Kapitel V: Die Spiegel der Zukunft
Faust
In der darauf folgenden Nacht im Gasthaus zum Gähnenden Portal, Tiefwasser.
Im Schankraum der schmuddligen Hafenabsteige fanden sich zu dieser späten Stunde nur noch ein paar Dauergäste, die mit glasigen Blicken und hängenden Schultern über ihren Bierkrügen brüteten. Grimwardt und Miu waren zu Bett gegangen, während Winter und Faust von einem Fenstertisch, der einen guten Blick auf die Straße bot, Wache hielten, um Drake abzufangen, sollte er tatsächlich hier auftauchen. Fahrig trommelte Faust mit den Fingern gegen die Tischkante, bemüht sich nicht von Winters niedergedrückter Stimmung anstecken zu lassen. Seit zwei Stunden kauerte seine Gefährtin mit angezogenen Beinen auf ihrem Platz und sah nur auf, wenn das Geräusch der aufschwingenden Tür einen neuen Gast ankündigte.
„Dein Traum?“, unternahm Faust einen letzten Versuch ihr dahinvegetierendes Schweigen zu brechen. Doch wie die beiden Male zuvor zuckte sie nur stumm mit den Schultern.
„So übel?“
„Nein… ich weiß nicht.“ Fröstelnd verstärkte sie den Griff um ihre Knie. „Es fing so schön an.“
„Dann war er besser als meiner“, murmelte Faust düster und nahm einen tiefen Zug aus seinem Bierkrug.
Die Frage nach seinem Vater hing wie ein dunkles Omen über ihm. Würde er je herausfinden, was damals geschehen war? Vielleicht sollte er… Nein, er konnte nicht zu den Neun Schwertern zurückkehren. Noch nicht. Nicht bevor er die dunkle Prophezeiung seines Lehrmeisters widerlegt und bewiesen hatte, dass er nicht enden würde wie… Tja, wie wer? Wer war das Phantom, vor dem er seit zwölf Jahren davonlief?
Die Tür schwang auf und eine vermummte Gestalt trat auf die beiden Gefährten zu.
„Winter Fedaykin und Faust, nehme ich an.“
Die Fremde lüftete die Kapuze und enthüllte ein hübsches, sommersprossiges Mädchengesicht, das von einer Flut goldblonder Locken umrahmt wurde. Das niedliche Ding konnte nicht älter als siebzehn Jahre sein. Doch der ungerührte, leicht amüsierte Blick, mit dem sie Fausts Musterung standhielt, verriet, dass sie es gewohnt war, von Männern angestarrt zu werden.
„Und Ihr seid…?“
„Lady Feyleen, sehr erfreut“, stellte sie sich vor. Winter zog eine Augenbraue in die Höhe und Fausts Schwerthand fuhr an den Knauf seiner Waffe. Feyleen quittierte beides mit einem spöttischen Lächeln: „Ihr habt von mir gehört?“
Faust kniff die Augen zusammen, um seinen Geist zu fokussieren und hinter die Maske des Taliser Bauernmädchens zu blicken. Für die Dauer eines Blinzelns überlagerte die Realität Feyleens Zauber und enthüllte die ebenso sinnliche wie verstörende Gestalt der Dämonin. Ihr makelloser Frauenkörper aus Perlmutt-Schuppen schillerte golden im Zwielicht der Talgkerzen, ein schmaler Echsenschwanz schlängelte sich grazil um ihre bloßen Fußknöchel und aus ihren Schulterblättern wuchsen eindrucksvolle, blassrote Lederschwingen, die von durchscheinenden Adergeflechten durchzogen waren. Die gespaltene Zunge, die gefährlich zwischen den Zähnen der Sukkubus hervorblitzte, machte ihr Lächeln nur umso verführerischer.
„Wo-u“, entfuhr es Faust und er pfiff leise durch die Zähne.
Aus den Erzählungen der Fedaykin-Geschwister wusste er, dass die Sukkubus eine mächtige Fürstin des Abgrunds war, die eine offene Rechnung mit Drake hatte, die sie in abgetrennten Gliedern zu begleichen pflegte. In der Absicht dem Spuk ein Ende zu bereiten, hatte der Assassine Winter in einen Hinterhalt gelockt und ihrem Bruder den Schwur abgepresst, ihm bei nächster Gelegenheit im Kampf gegen die Dämonenfürstin beizustehen. Bislang hatte ihn nur Feyleens Unauffindbarkeit daran gehindert, den Ehrenschwur des Priesters einzufordern.
