Also dann... SL-Kommentare im eigenen Beitrag. TIME TO SAY GOODBYE.
Ende
»Es ist soweit.«
Pellir stand auf und gab seiner Frau einen Kuss. »Ich weiß. Wie sehe ich aus?«
Sie rollte mit den Augen. Dann sagte sie etwas ernster: »Müde.«
»Wie auch nicht?« Pellir zuckte mit den Schultern. »Einhundertneununddreißig Abende bin ich von Kneipe zu Kneipe getingelt und habe die Geschichte der Kettenbrecher erzählt. Heute sind es einhundertvierzig. Soll ich ehrlich sein? Es fühlt sich an, als wären es vier Jahre gewesen und nicht nur ein halbes.«
»Bereust du es?«
»Nein«, sagte er sofort. »Ich schulde es den Kettenbrechern. Ohne sie wäre ich nicht, wo ich jetzt bin. Und den Zuschauern, wenn sie nicht wiedergekommen wären…« Er grinste. »Außerdem wird es Zeit, dass ich mal ein Epos fertigstelle, findest du nicht?«
»Sie sind auch heute alle wiedergekommen. Der Marktplatz ist voll. Du bist der Höhepunkt des Festes.«
»Und deine Eltern? Sind sie da?«
»Sie… sie wollten kommen. Aber in Urmlaspyr wurden Schattenmagier gesichtet, und-«
»Schon gut.« Pellir winkte ab. »Alle anderen sind ja da.« Er küsste sie noch einmal und ging dann hinter die Bühne. Der Gondtempel hatte sie extra für ihn bauen lassen. Er sah die letzten Momente von Pestbeule und Lupus Majors Narreteien. Die Leute johlten, als der Mann im Wolfskostüm versuchte, Pestbeule zu schnappen aber nur seine Hose zu fassen bekam. Einfache Unterhaltung, sicher, aber trotzdem verstanden sie ihr Handwerk. Jetzt kam Levold von Gond auf die Bühne, um den Akt zu beenden, gerade als Pestbeule eine Torte auf Lupus warf. Lupus duckte sich und die Torte landete im Gesicht des Hohepriesters. Pellir grinste. Er dachte an Jenyas Eltern, die in Urmlaspyr nach dem Rechten sahen. Und an den Dude, der unter dem Künstlernamen Sammasters Sohn ziemlich anrüchige Bücher schrieb, die dem Hörensagen nach der letzte Schrei in Tiefwasser waren. Außer ihnen waren sie alle da draußen, da war er sich sicher. Würde er sie in der Menge sehen können? Wahrscheinlich nicht, aber sie waren da. Bestimmt. Er sah noch einmal auf die Bühne: Pestbeule, Lupus Major, Levold von Gond – es waren fast alle versammelt, die er zusätzlich in die Geschichte eingebaut hatte, zumal der Künstlername des Dudes nicht auf die Bühne kommen konnte. Und Darigaaz Aslaxin, der Stadtherr, saß bestimmt in der ersten Reihe.
Levold scheuchte die Narren von der Bühne. Er wischte sich Torte aus dem Gesicht. »Und jetzt, worauf wir alle gewartet haben, das Ende einer großen Geschichte.« Es wurde still. »Fünfundzwanzig Jahre ist es her, dass die Kettenbrecher die Käfigmacher besiegten und dieser Tag zum Festtag wurde, der fünfte Tag des fünften Monats. Der Tag der Gebrochenen Ketten. Die Fünf bringt im Kessel kein Unglück mehr.« Applaus. »Die meisten von euch haben das letzte halbe Jahr damit verbracht, unserem tapferen Erzähler durch die Kneipen und Anwesen zu folgen, in denen er seine Geschichte erzählt hat. Mal war es traurig, mal lustig, und oft spannend. Heute geht es zuende.«
»Halts Maul!«, rief eine Stimme. Gelächter und Buhrufe folgten.
Levold lachte. »Recht habt Ihr! Ich will auch wissen, wie es ausgeht. Also raus mit dir auf die Bühne, Pellir der Gerechte!«
Jetzt applaudierten sie wirklich. Jenya tauchte neben Pellir auf. »Na los«, sagte sie. »Raus mit dir.« Sie gab ihm einen Klaps auf den Po.
»Wie sehe ich aus?«, fragte Pellir.
»Wie das Kaninchen vor der Schlange«, sagte sie. Pellir zog die Stirn kraus. »Na gut,« sagte sie, »wie ein umwerfendes, starkes Kaninchen vor der Schlange, die noch nicht weiß, dass heute sie gefressen wird.«
»Schon besser.«
Sie streckte ihm die Zunge raus.
