zu urteilen, hattet ihr solch ein Verhalten bereits einkalkuliert." Sie zuckte mit den Schultern. „Ja. Er ist ein Arsch." Diese Antwort schien ihm zu genügen. „Na gut. los geht es!" Tief einatmend folgte Winter den anderen in das  dunkel wabernde Portal.
Ein kurzer heftiger Schmerz erfasste ihren Verstand, als sie sich nach dem Betreten gleich in einem schattigen Mahlstrom wiederfand, der ihren Geist angriff. Wie sie bemerkte, schienen auch die anderen dem Sog zu widerstehen - bis auf Faust, der wie ein ertrinkender Hund in das gefährlich aussehende Zentrum gesogen wurde. Den Mythal. Und in der Luft darüber flog... „RUNTER!" im letzten Moment  konnten ihre Gefährten ausweichen, während Winter selbst sich mit einer magischen Barriere vor dem seelenfressenden Odem des großen Schattendrachen schützte. „Fardo, kümmer dich um Faust!" Zusammen mit Miu folgte der Psioniker Winters Anweisung und befreite den Geist ihres Freundes.
Sie konzentrierte sich auf den Mythal, doch ihn zu bewegen bedeutete, die ganze Stadt zu bewegen, wie sie schnell merkte. Also konzentrierte sie sich stattdessen auf den Drachen, der nun zum Angriff auf sie ansetzte. Ihr neues drittes Auge glühte mit dem Feuer der ersten Göttin der Magie und eine Woge aus purer Kraft erfasste die überraschte Kreatur und schleuderte ihren Körper direkt in den Mythal, der sie innerlich verbrannte. Doch die Freude über ihren Triumph wisch einem Moment der Panik, als sie die Gestalt sah, die über dem Mythal thronte. Rivalen Tanthul, nein, nicht mehr. Sie waren zu spät. Sie sah und spürte es. Shar war fast ganz in seinen Körper herabgefahren und drohte jeden Moment in all ihrer schrecklichen Herrlichkeit komplett zu manifestieren.
Ihre Knie wurden schwach. Ihre Gefährten waren nicht mehr zu sehen. Waren sie schon tot? Die Präsenz einer der mächtigsten Göttinnen ließ all ihre Hoffnungen schwinden. Bis Faust sie unsanft herumriss und sie mit seinem Blick durchbohrte. „Ich fliege jetzt da rauf. Aber du musst sie schwächen, mit dem Mythal!" Tränen standen in ihren Augen in Anbetracht der immer stärker werdenden göttlichen Aura. „Wir sind zu spät Faust. Wir haben verloren." „Sieh mich an! Wir sind genau richtig. Das ist der Moment in dem wir alles ändern können." Seine Hände lösten sich von ihren Schultern. „Wir sehen uns auf der anderen Seite, Winter." Dann flog er hinauf in sein Verderben.
Sie hatte den Tod schon akzeptiert. Aber er hatte Recht. Sie würde nicht kampflos untergehen. Kaum mehr anwesend nahm sie wahr, wie Fardo niedergestreckt wurde und bewusstlos oder tot in der Luft schwebte. Wie Miu ungewöhnlich aggressiv angriff und doch selbst auch scheiterte. Und wie Faust seinen Zorn auf alles Göttliche freien Lauf ließ. Wie eine simple Handbewegung der Göttin seinen halben Körper zerfetzte, während seine Klinge immer wieder schattiges Götterfleisch aus Shars Leib schnitt - scheinbar vergeblich. Doch all das ließ sie nun im Hintergrund ihres Bewusstseins verschwimmen. Ein kurzer Moment der Ruhe ließ sie die Welt um sich herum anders sehen. Sie sah alles in ihrer Umgebung in seine Bestandteile aufgelöst. Alles war Teil eines Gewebes. Das meiste war bloße Materie. Simpel zusammengesetzte Bestandteile, die zusammen eine feste Anhäufung ergaben. Doch hier trafen nun auch die gewaltigen Mengen des Schattengewebes und der magischen Verknüpfungen des Mythals aufeinander. Er sah so vollkommen aus. Ein Gebilde von Sterblichen erschaffen und doch stark genug einen Gott zu verletzen. Die meisten verstanden das Gewebe der Magie nicht, da die Metapher nicht ganz eindeutig war. Doch sah man es so vor sich, so vollkommen, sah man wie kunstvoll die Bestandteile der Existenz miteinander verwoben waren und so zu etwas neuem wurden, mehr als die Summe seiner Teile, eine Emergenz - Magie. Und der Mythal war die Krone der magischen Schöpfung in all seiner Komplexität. Ließe er sich doch nur bewegen. Ihr Blick  auf die magische Kugel wurde durch einen Schleier des Schattengewebes unterbrochen. In diesem Moment fand sie sie... die Schwachstelle. Telamont hatte einst die Stadt vor dem Absturz bewahrt. Mit seiner eigenen Magie aus Schatten. Sie musste nicht den Mythal zerstören! Nur seine magische Verbindung zu der fliegenden Stadt, den magisch gewobenen Anker, der die Kugel mit Umbra verband!
Sie setzte all ihre Konzentration in einen gewaltigen Auftrennungszauber. Fast tat es ihr selbst weh, als ihre Magie des Nichts die Fäden des Schattengewebes um den Mythal herum zerriss... Und sie den Boden unter den Füßen verlor. Umbra stürzte in die Tiefe und der Mythal war befreit. Winter wurde eins mit seiner rohen Kraft. Sie verband sich intuitiv mit ihm. Etwas wofür ein Magier hätte Jahre lang studieren müssen. Doch als die vielleicht mächtigste lebende Zauberin Faeruns atmete sie die Magie wie Luft. Sie musste sie nicht verstehen, nur fühlen. In diesem Augenblick war es Winters Mythal. Und sie ließ ihn nach oben schießen. Ein Kampf zwischen magischem und Schattengewege entbrannte, als die Kugel Shars Körper traf. Die Anstrengung war eigentlich zu viel für sie, doch Winter wusste, was auf dem Spiel stand und setzte unerbittlich nach, all die Seelenenergie verbrauchend, die sie in sich trug. Ein letzter Blick hinauf. Auch Faust rann das Blut aus Nase, Augen und zahllosen Wunden, als sich alle verbliebenen Muskeln in seinem Leib bis zum bersten anspannten. Dann schlug er zu und die Welt wurde schwarz. Ein letzter kalter Schmerz bohrte sich in ihre Schulter.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 26. September 2023, 20:52:21
Sau spannend. Ernsthaft, ich hab so viel vergessen  :blink:
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 04. Oktober 2023, 23:01:19
OmG 🥹
Liebs 🥰
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 24. Oktober 2023, 23:39:35
Kapitel X: Zwischen den Stühlen

Grimwardt
Anauroch
Es war eine quälende Arbeit gewesen sich durch den Sand nach oben zu graben, doch zumindest hatte er durch seinen Schutzzauber die Lawine überlebt. Er klopfte sich die letzten Sandreste ab und wollte gerade entscheiden, wohin er nun gehen sollte, als er bemerkte, dass ihm ein wichtiger Orientierungspunkt fehlte: Umbra war verschwunden. War die Stadt explodiert und die Druckwelle hatte die Lawine ausgelöst? aber wo waren dann die Trümmer. War die Stadt immer noch da, aber unsichtbar? Wie dem auch war, er war sich sicher, dass seine Schwester etwas damit zu tun hatte. Er schaute sich genauer um. Einige Tote auf beiden Seiten waren halb vom Sand bedeckt. Wie viele noch ganz unter den Sandmassen ihr Grab gefunden haben mochten, war schwer abzuschätzen.
„Verräter! Wo ist sie?" Ein mit Krummsäbeln bewaffneter Bedine kam wütend auf Grimwardt zugerannt. In seinen Augen brennender Zorn. „HALT!" Grimwardts göttlicher Befehl durchdrang den verwirrten jungen Mann. Grim hatte ein ungutes Gefühl. „Was habt ihr mir vorzuwerfen? was denkt ihr, was ich getan habe?" Unfähig sich zu bewegen sprach der Bursche weiter: „Alle haben es gesehen! Ihr habt die Elah´ni entführt!" Winters Vision kam ihm sofort in den Sinn. Aber dann wäre sie nicht entführt, sondern getötet worden. „Das war ein Trick der Umbranten, Soldat! Seid kein Tor!" Langsam schien wieder gesunder Menschenverstand in den Geist des Jungen einzukehren. „Sag mir was du gesehen hast. Was genau ist hier passiert, als ich vom Sand überspült wurde?"
Entgeistert blickte er dem Heerführer in die Augen. „Dann wisst ihr es nicht? Die Stadt, sie ist abgestürzt. Wir konnten es aus der Ferne sehen, nachdem die Elah´ni uns von der Schlacht fortgebracht hatte. Doch kurz bevor sie aufschlug, verschwand sie einfach und war fort. Es war eigenartig. Zuvor raste eine gewaltige Düne in Form eines Kopfes genau auf uns zu. Auch euch begrub sie wohl. Doch als die Stadt herunterstürzte, kam auch die Düne plötzlich zum erliegen. Manche behaupten, sie hätten am Himmel ein helles Leuchten und Shar selbst gesehen. Alle jubelten, weil unser Sieg gewiss schien."
Langsam ergab alles Sinn für ihn. Die riesige Düne kannte Grimwardt bereits. ein mächtiger Zauber von Telamont. Offenbar wollte er seine Feinde vernichten, selbst wenn es den Tod seiner eigenen Soldaten bedeutete. Doch dann kam wohl Winter ins Spiel und ließ die Stadt abstürzen. Telamont hatte keine Wahl mehr. Er musste den Zauber abbrechen und die Stadt auf die Schattenebene versetzen, so wie er es schon einmal getan hatte. „Und was ist dann geschehen? Was ist mit meiner Nichte?" Der Bedine senkte den Blick. „Ihr... jemand in eurer Gestalt tauchte plötzlich auf und nahm sie einfach mit." Es war seine Entscheidung gewesen, durch die Scarlet entführt worden war. Er würde es auch wieder gerade biegen müssen. Offenbar steckte der verbliebene Zwillingsprinz hinter der Aktion. Er brauchte mehr Informationen.
Und die verschaffte er sich auch. Die meisten Umbranten waren geschlagen. Beunruhigend war, dass er keinerlei telepatischen Kontakt zu seiner Schwester oder ihrem ständigen Begleiter aufnehmen konnte. Er ließ die Gegend also nach Winter und Faust absuchen, während er sich im Lager mit den Gesandten der Talländer und den Elfen aus Myth Draennor unterhielt. Es war schwer ob der ausgelassenen Siegesstimmung zu vermitteln, dass Telamont die Stadt vermutlich auf die Schattenebene gerettet hatte und ihnen bald wieder ein neuer Angriff bevorstünde. Auch die Stimmung im Lazarett war betrübt. Nimoroth kümmerte sich um Laguna, der versucht hatte Scarlet zu beschützen, als Grimwardts Doppelgänger sie angriff und entführte. Ein dunkles Gift trat aus den Wunden des halbdryadischen Halbelfen. Es bewirkte, dass selbst Nimoroth sie nicht zu heilen vermochte. Erst als Grimwardt einen Fluchbrechenden Zauber anwandt, konnte der tapfere Junge gerettet werden.
Schließlich besuchte Grimwardt nun noch einen ganz besonderen Gast. Aus dem Sand hatten sie den beinahe toten Körper von Clariburnus gezogen und mit elfischen Bannzaubern gefesselt. Dennoch war es seltsam, dass Clariburnus solcher Magie nicht gewachsen war. Da saß er nun. Bereit um nun eingängig befragt zu werden. Grimwardt nahm sich in aller Ruhe einen Stuhl und setzte sich dem angeschlagenen Heerführer gegenüber. „Scheint als hätte ich gewonnen, oder?" Immer noch arrogant aber deutlich verstimmt schaute Clariburnus ihm in die Augen. „Ich würde ja applaudieren, aber ihr seht ja selbst..." Er hob seine gefesselten Hände ein Stück weit an. Grimwardt blickte sich um. „Wie kommt es, dass ihr noch hier seid? Ich habe gesehen, dass ihr über beachtliche magische Fähigkeiten verfügt." sein Gegenüber knirschte mit den Zähnen. „Ja, das ist die große Frage, nicht wahr. Das Schattengewebe. ich habe keinen Zugriff mehr darauf." Winter und Faust mussten wirklich Erfolg gehabt haben. Seine mächtigste Waffe hatte vielleicht wirklich den Krieg entschieden. Und doch meldete sich dabei sein emotionaler, sterblicher Teil bei diesem Gedanken bei ihm. Nicht Grimwardt der Auserwählte des Tempus, sondern Grimwardt der Bruder. Warum konnte er die beiden nicht aufspüren? Hatte er seine eigene Schwester in den Tod geschickt? Und was wenn nicht? Was, wenn er den Krieg gewonnen hätte und sie noch leben würde? Es gäbe keinen guten Grund mehr, Hades von seinem Exorzismus abzuhalten und seine Schwester dabei sterben zu lassen. Vielleicht wäre es das Beste, wenn sie im Kampf gegen die Umbranten endgültig gefallen wäre und damit den Sieg gebracht hätte. Sie wäre eine Heldin, eine Märtyrerin. Alles sprach für ein solches Ende. So hätte er sich auch sein eigenes Ende gewünscht. Doch Winter war nicht Grim. Er konnte seine Gefühle nicht verleugnen, die ihn immer noch an diese Welt banden. Winter war immer seine Familie gewesen. Und so sehr er sie auch instrumentalisieren wollte, jetzt wo er sie vielleicht verloren hatte, wusste er, dass er sie immer lieben würde. Auch wenn er sie eines Tages würde töten müssen.
„Ihr seid ein Mann des Grübelns, oder?" Holte ihn Clariburnus zurück in das hier und jetzt. „Wo hat der Zwilling die Elah´ni hingebracht?" Der Gefangene hob eine Augenbraue. „Der Zwilling? Mattik und Vattik stehen nicht unter meinem Kommando." Der Zauber zeigte Grimwardt, dass Clariburnus die Wahrheit sagte. Er hatte keine Ahnung, dass einer der Brüder schon länger tot war. „Mit Verlaub, aber eure Familie scheint ein ziemliches Problem mit der Kommunikation zu haben." Der Prinz krauste die Nase. „Das ist nicht das einzige Problem, das meine Familie hat. Aber ganz sicher würde keiner meiner Brüder das Schattengewebe unterdrücken oder schlimmeres, nur um meinem Vater zu schaden." Grimwardt rückte näher. „Aber ihr wisst, dass eine Verschwörung gegen ihn im Gange ist?" „Zumindest wundert es mich nicht. Mein ältester Bruder und mein Vater waren sich oft uneinig. Er wollte die Herzlande mit Krieg überziehen, während mein Vater an einer Politik der Diplomatie festhält. " Der Kriegspriester runzelte die Stirn. „Diplomatie? Ihr führt doch gerade Krieg!" Ein abwertendes Lächeln legte sich auf des Gesicht des Prinzen. „Wir verteidigen nur unser Land gegen die Eindringlinge. Ihr habt diesen Krieg gegen uns begonnen." Grimwardt schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Ihr könnt nicht einfach nach tausenden von Jahren von der Schattenebene zurückkehren und euer altes Nesser-Reich beanspruchen. Es sind nun die Lande anderer Völker." Clariburnus lehnte sich zurück. „Nun, in dem Punkt werden wir uns wohl nicht einig werden. Und was habt ihr nun mit mir vor, Auserwählter des Tempus?" „Mich mit den anderen Heerführern beraten und mit ihnen zusammen überlegen, was mit euch geschieht." Da war es wieder, das arrogante Grinsen des Prinzen. „Nun, ich könnte mich gut vorstellen, dass das Votum zu meinen Gunsten ausfallen könnte..." Schnaubend wandte Grimwardt seinen Blick ab um nicht zuzuschlagen. „Dann werde ich ein Veto einlegen." „Oh, eine interessante Vorstellung von Demokratie habt ihr. Ihr seid ja wirklich so viel zivilisierter als wir Shadovar. Und welches Ergebnis wäre euch genehm?" Nun drehte sich Grimwardt wieder zu ihm und lächelte selbst. „Wir werden sehen, wie viel eurem Vater das Leben seines drittältesten Sohns wert ist - sofern meine Freunde die Erbfolge nicht verändert haben. Vielleicht sind ja Glückwünsche angebracht und euer Wert ist gestiegen." Wieder lächelte Clariburnus, doch gelang es ihm diesmal nicht zu verbergen, dass dieser Gedanke ihn durchaus beunruhigte. Vermutlich war ihm vorher noch gar nicht klar geworden, dass seine Seite verloren hatte. Ein Gefühl, das er bisher wohl nicht kannte. „Ihr werdet vorerst mein Gast bleiben, aber in meiner Abtei. Hier würde euch früher oder später jemand die Kehle aufschneiden. Alle Bedinen wollen euren Tod und den aller Tanthuls." Mit diesen Worten trat er aus dem Zelt und donnerte in die Menge. „DIESER KAMPF IST GEWONNEN! WIR ZIEHEN AB!" Der ausbrechende Jubel war groß und so bemerkte er kaum den fülligen Glatzkopf, der neben ihm aufgetaucht war... und daneben eine reglose schwebende Winter! „Grimwardt Fedaykin? Eurer Schwester ist es gelungen durch ein wahrlich gewitztes Ausnutzen Der Matrix, welche den umbrischen Mythal umgab, eine Schwachstelle zu finden und..." „Hört auf zu reden und sagt mir, was mit meiner Schwester ist und warum ich sie nicht aufspüren konnte!" Fardo legte die Hand an sein Kinn. „Nun, sie träumt. Offenbar hat ihr jemand einen Traum gesendet, den ich jedoch nicht entschlüsseln kann. Das ist wirklich faszinierend und wäre ein äußerst interessantes Forschungsfeld! Jedoch muss nun weiterziehen und meinen Schützling Brennus finden und befreien. Wirklich schade, das ist alles so aufregend und lehrreich!" Grimwardt verschränkte die Arme. „Wer genau seid ihr noch gleich?" „Nennt mich Fardo. Ein reisender zwischen den Welten. Es interessiert euch vielleicht, dass der Aufstand gegen Telamont Tanthul vermutlich zerschlagen wurde." Er hatte sich schon umgedreht um davon zu teleportieren. Sofort belegte der Kriegspriester den fremden mit einem Dimensionsanker um ihn daran zu hindern. „Wartet! Ihr seid mir einige Erklärungen schuldig. Zunächst einmal: Was ist mit Faust?" Fardo fasste sich an den kahlen Kopf. „Ach ja, das hätte ich beinahe vergessen. Er ist wohl tot. Und Shar übrigens auch." Seine Zornesader begann
anzuschwellen. „Was soll das heißen? Shar. Ist. Tot?!"