„Ich weiß, wonach ihr sucht, und ich habe euch ein Angebot zu unterbreiten.“ Die Vision war verschwunden, doch Faust war es unmöglich das Mädchen, das nun am Tisch Platz nahm, mit denselben Augen zu sehen wie zuvor. „Auch ich bin seit langem auf der Suche nach Ashardalon und der Bastion der ungeborenen Seelen. Ich war dabei, als der letzte Erbe Soleilons von der Cathezar angegriffen wurde. Es erzürnte mich damals, dass die Marilith mich um meine Rache an Drake gebracht hatte, darum machte ich sie in ihrem Versteck ausfindig und tötete sie. Dabei stieß ich auf ihre Aufzeichnungen. Ihr Auftraggeber war Demogorgon. Um den Seelenkrieg zu beenden, den seine beiden Persönlichkeiten gegeneinander führen, benötigt der Dämonenprinz Ashardalons falsches Herz, dass dieser einem mächtigen Balor entriss. Denn Demogorgon ist halb Teufel und halb Dämon und nur das mächtige Herz eines Dämons, angereichert mit Seelenenergie, vermag den teuflichen Teil seiner Persönlichkeit zu bezwingen. Ich suchte Demagorgon auf und wurde zur Nachfolgerin der Cathezar. Mit mäßigem Erfolg, wie ich gestehen muss. Mehrmals versuchte ich Klone des letzten Erben zu erschaffen, doch keine meiner Schöpfungen überlegte lange. Und auch bei der Suche nach den Seelensplittern hatte ich wenig Glück. Von der Herrin der Träume erfuhr ich, wo der letzte der drei Seelensplitter zu finden ist, doch meine… gottlose Natur macht es mir unmöglich, das Gefängnis des Desayeus zu betreten.“ Die Dämonin sprach all diese Scheußlichkeiten, die keinen Zweifel an ihrer Verderbtheit ließen, ohne jede Scham, dafür aber mit einem Hauch von Ironie aus.
„Und warum sollten ausgerechnet wir Euch dabei helfen, dieses Herz zu beschaffen?“, knurrte Faust. Feyleens Geschichte passte zu dem, was er und seine Freunde in Erfahrung gebracht hatten. Ihr Versuch einen Klon des Soleilon-Erben zu erschaffen erklärte ihre Angriffe auf Drake und ihr Scheitern ließ vermuten, dass Orlaks Klone allein durch die vampirische Umwandlung hatten überdauern können. Allerdings erschien es ihm wenig rühmlich, einem Dämonenprinzen bei der Beschaffung eines gestohlenen Herzens zu helfen. Außerdem ahnte Feyleen offenbar nicht, dass Ashardalon womöglich bereits besiegt oder zum Vampir geworden und sein Herz damit verdorben war.
„Das alles mag Euch fremd und widerwärtig erscheinen. Doch meines wie Euer Anliegen ist der Tod Ashardalons, darum gibt es keinen Grund, weshalb wir uns bekämpfen sollten, anstatt uns ihm gemeinsam entgegen zu stellen. Seit mehr als 1500 Jahren nährt sich der Drache bereits von den präinkarnierten Seelen der Bastion und seine Macht wächst von Tag zu Tag – glaubt mir, Ihr und ich, wir werden jede Hilfe nötig haben, wenn wir ihn aus dem Weg schaffen wollen.“ Und mit einem anzüglichen Lächeln, das an Fausts Adresse gerichtet war, fügte sie hinzu: „Rettet ihr nur die Seelen der ungeborenen Kinder und überlasst mir das Herz des Drachens. Dieser kleine Schandfleck muss ja nicht unbedingt in die Annalen Eurer Heldentaten eingehen.“
Es wäre auch nicht der erste, ergänzte Faust in Gedanken.
Er traute der Sukkubus nicht weiter als er spucken konnte, doch er konnte sich auch nicht ganz den süßen Verheißungen ihrer latenten Tändeleien entziehen.
„Meinetwegen seid unsere Begleitung“, sagte er darum. „Winter, was meinst du?“
Die Zauberin starrte eine Weile versonnen aus dem Fenster.