Pellir zwinkerte ihr zu, dann drehte er sich um und trat auf die Bühne. So viele Leute! Der Marktplatz war voll, die Straßen auch, sogar die Dächer! Überall schwebten bunte Lichter und zeigten noch mehr Zuhörer. Es war unglaublich. Pellir brach der Schweiß aus. Wenn er jetzt versagte… Er stellte sich auf das große Kreuz in der Mitte der Bühne. Die Gondpriester hatten ihm versichert, dass man ihn von hier aus fast in der ganzen Stadt würde hören können. Er räusperte sich. Der Applaus erstarb.
»Hallo?«, krächzte er.
»HALLO«, dröhnte es zurück. Er hatte das Gefühl, dass der Schall ihn umwerfen würde. So viele Leute! Ihm wurde schwindlig.
»Nun erzähl schon, Junge!«, kam eine heisere Stimme. Pellir blinzelte in die Dunkelheit. Dort, bei der Säule, der Schatten eines Barbaren, und daneben ein Schatten mit Elfenohren, eine gedrungene, zwergische Form und noch mehr. Plötzlich war er ganz ruhig. Er hörte die Leute nicht mehr, sah sie nicht mehr. Er stand im inmitten von Stille und Dunkelheit. Er hob die Hand. Er holte Luft. Er begann zu erzählen. Es war ganz einfach.
-
Jørgen sah von Adimarchus zu seinen toten Freunden. Vor allem sah er zu Thamior und Annastrianna. Vielleicht konnte der Seelenbogen noch von Nutzen sein. Könnte er ihn mit seinem Schwert zerschmettern? Und würde Kelemvor sich berufen fühlen, ihm dann zu helfen? Wer kannte schon das Herz von Göttern? Nein, das war kein Plan, das war Verzweiflung, und er würde damit die wenigen Momente opfern, die ihm blieben, um Adimarchus doch noch im Schwertkampf zu besiegen.
Konnte er das? Wollte er das? Und welche dieser beiden Fragen war wichtiger? Adimarchus pendelte mit dem Oberkörper hin und her.
»Was ist, oh tapferer Paladin? Hast du Angst?«
Ich habe keine Angst zu sterben, ich will nur nicht. Wie oft hatte Jørgen das gedacht? Plötzlich wusste er, was er zu tun hatte. Er ließ Läuterung fallen. »Nein«, sagte er. »Keine Angst.«
Adimarchus hielt inne. »Was soll das? Kämpf, Paladin!«
Jørgen schüttelte den Kopf. »Denk nach, Adimarchus. Du musst mich nicht töten.«
»Aber ich will«, sagte der Dämon.
Jørgen zuckte mit den Schultern. »Dann tu es.«
Adimarchus verwandelte sich in seine Engelsgestalt. Er hob den Klauenhandschuh. »Ich werde dir das Herz herausreißen, genau wie deinem Freund.«
Es war gar nicht so lange her, dass Dämonicus Grimm dasselbe gesagt hatte. Und Jørgen gab dieselbe Antwort, die trotzdem eine ganz andere war. »Hol es dir.«
Adimarchus brüllte und stürmte auf Jørgen zu. Jørgen sah ihm in die Augen, als er ausholte und zuschlug, und er sah auch nicht weg, als der Klauenhandschuh gegen Treorks Bollwerk schlug, ohne es zu durchdringen. Adimarchus stand ihm direkt gegenüber, die Klaue über seinem Herz, das Gesicht voller Hass und Verzweiflung. Aber da war noch etwas in diesem Gesicht zu lesen. Hoffnung.
Adimarchus schrie auf und riss den Arm weg. Er lief auf die Wand zu und schlug ein Loch hinein. Schwer atmend drehte er sich wieder um. Er zeigte mit dem behandschuhten Finger auf Jørgen. »Du hast eine Chance.«
»Stell dich Tyr. Gehe nach Celestia und stell dich Tyr. Ich werde für dich sprechen und«, Jørgen deutete auf Dirim, »er auch.«
Adimarchus schüttelte den Kopf. »Tyr würde mich niemals wieder aufnehmen. Er würde mich bestrafen und verbannen. Oder töten.«
»Vielleicht«, sagte Jørgen. »Aber was macht dir am meisten Angst? Dass er dich verbannt? Dich tötet? Oder dass er dir vergibt?«
»Was weißt du denn schon?«, herrschte Adimarchus. »Würdest du etwa zu Graz’zt gehen als derjenige, der mich befreit hat, und einer Ewigkeit von Gefangenschaft und Folter entgegen sehen?«
Jørgen zögerte nicht. »Ja.«
Adimarchus stockte. Seine Augen wurden zu Schlitzen. Er studierte Jørgen für eine Weile.