Winter
Abtei des Schwertes, einige Stunden später

Sie wusste, es war ein Traum oder eine Vision, doch konnte sie gerade deswegen nicht die Augen abwenden von dem Grauen, welches sich vor ihren Augen abspielte. Scarlet die für ein grausames Ritual missbraucht wurde, irgendwo in einem verfallenen Haus. Erst als ihrer Tochter der Ritualdolch in die Brust gerammt wurde, wachte Winter schweißgebadet auf.
Sie sah sich um. Grimwardts Abtei! Ihr Bruder musste es geschafft haben. Aber was war mit ihr, Faust und Miu? Winter war nicht mehr ganz klar, was Traum und was Wirklichkeit gewesen war. Hatten sie wirklich gegen Shar gekämpft? und warum lebten sie dann noch?
„Weilst du wieder unter den Lebenden?" Erst jetzt bemerkte sie ihren Bruder, der auf einem Stuhl in der Ecke saß. Allein. „Was ist passiert? Haben wir gewonnen?" Grimwardt erhob sich. „Ich hatte gehofft, dass du mir das sagen könntest. Die Schlacht ist gewonnen, aber Umbra ist auf die Schattenebene zurückgekehrt. Allerdings ohne den Mythal. Sollte Telamont die Stadt zurückkehren lassen, so wird sie nicht mehr fliegen können. Ich glaube das war seine letzte Tat, ehe das Schattengewebe zerfiel." Winter brauchte einen Moment um diese Botschaft zu realisieren. „Das Schattengewebe ist... zerfallen?" Sein nicken war kaum wahrnehmbar. „Was habt ihr erwartet? ihr habt Shar getötet." Die Erinnerungen wurden deutlicher. Wollte sie die nächste Frage wirklich aussprechen? Sie schaute sich noch einmal um. „Wo ist Faust?" Der Gesichtsausdruck ihres Bruders genügte eigentlich als Antwort. „Er ist nicht mehr da." Warum sprach er es nicht einfach aus? „Du meinst, er ist ...tot?" Kopfschütteln. „Nein, er ist nicht mehr da. Er existiert nicht mehr. Alle Magier des Lagers, euer neuer Freund Fardo und auch ich haben auf jede erdenkliche Weise nach ihm gesucht, aber er existiert nicht mehr." Ihr wurde übel während Grim weiterredete. „Winter, er hat die vielleicht mächtigste Göttin des Pantheons erschlagen. Niemand konnte vorhersehen, welche Konsequenzen das nach sich ziehen würde. Wir müssen uns wohl damit abfinden, dass er, seine ganze Existenz, ausgelöscht wurde."
Tatsächlich bemerkte sie eine ungewohnte Stille. Etwas fehlte in ihrer Welt. Wie würde es nun sein, ohne Fausts chaotische, herrlich laute Aura an ihrer Seite. Es tat weh daran zu denken. Einen würdigeren Abgang hätte er kaum hinlegen können. Und doch fühlte es sich falsch an, dass er das ultimative Opfer hatte zahlen müssen um sie alle zu retten. Doch da war noch mehr. Die Stille war noch größer. Das Gefühl von Verlust war präsent wie ein gewaltiges bodenloses Loch in ihrer Seele. Sie musste sich nun konzentrieren auf das was sie gewonnen hatten um nicht irre zu werden. „Also ...haben wir gewonnen? Das Schattengewebe ist nicht mehr da und die Umbranten haben keine Macht mehr? " Er sah sie nicht an, als er brummte. Es war wohl schlimmer als sie dachte. Ihre Vision kam ihr wieder in den Sinn und sie wurde noch ernster. „Grim ...wo ist Scarlet?" Er konnte sie nicht ansehen. Tränen stiegen in ihre Augen. „Der überlebende Zwilling hat sie entführt. Wir suchen noch nach ihm, aber..." Das klatschen ihrer Ohrfeige schallte durch den Raum. „Du hast es mir versprochen Grim! du solltest auf sie aufpassen! Wie konntest du..." „Ich habe sie aus der Schlacht fortgeschickt, damit sie in Sicherheit ist! Wer auch immer sie hat, er hat nicht nur uns, sondern auch Clariburnus und Telamont an der Nase herumgeführt!" Fuhr er sie an und hielt ihren Arm dabei. Sie konnte den Schmerz auch in seinem Gesicht lesen. Natürlich hatte er alles getan um Scarlet zu schützen, das wusste sie, doch ihre Gefühle mussten sich Luft verschaffen. „Ich werde sie aufspüren, lass mich los!"
Sie konzentrierte sich um Ihre Magie zu bündeln. Nun spürte sie, woher das gewaltige Gefühl des Verlustes rührte. Ihre Magie war fort. Sie wusste es in ihrem Innersten, sie brauchte es nicht weiter versuchen. Es war nicht mehr da. Nackt und schutzlos fühlte sie sich, verkrüppelt, getrennt von dem was sie doch am meisten ausmachte. Sie musste sich setzen und wurde blasser. Sie starrte auf ihre Hände. Die Hände einer gewöhnlichen Frau in den Vierzigern. Das Grau der Schatten war aus ihnen gewichen, und ein rosiger Hautton zurückgekehrt. Doch fühlte es sich nicht mehr so an, als wären es noch ihre Hände. Ihre Stimme bebte „Grim, ich kann nicht mehr Zaubern... meine Magie... sie ist fort!" Er musterte seine Schwester wie ein Arzt. „Vermutlich auch eine Folge des Kampfes. Vielleicht kehrt sie bald zurück, wenn du dich ausgeruht hast." Weinend schüttelte sie den Kopf ehe sie ihr Gesicht schluchzend in seiner Brust vergrub. „Nein Grim, ich spüre es! Sie ist weg. So wie Faust! aus der Existenz gelöscht!"
Die Minuten zogen sich wie Stunden und die Stunden wie Tage. Nie war sie so hilflos. Faust war nicht mehr da. Ihre Magie war nicht mehr da. Und Scarlet wurde gefangen gehalten von einem rachsüchtigen Umbranten dessen Familie sie dezimiert hatte. Sie hatte den Überlegungen von Nimoroth, Fardo und Grimwardt kaum folgen können, nur dass der Zwilling auf irgendeine andere Quelle der Macht musste zugreifen können. Eigentlich sollte er mit dem Zusammenbruch des Schattengewebes machtlos gewesen sein - wie sie. Nun saß sie alleine im Zimmer, um sich von etwas zu erholen, wovon sie sich nie würde erholen können. Nutzlos, nur eine Behinderung für die anderen, die mit aller Macht versuchten Scarlet zu helfen. Sie hätte in diesem Moment alles gegeben um ihre Magie zurückzubekommen und ihre Tochter zu finden.
Hallo Winter! Das Summen einer magischen Stimme in ihrem Kopf war geradezu berauschend und doch zuckte sie vor Schreck zusammen. Wer spricht da? Stille. Dann wieder die fremde Stimme, die voller Würde in ihrem Kopf widerhallte. Ich beobachte dich schon lange und ich bin so froh, dass du mich genau im richtigen Moment gefunden hast. Dass dein Freund mich im genau rechten Augenblick vernichtet hat. Winter riss die Augen auf. Shar? Aber ...du bist tot! ein überhebliches Kichern ging durch ihren Geist. Du hast recht. Die Göttin Shar ist tot. Aber du weißt ja, so einfach ist das mit dem Töten von Göttern nicht, oder? Sie erinnerte sich an Mephisto, dessen Seelenkeime sie immer wieder beschäftigten. Ganz genau, bei Mephisto hast du es bereits mehrfach erlebt. und er ist - war- nur ein niederer Gott, ist nun gar kein Gott mehr. Sie sprach nicht nur mit ihr, sie konnte also auch Winters Gedanken lesen. Natürlich musst du nun sehr verwirrt sein und viele Fragen haben. Lass mich kurz erklären warum wir nun so eng miteinander verbunden sind! Lehn dich zurück und entspanne dich! Seit Äonen schon bin ich teil des Pantheons, so alt wie die Dunkelheit selbst. Kaum ein Wimpernschlag schien es her zu sein, dass ihr Sterblichen auf die Welt freigelassen wurdet. So unbeholfen und unwissend. Und doch habt ihr gelernt die Gnade der Götter und die Macht der Magie für euch zu nutzen. Und dabei wurdet ihr Übermütig, wie ein Kind, das die Armbrust seiner Mutter gefunden hat und aus Dummheit auf diese geschossen hat. Natürlich musste man euch diese Waffe wegnehmen und euch stattdessen eine Spielzeugarmbrust in die Hand drücken. Karsus Fall und die darauf folgende Begrenzung auf die Magie des maximal neunten Kreises - Die Metapher war nur zu deutlich. Ich sehe, du verstehst was ich meine. Aber du warst ein böses Mädchen, oder Winter? du hast dich einfach über diese Regeln hinweggesetzt. Genau wie meine Kinder, die Shadovar. Eigentlich müsste ich also böse auf dich sein, wie meine Schwestern und Brüder. Aber ich fand dich immer interessanter, je mächtiger und rücksichtsloser du wurdest, meine süße Winter! Nun fragst du dich natürlich, warum die größte aller Göttinnen sich von einem sterblichen hat töten lassen. Ich habe wirklich vieles dadurch verloren. Nach euren Maßstäben strotze ich noch immer vor Macht, doch meine göttlichen Fähigkeiten sind nun zu einem großen Teil verschwunden. Ein großer Verlust also. Doch aus meiner Verachtung euren kurzen sterblichen Leben gegenüber wurde mit der Zeit immer mehr ein Gefühl von Neid. Eure kurzen Leben sind so viel spannender. Ihr müsst so verzweifelt hart darum kämpfen. Und ihr seid dabei in all euren Entscheidungen so vollkommen frei. Deine Magie ist für immer weg Winter, dein Gefühl trügt dich nicht. Aber du hast bereits ein so erfülltest Leben gelebt wie kaum ein Sterblicher. Du solltest es genießen, die Jahre die dir noch bleiben, ganz ohne Magie. Eine Mischung aus Trauer und Wut stieg in Winter auf. Ah, da ist sie ja wieder, die sture Entschlossenheit für die ich dich auserwählt habe! Weißt du, es war lange schon abzusehen, was Rivalen vor hatte. Hätte ich seinem Vater auch nur einen kleinen Hinweis gegeben, so wäre sein Plan natürlich sofort gescheitert. Aber es war die beste Gelegenheit für mich eine von euch zu werden. So gab ich euch immer wieder kleine Hinweise um genau euch und euren Freund zu eben jenem Moment zu führen, an dem wir uns verbanden. Winter bekam eine Gänsehaut. Heißt das, das war alles geplant? Sagen wir, ich habe die Dinge geschehen lassen, die geschehen sollten und die richtigen Informationen zur richtigen Zeit durchsickern lassen. Mehr war nicht nötig. Die handelnden Akteure wart nur ihr Sterblichen. Rivalen dachte, er würde mich in sich hinabrufen. Tatsächlich ließ er mich zu einem Teil von euch werden. Du und ich, wir sind nun eins, Winter! Und es fühlt sich so wunderbar an! Zusammen werden wir dieses sterbliche Leben so richtig zu schätzten lernen! Winter schnaubte wütend auf. Und warum sollte ich euch das gestatten? Ihr habt es selbst gesagt, mein Wille ist frei und ihr habt keine Macht über mich. Wieder eine kurze Pause. Das Stimmt. Aber ich bin natürlich nicht ohne ein Geschenk gekommen. Wie ich bereits sagte, habe ich nicht mehr meine göttlichen Kräfte, aber ich habe immer noch die magischen Kräfte einer unendlich alten Zauberin- und die ist sogar größer als es deine jemals gewesen ist, Winter. Und du hast nun auch Zugriff auf diese Magie. Ihr Misstrauen war greifbar. Natürlich weißt du, dass es immer einen Haken gibt und den will ich dir auch nicht verschweigen. Es ist so, ich bin nun ein Teil von dir. Doch wie viel Macht dieser Teil über dich hat, hängt davon ab, wie viel Macht du mir gewährst. Du kannst über meine Magie verfügen, aber das bedeutet, dass du bald die Kontrolle an mich abtreten - und irgendwann ganz verschwinden wirst. Von Wegen Geschenk. Es hatte nicht lange gedauert und schon hatte die Göttin der Dunkelheit ihr wahres Gesicht gezeigt. Warum sollte ich das tun? Das ist mein Leben, nicht deines! Es war ein jämmerlicher Versuch, natürlich kannte Winter die Antwort. Ja. Eure Tochter hat euch verwundbar gemacht, dich und Dorien. Wieder so ein aufregender Aspekt eurer sterblichen Leben. Du weißt, dass wir sie retten können. Keine Angst, der Einsatz meiner Magie, die dazu notwendig ist, wird dich nicht die Kontrolle verlieren lassen. Ganz so schnell geht es nicht. Glaub mir, ich tue das nicht aus Bosheit. Leider sind die anderen Götter gar nicht davon begeistert, wenn eine von uns die Rolle mit einer Sterblichen tauscht. Für einige war es schon schrecklich frustrierend, als Sterbliche zu Göttern wurden. Aber eine Göttin die zu einer Sterblichen wird... So ein Frevel ist nicht entschuldbar. Daher ist es, liebste Winter, für unser beider Leben äußerst wichtig, dass du über mich Stillschweigen bewahrst! Angst klang in Shars Gedanken mit. Auch sie konnte ihre Gefühle nicht wirklich von Winter verbergen. Du hast Recht, der Gedanke, dieses neue Leben so schnell zu verlieren macht mir Angst, ein Gefühl, das mir auch neu ist. Doch daran ist nichts verwerflich, oder? Lass uns die Sache wie zwei erwachsene Frauen auf Augenhöhe behandeln. Ich werde dich dein Leben so gut es geht weiter leben lassen, als stille Betrachterin werde ich von dir lernen. Und eines Tages, wenn immer mehr von dir und deinem Selbst schwindet, dann übernehme ich und du kannst dich zur Ruhe setzen. Du weißt, dass das beste Angebot für deine Zukunft ist, das du seit langem bekommen hast. Nun ja und um ganz ehrlich zu sein, eine wirkliche Wahl hast du nicht. Aber es ist auch in meinem Interesse, dass du dein Leben genießen kannst. Shars Worte machten Sinn, doch Winter fühlte, dass auch dieses Angebot nicht zu etwas Gutem führen würde. Aber das hatte nun keine Bedeutung. Sie musste Scarlet finden. Sehr schön! Freu dich auf die mächtigste Erkenntnismagie, die du je erleben durftest, meine liebe Winter! Auf bald! Du wirst all meine Macht intuitiv verstehen. Keine ist darin so gut wie du...
Winter schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, waren sie von Schatten erfüllt und ihr geistiges Auge wurde in die Anauroch katapultiert. Der Weg dorthin dauerte keine Sekunde und doch kannte sie jedes Detail. Sie sah Scarlet ohnmächtig auf dem Tisch. Einem Tisch aus Stein. Sandstein. 4230 Jahre alt, von poröser Natur. Die Informationen, die ihren Geist fluteten waren überwältigend. Sie fand schnell auch den Zwilling, Vattick war es also, der überlebt hatte. Und noch jemanden. Artemis Entreri. Seine Haut war noch immer grau, doch darunter schien sich nun auch in seinen Adern etwas zu regen, da das Schattengewebe zerfallen war. Die kleinen Fältchen der Gram, die sich seitlich in seine Augenlider gefressen hatten zeugten vom unterdrückten Zorn des Assassinen über seine unfreiwillige Hilfe den Umbranten gegenüber. Ob er nun wieder aus eigenem Willen agierte? Winter erinnerte sich an eine Begebenheit vor einiger Zeit. Drake hatte sie tatsächlich zu einer Art Date überredet, worauf Faust natürlich theatralisch missmutig reagiert hatte. Natürlich war es eine Falle gewesen. Entreri hatte Xaras Sohn entführt und Drake damit erpresst. Eigentlich wollte Sie den Albino für seinen erneuten Verrat am liebsten zu Staub auflösen, doch der Umstand, dass Drake sich für das Leben eines Kindes erpressen ließ, zeigte ihr auch eine neue Seite an ihm. In Drakes Welt gab es keine größere Schande als Verletzlichkeit und diese hatte er ihnen damit offenbart. Faust kam ihr zu Hilfe und Artemis Entreri konnte fliehen. Immer wieder dachte sie seit jenem Tag daran, dass nun auch er möglicherweise Scarlet als Druckmittel nutzen würde. Sie würde dem nun eine Ende bereiten.
Ihre Gedanken konzentrierten sich wieder auf das verlassene Gebäude. Die Falle war durchdacht. Grim wäre gewiss hinein getappt, genau so wie Winter auch, hätte sie ihre eigenen Kräfte gehabt. Wieder arbeitete der Attentäter mit Antimagie. Doch sie war nun mehr als sie selbst. Und Vattiks nervös schwitzende Stirn und seine pochende Halsschlagader ließen sie sicher sein, dass er keine Magie mehr besaß. Zur Sicherheit würde sie aber Fardo mitnehmen, dessen psi-Kräfte auch hier nützlich sein dürften.
Der Einsatz verlief schnell. Winter wusste genau an welcher Stelle Entreri warten würde, während er sich in seiner Hülle aus Antimagie sicher fühlte. Eben diese wurde ihm aber zum Verhängnis, als Winter einfach die Seitenwand auflöste und die einstürzende Decke den Assassinen unter sich begrub. Um sich zu retten hatte er die Antimagische Zone fallengelassen und schoss hervor um Winter aufzuschlitzen. Doch während sie ihm mit einer Hand mit einem Schauer Flammender Strahlen zurückschleuderte, entzog die andere Hand bereits alles Wasser im Körper des legendären Antagonisten und versetzte es in dessen Lunge. Entreri windete sich am Boden, ertrinkend an seinen eigenen Körpersäften. Mit letzter Kraft zog er einen Trank der ihn rettete. Doch er blieb unten, hob seine Hand und ergab sich. „Genug! Ich weiß wann ich verloren habe! Sie ist..." „Im Keller." unterbrach Winter ihn. „Sonst hätte ich wohl kaum das Dach einstürzen lassen." In seinen Augen stand keine Angst. Nur Respekt. Doch Sie ließ sich nicht wieder von ihm blenden. Ihr Geist drang in seinen Kopf ein. Ich weiß, du hasst das, aber du wirst jetzt nur noch tun was ich dir sage. Und du tust vorerst nichts außer zu Atmen! Sie spürte, dass ihr Beherrschungszauber wirkte.
Da kam Fardo zusammen mit einer benommenen aber nur leicht verletzten Scarlet! - und einem am Daumen nuckelnden Vattick der ins Leere starrte. Wussten die Götter, was Fardo mit seinem Geist angestellt hatte. Nach all dem Verlust war das Gefühl der warmen Umarmung ihrer Tochter und ihrer Tränen an ihrer Wange die größte Belohnung die Winter sich nur vorstellen konnte. In diesem Moment brauchte sie nichts anderes mehr. Sie war einfach nur glücklich. Vielleicht hatte Shar recht. Vielleicht war das nun der Punkt, an dem sie sich zurückziehen konnte, den Schritt gehen, den Nimoroth gegangen war. Aber natürlich warteten hinter ihr ein wissbegieriger Glatzkopf, ein daumenlutschender Prinz von Umbra und der berüchtigste Attentäter der Schwertküste auf sie. Die Rentenpläne mussten also doch noch etwas warten. Und sie konnte nicht leugnen, wie gut sich Shars Kräfte anfühlten. Als hätte sie die Magie als solche selbst erfunden, urtümlich und kraftvoll, roh und überwältigend. - Ja, sie liebte es. Und nun würden sie alle von hier verschwinden.