„Schön“, entschied sie schließlich, doch sie betrachtete die Dämonenfürstin mit abweisendem Blick. „Kommt wieder, wenn wir den Seelensplitter haben. Und zeigt Euch nicht vor Drake, falls wir ihn bis dahin gefunden haben sollten.“
Winter
Kurz darauf.
Grimwardt stützte stöhnend den Kopf in eine Hand und rubbelte sich die Schläfen.
„Ihr habt was getan? Ihr habt euch mit der rachsüchtigen Dämonenfürstin verbündet, die ich Drake geschworen habe zu vernichten?“
So wie er es ausdrückte, klang es wirklich nicht gerade vernünftig.
„Verbündet kann man das eigentlich nicht nennen.“
„Jetzt sagt bloß, ihr habt ihr diese haarsträubende Geschichte auch noch abgekauft?“
„Vermutlich hat sie uns nur die halbe Wahrheit erzählt.“ Winter zuckte gleichmütig mit den Schultern. „Ich nehme an, sie wird versuchen sich an Drake zu rächen, sobald er seinen Nutzen für sie verloren hat. Aber was kümmert uns das?“
Der Priester hob den Kopf und sah seine Schwester durchdringend an und sie versuchte ihr Unbehagen hinter einem müden Blinzeln zu verbergen. Sie wollte ihn nicht sehen lassen, dass sie hoffte, auf diese Weise zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Es war kein besonders netter Zug, Drake auf solch hinterhältige Art loswerden zu wollen ohne sich selbst die Hände schmutzig zu machen. Aber solange das gefährliche Interesse des Assassinen an ihrer Familie anhielt, würde Scarlet nirgendwo sicher sein. Aber warum sollte sie versuchen, Grimwardt das verständlich zu machen? Ihre Bemühungen wären ja doch vergeblich und sie war zu niedergeschlagen und zu müde, um mit ihm zu streiten.
Grimwardt und Miu waren gekommen, um ihre beiden Gefährten abzulösen. Inzwischen war auch der letzte Säufer mit dem Kopf auf der Tischkante eingenickt und der Wirt hatte ihnen bereits zum wiederholten Mal auf unflätige Weise zu verstehen gegeben, dass er nicht gedenke, die ganze Nacht hinter dem Tresen zu verbringen. Doch ein paar Silbermünzen hatten ihn gnädig gestimmt.
Winter glaubte nicht mehr daran, dass Drake noch auftauchen würde, doch sie wurde eines Besseren belehrt.
„Er kommt“, vermeldete Grimwardt, als Faust und sie bereits den Treppenabsatz erreicht hatten.
Grimwardt blies die Kerze aus. Faust belegte den Raum eilig mit einem Dimensionsanker und stellte sich mit gezücktem Knüppel hinter die Eingangstür. Und Winter sprach einen Schutzzauber, der Drakes Dolche wirkungslos von ihrer Haut abprallen lassen würde, falls er ihnen Ärger bereiten sollte. Der Wirt, der lange genug in diesem Viertel überlebt hatte, um zu wissen, wann es ratsam war, das Weite zu suchen, beließ es bei einem Fluch und dem Hinweis, dass er sie für demolierte Wirtshausgegenstände haftbar machen würde, und sah zu, dass er von der Bildfläche verschwand. Dann schwang die Tür auf.
„Tempus zum Gruße, alter Freund“, brummte Grimwardt mit schulmeisterlich gekreuzten Armen, während Faust sich vor die Tür warf, um Drake den Fluchtweg abzuschneiden. „Wir müssen reden.“
Der Albino brauchte keine Sekunde, um zu erkennen, dass Flüchten zwecklos war. Winter kannte diesen halb lauernden, halb gehetzten Ausdruck, als er seinen Blick durch den Raum schweifen ließ, und ahnte, was er vorhatte.
„Nur zu.“ Mokierend breitete sie die Arme aus. „Nimm mich als Geisel, wenn du dich dann besser fühlst.“
Deine Dolche können mir ohnehin nichts anhaben.
Drake hob halb belustigt, halb verärgert eine Augenbraue. Dann schnellte die Spitzte eines Dolches aus seinem Lederhandschuh. Doch einen Lidschlag ehe er Winter erreichte, tauchte er zur Seite weg, unter ihrem Arm hindurch und auf Miu zu, die am Fenstertisch wartete. Lautlos klappte die Ordensschwester zusammen, als Drake ihr den Knauf seines Dolches in den Nacken rammte.