»Er meint es ernst«, mischte sich Annastrianna ein. »Er meint es ernst.«
Adimarchus nickte. »Abgemacht.« Er streckte die Hand aus. »Ich stelle mich Tyr. Du stellst dich Graz’zt.«
Jørgen nickte. Er hatte keine Angst. Nie zuvor hatte er sich so sicher gefühlt, dass er das Richtige tat. Er faste Adimarchus’ Hand und schüttelte sie.
»Wie heißt du, Paladin?«, fragte Adimarchus.
»Jørgen von Velbert.«
»Es ist mir eine Ehre.« Adimarchus verneigte sich. »Gehen wir?«
»Eines noch«, sagte Jørgen. »Der Zwerg hat ein tragbares Loch. Ich bitte dich, nimm die Leichen meiner Freunde mit nach Celestia. Ich weiß nicht, was dort mit ihnen geschieht, aber-«
»Ja«, sagte Adimarchus. »Es fühlt sich richtig an.«
Sie verstauten die Leichen und den Seelenbogen, und Jørgen gab auch seine Waffen und die Rüstung in das Loch. Vielleicht würden sie einem anderen Paladin nutzen. Er brauchte sie nicht mehr.
»Bereit für Celestia?«, fragte er.
»Bereit für die Hölle?«, gab Adimarchus zurück.
Jørgen schloss die Augen und holte tief Luft. Ein letzter Atemzug in Freiheit. Er fasste Adimarchus’ Arm.
»Jetzt können wir gehen.«
-
Es war still in Cauldron. Totenstill. Pellir stand auf der Bühne und zählte langsam bis fünf, um die Pause bis zum Äußersten zu dehnen. Er sah noch einmal zu den Schemen, die ihm vorher Mut gegeben hatten. Natürlich waren das nicht Boras, Thamior und Dirim gewesen. Natürlich waren es Boros Breda, Aleandra Dunessar und Branda Gratur, die Schätze Tethyrs. Nicht die Kettenbrecher. Wie denn auch?
»Und das«, sagte er schließlich, als die Stille unerträglich wurde, »war das letzte Mal, dass jemand die Kettenbrecher sah. Was aus ihnen wurde, darüber gibt es viele Geschichten. Immer wieder hört man von jemandem, der schwört, er habe Dirim gesehen, wie er mit einem brennenden und einem leuchtenden Auge durch die Nacht ging. Die Riesen erzählen sich von einem Jäger, der durch die Nacht schleicht und ihresgleichen mit Pfeilen tötet, die selbst durch Steine fliegen. Und Boras soll für unzählige Kneipenschlägereien verantwortlich sein.«
Leises Gelächter.
»Das sind nur Gerüchte und Mythen. Wir wissen nicht, ob sie stimmen. Aber wir wissen, dass die Halbebene Occipitus nicht mehr existiert. Sie ist verschwunden. Wir wissen, dass der Seelenbogen weiterhin verschollen ist. Und wir wissen, was die Kettenbrecher für uns getan haben. Sie haben Cauldron bewacht.« Er musste husten. »Sie haben uns den Himmel gebracht.« Noch eine letzte Pause. Dann flüsternd: »Sie haben uns stolz gemacht. Danke.«
In den nächsten Atemzügen hätte man ein Haar fallen gehört. Und dann...
-
Fünfundzwanzig Jahre zuvor.
Die Tür öffnete sich mit einem leisen Knarren. Thargad betrat das Haus und schloss die Tür hinter sich. Dann blieb er stehen.
»Hallo?« Die Stimme kam von oben, gefolgt von Schritten. Arlynn kam die Treppe herunter. Sie entspannte sich, als sie ihn sah. »Ach, du bist es. Wie ist es gelaufen?« Sie erreichte das Erdgeschoss. »Du bist zu früh. Meinst du, du kannst lange genug bleiben, damit ich kochen kann? Oder hält deine Maske nicht lange genug?« Sie schüttelte den Kopf. »Entschuldige.« Sie runzelte die Stirn. »Du sagst ja gar nichts. Ist irgendwas?«
Thargad stand einfach nur da.
Arlynn kam langsam auf ihn zu, misstrauisch, wie eine Katze, die sich einer Maus nähert, welche sich tot stellen könnte. »Etwas ist anders, oder?« Thargad sah sie an. »Irgendetwas…« Ihre Augen wurden weit. Ihr Mund blieb offen stehen. Sie kam ganz nah an ihn heran, und immer noch bewegte er sich nicht. Arlynn hob ihre rechte Hand. Sie zitterte. Sie berührte Thargads Wange und zog die Luft ein, als sie warmes, durchblutetes Fleisch fühlte.
(VORHANG)