Faust
irgendwann, irgendwo

Er spürt seinen Körper nicht mehr, nur wie die Klinge den Kopf der Göttin abtrennt. Dunkelheit schießt ihm entgegen. Sie ist überall. Und Stille. „Sei gegrüßt, Desmond. Oder Faust, wie es dir wohl eher beliebt." Er schaut wieder nach vorne, auf die leuchtende Gestalt auf dem Stuhl. Er hat ihn nie zuvor gesehen, doch er erkennt ihn wie von selbst. „Lathander, Sonnengott." Sein Blick geht weiter durch die Reihe. Fausts Traum ist also wahr geworden. Er ist nun Teil des Stuhlkreises der Götter. Eine Vielzahl von Eindrücken durchfährt ihn. Erhabenheit, Macht. Bekannte Gesichter, die ihn missmutig anstarren. Er winkt ihnen mit einem ironisch freundlichen Grinsen zu. „Tempus, Asmodeus. Lange nicht gesehen. Alles klar bei euch?" Alle Götter sitzen aufgereiht um ihn herum. Wirklicher als wirklich. Jeder eine Verkörperung dessen was sie darstellen. Beinahe wie eine Karikatur, eine Übertreibung der Wirklichkeit.
„Faust, du hast es vollbracht die Göttin der Dunkelheit, Shar zu töten. Es obliegt dir daher nun das Portfolio der Dunkelheit an dich zu nehmen und sein neuer Gott zu werden." Sein neuer Gott? So hatte er das nie betrachtet. für ihn waren die Götter jene, die über allem standen, doch wenn er sie so ansah war es deutlich: Die Göttern konnten ihre Portfolios verwalten, doch sie dienten ihnen auch. Er macht eine lange Pause, lässt all das auf ihn wirken. Faust, Gott der Dunkelheit. Das Portfolio liegt vor ihm. Wie eine Schriftrolle, zum greifen nah. Er streckt die Hand aus. Wieder überfluteten ihn die Eindrücke. Gewaltige Macht. Ewigkeit. Er stutzt, sieht auf seinen Arm. Das leuchten von "Zeit" wird schwächer. Ewigkeit. Das hier lässt sich nicht vereinbaren mit der Macht über die Zeit. „Es ist wahr. deine Spielerei mit der Zeit findet hier ein Ende. Du tauschst sie ein, gegen die Unsterblichkeit und die größte Macht und Ehre, die ein Sterblicher erlangen kann." Sein Blick wandert weiter. „Soso. Hey Finder! Dich mag ich am liebsten in diesem Laden! Ein besoffener Hurenbock, der durch Zufall einen Echsengott erschlägt und auf einmal Gott der Reptilien ist! Mit dir Stoß ich gerne an!" Finder Wyvernsporn hebt seinen Humpen und lächelt. Ein bittersüßes Lächeln. „Und? Ist es das was du dir vorgestellt hast? Und was ist mit dir, Kelemvor? Du hast das Portfolio des Todes ja reichlich aufgewertet, wie man hört. Aber ist es nicht auch furchtbar langweilig? Willst du nach so vielen Jahren nicht auch manchmal über die Stränge schlagen? Oder reißt AO dir und dem beschissen grinsenden Cyric dahinten dann den Arsch auf?" Tatsächlich fühlt sich Faust an Hades erinnert, als Kelemvor antwortet. „Niemand von uns hat AO je gesehen. So er nicht das Schicksal, das Leben oder das Universum selbst ist, existiert er wohl nicht oder interessiert sich nicht für uns." Faust lehnt sich zurück. Seine Rolle gefällt ihm immer mehr. „Und doch sitzt ein guter Teil von euch nur hier, weil er oder sie einen anderen Gott umgebracht hat. Mal ehrlich, wer hat sich diesen Scheiß denn bitte ausgedacht? Bei dem ein oder anderen passt es, aber was ist das für eine Kompetenz, ein Amt zu übernehmen, weil man den Vorgänger umbringen konnte? Hier sitzen doch haufenweise überbewertete Gestalten herum, die durch Machtgier oder Zufall in ihr Amt gerutscht sind." Er redet sich in Rage. „Die Menschen denken immer ihr seid so toll und perfekt. Am Arsch! Ich kenne für jeden von euch einen Menschen, der das Amt sicher besser ausführen würde! Du hältst dich für Gerecht, Kelemvor, aber Hades wäre ein genauerer Richter als du. Und du, Ilmather! An Mius echte Herzensgüte kommst auch du nicht ran. Und auch wenn er es nicht hören wollen würde, mit Grimwardt als Kriegsgott hätten die Menschen es gewiss besser, Tempus. Wenigstens muss ich jetzt nicht mehr vor dir auf die Knie gehen." Lathanders Stimme grollt. „Genug! Es ist nicht Zweck dieser Veranstaltung deine Meinung kundzutun, Faust. Dir wurde ein göttliches Geschenk gemacht. Nun ist es an dir, dieses anzunehmen und zu werden wozu du bestimmt bist." Da ist etwas in den Worten des Sonnengottes, was nicht zu seiner Miene passt. Cyric benennt es, ehe Faust es erfassen kann. „Er ist ganz schön versessen darauf, dass du das Geschenk annimmst, oder? Und das obwohl du für ihn Abschaum bist, wie eine juckende Krankheit mit der man leben muss. Na komm, sei ein braver Junge und sag uns: Warum will der gute Lathander so sehr, dass du das Portfolio an dich nimmst?"
Der Gott der Intrigen hat Recht. Das Leuchten auf seinem Arm wird wieder stärker. „Ihr... ihr habt Angst. Ihr wisst wie viel Macht "Zeit" birgt. Eine Macht die ihr nicht kontrollieren könnt, die ihr nicht vorhersehen könnt. Und wenn ihr mich in euren Stuhlkreis aufnehmt, dann habt ihr mich unter Kontrolle." Sein Grinsen wird breiter. „Wer weiß was ich damit anzustellen vermag. Wenn ich Shar töten kann, warum dann nicht auch andere von euch? Besonders, wenn das Wann für euch nicht mehr greifbar ist. Wisst ihr, ich habe wirklich lange davon geträumt ein Gott zu werden. Doch nun wo ich euch sehe, sehe ich nur einen traurigen Haufen von unfreien Unsterblichen. Extrem mächtig, ja, aber Sklaven ihrer eigenen Werte. Ich kann sein was immer ich will und wann ich will." Er hebt das Portfolio der Dunkelheit hoch, spürt den Sog seiner Macht. Und schleudert es von sich. „Ich entsage hiermit der Göttlichkeit und dem Portfolio der Dunkelheit!"
Im Ende seines letzten Worts schießt eine Gestalt hervor. Asmodeus Zug verrät sofort, dass er genau damit gerechnet hat. Sofort öffnet er die Schriftrolle und nimmt ihre Essenz in sich auf. Etwas anderes fällt dabei zu Boden. Sein vorheriges Portfolio. Das der Hölle. Der Schlüssel zur Rettung von Fausts Seele. Und wohl auch Winters. Aller Seelen, die verdammt wurden. Der neue Gott der Dunkelheit breitet seine schwarzen Engelsschwingen aus, sein zuvor entstelltes Gesicht verborgen hinter einer anmutigen Aura der Schwärze. Ob der einstige Herrscher der Neun Höllen es bereits geplant hatte bevor Faust in die Hölle hinabgestiegen war, um Omegas Seele zu retten? „Gut gespielt. Wie wäre es mit einem kleinen Dankeschön?" Er sieht Faust nicht einmal an, als er an ihm vorbei schreitet. „Das werdet ihr bekommen, ob ihr wollt oder nicht." Die Dunkelheit baut sich vor dem Licht der Sonne auf. Voller Bitterkeit erklingt Lathanders Stimme. „Dann hast du nun also was du wolltest... Asrael?" Fausts Präsenz schwindet immer mehr, er nimmt kaum noch etwas von diesem Ort ohne Zeit und Raum wahr, nur noch die letzten Worte aus der Dunkelheit... „Erst wenn dein Licht erloschen ist, Amaunathor!"


Leider übernimmt das Forum nicht die kursiven Stellen, wodurch die inneren Monologe und Dialoge leider etwas schwer zu lesen sind.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 25. Oktober 2023, 09:59:40
Es ist fabelhaft, vielen Dank für dieses tolle Kapitel 🥰
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 26. Oktober 2023, 17:18:17
Nostalgie pur :D
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 16. Dezember 2023, 19:42:05
Kapitel XI: Geschichten