„Für wie blöd hältst du mich?“, zischte er. „Und jetzt sagt, was ihr zu sagen habt, und keine faulen Tricks, oder die Kleine wacht nicht wieder auf.“ Es sollte abschätzig klingen, doch Winter entging nicht die Anspannung in seiner Stimme. Drake war kein Narr. Er wusste, wenn sie hier waren, um ihn für all die miesen Tricks büßen zu lassen, die er sich mit ihnen erlaubt hatte, standen seine Chancen schlecht. Und sie genoss es ihn noch ein Weilchen zappeln zu lassen.
„Raus mit der Sprache.“ Drake presste Miu, die langsam zu sich kam, den Dolch an die Kehle.
„Das solltest du besser bleiben lassen, Mann.“ Fausts grünes Auge blitzte gefährlich, während das blaue eiskalt blieb. Der Söldner kannte kein Pardon mit Kerlen, die sich an den Wehrlosen vergriffen: Drake hatte es wie immer auf Anhieb verstanden sich Freunde zu machen!
„Und wer ist der Kerl? Hat Bleichauge das Zeitliche gesegnet?“
„Hades ist in seine Heimat zurückgekehrt. Das ist Faust und glaub mir, du willst dich nicht wirklich mit ihm anlegen.“ Winter trat auf ihn zu. „Der Nachtkönig von Westtor hat eine Horde Klonvampire auf dich angesetzt. Wenn du es vorziehst, dich aus dem Staub zu machen, bitteschön, aber dann wunder dich nicht, wenn du demnächst eine äußerst denkwürdige Begegnung mit dir selbst haben solltest!“
Ihre Worte hatten den gewünschten Effekt: Drake war für einen Augenblick sprachlos.
„Ich habe keine Ahnung, wovon du da sprichst“, knurrte er schließlich.
Winter lächelte liebenswürdig.
„Dann würde ich vorschlagen, du lässt Miu los und wir setzen uns.“
Wenn es eines gab, das Drake aus der Bahn werfen konnte, dann war es, die Kontrolle zu verlieren. Solange sie ihren Informationsvorsprung wahren konnten, half ihm weder seine Geisel noch sein Spott. Diesen Kampf hatten sie so gut wie gewonnen.
Faust
Pandämonium, am nächsten Tag.
Drake hatte um eine Bedenkzeit von einer Nacht gebeten. Als er am Morgen zurückgekehrt war, waren sie zu fünft zu den Äußeren Ebenen in das Labyrinth von Pandämonium aufgebrochen. Winter hatte einen Ortungszauber gewirkt, der sie nach Agathion, in den Mittelpunkt des Labyrinths führen sollte, in das außerdimensionale Gefängnis des gefallenen Gottes Desayeus. Das Portal nach Agathion, so hatten sie von der Herrin der Träume erfahren, wurde von dem Erzengel Eco bewacht.
Pandämonium war eine Welt im Fluss, ein lichtloses Höhlenlabyrinth, das sich auf keine Form festlegen mochte: Höhleneingänge sprossen plötzlich aus dem Nichts und vor den Augen der Gefährten entstanden wild verzweigte Tunnelgeflechte, während ein anderes Mal trutzige Höhlenwände aus dem Boden aufschossen und einen weit verzweigten Gang in eine Sackgasse verwandelten. Einmal wäre Grimwardt fast von zwei aus dem Boden brechenden Stalagmiten aufgespießt worden. Ein anderes Mal hatte Faust plötzlich den Boden unter den Füßen verloren und war in einen Abgrund gestürzt, der eine Sekunde zuvor noch nicht da gewesen war. Kein Wesen vermochte in dieser kargen, unsteten Landschaft zu überleben; ihre Herrscher waren allein die peitschenden Winde, deren ohrenbetäubendes Säuseln wie ein klagender Geist durch die Gänge spukte und jede Unterhaltung im Keim erstickte.
Faust konnte nicht sagen, wie lange sie schon durch diese unberechenbare Unterwelt geirrt waren. Zeit war an diesem Ort ein ebenso unzuverlässiger Ratgeber wie Geographie. Winters Ortungszauber war mehrere Male einfach abgebrochen, nur um die Fährte dann in entgegen gesetzter Richtung wieder aufzunehmen. Faust hatte das Gefühl, als versuche der Mittelpunkt des Labyrinths ihnen davonzulaufen. Doch nach einer halben Ewigkeit begann die Umgebung stetiger zu werden und die eigentümlichen Umwälzungen blieben aus. Selbst das zornige Pfeifen des Windes verlor an Intensität und verebbte schließlich ganz. Das wechselhafte Labyrinth von Pandämonium schien wie erstarrt. Und im Zentrum dieses Vakuums ruhte reglos wie in Stein gemeißelt eine Gestalt und blickte den Gefährten entgegen.