Faust
Irgendwo in der Anauroch, ein Tag nach Umbras Fall

Entgeistert schreckte Miu neben ihm auf. Offenbar war er wie aus dem Nichts neben der Karaturianerin aufgetaucht. Er war wieder zurück. Es tat gut die glühende Hitze der Wüste und den feinen Sand zwischen seinen Fingern zu fühlen. „Bei allen neun Höllen, Faust! Wo warst du? Du warst einfach weg ehe ich davon teleportieren konnte!"fuhr sie ihn an. Er war nicht sicher, ob sie eher besorgt, wütend oder neugierig klang. „Puh, wo fang ich an? Das wird ne längere Geschichte..." Faust erzählte so gut er sich erinnerte jedes Detail seiner Begegnung mit den Göttern, während Miu staunend und kopfschüttelnd zuhörte.
„Also hattest du tatsächlich die Chance ein Gott zu werden? Der Gott der Dunkelheit? Und du hast diese Chance nicht ergriffen? Warum denn nur?"Der verständnislose Blick seiner Begleiterin irritierte Faust. „Nein, hast du nicht zugehört? Diese Portfolios sind unglaublich mächtig, aber wie ein Korsett. Ich würde all meine Freiheiten, die ich als Sterblicher habe verlieren." Immer noch schüttelte Miu den Kopf. „Ja, aber du hättest so viel Macht gehabt. So viele Möglichkeiten die Welt zu verändern, das Leben der Sterblichen besser zu machen. Du hättest so viel verändern können." Sein entwaffnendes Grinsen stimmte Miu wieder friedlicher. „Hey, ich kann immer noch vieles verändern!" Er winkte mit seinem "Zeit"-Arm. „Hast du die Stelle nicht gehört, als ich gesagt habe, dass die sich wegen dem Ding hier einnässen?" Doch sie schien ihm nicht zuzuhören, sondern zu grübeln. „Faust, wenn Asmodeus nun der Gott der Dunkelheit ist, wer hat dann das Portfolio der Hölle bekommen?" Warum interessierte sie das so sehr? „Keine Ahnung. Es fiel zu Boden und nun werden wohl die übrigen Götter entscheiden was damit ist. Vielleicht bekommt es mein Vater. Er wäre in der Rangordnung der Hölle der nächste." Ihre Mundwinkel verzogen sich merklich. „Du hast selbst gesagt, dass die Götter dich nicht mochten, vielleicht sogar fürchten. Was, wenn sie dir eins auswischen wollen, dich loswerden wollen?" Ihre dunklen Augen trafen seine. „Du meinst...?" „Mephisto. Für diese Macht würde er alles daran setzen dich - uns auszulöschen! Er ist ein Meister darin Pakte einzugehen. Sowohl die Götter als auch er würden zufrieden so einen Vertrag eingehen." Faust dachte kurz nach. „Mag sein, aber als Gott hat er noch weniger Möglichkeiten sich in unsere Angelegenheiten einzumischen. Es gibt nunmal diese Gesetze an die die Götter sich halten müssen und Götter dürfen sich nicht in unseren Kram einmischen."
Das schien Miu nicht zu beruhigen. „Es ist Mephisto. Er wird einen Weg finden. Weißt du, wie Asmodeus zum Herrn der Neun Höllen wurde? Und was er vorher war?" Er erinnerte sich an die letzten Worte Lathanders. „Sein Name war Asrael, oder?" Wissend nickte seine Gefährtin. Etwas an ihrem Gesichtsausdruck gefiel ihm nicht. „So ist es. Er war der höchste Erzengel in den Reihen Amaunathors, also dem frühen Lathander, im Kampf gegen die Armeen des Abyss. Und er war gut darin. Kein anderer Engel verstand es, selbst die mächtigsten Dämonen so gnadenlos zu vernichten, dass es schien, das Gute würde bald die Oberhand gewinnen." Faust hing an ihren Lippen. Er bemerkte die Begeisterung in ihrer Stimme „Doch bald vernahm Asrael eine Stimme in seinem Kopf, die seine Erfolge wertschätzte, ihm sagte, dass er zu größerem bestimmt sei. Und doch würden ihm die Götter nicht die Beachtung schenken, die er verdiente. Und die Stimme in seinem Kopf hatte Erfolg. Asrael weigerte sich weiterzukämpfen, wenn die Götter seine Erfolge nicht belohnen würden. Als sie ihn ignorierten scharte er all seine getreuen Engel hinter sich und begann eine Revolution gegen die Engel Lathanders. Die Schlacht kostete zahllosen Engeln auf beiden Seiten ihre Existenz, doch am Ende siegte der Sonnengott gegen den aufrührerischen Engel. Zur Strafe wurde Asrael in die tiefsten Tiefen des Abgrunds geschleudert. So tief, dass er neun neue Ebenen des Abgrunds durchschlug. Sein einst wunderschönes Antlitz wurde dabei zerfetzt und er konnte sein eiterndes Gesicht nie wieder zurückverwandeln in die Gestalt, die er einst hatte. Doch sein endloser Zorn auf die Götter und Dämonen zugleich, wurde belohnt. Asmodeus erschuf aus den neun Ebenen die er durchschlug die Hölle. Die Engel die ihm gefolgt waren wurden zu den Erinnyen und auch die Dämonen die dort hausten veränderten sich. Es war die Geburtsstunde der neun Höllen und der ersten Teufel - und von Asmodeus." Faust starrte Miu fragend an. „Warum erzählst du mir das alles?" Scharf sog sie die Luft ein. „Die Stimme in Asraels Kopf, war niemand anderes als Mephisto. Asmodeus war immer der stärkere von ihnen beiden, doch Mephisto ist der wahre Grund warum es zum Aufstand unter den Engeln kam. Er ist der wahre Grund für die Erschaffung der neun Höllen. Darum will er wie kein anderer den Titel des Fürsten der neun Höllen. Die Götter wissen das und nun steht er vielleicht kurz davor diese Macht zu erlangen. Er hat den Sieg des Guten über das Böse verhindert und den mächtigsten Engel den es je gegeben hat zu Fall gebracht. Er wird einen Weg finden dich zu töten Faust. Wir müssen ihm zuvor kommen!"
Da war es wieder. „Wir?" Sofort fing sich ihre Miene wieder als er sie anschaute, doch er wusste, dass mehr dahinter steckte. „Du bist der Auserwählte. Ich habe geschworen dir überall hin zu folgen und dich zu beschützen so gut ich es kann. Das weißt du. Aber du hast recht, ich werde dir keine wirkliche Hilfe mehr sein. Das ganze ist zu groß für Menschen wie mich geworden."
Er schwieg und beobachtete sie weiter. Ihr Blick wanderte auf seinen Arm. „Wenn sie wirklich Angst vor deiner Kraft haben, dann steckt vermutlich auch ein sehr großes Potential dahinter. Denkst du, du wirst es bald schaffen in die Vergangenheit zu reisen? Und wenn ja, welchen Zeitpunkt willst du anvisieren?" Sein Blick grub sich in die Feinheiten des Wortes auf seinem Arm. „Es wird nicht leicht werden. Einige Details zu Zeit und vor allem Raum werde ich noch mit einem alten Freund besprechen müssen, aber ich denke, ich weiß wannhin ich muss."
Herausfordernd schaute er sie an. „Auch ich hab eine kleine Geschichte für dich, Miu. Die Reiche der Götter gehörten nicht immer den Göttern. Andere Kreaturen bewohnten sie einst, so mächtig, dass sie eine ernsthafte Bedrohung für die Götter gewesen wären, wären diese nicht unsterblich. Die Titanen waren lange Zeit vor den Göttern die wir kennen die Herrscher über die Ebenen. Sie waren extrem mächtig, doch es gab nur wenige von ihnen und sie waren letztenendes unglaublich langlebig und zäh, aber nicht unsterblich im Sinne eines Gottes. Die Quellenlage ist sehr dünn, denn es wirft kein gutes Licht auf die ach so tollen Götter. Aber wenn man die wenigen Berichte aus jener Zeit zusammenfügt, dann wird eines klar: Natürlich gab es in so einem Krieg auch eine undenkbare Romanze, zwischen einer Titanin und einem Gott. Und er offenbarte ihr ein Geheimnis. Die Götter hassten die Titanen nicht, weil sie sie für ihre Sterblichkeit verachteten, sondern weil sie sie beneideten. Zeit hat für einen Gott keine Bedeutung. Sie können sie nicht genießen, weil sie nicht abhängig vom Fluss der Zeit sind wie wir. Zeit wie wir sie sehen und erleben ist eine Dimension, die nur sterbliche als Fluss wahrnehmen, Unsterbliche aber als Konstante. Die Titanin erkannte die Wahrheit hinter den Worten ihres Liebhabers und sie machte ihm ein Geschenk. Nie war eine Sterbliche einem Gott so nah gewesen Sie kannte ihn bald besser als er sich selbst. Sie rammte ihm eine Klinge in den Leib, mit einem Hieb, so präzise geführt, dass sie das Band der Unsterblichkeit durchschnitt. Da er nicht verstand, was sie vorhatte und sich betrogen fühlte, erschlug er sie, doch es war zu spät." Faust machte eine dramatische Pause. „Der Odem der Sterbenden. Ein Hieb, geführt vom Fluss der Zeit selbst, der die Starre der Unsterblichkeit zerschneidet und nur von einem Sterblichen ausgeführt werden kann." Mius dunkle Augen blitzten in der Sonne. „Von da an wurde aus dem Neid der Götter Furcht. Wenn die anderen Titanen diese Technik lernen würden, wären die Tage der Götter gezählt gewesen. Kronos, der mächtigste der Titanen war so stark, dass sie es nur gemeinsam schafften, ihn zu fesseln. Wäre er in der Lage gewesen Götter zu töten, würden wir heute in einer Welt ohne Götter leben."
Miu schüttelte den Kopf „Wir hätten einfach nur andere Herrscher, die vermutlich noch tyrannischer herrschen würden als die Götter es tun." Ihre Aussage verwirrte ihn. „Es war doch deine Idee, die Götter loszuwerden." Ihr Blick passte nicht zu ihr, auch wenn sie sich nichts anmerken ließ. „Das stimmt, aber nicht, damit wir stattdessen noch schlimmere Götter bekommen." Irgendwas stimmte nicht mit ihr. „Miu, was ist los?" Fragend schaute sie ihn an. „Was denkst du denn? Winter hat Umbra zerstört und du hast Shar getötet. Und der Kampf war auch für mich anstrengend." Die Antwort war zu einfach. „Ja, aber das ist nicht alles. Du bist schon lange so seltsam. Was ist damals in der Hölle mit dir passiert?" Sie schaute zur Seite, Tränen standen in ihren Augen. „Ich will nicht darüber reden..." Resigniert schnaubte er aus. „Nun gut. Ich lasse dir deine Geheimnisse. Aber es ist nichts, was dir oder mir den Kopf kosten wird, oder?" Sie nickte stumm. Das Gespräch war zu Ende. Zeit sich zu teleportieren. Doch wohin? Wo würde er seine Freunde nach dem Sieg über die Umbranten finden? Er ließ seine Münze entscheiden und sie verließen die Wüste.


Grimwardt
Rasilith

„Es wird nie langweilig in eurer Stellung, oder?" Wie sehr Grimwardt sich in diesem Moment gewünscht hätte, dass dieser Fardo mit seinen Bemerkungen endlich einmal falsch liegen würde. Während sie noch mit Nimoroth darüber diskutiert hatten, wie und wo sie Scarlett suchen sollten, war Winter verschwunden. Offenbar hatte sie ihr magischen Fähigkeiten schneller zurück bekommen als gedacht. Hoffentlich nicht mit noch mehr Seelenmagie... Kurz darauf meldete sich eine Stimme in seinem Kopf. Umbra war wieder aufgetaucht, doch die Stadt der Umbranten flog nicht mehr, sondern ruhte nun auf dem Sandboden der Anauroch. Natürlich war er es, der nun wieder dorthin zurück musste. Er und der Psioniker Fardo, der scheinbar alles und jeden ungeheuer "interessant" fand.
„Herr Kommandant! Es ist der Prinz! Er nähert sich!" Grimwardt knurrte den Bedinen an: „Was heißt hier Prinz? welcher von den Prinzen? Kommt er allein? Mit einer Armee?" „Oh, ähm nein, er kommt allein. Mel... Mehlhaut..." „Melegaunt?" „Ja, genau!" Er dachte kurz nach. Es könnte eine Falle sein, aber Fardo hatte erzählt, wie Melegaunt ihnen geholfen hatte. „Sagt euren Leuten, dass sie nichts Dummes tun sollen. Ich werde mit ihm reden und klären, was seine Absichten sind. Niemand greift irgendwen an!"

Kurz darauf stand er ihm gegenüber. Melegaunt hatte wie immer diesen resignierten Blick eines Prinzen, den niemand richtig ernst nahm, doch er meinte auch eine gewisse Erleichterung oder Hoffnung in seinen Augen zu lesen. „Print Melegaunt. Was verschafft uns die Ehre?" Eine übertrieben tiefe und doch halbherzige Verbeugung des Umbranten leitete das Gespräch ein. „Ich danke euch, dass ihr euch die Zeit nehmt, Grimwardt Fedaykin. Ich bin hier um Frieden zwischen Umbra und Rasilith zu schließen. Da die Bedinen etwas schlecht auf mich zu sprechen sind und die ein oder anderen Vorurteile zu haben scheinen, suche ich euch auf um die Bedingungen auszuhandeln." Der Kriegspriester baute sich imposant auf. „Dann sprecht, was will euer Vater? Und wie kommt er zu diesem Sinneswandel? Hat er seine Niederlage nun endlich eingesehen?" Melegaunt schien nu hingegen wieder einige Zentimeter zu schrumpfen. „Verzeiht, es ist wohl meine Schuld, dass ich all gemeinhin nur als das Sprachrohr meines Vaters wahrgenommen werde. Jedoch trete ich nun vor euch als der neue Herrscher über Umbra." Er runzelte die Stirn. „Ihr meint, euer Vater ist..." „Verschwunden. Wohin kann ich euch nicht sagen, doch das ist der zweite Grund für meinen Besuch. Ich möchte euch warnen. Vor was genau kann ich nicht sagen, doch mein Vater ist verschwunden, nachdem er die Stadt vor dem Absturz gerettet hatte, kurz bevor Shar vernichtet wurde. Mein talentierterer Bruder und ich rätseln noch, wie er ohne Zugriff auf das Schattennetz verschwinden konnte, doch ein so gefährlicher und erfahrener Mann wie er hat wohl für alle Fälle einen Plan B. Rechnet also damit wieder von ihm zu hören. Er ist nicht einfach verschwunden, er hat all seine magischen Utensilien mitgenommen." Eine etwas peinlich wirkende Stille kehrte kurz ein. „Nun, wie auch immer, somit bin ich nun aus Mangel an vorhandenen Brüdern das neue Oberhaupt der Stadt. Vielleicht kehrt mein Vater oder einer meiner überlebenden Brüder zurück, doch ich möchte hiermit die Initiative ergreifen. Unsere Stadt ist noch immer schwer bewaffnet und wehrhaft und ich weiß, wenn die Anhänger von Rivalen wieder das Sagen haben sollten, werden sie diesen unsäglichen Krieg weiter führen wollen. Vielleicht habt ihr es schon bemerkt, ich bin kein großer Freund des Krieges, so wie ihr, was es gewissermaßen ironisch macht, dass ich gerade mit euch darüber verhandele, wenn ich es recht bedenke. Dennoch glaube ich, dass ihr ein Vernünftiger Verhandlungspartner seid und eine Kapitulation, die an Bedingungen geknüpft ist akzeptieren könnt. Also, Umbra ist bereit sich zu ergeben. Mein Volk ist verunsichert und sucht nun nach neuer Führung und wir müssen nun einen Weg finden in Frieden oder zumindest Akzeptanz mit den Bedinen zusammen zu leben."
Das klang alles gut und schön und doch war es in dieser Lage bedeutungslos. „Ihr seid ein Mann vieler Worte, Melegaunt, doch das macht euch noch nicht zum anerkannten Herrscher über Umbra. Brennus ist mein Gefangener und wird keinen Anspruch mehr auf den Titel haben. Doch es leben noch andere eurer Brüder und - noch wichtiger - euer Vater. So lange ich nicht weiß was mit ihm ist,  wäre eine solche Verhandlung bedeutungslos." Grimwardt spüre beinahe, wie sehr Melegaunt dieses Wort hasste. Um die Angelegenheit nicht zu verkomplizieren fügte er hinzu: „Aber ich weiß eure Geste zu schätzen. So lange ihr die Befehlsgewalt habt wird es einen Waffenstillstand zwischen Rasilith und Umbra geben. Wahrer Frieden braucht jedoch eine festere Basis. Zunächst sollten wir..."
„Fürst Grimwardt!" Gewaltsam presste seine Hand die hervortretende Zornesader zurück in ihr Bett. „Ich bin in einer diplomatischen Unterhaltung! Was bei Tempus´haarigem Arsch ist denn so verdammt wichtig?" Wieder einer dieser Grünlinge. Bliebe er hier, hätte er sicher Jahre mit der Ausbildung zu tun. „Es ist jemand in eure Abtei teleportiert. Ein Mann und eine Frau!" Tief einatmen... „Ihr wisst aber, dass damit so ziemlich jeder auf dieser Welt gemeint sein könnte oder? GEHT ES VIELLEICHT ETWAS PRÄZISER?" Der Grünling bibberte wie ein Wurm im Schatten eines Vogels. „Es ...es ist der, den alle für tot gehalten haben! Angeblich hat er Shar getötet!" Melegaunt musste hörbar schlucken. Grimwardts Blick genügte. „Ich sehe, ihr habt vieles zu erledigen. Ich bin froh, dass wir zumindest vorerst zu einem Waffenstillstand finden konnten. Geben wir uns die Hand auf diese Vereinbarung und ich ziehe mich zurück und werde dafür Sorgen, dass Umbra sie einhält!" Grimwardt schaffte es gerade noch, die knochige Pfote seines Vertragspartners nicht zu zerbröseln und kehrte nun wieder zurück in seine Abtei.

Die Geschichte schien unglaublich, aber Faust erzählte alles in einer Zone der Wahrheit. Die ein oder andere Übertreibung konnte seinen Mund daher nicht verlassen, aber im großen und ganzen stimmte alles. Er hatte Shar getötet und hätte ihren Platz einnehmen können. Und nun prahlte er damit, dass die Götter ihn fürchten würden. Fausts Selbstüberschätzung war so maßlos, dass er selbst daran glaubte. Und doch konnte Grimwardt nicht leugnen, dass der Krieger immer mächtiger wurde und seine "Gabe" immer mehr zu einem Problem wurde. Der Sarrukh mochte Spaß daran haben, einem Kind eine solche Waffe in die Hand zu drücken, er aber nicht. Tatsächlich war es Miu, die dem Kriegspriester mit ihren Blicken zu verstehen gab, ihm zu folgen für ein Gespräch unter vier Augen. Zumindest erfüllten die zahlreichen Novizen den Zweck, den selbstgefälligen Kämpfer abzulenken.
„Grimwardt, sei gegrüßt!" Ihre Art wirkte noch immer etwas hölzern. Auch wenn sie sich nun schon seit Jahren kannten, hatte er kaum ein Wort mit Miu gewechselt. „Ich grüße auch die Miu. Was gibt es?" Sie schaute sich um. „Die ganze Sache mit den Göttern scheint ihm langsam über den Kopf zu wachsen, aber das ist es nicht worüber ich mir die meisten Sorgen mache." Nicht? Was an Faust sollte denn noch beunruhigender sein? „Es geht um das Portfolio der Hölle. Ich bin mir sicher, dank Fausts respektlosem Auftritt bei den Göttern, werden sie es an Mephisto weitergeben - Im Gegenzug für Fausts Tod." Da war was dran. Die Möglichkeit bestand durchaus. „Mit Verlaub, aber das ist Fausts Problem. Er hat sich in diesen Schlamassel selbst hineingefahren. Und auch du kennst meine Meinung zu seiner blasphemischen Haltung." Ihr Blick wirkte ungewohnt forschend, als suche sie etwas in seinen Augen. „Aber er ist dein Freund oder zumindest ein langjähriger Waffenbruder. Er hat deiner Schwester und dir und vielleicht auch ganz Faerun oft das Leben gerettet." Sie wollte die Mitleidskarte ausspielen, doch sie musste wissen, dass er nicht so wankelmütig war wie Faust. „Ich helfe einem Waffenbruder gerne, wenn er meine Hilfe sucht. Doch er tut das Gegenteil. Faust verachtet das wofür ich stehe und will es sogar zu Fall bringen. Wenn die Götter entscheiden, dass er für seinen Weg sterben muss, dann werde ich ihnen nicht helfen, doch ich werde sie auch nicht aufhalten." Herausfordernd blickte die einst so sanfte Heilerin in sein Gesicht. „Und du denkst, Mephisto wird es dabei belassen? Es muss ihn rasend gemacht haben, dass er in der Hölle keine Macht über deine Seele hatte und dich zurückschicken musste. Zu diesem Zeitpunkt war er der höchste Teufel der neun Höllen und du hast ihn damit blamiert. Das wird er nicht vergessen und Teufel sind nicht dazu in der Lage zu vergeben. Er wird dich dort verletzen, wo es dir am meisten weh tut." Wann hatte sie gelernt so überzeugend zu sein? Die Zeit in Kara-Tur musste sie wirklich verändert haben. „Mephisto hat sich höchstens vor Tempus selbst blamiert. Das ist selbst für ihn keine Schande. Ihr steht allein mit eurem Krieg gegen die Götter und Mephisto. Aber nun einmal ganz in deinem und eurem Interesse: Angenommen es wäre so. Welche Möglichkeiten hättet ihr deiner Meinung nach?" der Ansatz eines Lächelns streifte ihr Gesicht. „Faust würde ihn töten. Und dieses mal endgültig." Scheinbar war sie doch nicht so gerissen wie er gerade noch dachte. „Und was dann? Das Problem mit dem Portfolio bleibt. Wer soll es dann übernehmen?  Dieses unsägliche Artefakt würde ich in niemandes Händen gerne sehen." Scheinbar hatte er sie dabei ertappt, dass ihre Worte weniger durchdacht waren als sie gehofft hatte, denn Miu schaute nun zu Boden. „Vielleicht hast du Recht. Ihr spielt dieses Spiel schon so lange. Aber falls es doch jemanden gäbe, der dir und uns freundlicher gesonnen ist als Mephisto und für dieses Portfolio in Frage käme, solltest du denjenigen in Betracht ziehen."
Ehe er antworten konnte brach Tumult in seiner Abtei aus. Natürlich aus der Richtung in der er Faust zurückgelassen hatte. Doch das Bild, das sich im bot hatte er nicht erwartet. Am Boden lag ein Umbrant in embryonal Stellung, mit Daumen im Mund - nicht irgendein Umbrant, es war der Zwilling, der in Grimwardts Gestalt Scarlett entführt hatte. Daneben hockte ein weiterer Umbrant - Artemis Entreri. In seiner Abtei! Das Blut pochte in der Ader auf seiner Stirn und doch ebbte all sein Zorn wieder ab, in dem Moment, in dem er Winter sah, wie sie Faust umschlang. Ihr Gesicht war anders als zuvor. Sie war wieder seine Schwester. Echte Freude stand in ihrem Gesicht. Sie lebte, so wie auch Faust. Und Scarlet! Winter hatte es geschafft. Und dabei den letzten feindlichen Prinzen von Umbra und den Attentäter Entreri bezwungen. Er wusste, dass sie irgendetwas verbergen musste, aber das war in diesem Moment nicht wichtig. Seine Menschlichkeit konnte er nicht verneinen, so sehr er sich auch bereits Tempus Hallen zugehörig fühlte. Und gerade wollte er einfach nur Mensch sein. Sich der Illusion hingeben, dies sei eines der guten Enden aus den Romanen, die er als Junge verschlungen hatte. Das "Aber" konnte noch einen Moment warten.

Winter
Umbra, wenige Stunden später

Die gestürzte Stadt war unter anderen Umständen durchaus einladend. Sicher, es fehlte ihr noch im wahrsten Sinne des Wortes an Farbe, aber sie hatte ihre ganz eigene Eleganz und ließ den Stil der Kultur der alten Nesser erahnen. Melegaunt hingegen wirkte noch immer unbeholfen. Durchaus würdevoll, aber doch immer mit dem Charme eines Butlers, nicht dem eines Herrschers.
Grimwardt wäre beinahe explodiert, als er erfuhr, dass Melegaunt sie dringend in Umbra sehen wollte. Die Nachricht, die sein begabter Bruder für die Gruppe hatte traf sie wie ein Schlag in die Magengrube. Telamont war mit Hilfe von Magie entkommen und es war niemand geringeres als Mephisto, der ihm dies ermöglicht hatte. Sie beide hatten alles verloren, hatten ein großes Ziel vor Augen und - und das war das größte Problem - sie hatten einen gemeinsamen Feind. Damit war nun auch Grimward klar, dass er hier genau so mit drin steckte wie sie alle. Telamont würde ihm den Sieg über seine Stadt, die er tausende Jahre regiert hatte nicht verzeihen. Faust hatte Shar getötet - das dachten zumindest alle, und Winter selbst war es, die die Stadt hatte abstürzen lassen. Keine Frage, diese unheilige Verbindung aus Feuer und Schatten würde nun ihre neue Nemesis sein. Und sie würde wieder auf Shars Macht zurückgreifen müssen und einen Teil ihrer selbst verlieren. Doch gerade musste sie sich um ein anderes Übel kümmern: Politik. Gerne überließ sie diesen Aspekt ihrem Bruder, doch diesmal wurde es persönlich.
„Winter Fedaykin, ich fühle mich geehrt euch nun unter angenehmeren Umständen zu begegnen!" Der angedeutete Handkuss war nur ein Symbol, wirkte aber dennoch noch leidenschaftsloser, als sie es von Männern aus Melegaunts Stellung gewohnt war. „Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Bis jetzt zumindest. Mir ist zu Ohren gekommen, ihr hättet meiner Tochter einen Heiratsantrag gemacht?" Er setzte sich ihr gegenüber an den viel zu langen Tisch. „Das mag etwas überraschend für euch kommen, doch unsere Verbindung wäre ein besonders starkes Zeichen für ihr Volk und auch meines. Ein Neuanfang, eine Pflanze die aus der Asche der vergangenen Feindschaft erwächst." Winter nippte am Rotwein. Zumindest ein kleiner Farbaspekt in all dem grau in grau. „Nun, da ihr Vater nicht mehr lebt, ist es wohl angebracht, dass ihr mich fragt, ob ihr um ihre Hand anhalten dürft. Versteht mich nicht falsch, Melegaunt, ihr seid eine gute Partie, aber ihr bietet nicht das Leben, das ich mir für meine Tochter vorstelle." Vermutlich hatte er schon mit einer solchen Antwort gerechnet. „Ich würde eure Tochter wirklich ehren! Sie würde sogar meine Erstfrau werden." Fast hätte sie den teuren Wein wieder ausgespien. „EURE ERSTFRAU?" „Ich verstehe eure Empörung, ihr kommt aus einem anderen Kulturkreis, doch sowohl die Bedinen, als auch wir pflegen den Umgang mit mehreren Partnern. Die umbrische Gesellschaft ist dabei sogar noch offener. Niemand würde sich daran stören, wenn auch Scarlett sich ebenfalls einiger Nebenfrauen oder -männer erfreuen würde. Ich wage gar zu sagen, sie wäre freier, als die meisten Prinzessinnen der Talländer oder der Schwertküste." Es fiel ihr schwer gegen seine Einwände zu argumentieren. Früher hätte sie das als die perfekte Gelegenheit gesehen um ihre Tochter zu verheiraten. Sie könnte es kaum besser treffen. Für Winter selbst wäre es der große Traum gewesen, den sie als Mädchen hatte, kombiniert mit den Freiheiten, die sie heute so gerne genoss. Aber Scarlet war nicht Winter. Sie ähnelte ihrer Mutter zwar äußerlich sehr, doch von ihrem Wesen her war sie letztenendes Grim ähnlicher. Aus Pflichtbewusstsein hätte sie wohl sofort eingewilligt, würde sie meinen, damit das Beste für ihr Volk zu tun. Doch Winter hatte das Glück und den Schmerz wahrer Liebe erfahren dürfen. Den Luxus mit dem Menschen zusammen sein zu dürfen, der ein Teil von einem Selbst war. Für ihren Bruder hatte sie jede Hoffnung auf Liebe bereits vor langer Zeit aufgegeben, doch es war genau das, was sie sich für Scarlett wünschte: Liebe. Echte Liebe. Offen gelebt, nicht versteckt hinter einer Scheinehe.
Vermutlich verriet Winters Blick bereits mehr als sie gewillt war zu sagen. Meleganut mochte seinen Brüdern bezüglich des Talents für Magie nachstehen, doch er verstand es eindeutig mit Menschen umzugehen und sie zu verstehen. Keine schlechte Gabe für einen Herrscher. In einer Magokratie wie die von Umbra unter der Leitung seines Vaters war er einfach fehl am Platz gewesen. Doch einem neuen Umbra wäre er möglicherweise genau der Richtige. „Ich werde euch von meinem Vorschlag nicht überzeugen können, oder Winter?" Zur Antwort reichte es, dass sie bedauernd die Mundwinkel hochzog und den Kopf zur Seite neigte. Jedoch schien sich Melegaunts Enttäuschung in Grenzen zu halten. „Eure Tochter ist euch wohl verständlicherweise das Wichtigste auf dieser Welt. Ich verstehe, dass euch dieses Angebot daher Bauchschmerzen bereitet." Er machte eine Pause und setzte sich neben sie. „Ich habe noch eine andere Idee erdacht. Mein Volk steht unter Schock. Es ist ungewiss, in was für eine Zukunft es blickt und die Göttin auf die sie Jahrtausende vertrauten ist nun tot. Aber es ist das Wesen von Göttern nicht immer tot zu bleiben, nicht wahr?" Winter starrte ihm in die Augen. Wusste er von ihr und Shar? „Mystril wurde nach dem Fall von Karsus als Mystra wiedergeboren. Das ist die Erzählung, die mein Volk nun braucht." Er nahm ihre Hände zwischen seine feingliedrigen Finger und schaute Winter tief in die Augen. „Bitte verzeiht mir, wenn ich euch nun erneut überfalle, doch hört euch meine Idee an: Ihr und ich, wir könnten das Paar sein, welches Umbra braucht. Eure magischen Kräfte sind gewaltig, denen meiner Brüder sogar überlegen. Ihr könntet die wiedergeborene Shar sein, die mein Volk so sehr braucht." Sie glaubte einen Moment Shars Lachen über diese Ironie in ihrem Kopf zu hören, ließ sich aber nichts anmerken. „Aus der Vernichterin der Stadt würde nun ihre neue Königin werden. Das ultimative Zeichen der Versöhnung. Zudem seid ihr die Mutter der Elani. Die Verbindung zwischen unserem Volk und den Bedinen. Alle Freiheiten, die ich eurer Tochter zugesichert hätte wären auch die euren. Als meine Erstfrau hättet ihr alle Freiheiten, die ihr euch nur wünscht und eine noch immer mächtige Armee um euch und eure Tochter zu schützen. Bitte, ihr müsst nicht sofort auf mein Angebot eingehen. Denkt darüber nach. Und wenn ihr auch zu dem Schluss kommen solltet, dass wir alle von diesem Plan die größten Vorteile haben, so lasst es mich wissen." Wie ein wahrer Edelmann erhob sich Melegaunt und verneigte sich zum Abschied. „Das werde ich. Ich fühle mich bereits jetzt geehrt. Wenn wir uns das nächste mal begegnen, werde ich gewiss eine Antwort für euch haben, Melegaunt Tanthul." Das optimistische Lächeln in seinem Gesicht sagte ihr, dass er keine Ahnung hatte, wie nah seine Geschichte an der Realität lag.

Auf dem Rückweg zog Winter durch die Straßen Umbras. die Stadt war wahrlich beeindruckend. Die Umbranten begegneten ihr mit einer Mischung aus Misstrauen, aber auch Bewunderung. Faust hatte sich ihr angeschlossen, da er es bei der Verhandlung zwischen Grim und Meleganut nicht mehr ausgehalten hatte. Als ihr Bruder vorschlug, anstelle menschlicher Sklaven nur noch orkische Sklaven zu verwenden, war er wieder einmal mit Grim aneinandergeraten und verließ daraufhin wutentbrannt den Saal. Es war nicht die erste Meinungsverschiedenheit, die die beiden hatten, doch in letzter Zeit wurde die Unverträglichkeit ihrer Grundhaltungen immer deutlicher.
„Diese scheiß feinen Schattenfreaks haben gerade einen Krieg verloren. Sie werden wohl damit klarkommen müssen, keine Sklaven mehr zu haben. Zum kotzen, wie dein Bruder jetzt Orks in die Sklaverei schicken will. Als ob das besser wäre. Clariburnus kommt vor ein Kriegsgericht und wird geköpft und Entreri wurde aus diplomatischen Gründen mit Calimhafen frei gelassen, nachdem er unterzeichnet hat, nie wieder einen Auftrag gegen uns anzunehmen. Diese ganze Politik nervt einfach nur noch. Ich will endlich wieder was sinnvolles tun anstatt hier herum zu hocken und mit irgendwelchen Idioten über die Farbe von Scheiße zu diskutieren." Zwischen seinen wütenden Ausführungen kippte Faust immer wieder einen Schluck aus der Flasche des sündhaft teuren Weins herunter, mit der er vermutlich bereits einige Sklaven hätte frei kaufen können. Winter blieb jedoch gelassen. Zu sehr gefiel ihr die malerische Architektur der Stadt.
„Keine Angst, wir werden sicher bald wieder etwas zu tun bekommen. Telamont ist irgendwo und plant unseren Tod. Genieß doch jetzt einfach einmal diesen kurzen Moment des Friedens. Schau dir diese Stadt an. Wie durchdacht hier jede Straße und jeder Winkel wirkt." Auch Faust sah sich immer wieder um, zeigt nun aber zu dem zerstörten Shartempel in dem sie noch vor kurzem eine Massenpanik ausgelöst hatten. „Klar, die alten Nesser hatten es schon drauf. Aber da vorne haben wir wohl ein bisschen was kaputt gemacht." Tatsächlich stachen die Trümmer auch Winter ins Auge, da der Rest der Stadt noch immer in einem tadellosen Zustand war. Sie suchte nach der Stimme in ihrem Inneren und erhielt eine Antwort. Nun, das bin ich meinen Anhängern wohl schuldig. Zum Staunen der Schaulustigen setzte die Zauberin mithilfe eines Telekinesezaubers die Großen Trümmer wieder zusammen. Faust half dabei mit purer Muskelkraft mit und die Stellen, die zu zerböckelt waren, unterstützte Winter schließlich mit erschaffenen Eisenwänden. Der Rest war nur noch reine Kosmetik, was die Einwohner selbst schaffen würden. Deren Misstrauen ihr gegenüber war nun bei vielen der Anerkennung oder gar Ehrfurcht gewichen. Das Volk der Umbranten lebte seit tausenden Jahren in einer Magokratie. Je mächtiger die Magie, desto ehrenhafter ihr Anwender.
Faust hob respektierend eine Augenbraue während sie weiterzogen. „Nicht schlecht, das hat dir einige Sympathiepunkte gebracht." Sie versuchte es mit einem ihrer Blicke herunterzuspielen, aber Faust grinste bittersüß. „Und? Wann wirst du mir erzählen was los ist?" Sie setzte zu einem ahnungslosen Gesichtsausdruck an, aber ließ es doch gleich wieder bleiben. Er kannte sie einfach zu gut. Wenn es jemand verstehen würde, dass Faust, sie sollte ihm von Shar erzählen. Andererseits ging es um eine Göttin, die die er getötet hatte. Genau ließ sich nie sagen, wie er reagieren würde. Und doch war er ihr bester Freund und er stand auch nach ihren schlimmsten Abgründen noch hinter Winter. Ich rate dir dringend ihm nichts zu verraten! Wenn unser Geheimnis die Runde macht werden du, ich und alle die du liebst für sehr mächtige Feinde zur Zielscheibe! Shar musste es sehr ernst meinen, wenn sie sich so plötzlich zu Wort meldete. Doch diesmal war es Winter egal. Sie suchten eine weniger bevölkerte Gegend auf und setzten ihr Gespräch nun rein gedanklich fort. Es tat gut endlich jemandem von Shars Übernahme zu erzählen, von ihrem Gefühl der Machtlosigkeit und den Möglichkeiten, die dieser Bund ihr nun brachte. Als sie fertig war, dachte der Kämpfer eine Weile für sich nach, bevor er laut antwortete: „Ich kann sie verstehen. ein Weg heraus aus diesem Verein muss nach so langer Zeit sehr verlockend sein. Aber dass es gerade dich erwischt hat ist ein sehr zweischneidiges Schwert und auch recht ironisch." Winter zog die Stirn in Falten. „Inwiefern ironisch?" „Naja, du hattest deine Kräfte durch das Konsumieren von Seelen, je stärker die Seele, desto größer deine Kräfte, bis du sie alle beim Mythal aufbrauchen musstest. Nun ist es deine Seele die konsumiert wird." Sie ahnte - nein, wusste - natürlich, dass genau das der Fall war. und doch war es hart es ausgesprochen zu hören. „Sei vorsichtig Winter. Ich weiß, deine Seele ist verdammt stark, aber ich glaube ihre Zauber sind extrem stark und zehren stärker an deiner Seele als du es vielleicht denkst. Du musst dir ein neues Leben aufbauen. So wie Nimoroth oder Kalid. Eines ohne Magie. Die Dinge nutzen, die du bereits erreicht hast." Sie nickte. Vielleicht hatte sie das schon. An der Seite von Melegaunt hätte sie das Leben einer Königin, ganz ohne dazu noch Magie nutzen zu müssen. Sie würde ihre eigene Geschichte schreiben. Es wäre die vernünftigste Lösung. Die Frage war nur, ob sie so vernünftig sein konnte.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 17. Dezember 2023, 14:14:03
Sehr sehr schönes Kapitel. Sehr politisch, aber ich fands toll :) Und bei der Erinnerung an Grims Zornader und seine berüchtigten Zornausbrüche musste ich echt lachen.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Winter am 20. Dezember 2023, 10:41:18
Gefällt mir sehr gut! Da kommen viele Erinnerungen 🥰
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 22. Januar 2024, 18:07:32
Wir nähern uns dem Ende...