Eco der Solar hatte den Körper einer überlebensgroßen Menschenfrau mit eindrucksvollen, schneeweißen Schwingen, doch ihr Gesicht war geschlechtslos, erhaben und hart, und scheinbar aus dem selben Silber geformt wie die blitzende Klinge an ihrer Seite. Einzig die Topasaugen des Engels wirkten lebendig: Es waren Augen, unter denen ein Sterblicher zu Stein erstarren mochte.
Faust spürte eine eigenartige Spannung, die seinen ganzen Körper erzittern ließ. Hass. Verblüfft stellte er fest, dass er dieses Wesen aus tiefstem Herzen verabscheute.
„Eco, Gesandte der Götter“, sprach Grimwardt und sank ehrerbietig auf ein Knie. „Wir sind gekommen, um Eure Hilfe zu erbitten.“
Miu senkte demütig den Kopf und selbst Winter und Drake wandten die Blicke zu Boden. Allein Faust rührte sich nicht. Nur mit Mühe gelang es ihm ein verächtliches Schnauben zu unterdrücken.
„Sprecht, Priester.“
Grimwardt erhob sich.
„Ist es richtig, dass Ihr das Portal zu Desayeus’ Gefängnis bewacht?“
„Ich bin das Portal“, erwiderte der Engel.
„Als Priester des Tempus ersuche ich Euch um Einlass für mich und meine Gefährten. Der Gott Desayeus ist im Besitz eines Schlüssels, der uns Zugang zur Bastion der ungeborenen Seelen gewähren kann. Dort labt sich ein vampirischer Parasit an den Seelen der Sterblichen. Es ist unser Anliegen, ihn aus der Bastion zu vertreiben, um die göttliche Ordnung wiederherzustellen.“
„Mein Zorn gilt diesem Ungeheuer“, erklärte die Wächterin, doch ihre versteinerten Züge zeigten keine Regung. „Doch ich kann Euch nicht einlassen. Es liegt nicht in meiner Macht.“
Töte sie.
Fausts Hand bebte und er erkannte voller Befremden, dass sie das Heft seines Schwertes fest umklammert hielt. Endlich begriff er: Es war Zwiespalts Stimme, Zwiespalts Hass. Das Schwert hatte das Prinzip, das in sein Metall geschmiedet war – die Vernichtung aller Ordnung und derer, die für deren Erhalt einstanden – in eine menschliche Regung übersetzt, um Faust zu seinem Vollstrecker zu machen. Der Kämpfer spürte, wie sich eine dünne Schweißschicht auf seiner Stirn bildete. Er widerstand der Versuchung, Zwiespalts Drängen nachzugeben, doch der schwelende Hass, der ihn wie eine Blase umgab, wollte nicht weichen.
„Wäre es wohl möglich, dass Ihr dem Gefangenen unser Anliegen vortragt?“, hörte er Grimwardt sagen, doch es klang unwirklich in seinen Ohren, meilenweit entfernt.
„Ich bin das Portal“, wiederholte Eco. „Es ist mir nicht möglich, Agathion zu betreten, und ich stehe auch nicht in Verbindung zu Desayeus.“
„Könnte Euch denn ein göttlicher Befehl dazu bewegen, das Portal zu öffnen?“, versuchte der Priester es weiter.
„Gewiss“, antwortete der Engel. „Doch obliegt ein solcher Befehl nicht einem Gott allein. Zu groß wäre die Gefahr, Aos Zorn heraufzubeschwören.“
Plötzlich spürte Faust eine Veränderung, wie einen unsichtbaren Schutzschild, der sich um seinen Körper legte. Und dann sprang Zwiespalt in seine Hand. Abrupt, wie eine zum Leben erweckte Statue, fuhr der Engel herum und zog seinerseits blank. Miu stellte sich schützend vor die Wächterin und mahnte Faust mit einem vorwurfsvollen Blick zur Mäßigung.
„Ihr erhebt Euer Schwert gegen einen Diener des Pantheons?“ Die Stimme der Gottesdienerin war wie erkaltetes Metall.