Kapitel XII: Sand der Zeit

Winter
irgendein Kaff im Nirgendwo

Er musste jeden Moment um die Ecke biegen. Diesmal würde die Überraschung auf ihrer Seite sein. Sie konnte es kaum erwarten sein Gesicht zu sehen. In einer feuchtfröhlichen Nacht hatte Winter zusammen mit Faust und Fardo einiges getrunken den späteren Teil der Nacht hatte sie gelangweilt den stillen Zuhörer gemimt, als die beiden anfingen wild über Raum und Zeit zu diskutieren. Vielleicht lag es am Alkohol, aber die Fachbegriffe die durch die Luft schwirrten erweckten in Winter den Anschein, dass ihre Saufkumpanen tatsächlich wussten über was sie da spekulierten und ihre Theorien und Pläne klangen irgendwann gar nicht mehr so abwegig - aber eben auch sterbenslangweilig. Wo war Drake mit seiner Mischung aus Melancholie und Zynismus, wenn man ihn für ein gutes Saufgelage brauchte? Da kam Winter eine Idee, wie man diesen Fardo und seine Fähigkeiten gut nutzen würde können. Sie wechselte das Thema und nun strengten alle drei ihre Gehirne an - magisch und nicht-magisch, psionisch und nicht-psionisch. Möglicherweise war es eine Art Wahnsinn, der sie antrieb, doch gemeinsam schafften sie es tatsächlich Drake zu lokalisieren.
Unauffällig stand Winter scheinbar interesselos an der Tür zu dem eher ärmlichen Gebäude, als sie Drake endlich begrüßen konnte. „Hier versteckst du dich also ständig." Oh ja, dieser Gesichtsausdruck war die Mühe Wert gewesen, auch wenn er beinahe reflexartig ein Messer in ihre Richtung geworfen hätte. „Was in allen Neun Höllen tust du hier verdammt?!" Faust kam dazu. „Na komm Schneeweißchen, wir kennen uns jetzt so lange, da wollten wir mal wissen wie du wohnst. Etwas ...schäbig, oder?" Der Assassine brauchte keine Worte um die Frage zu stellen, warum auch ER? Winter ging in Richtung Treppe. „Aber sag Drake, wer ist die Dame die du da besucht hast? Ich dachte du stehst auf einen anderen Typ Frau." Er stützte sich mit den Händen auf der hüfthohen Mauer ab und senkte sein Haupt. „Sie ist... meine Mutter."
Alle Süffisanz verschwand aus Winters Antlitz. „Deine Mutter? Mutter /Schrägstrich Zuhälterin? Die Frau die deinen Bruder und dich Jahrelang als Kinder als Lustknaben verkauft hat? Was hast du noch mit dieser Frau zu schaffen? Am liebsten würde ich ihr gerade sofort an die Kehle gehen!" Drake verschränkte die Arme und lehnte sich gegen die Mauer, während er Winter abschätzig betrachtete. „Dann ahnst du ja vielleicht, warum ich dich und die anderen Wahnsinnigen von ihr fernhalten wollte." Winter wurde immer aufbrausender. „Wie kannst du nicht wütend auf sie sein? Solche Menschen sind Abschaum!" „Glaube mir, ich war oft genug wütend auf sie, habe sie gehasst. Aber ich bin kein Kind mehr, Winter. Gerade du solltest wissen, dass die Welt etwas komplexer ist. Deine Beziehung zu deiner Tochter ist auch nicht gerade Preisverdächtig."Ihr Fäuste ballten sich so hart, dass ihre Nägel sich feste in die Haut ihrer Handinnenseite gruben. Es fehlte nicht viel um ihm einen Auflösungsstrahl in den Bauch zu jagen. „Willst du mich etwa mit dieser Frau vergleichen? Ich war all die Jahre nicht da, weil ich von der Zauberpest behindert worden war!" „Und vorher und nachher hat es dich einen Scheiß interessiert, was Scarlet wollte. Du hast ihr doch all die Jahre deinen Willen aufgezwungen, wolltest sie sogar in ein Kloster bei den schweigenden Schwestern schicken. Wärst du bei ihr gewesen in den letzten Jahren hättest du sie immer klein gehalten. Nur ohne dich konnte sie die Anführerin werden die sie heute ist und nur weil meine Mutter war wer sie war, lernte ich zu überleben in einer Welt die dich allein durch ihre Grausamkeit töten will, wann immer sie die Gelegenheit hat. Aber das willst du nicht hören, dass du als Mutter versagt hast und hättest!" Nur Fausts schnellem Eingreifen war es zu verdanken, dass sie Drake nicht in einen Haufen Asche verwandelte. Seine Worte trafen ihr Herz tiefer als es seine Dolche je vermocht hätten und das wusste er auch. Sie wusste, dass seine Provokation nur seine Art war mit seinem eigenen Schmerz fertig zu werden, doch gerade weil er nicht ganz unrecht hatte, war sie nun verletzlich. So bemerkte sie auch das blinde und torkelnde Wrack von einem Menschen, das sich aus dem Haus tastete erst, als Drake zu ihr stürmte um sie zu stützen. Es war schwer vorzustellen, welche Macht diese Gestalt einmal über Drake und seinen Bruder gehabt haben mag. Schließlich ergriff Faust das Wort. „Ganz ehrlich Drake, wir haben es geschafft euch nach einer durchzechten Nacht aufzuspüren und zu überraschen. Sowohl Mephisto, als auch Telamont sind stark genug um euch zu finden. Und dein Beschützer Entreri wird sich einen Scheiß darum kümmern, wie es deiner Mami geht." Winter hörte die Worte ihrer Gefährten nur wie durch einen Schleier gedämpft. Ihre Gedanken kreisten um Drakes Worte. Worte, die sie selbst schon immer wusste, aber nie zu sich selbst hatte sagen wollen. Scarlet war ein großartiger Mensch geworden - ohne sie. Sie dachte an ihre Diskussion mit Nimoroth, der es Laguna erlaubte sich in Todesgefahr zu begeben, weil er ihm die Freiheit geben wollte selbst für sein Leben zu entscheiden. War es nicht die Aufgabe von Eltern, ihre Kinder zu beschützen? Doch wie lange und auf welche Weise? Sie konnte nicht mehr hier bleiben und teleportierte sich in die Wüste um Scarlet aufzusuchen.

Es dauerte eine Weile, bis ihre Tochter sich von ihren Verpflichtungen losreißen konnte, doch Winter hielt es gerade für angemessen zu warten. Mit einer bisher ungekannten Demut begrüßte sie Scarlett schließlich. „Mutter, was ist los? Ist wieder etwas passiert?" Sie sah sie einfach nur an. „Nein - Das heißt doch. Meleganut hat mir ein Angebot gemacht oder besser gesagt zwei Angebote. Aber ich möchte es gerne mit dir besprechen. Und ich werde deine Entscheidung akzeptieren. Melegaunt hat um deine Hand angehalten. " Scarlets Augen weiteten sich vor Erstaunen und wohl auch Entsetzen. „Lass mich bitte weiterreden. Ich habe es ausgeschlagen, allerdings ohne dich nach deiner Meinung zu fragen und das war falsch. Lass uns das zusammen entscheiden, nachdem du noch die zweite Option gehört hast: Melegaunt könnte stattdessen auch mich heiraten, da die Umbranten in mir eine Art wiedergeborene Shar sehen. Zugleich bin ich deine Mutter. Was sagst du dazu? Und bitte sei nicht böse, dass ich voreilig gehandelt habe, ich will dich nicht übergehen. Ich bewundere die Frau die du geworden bist und ich habe kein Recht mehr über dich hinweg zu entscheiden." Scarlet fehlten zuerst ganz die Worte, dann setzte sich sich neben ihre Mutter auf das ausgebreitete Tuch auf dem Boden. „Melegaunt will mich oder dich heiraten um Frieden zwischen Umbra und meinen Leuten zu schließen? Warum hast du eingewilligt ihn zu heiraten?" Winter lächelte milde. „Ich denke, ich habe genug vom Heiratsschwindeln. Ich war so lange auf der Suche nach jemandem, der das Loch in meinem Leben füllen könnte, das dein Vater hinterlassen hat, aber ich habe erkannt, dass es keinen gibt wie ihn. Nicht mehr in diesem Leben. In Umbra könnte ich das Leben haben, das ich eigentlich immer wollte und dabei gleichzeitig noch Einfluss haben und ein Teil deines Lebens sein." Scarlets Augen erinnerten sie an Dorien. Er hatte den gleichen Blick, wenn er an Winters Entscheidungen gezweifelt hatte. „Aber, du bist eine Abenteurerin. Das ist es doch was du liebst. Durch die Welt reisen und Abenteuer erleben. Bitte glaube nicht, dass du das wegen mir aufgeben solltest!" Nass glänzten Winters Augen. Scarlet hatte natürlich Recht, aber sie wusste schließlich auch nicht, dass Shar bald Winters Leben übernehmen würde, sollte sie weiterhin als Abenteurerin leben. Es war ein schönes Kapitel in ihrem Leben gewesen, das sie nun hinter sich lassen musste. Die vermutlich letzte Chance sich zur Ruhe zu setzen. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, es war schön und aufregend, auf Abenteuer auszuziehen, aber ich habe viel nachgedacht und mit vielen Freunden gesprochen und es ist nun Zeit für mich etwas neues zu beginnen. Könntest du mich als Melegaunts Frau immer noch als deine Mutter betrachten? Ich weiß ich habe manches falsch gemacht und war lange Zeit nicht für dich da. Gibst du mir die Chance, dass wir wieder zueinander finden können?" Der beherzte Griff von Scarlets Hand um ihre, brachte Winters Tränen schließlich zum fließen. Sie wusste nun sicher für was sie kämpfen würde. Erst mit Telamonts Verschwinden würde Scarlett die Chance haben die Frau zu sein, die sie verdiente zu sein.


Grimward
Abtei des Schwertes

Grimward empfand es als äußerst beruhigend, dass in den letzten Tagen wieder Routine eingekehrt war. Ihm war beinahe die Kinnlade heruntergefallen, als er erfahren hatte, dass Winter - tatsächlich - Melegaunt heiraten und sich zur Ruhe setzen wollte. Faust war zu Besuch bei seiner Muuter. Diese lebte nun wohl in einem Kloster, weit entfernt vom Lärm der Stadt und all dem Ärger, den ihr Sohn ihr bereitet hatte. Er konnte ihre Beweggründe gut nachvollziehen. Das Leben in einem Kloster wäre vielleicht auch für Grimward genau das Richtige gewesen, würde er sich zur Ruhe setzen. Aber natürlich bestand diese Option für ihn nicht. Es gab keine andere Option für ihn als in der Schlacht zu fallen, getötet von einem ebenbürtigen Gegner. Doch waren seine Zeiten als Soldat und Heerführer so viel einfacher als heute. Er erhielt seine Befehle von Ambrose und folgte, kämpfte und siegte. Seine Schwester und Faust brachten trotz all ihrer Kampfkraft, die sie in die Waagschale warfen doch so viel Chaos mit sich, dass er immer wieder mit sich selbst Rat halten musste, ob diese Verbindung noch immer zum Vorteil für Faerun und seine Abtei reichte. Doch der jüngste Erfolg gegen die Umbranten gab ihnen letzten Endes Recht. Scarlet lebte und Winter war jene übermächtige Waffe geworden, die die fliegende Stadt in die Knie zwang. Und Faust hatte Shar getötet. Wie sollte er dazu stehen? Shar war gewiss nie eine Verbündete von Tempus gewesen, doch sie war eine Göttin. Es fühlte sich nicht richtig an. Es war ein Riss in der göttlichen Ordnung entstanden. Die Folgen waren noch nicht abzusehen. Tempus stand nun einem neuen Gott der Finsternis gegenüber: Asmodeus. Gewiss ein Gott der Shar in Rafinesse in nichts nachstehen würde, der aber auch offene Konfrontationen wie den Blutkrieg genoss. Es blieb also spannend. Nun galt es aber erst einmal den Rekruten zu sagen, dass sie mit einer solch erbärmlichen Ausdauer bald als Orkfutter enden würden.
Als er gerade ansetzen wollte die Soldaten anzubrüllen, sprang die Tür auf und Faust platzte herein, bedeckt mit Staub und Ruß, in den Armen seine leblose Mutter haltend. Tränen der Wut und Trauer standen in seinem Blick. „Grim, du musst ihr helfen und ihr müsst euch kampfbereit machen! Sofort!" Während Grimward vergeblich versuchte Fausts Mutter zu helfen, lauschte er den gehetzten Worten seines Gefährten. Diese Nachricht war tatsächlich ein Grund, um die Abtei in Alarmbereitschaft zu versetzen: Faust war bei seiner Mutter, als wie aus dem Nichts eine fliegende Stadt auftauchte und das Kloster dem Erdboden gleich machte. Fausts Versuch seine Mutter zu retten war ehrenhaft, aber doch zum Scheitern verurteilt gewesen. Ihr Körper hatte nicht mehr die Kraft gehabt, sich gegen die großen Steinbrocken die sie trafen zur Wehr zu setzen. Doch die fliegende Stadt war nicht Umbra, das versicherte er, sondern Eileanar, die Enklave von Karsus selbst. Fausts Zorn über den Tod seiner Mutter wurde nur noch von seiner Angst um Winter übertroffen und so war er gleich mit einigen Teleportationsschriftrollen weitergezogen um Winter zu warnen. Der Alarm hatte seine Wirkung und zu Grimwards Freude reagierten alle so wie es einstudiert war. Jedes Zahnrad fasste in das nächste und binnen kurzer Zeit war die Abtei bereit zum Kampf. Doch Grimward fehlte etwas entscheidendes für diesen Kampf: Wissen. Es war Zeit sich in tiefe Kontemplation zurückzuziehen und das Gespräch mit einem Sprecher des Schlachtenfürsten aufzusuchen.
Dunkelheit umfing ihn. Er konzentrierte sich an seine letzten Erinnerungen an Eileanar, als es von dem Monster aus dem Sumpf eingeschlossen wurde. Ihm war, als würde er selbst zugewuchert werden, bis ihn ein Panzerhandschuh unsanft an der Schulter packte und aus dem Sumpf herauszog, mitten in ein Schlachtgetümmel. Kein Gesandter, sondern Tempus selbst hob Grimward auf die Beine und musterte ihn, sein Gesicht weniger entspannt als beim letzten mal. „Es ist viel passiert, seit wir uns das letzte mal gesprochen haben. Und du drohst die Kontrolle zu verlieren, Grimward." Sofort ging er auf die Knie. „Verzeiht, Herr. Der Sieg über die Umbranten hat mich wohl einen Moment unachtsam werden lassen." Wie erwartet zog Tempus seinen Auserwählten wieder auf die Beine, musste jedoch vorher einen heranstürmenden Gegner spalten. „Steh auf! Du hast eine entscheidende Schlacht gewonnen, aber dein Krieg ist noch nicht vorbei. Wieder einmal hat der menschliche Hochmut, einen Gott zu manifestieren, große Veränderungen nach sich gezogen. Tatsächlich freue ich mich schon auf die erste Schlacht gegen Asmodeus, aber das Portfolio der Hölle hat nicht nur mir Unbehagen bereitet." Grimward hielt dem strengen Blick seines Herrn stand. „Wäre es nicht der sinnvollste Schritt, das Portfolio an den nächsthöchsten Fürsten der Hölle gehen zu lassen?" Ein beunruhigendes Zucken huschte kurz über das göttliche Antlitz von Tempus, als er diese Worte vernahm und zur Antwort ansetzte. „Es gab einige Gründe, die dagegen sprachen Ares zum Gott der Neun Höllen zu machen. Ich kann nicht über alle davon reden, aber du ahnst bereits, worum es geht." Entmutigt blies Grimward die Luft aus. „Faust. Er hat Shar getötet und auf das Anrecht ihren Platz einzunehmen verzichtet. Und dann den gesamten Kreis der Götter bedroht. Ein Hochmut der ihm nicht zusteht." Tempus rammte seinen Speer in einen weiteren Feind, ehe er antwortete. „Wäre es nur bloßer Hochmut, hätte dieser Mensch keine Bedeutung für unsere Entscheidung gehabt. Doch er vermag das Schicksal maßgeblich zu beeinflussen, was die gesamte kosmische Ordnung stören könnte. Mephisto wiederum war maßgeblich an der Erschaffung der Neun Höllen beteiligt. So lag unsere Entscheidung nahe, ihm das Portfolio zu überlassen, sofern er dafür den Einsatz zeigen würde, Fausts verdammte Seele bald möglichst einzufordern." Grimward musste auf den behelmten Gegner starren, dem Tempus während ihrer Unterhaltung beiläufig die Kehle zerquetschte. Als er dem Schlachtenherrn aber wieder ansah, erkannte er eine gewisse Unzufriedenheit, vielleicht sogar Scham. „Seid ihr in Aufruhr, weil ihr den Tod eines Sterblichen in Auftrag gegeben habt?" Tempus spuckte aus und erhob sich von seinem erwürgten Gegner. „Nein. Ich weiß er ist mit dir Verbündet und ein mächtiger Streiter an deiner Seite. Aber ich werde ihm keine Träne nachweinen, wenn sich sein Höllenpakt erfüllt hat. Ich bin dennoch zornig mit mir selbst, dass ich dieser Vereinbarung zugestimmt habe." Er packte Grimward an den Schultern und blickte ihm tief in die Augen, nein, in die Seele. „Hör zu, die Götter haben einen Fehler gemacht, ich habe einen Fehler gemacht. Mephisto hat uns betrogen. Er hat selbst einen weiteren Pakt geschlossen. Mit Telamont Tanthul." Der Gott des Krieges musste seinen Blick für einen Moment abwenden, ehe er weitersprach. „Ich habe Krieg über dich und die Welt gebracht mit diesem Pakt." Grimward wusste bereits was Tempus ihm sagen wollte. Darum konnte Telamont wieder Magie wirken - und nun auch Eilaenar nach so langer Zeit wieder in die Lüfte erheben lassen. Er hatte "Karsus Avatar" gewirkt und Mephisto, der sich freiwillig dazu bereit erklärt hatte, in sich selbst heraufbeschworen. Telamont und der Gott Mephisto waren nun eins. Ein lebender Gott in der Welt der Sterblichen. Es war kaum abzusehen, was der genaue Inhalt des heimlichen Paktes zwischen diesen beiden gewesen sein mag, doch Fausts Vernichtung war gewiss nicht der einzige Teil. „Ich sehe du verstehst. Ich habe den Krieg über deine Welt gebracht und nun liegt es an dir, meinen Fehler wieder auszumerzen, Grimwardt. Wie du siehst können auch die Götter fehlgeleitet werden. Sei weiser als ich es war und vertraue auf dein Gefühl!" Tempus machte einen Schritt zurück und rammte Grimward mit einem harten Tritt in den Bauch zurück in die Realität.


Faust
Wüste Anauroch, Oreme

Er wusste, dass er den Kopf frei bekommen musste, um sein Ziel zu erreichen. Doch im Moment nagte weiter die Schuld an ihm. Verloren schaute er in die Leere der Wüste, während sein Kopf auf Winters Oberschenkeln ruhte. Ihre Hand auf seinem Kopf vermittelte ihm ein Gefühl von Trost, doch er fand, dass er das gerade nicht verdient hatte und richtete sich auf. Seine Tränen waren nur noch eine feine Salzkruste, die er sich aus dem Gesicht rieb. „Du solltest gar nicht hier sein." Murmelte er mehr zu sich als zu seiner Gefährtin. „Ich bringe jedem den Tod, der etwas mit mir zu tun hat. Es ist nur eine Frage der Zeit. Thallastam, Tyrail, meine Schwester und nun meine Mutter. Mein Weg ist der Weg in den Untergang und ich ziehe jeden mit mit, der mir etwas bedeutet." Winter stellte sich vor ihn. „Meinst du mir geht es anders? Es vergeht kein Tag an dem ich nicht Angst um Scarlet und meine Familie habe. Und auch um dich. Aber das warst nicht du, der sie getötet hat!" Aufgrund seines missmutigen Blicks korrigierte sich Winter: „Gut, Thallstam und Tyrail hast du getötet, aber bei dem einen warst du noch jung und ein Idiot und Tyrail hatte es verdient. Die Waren Mörder sind aber unsere Feinde. Ich bin es Leid, mich ständig schuldig zu fühlen. Mephisto und Telamont haben deine Mutter getötet, nicht du." Schnaubend stand er auf und blickte Winter ins Gesicht. „Und ich habe mehrere von Telamonts Söhnen getötet. Diese Spirale der scheiß Gewalt hat einfach kein Ende und ich will nicht, dass es auch noch dich oder Miu oder sonst wen trifft, der mit mir zu tun hat!" Sie hielt seinem bohrenden Blick weiter stand. „Und darum müssen wir für die kämpfen die wir lieben, Faust. Es war ein schöner Gedanke sich zur Ruhe zu setzen." Er musste unweigerlich lachen. „Pff, du und Melegaunt. Selbst dein Schatten wäre genug um ihn für sein Volk unsichtbar zu machen. " Auch sie musste ein wenig schmunzeln. „Unterschätze ihn nicht. Er kann Menschen gut einschätzen. Es wäre natürlich nur eine Scheinehe in der ich alles so ausleben könnte wie ich es will. Es ist klug von ihm eine repräsentative Frau zu wählen." Sein Blick wurde ernster. „Und wie und mit wem willst du diese Scheinehe ausleben?"
Eigentlich hatte Winter ihm schon oft genug gesagt, dass ihr Interesse an ihm aus einer guten Freundschaft bestand. Doch diese Ehe mit Melegaunt klang für ihn danach, dass er sie nur noch selten zu Gesicht bekommen würde. Er musste sich eingestehen, dass er einfach Angst davor hatte, dass ihre beiden Lebensströme nicht mehr in die selbe Richtung verlaufen würden und sich trennen würden. Dann wäre er ganz allein. Gleichzeitig wusste er aber auch, dass es für Winter das beste wäre. Dorien würde niemand mehr ersetzen können, aber sie hatte es verdient in der Nähe ihrer Tochter zu sein um die Jahre nachzuholen, die sie wegen der Zauberpest verloren hatten. Etwas in ihrem Lächeln machte ihm jedoch Mut. „Weißt du Faust, vieles hast sich verändert. Ich glaube ich kann es akzeptieren, ein neues Leben anzufangen. Die Welt wird sich auch ohne uns weiterdrehen." Ihre Augen hafteten an seinen. „Und wenn du bereit wärst, dieses Leben voller Gefahr und Tod hinter dir zulassen... dann würde ich mich freuen, wenn du auch ein Teil meines Leben bleiben würdest." Ihr Hände fassten seine, als sie ihn näher an sich zog. „Aber dazu müssen wir loslassen. Ich kann nicht zulassen, dass Scarlet wieder in Gefahr gerät, wegen meiner Feinde... oder deiner Feinde." Winter hatte ihren Frieden gefunden, das erkannte er nun. Und sie hatte ihn gerade eingeladen diesen Frieden mit ihr zu teilen. Vielleicht musste er sich wirklich fragen, wem oder was er noch immer hinterherjagte. War es das noch wert? Oder hatte er eigentlich schon mehr erreicht als er je wollte? Nie hatte er den Augenblick gebeten zu verweilen, außer in Momenten wie diesem. Vielleicht war es an der Zeit dem nachzugeben.

„König Oreme ist nun bereit euch zu empfangen!", unterbrach die quäkige Stimme des echsenhaften Herolds den Moment. Sie wurden in den Saal des alten Tempels geführt. Auf dem Thron saß ein Drachenblütiger, einer dieser Neuankömmlinge aus Abeir, der sich bester Gesundheit erfreute. Genervt schnaubte Faust: „Und wen sollst du bitteschön darstellen?" Empört richtete sich der golden geschuppte Herrscher auf und sein Krönchen verrutschte dabei etwas. „Ich bin König Oreme! Und ihr habt mich mit dem nötigen Respekt anzusprechen!" Er hatte keine Zeit für diesen Blödsinn. „Pass auf, Goldmarie: Entweder du sagst uns jetzt wo Arthindol, der echte König hier steckt, oder ich werde dir deine Krone so tief in deinen schuppigen Arsch rammen, dass du Goldnuggets kacken kannst!" Goldmarie riss die Augen auf und sah sich panisch um, doch da öffnete sich schon der Sandsteinboden des Tempels und Faust und Winter wurden hinunter in die Katakomben gesogen.
Nachdem er sich den Sand und Staub abgeklopft hatte, schaute Faust sich um. Die Katakomben hatte fast schon etwas heimisches für ihn, da er hier sein Zeichen erhielt, das sein Leben so stark verändert hatte. Dennoch schien alles ein wenig anders. Offenbar konnte Arthindol die genaue Struktur und Anordnung der Kammern nach Belieben verändern. Auf einem Thron am Ende des schattigen Saals lag ein leblos wirkendes Skelett. „Glaubst du er ist tot? Also, so richtig tot?", meinte Winter zögerlich. „Nein, bestimmt will er nur, dass wir uns sein Skelett genau anschauen und..."„SUCHT IHR MICH?" Toste eine markerschütternde Stimme von der Seite gegen die beiden an, gefolgt vom seltsam glucksenden Lachen des Sarrukh. „Wie schön, dass man euch noch erschrecken kann! Aber jetzt mal im Ernst, was wollt ihr hier schon wieder? wird das nun eine Angewohnheit, hier ständig reinzuplatzen?" Etwas wie Zorn ließ die leeren Augenhöhlen kurz rot aufglühen. „Ich dachte, ihr hättet euren Thron schon aufgestellt um euch das kommende Spektakel anzuschauen!", lenkte Faust ihn ab. „Wer sagt, dass ich das nicht schon längst habe? Dass Götter und ehemalige Götter und welche die es gern wären in unserer Welt herum wandeln, scheint ja wieder in Mode zu sein. Ich muss sagen, die Zeit der Sorgen hat mich damals ziemlich belustigt. Und nun haben wir wieder ein kleines "Göttlein wechsel dich" Spiel, das ist wirklich amüsant." Faust verstand nicht jede der Anspielungen, ging aber gleich wieder darauf ein. „Und das ganze soll ja noch nicht das Ende sein, oder? Ich weiß wann ich hin muss, mir fehlt nur noch eine Art Fokus." Freundschaftlich hievte der Sarrukh derweil den Leichnam seines Kollegen vom Thron und setzte sich selbst wieder hin. „Du meinst einen Anker. Oder auch Kompass, keine Ahnung, wie ihr eure seltsamen Hilfsmittelchen nennt. Verrätst du mir, wannhin du genau willst?.. oder nein, es ist viel spannender wenn du mir nichts verrätst. Du brauchst etwas, dass es heute wie auch damals gegeben hat, einen Gegenstand." Faust schaute auf Zwiespalt. „So etwas wie mein Schwert?" „Nein, ich dachte da an etwas weniger mobiles. Es sollte sowohl Zeit als auch Raum überstanden haben." Faust fing sofort an zu grübeln. Dieser Hinweis war möglicherweise der Schlüssel. Dann dachte er an seine zweite Frage: „Ich glaube, ich könnte noch andere mit mir nehmen. Ich werde dort sicher Hilfe brauchen." Der Weltenseher klatschte mit seinen klappernden Händen. „Das kommt darauf an. Liegt dir etwas am fortbestehen dieser Welt? Wenn du mich fragst: Nimm möglichst viele Leute mit und lass sie sich austoben! Das könnte wirklich viel ändern und die Zeit hätte mächtig Probleme das alles wieder auszubügeln!" Der Kämpfer rollte mit den Augen. „Ja, ich weiß schon, möglichst nichts verändern. Ashardalon war uns eine Lehre. Aber wenn wir dort agieren ohne den Verlauf zu ändern, dürfte nichts passieren." Winter meldete sich zu Wort. „Und wer sagt, dass es so gut ist, wenn wir den Lauf der Geschichte nicht ändern? Vielleicht wäre es für die Welt besser, wenn manche sterben und manche gerettet werden würden." Totenkopfgrinsend lehnte sich der Sarrukh zurück. „Die Einstellung gefällt mir! Wobei es natürlich langweilig wäre, wenn ihr die Existenz von allem vernichten würdet." Faust senkte sein Haupt kopfschüttelnd. „Wir können Dorien nicht retten, Winter. Es tut mir leid. Jeder Soldat, der bei Ashardalons Angriff auf die Vergangenheit gestorben ist, wäre sonst auf eine andere Art und Weise in dieser Schlacht gestorben. Der Zeitpunkt von Leben und Tod sämtlicher Kreaturen die eine Seele haben, kann nicht verändert werden. Die Kunst ist es innerhalb dieser Regeln der Zeit zu handeln, nicht sie einfach zu brechen." Arthindol beobachtete schweigend und genießend die Diskussion seiner Gäste. „Woher willst du das wissen? Du sagst, man kann das Schicksal nicht ändern? Dann musst du doch auch keine Angst haben, dass wir etwas verändern und wir können es einfach versuchen! Entweder du hast Recht und es geschieht ohnehin nichts, weil wir es nicht ändern können, oder die Regeln der Zeit sind doch nicht so starr wir du dachtest!" „Das wäre, als wolltest du eine winzige Scherbe aus einer Glaskugel schlagen, die unter Spannung steht. Es wäre nur eine winzige Scherbe, aber damit würde die ganze Kugel zerspringen und ließe sich nicht mehr zusammensetzen. Ich will die Welt verändern, Winter, nicht vernichten. Und ich will dich mitnehmen auf diese Reise, aber du musst mir versprechen, dass du keine Scheiße baust!" Das Skelett mischte sich wieder ein in die Unterhaltung. „Schön, dass du es verstanden hast. Sicher kommen euch noch viele tolle Ideen dazu. Aber nicht hier. Ich brauche jetzt meinen Schönheitsschlaf." Mit einem knackenden Fingerschnipps standen die beiden wieder in der grellen Sonne der Anauroch. Winter bedeckte ihre geblendeten Augen. „Mist, jetzt haben wir ihn verärgert und er hat uns nicht gesagt wo wir hin müssen." Faust grinste. „Keine Angst, ich weiß genau wohin wir nun gehen."