„Da Ihr Euch weigert, uns durchzulassen, bleibt mir keine andere Wahl.“
Der Blick der goldenen Augen bohrte sich in seinen Geist, versuchte Fausts Absichten zu ergründen, doch der Schutzschild seines Schwertes wehrte den Versuch ab. Zwiespalt vibrierte ungeduldig in seiner Hand.
„Faust, beherrsch dich“, knurrte Grimwardt und legte ihm mäßigend die Hand auf den Arm. Der Anflug einer Drohung klang in seiner Stimme mit. „Sie hat keine göttliche Befugnis, uns einzulassen. Ich werde zu Tempus beten, damit er Sie uns erteilt.“
„Spar dir die Mühe“, murmelte Faust, den Blick auf den Gegner gerichtet. Seine Bewegungen spiegelten die des Engels. Grimwardt hatte vermutlich Recht. Aber er wollte angreifen, er wollte den Zorn der Götter heraufbeschwören. Vielleicht war es Wahnsinn, doch er hatte nie verstanden, mit welchem Recht die Götter den Sterblichen ihre Ordnung aufzwangen. Sind sie wirklich so viel besser als wir? Oder sind sie nur Teil einer Hierarchie, die so allgegenwärtig ist, dass sie noch nie jemand in Frage gestellt hat? Möglich, dass Zwiespalt diesen Hass in ihm geweckt hatte, doch in ihm geschlummert hatte er schon lange.
„Bei Veiros’ Ungestüm, Faust, du gottloser Narr!“ Die Zornesader auf Grimwardts Stirn trat pochend hervor, als er erkannte, dass der Gefährte sich nicht würde belehren lassen. Mit gezückter Axt stellte er sich ihm in den Weg, doch Faust wich der Bewegung aus und griff an.
Einen Augenblick, bevor er den Engel erreichte, sah er aus dem Augenwinkel, wie Miu diesen am Arm berührte. Seine Klinge stieß oberhalb des Herzens durch Ecos Rüstung, doch die Wunde war kleiner als die Wucht des Stoßes vermuten ließ. Im selben Moment ging Miu in die Knie und eine blutige Wunde klaffte an der der gleichen Stelle oberhalb ihres Herzens. Ihr Gesicht war bleich, doch von unumstößlicher Entschlossenheit: Wenn du sie tötest, musst du mich auch töten. Faust verfluchte die Karaturianerin und ihren stummen, aufopferungsvollen Widerstand. Es war eine Art des Kampfes, gegen den er machtlos war. Doch diesmal würde er nicht zulassen, dass sie den Sieg davontrug! Während er den Hieben des silbernen Engelsschwertes auswich, das ganz von alleine zu tanzen begann, steckte er Zwiespalt zurück in die Scheide. Ohne auf das protestierende Vibrieren des Schwertes einzugehen, griff er nach seiner gepolsterten Keule. Sie würde genügen, um den Engel bewusstlos zu prügeln, ohne Miu in Lebensgefahr zu bringen. Doch es erwies sich als gar nicht so einfach, zu dem Gegner vorzudringen. Von rechts hatte sich mit grantiger Miene Grimwardt zwischen ihn und die Gottesdienerin gedrängt und seine schmetternden Axthiebe ließen keinen Zweifel daran, wem seine Loyalität galt. Zu seiner Linken hörte Faust Winter magische Worte murmeln. Welchen Zauber sie auch entfesselt hatte, er verfehlte ihn. Doch bei der Erkenntnis, dass selbst Grimwardts Schwester, die gerade so viel Gottesfürchtigkeit besaß wie ihrem Opportunismus dienlich war, sich gegen ihn gewandt hatte, sank ihm der Mut. Doch er erhielt Unterstützung von unerwarteter Seite: Plötzlich tauchte Drake hinter Winter auf und in jeder seiner Fäuste blitzte ein Dolch. Die Zauberin durchschaute die Finte, konnte dem Angriff jedoch nicht mehr rechtzeitig ausweichen, um zu verhindern, dass Drake eine hässliche Wunde in ihren Hals riss.
„Du verdammter Bastard!“, rief sie empört.