Grimward
Abtei des Schwertes

Sein Kopf brummte von all den Erklärungen. Seine Zweifel an diesem Unterfangen waren mehr als groß, doch wie Tempus ihm gesagt hatte, musste er dieses Problem eines Gottes in Menschengestalt  nun selbst lösen. Da er keinen anderen Weg kannte einen lebenden Gott zu töten, schloss er sich schließlich Fausts Idee an, zu dessen Erstaunen. Tatsächlich ging es ihm aber vielmehr darum eine Kontrollinstanz zu sein. Wer konnte schon sagen, was dieser Irre vorhatte, wenn er einmal in der Vergangenheit steckte. Insbesondere, da sie einen empfindlichen Zeitraum besuchten, da Tempus nur einer unter vielen Kriegsgöttern war - oder wird? Würde? Wenn die Sache vorüber war würde er ein ernstes Gespräch mit Faust führen müssen. Ihre Kameradschaft hing an einem seidenen Faden. Zuvor hatten sie alle verbliebenen Verwandten herkommen lassen. die Katakomben unter der Abtei boten einen großartigen Schutz, auch gegen fliegende Städte mit Höllenfeuerstrahlen. Das hoffte Grimward zumindest.
„Also, noch einmal: Wir kommen dort an. Der alte Altar ist unser zeitlicher Anker, da er bereits zur Zeit der Titanen hier war. Wir suchen ohne Umschweife diese Titanin, die Faust meint und entlocken ihr das Geheimnis. Und danach verschwinden wir sofort wieder in unsere Zeit! Es wird nichts mitgenommen oder angefasst oder getötet!" „Ja Papa! Und bekommen wir auch eine Zuckerstange, wenn wir brav waren?"Nicht genug, dass sie seine launische Schwester, den irren Faust und die schweigsame Miu mitnahmen. Nun hatte sich auch noch Drake aus freien Stücken entschieden mitzukommen. Offenbar gab es jetzt tatsächlich etwas für das er kämpfen wollte, nachdem sie auch seine Mutter unter der Abtei in Sicherheit gebracht hatten. „Ich weiß jedenfalls was du bekommst, wenn du uns verarschen willst!" Faust wirkte ungewohnt aufgeregt und fokussiert. Wenn sie Pech hatten würde er sie alle vielleicht ins unendliche Chaos verbannen. Stünde nicht so viel auf dem Spiel wäre er bei so einer riskanten Aktion nie dabei gewesen.
Dann ging es los. Es dauerte einen Moment und kurzzeitig wirkte Faust, als wäre sein Geist irgendwo im Strudel der Zeit verloren. Dann leuchtete sein Tattoo so hell und komplex auf wie nie zuvor und es war plötzlich kalt.
Der Altar war noch da, aber mit lauter fremden Zeichen und Fetischen bedeckt. Alle schauten sich unsicher um. Doch Fausts triumphierendes Lachen zeigte ihnen, dass es wohl geklappt hatte. Und tatsächlich: in der Ferne konnte Grimward es sehen. Selten durfte er ein derart episches Schlachtfeld bewundern. Die Titanen waren noch gewaltiger als er es sich erträumt hatte. Kein Riese seiner Zeit konnte auch nur im Ansatz an ihre Größe und Kraft heranreichen. Kurz fühlte er sich, als wären ihre Rollen vertauscht, als er den euphorischen Drang spürte, sich in die Schlacht zu werfen, während Faust wieder mit einem ernsten Unterton zur Vorsicht mahnte. „Ich mein es ernst! Jeder Scheiß, den ihr hier anstellt könnte dazu führen, dass es euch nie gegeben hat, also haltet euch zurück! Ich gehe jetzt Pandora suchen, die Titanin, welche das Geheimnis zum Töten eines Gottes kennt. Ihr bleibt hier und rührt nichts an." Miu schaute ihn fragend an. „Und wenn irgendetwas oder jemand zu uns herkommt? Hier ist eine Schlacht zwischen Göttern und Titanen im Gange. Vielleicht müssen wir uns verteidigen. Und meinst du, Pandora wird dir einfach so erzählen was du wissen willst?" Darauf folgte natürlich wieder Fausts selbstsicheres Grinsen. „Keine Sorge, ich kann sehr überzeugend sein. Und ihr lasst euch einfach nicht umbringen und genießt die Aussicht, aber bringt niemanden um! Haltet mir im Zweifelsfall den Rücken frei, wie besprochen!"
Kurz darauf machte Faust sich auf, seine Mission zu erfüllen. Die Stunden vergingen.Von der Anhöhe aus konnten sie dem wilden Treiben der Schlacht folgen. Selbst Drake schien eine gewisse Faszination für diesen Moment zu haben, den wohl kein Mensch zuvor gesehen hatte. Nur Miu schien angespannt. Sie schien besorgt um Faust zu sein. Doch er hatte ihr ausdrücklich gesagt, dass er alleine gehen würde.  Zur Beruhigung ging sie ein bisschen spazieren. Allerdings in eine Richtung aus der nun plötzlich Schritte zu hören waren. Grimwardt rannte zu ihr um ihr bei einem möglichen Kampf zur Seite zu stehen. Doch die Gestalt, die das riesige Ohr eines Titanen als Opfergabe hinter sich herschleifte, raubte nun auch ihm den Atem. „Tempus!"Der Gott des Krieges wirkte unerfahrener als Grimwardt ihn in Erinnerung hatte, mit deutlich weniger Narben und einer anderen Ausrüstung, doch er war es. „Ja, der bin ich. Und wer seid ihr Winzlinge? Oder sollte ich fragen was seid ihr? Wurdet ihr geschickt um..."
Nun geschah etwas, womit niemand gerechnet hatte. In schwarze Flammen gehüllt schoss Miu auf den Gott zu und materialisierte dabei ein Schwert in ihrer Hand. Der Augenblick, den Grimwardt brauchte um zu verstehen was gerade passierte, genügte um eine tiefe Wunde in den Bauch des Kriegsgottes zu schlagen. Mius Gestalt verkohlte unter den Flammen und schwarz gefiederte Flügel brachen aus ihr hervor. Nun verstand er die flüchtigen Andeutungen, die Tempus bei ihrem Gespräch gemacht hatte. „Das ist Ares!" platzte es aus Winter heraus, doch Grimwardt hatte bereits zum Angriff angesetzt. Er brachte seinen Schild zwischen die dunkle Klinge und seinen Gott und konterte nun. Auch Tempus selbst griff an. Der schwarze Phönix war mächtiger als je zuvor und es gelang ihm Tempus mit seinem Höllenfeuer niederzustrecken. Nur seine göttliche Essenz bewahrte ihn davor den Tod zu finden. Doch Ares´Rücken war in diesem Moment ungeschützt, da er sich ganz auf Tempus konzentrierte und Ambrosia zerschmetterte den Körper des verletzten Erzteufels. Ares verbrannte zu einem Häufchen Asche - Nur um einen Wimpernschlag später aus seiner eigenen Asche wiedergeboren zu werden. Die Höllenfeuerexplosion raubte Grimwardt fast das Bewusstsein. Und nun musste er sich alleine gegen einen frisch erholten Erzteufel behaupten, da die Explosion auch Winter und Drake zu Boden gerissen hatte. „Du verdammter Narr, Ares! Was bei den neun Höllen hast du vor?" Wie ein Märtyrer stellte sich Grimwardt vor seinen Gott. „Ist das nicht offensichtlich? Ich werde seinen Platz einnehmen!" Dem ersten gewaltigen Hieb der Höllenklinge konnte er widerstehen. „Er ist ein Gott, du kannst ihn nicht töten!" Ares setzte zu einem feurigen Klingentanz an, der Grimwardt kaum eine Chance ließ. „Das muss ich auch nicht, Ich lasse ihn einfach verschwinden."Er war bereits über und über mit blutenden und verbrannten Wunden bedeckt, als er feststellen musste, dass sein mächtiges Heilgebet keine Wirkung zeigte. Hier gab es noch keinen Tempus, der ihm seinen Segen schenken konnte. Für diesen jungen Kriegsgott war Grimwardt ein Fremder, nur irgendein Sterblicher. Hilflos sah er die Klinge über seinem Gegner aufflammen. „Geh zur Seite Grimwardt, ich will dich nicht töten müssen. Wir kämpfen schließlich für das selbe Ziel." Die Worte klangen wie Hohn in seinen Ohren. Wenn sein Gott so sein Ende finden sollte, dann mit ihm zusammen.
Doch ehe Ares den tödlichen Schlag vollziehen konnte wurde er von einem Sturm aus Klingen umhüllt. Faust war zurück. Zwiespalt und er waren hier keineswegs ihrer Kräfte beraubt. Vor Schmerz und Wut brüllend setzte der Vater zum Konter gegen seinen Sohn an. Doch Faust war ein Experte im Kampf gegen seine Erzfeinde und auch Zwiespalt schmeckte das Blut von Teufeln besonders gut. Ohne seine Göttliche Magie war Grimwardt kaum in der Lage dem Kampf zu folgen. Beide tauchten mal hier, mal da auf und ihre Schlagfolgen fanden in einem irren Tempo statt. Bis Zwiespalt Ares Körper in den Boden rammte und mit einem Dimensionsanker festhielt. Faust spuckte einen Schwall Blut aus, doch er hatte gesiegt. Ares fluchte. „Das ist falsch! Das hätte anders laufen sollen!" Faust drehte die Klinge in das Teufelsfleisch. „Was meinst du damit und was verdammt nochmal machst du hier?" Die klauenbewehrte Hand zeigte auf den reglosen Kriegsgott. „Ich muss seinen Platz und seine Gestalt annehmen! Verstehst du denn nicht? Ich übernehme einfach seine Rolle in der Geschichte. Jeden einzelnen Punkt. Niemand wird merken, dass ich und nicht er zum unangefochtenen Gott des Krieges wird, wenn ich Garagos bezwungen haben werde. Du weißt, dass das mein Schicksal ist, Desmond!" Faust sah tatsächlich aus, als würde er darüber nachdenken. „Hör nicht auf ihn! Du hast selbst gesagt, welche unbegreiflichen Auswirkungen das haben könnte!" Grimwardts Stimme holte ihn zurück und er sah sich um.
Auf einmal stand etwas anderes in Fausts Blick: Angst. Er sprach langsam, als wollte er eigentlich keine Antwort auf seine Frage hören. „Wo ist Miu?" Grimwardt schüttelte den Kopf und schaue voller Abscheu Ares an. Tränen der Wut stiegen in Fausts Augen, als seine Klinge den Arm seines Vaters abtrennte. „WARUM? warum sie? Wie konntest du nur?" Ares schien zu begreifen, dass dies sein Ende sein könnte. „Sie hatte einen Pakt geschlossen, damals in der Hölle. Damit hatte ich nichts zu tun. Als du Shar getötet hast, hast du auch Miu vernichtet. Das war zu viel für ihren Körper. Ich habe nur ihre Gestalt angenommen. Getötet hast du sie." Der andere Arm und ein Horn fielen Zwiespalt als nächstes zum Opfer. Doch Ares Worte hörten nicht auf zu fließen. „Ich kann ihre Seele retten! Hier hatte ich keinen Erfolg wegen euch, doch ich werde euch helfen Mephisto zu vernichten und dann werde ich der Gott der Neun Höllen sein und Ihre Seele freigeben!" Er konnte es selbst kaum glauben, doch Grimwardt musste Ares Recht geben. „Wir brauchen ihn, Faust. Es wird einen neuen Gott der Neun Höllen geben, ob du das willst oder nicht. Und er ist das für uns kleinste Übel. Mephisto und Telamont sind ein unsäglicher Grauen für unsere Welt, der aufgehalten werden muss. Es ist ein Sakrileg, dass nun ein Gott in der Welt der Sterblichen wüten kann und das müssen wir verhindern." Der Kriegpriester wendete sich an den Erzteufel, während Fausts Knöchel aus seiner Haut zu platzen drohten. „Ares, wir werden dir helfen. Aber dazu gibt es einige Dinge, die wir bereits vorher schriftlich in einem Vertrag festsetzen werden, für den Fall, dass du zum neuen Gott der Neun Höllen wirst." Faust holte zum Schlag aus. „Ich scheiße auf eure Verträge! Er ist ein skrupelloses Arschloch und ein Teufel durch und durch. wir können ihm nicht trauen, so wie Miu wird er auch uns opfern. Er muss sterben!" „Wenn du ihn jetzt tötest, dann sind die Konsequenzen unberechenbar! Sei kein Idiot, Faust! Mius Seele kann gerettet werden. Winters Vertrag kann er wieder rückgängig machen und auch deinen! Es gefällt mir auch nicht, kein bisschen, aber dein Vater hat die Möglichkeit uns bei all unseren Problemen zu helfen!" Heiß schnaubte Faust in Wut und Trauer, als er in seine Tasche griff und seine Münze zückte. Grimwardt wusste was das hieß. Dieser Münzwurf würde nun über das Schicksal von Ares und vielleicht auch ihnen allen entscheiden. „Bei Kopf bist du jetzt sofort tot. Bei Zahl werde ich dich an einem anderen Tag töten. Egal ob als Teufel oder Gott, du bist nun in keiner Gestalt mehr vor mir sicher. Und glaube mir, ich werde dir das nicht durchgehen lassen." Die Münze durchschnitt die Luft, drehte sich quälend langsam bis Faust sie auffing und auf seinen Handrücken klatschte. Abschätzig zog er die Mundwinkel nach unten. „Zahl. du wirst vorerst weiterleben."
Alle die kurzzeitig die Luft angehalten hatten, atmeten nun wieder durch. Es war eben diese Willkür, die Faust zu einer potentiellen Bedrohung machte. Grimwardt konnte nicht einmal genau einschätzen ob er eine Bedrohung für sich, seine Umfeld oder die ganze Welt sein könnte. Und nun hatte Faust mit seiner Hilfe die Fähigkeit erlangt Götter zu erschlagen. War es wirklich das kleinere Übel? Wie auch immer, Grimwardt hatte eine Entscheidung getroffen und nun würden sie ihren Plan weiter verfolgen. Mit einer Schriftrolle heilte Faust seine Gefährten so weit, dass sie zumindest wieder aufstehen konnten. Grimwardt zu liebe hatte er sogar Tempus zurückgeholt. Verwirrt und in seiner Ehre verletzt schaute der Kriegsgott in die seltsame Runde, während Grimwardt ihm hoch half. „Was hat all das hier zu bedeuten? Ihr solltet nicht hier sein. Nicht dass mir die kosmische Ordnung so sehr am Herzen liegen würde, aber ihr könntet einiges kaputt machen. Und euer Mangel an Respekt gegenüber den Göttern ist nicht entschuldbar!" Trotz seiner Worte nickte er Grimwardt anerkennend zu. War es etwa dieser Moment, durch den Tempus auf ihn aufmerksam wurde? War das hier seine Prüfung gewesen, durch die Tempus sich für ihn entschieden hatte, zehntausende Jahre vor seiner Geburt? Der Blick des Schlachtenhüters beachtete Winter und Drake kaum. Selbst dem verstümmelten Ares, der ihn eben noch entthronen wollte, warf er nur einen kurzen Blick der Missachtung zu, ehe seine eisblauen Augen an dem verschiedenfarbigen Blick von Faust hängen blieb. Im Gesicht des Gottes stand weiterhin große Verachtung und doch zugleich eine Art Vorfreude. Ein Versprechen. „Wenn wir uns das nächste mal wieder sehen, wird einer von uns das nicht überleben. Du magst sehr stark sein, Mensch, doch du bist und bleibst ein Sterblicher." Faust grinste noch einmal selbstsicher ehe er sich abwandte um zu gehen. „Und genau darum solltest du dich fürchten, Gott." Grimwardt würde keine Zweifel haben, an wessen Seite er an jenem Tag kämpfen würde.
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Niobe am 23. Januar 2024, 23:09:56
Oh krass, da ist so viel passiert, sowohl emotional als auch physisch. War sicher nicht leicht zu schreiben, aber ist großartig geworden! Ist das mit Drakes Mutter echt passiert? Kann mich gar nicht mehr erinnern. Und Ares habt ihr leben gelassen oder passiert da noch was? Hatte irgendwie im Kopf, dass ihr ihn gekillt habt. Mann ist das spannend :P
Titel: Stadt der gläsernen Gesänge
Beitrag von: Nightmoon am 24. Januar 2024, 22:24:55
Das mit Drakes Mutter war schon so, dass die Spieler da ziemlich ihr Unverständnis darüber erwähnten, dass er sie so hoffiert und das mit Ares war auch so, der ist auch im großen Showdown dabei.