Es sah dem Assassinen ähnlich, sich an dem verwundbarsten „Gegner“ zu vergreifen, statt zu riskieren, den göttlichen Zorn des Engels heraufzubeschwören. Doch Faust, den Grimwardts zorniger Angriff in arge Bedrängnis brachte, konnte es sich im Augenblick nicht erlauben, wählerisch zu sein. Immerhin verschaffte Drakes Angriff ihm genug Luft, um zu dem Engel durchzudringen. Und er ergriff die winzige Gelegenheit, die sich ihm bot, und versetzte seinen Körper in jenen Zustand innerer Ruhe, der der Stille im Auge eines Sturms glich, wenn die Zeit für einen Herzschlag stillstand, ohne dass die Welt um ihn herum es bemerkte: Götterdämmerung, wie der Samurai Nakamura das Manöver genannt hatte. Der Engel ging unter der Wucht der eilig aufeinander folgenden Keulenangriffe zu Boden – und Miu mit ihm.
Doch Faust hatte sich zu früh gefreut. Er hatte sich bereits abgewandt, als er den bohrenden Blick der Topasaugen in seinem Rücken spürte. Dann wurde er von einer Schockwelle göttlicher Energie erfasst und gegen die Höhlenwand geschleudert.
Grimwardt
„Untersteh dich!“, knurrte Grimwardt und versuchte Drake zu fassen zu bekommen. Doch der Schurke entwand sich seinem Griff und tauchte flink unter seinen Armen hindurch. Nach dem Angriff auf Faust war Eco wieder zu Boden gesunken. Drake schlitzte dem wehrlosen Gegner die Kehle auf und eine Blutfontaine ergoss sich über die Rüstung des Tempuspriesters. Als die Wächterin von Agathion zu Boden ging, brach ein gleißendes Licht aus der tödlichen Wunde, gefolgt von einer Druckwelle, die alle Umstehenden zu Boden warf. Als Grimwardt wieder sehen konnte, war der Engel verschwunden. An ihrer Stelle hatte sich ein strahlend weißer, schmuckloser Torbogen materialisiert.
Grimwardt rappelte sich auf und betete im selben Atemzug um Vergebung in welchem er den Engelstöter mit einem Schwall äußerst profaner Flüche überschüttete.
„Hör schon auf“, höhnte Drake, der seelenruhig seine Dolche reinigte. „Ihr brauchtet jemanden, der für euch die Drecksarbeit macht und siehe da: Das Tor ist offen.“
Die letzten Worte hatte er brüllen müssen, denn mit Ecos Tod hatte das Labyrinth von Pandämonium seinen ruhenden Mittelpunkt verloren und mit den unvorhersehbaren Veränderungen der Umgebung waren auch die heulenden Winde zurückgekehrt: Das Chaos forderte zurück, was der Engel in Schach gehalten hatte. Fausts launisches Schwert würde das freuen.
Der Kriegspriester hatte nicht übel Lust, die beiden Abtrünnigen Tempus’ heiligen Zorn spüren zu lassen, bevor er wieder verflog. Doch er musste seinen beiden bewusstlosen Gefährten helfen, ehe sich ein Stalagmit entschied Miu oder Faust aufzuspießen oder ihnen allen die Decke auf den Kopf fiel. Nachdem er die Karaturianerin geheilt hatte, setzte diese sich zu Faust und legte ihm die Hand auf die Stirn. Der Kämpfer stöhnte, doch es war wohl weniger sein angeschlagener Kopf als Mius leidvoller Blick, der ihm zu schaffen machte.
„Es ging nicht anders, Miu…“, versuchte er sich zu rechtfertigen. Er merkte offenbar selbst, wie mager und erbärmlich diese Entschuldigung klang, denn plötzlich veränderte sich sein Gesichtsausdruck. „Verflucht, hast du erwartet, dass ich ewig nach deiner Pfeife tanze, Täubchen?“, fragte er grantig und rappelte sich auf. Miu zuckte merklich zusammen und Grimwardt sah die fromme Ordensschwester zum ersten Mal schockiert. Für einen Augenblick lieferten sich die beiden ein stummes, regloses Duell, dann formten Mius Hände einen Zauber und sie verschwand.
„Mach doch, was du willst.“ Faust biss sich auf die Lippen und vermied es, irgendwen anzusehen. „Du kommst ja doch wieder zurück.“
„Wir sollten gehen, solange das Portal noch offen ist“, grummelte Grimwardt. Und bevor wir anfangen, uns gegenseitig an die Gurgel zu gehen, fügte er in Gedanken hinzu.
Der Priester schritt als erster durch den Torbogen und gelangte in einen gigantischen Saal mit Spiegeln an allen vier Wänden und einer Kuppel, die ebenfalls aus Spiegelglas bestand. Der Raum war leer bis auf einen Lehnsessel, so hoch wie ein Haus, auf dem, ihnen den Rücken zugekehrt, eine verschleierte Gestalt harrte.
Irgendwas stimmt hier nicht, dachte er. Und dann stürzte es auch schon auf ihn ein.
„General Grimwardt.“
Er erwidert den Gruß der Wachen mit einem mürrischen Grummeln und betritt eiligen Schrittes das Gemach seines Dienstherrn. Es ist ihm gleich, ob ihn alle hier für einen Finsterling halten, solange sie dem Emblem auf seinem Mantelrevers Respekt zollen: der schwarzen Feder, gekreuzt mit dem schwarzen Schwert auf feurig rotem Grund. Abfällig mustert Grimwardt die komfortable Einrichtung des Gemachs, die kostbaren Diwane aus Turmisch, die kunstvollen calimshitischen Wandteppiche und die Weingläser aus elfischem Kristallglas auf dem Tisch. Er tritt ans Fenster und lässt den Blick vage über die fliegende Stadt, den dunklen See und die Dünenlandschaft dahinter gleiten. Irgendwer hat einmal gesagt: Nirgendwo ist der Horizont so fern wie in der Wüste von Anauroch.
Das leise Rascheln der Türvorhänge kündigt die Ankunft des Prinzen an. Wie immer ist der Arkanist in schwere, weinfarbene Roben gekleidet.
„Mein Prinz“, murmelt Grimwardt und neigt leicht den Kopf. Seine Hand ruht auf dem Heft seines schwarzen Obsidianschwerts. „Ihr habt Neuigkeiten?“
„Allerdings!“ Der Prinz lässt einen Pagen Wein in die elfischen Kristallgläser einschenken und stößt mit Grimwardt an. Ein schiefes, unheilvolles Lächeln lauert in den Mundwinkeln des schattigen Umbrantengesichts. Es heißt, es habe schon Menschen im Angesicht dieses Lächelns der Tod ereilt. Grimwardt hält das für Unsinn – der Prinz ist ein Schwächling, der lediglich das Glück hat, mit genug List und Tücke gesegnet zu sein, um seine Brüder über seine unzulänglichen magischen Fähigkeiten hinwegzutäuschen. Ihm ist es gleich – er ist des Krieges wegen hier, nicht um des Prinzen willen.
„Wir konnten zwei der Verbündeten der Sandfürstin identifizieren“, erklärt der Umbrant. „Es scheint, dass sie dem Imperium schon einmal einen schweren Schlag versetzt haben.“
Er vollführt eine magische Geste und lässt zwei Trugbilder entstehen: ein Mann und eine Frau. Ersteren hat Grimwardt noch nie zuvor gesehen: ein Kämpfer mit breiten Schultern, einer Eisenfaust und verschiedenfarbigen Augen. Beim Anblick der Frau dagegen erstarren seine Gesichtszüge für einen Augenblick.
„Sie ist meine Schwester“, murmelt er. „Aber ich nehme an, das wisst Ihr bereits.“
Das lauernde Lächeln gräbt sich tiefer in die Wangen des Umbranten. „Ist das ein Problem, General?“
Grimwardt kneift die Augen zusammen und blinzelt in die untergehende Sonne, die hinter den Dünen versinkt, ohne ihr Spiegelbild im trüben Wasser des Schattensees zu hinterlassen. Dann sieht er seinem Dienstherrn in die Augen.
„Nein“, sagt er.
Die Vision verschwand aus dem Spiegel und dieser zeigte ihm nur noch seine Reflektion, tausendfach reproduziert durch die Spiegelungen der gegenüberliegenden Wand, sodass der Raum von unendlicher Weite erschien.
„So ein Humbug“, knurrte Grimwardt kopfschüttelnd. Ein schwarzes Schwert und ein fremdes Emblem. Sicherheitshalber sah er nach, ob er noch seine Streitaxt und den Schild mit dem Zeichen des Feindhammer bei sich trug. Alles am rechten Fleck. Dann sah er sich um.
Neben ihm harrten Winter und Faust mit schockstarren Mienen und weit aufgerissenen Augen. Allein Drake hatte der eigenartige Zauber der Spiegel nicht in seinen Bann geschlagen. Grimwardt packte seine Schwester beim Arm und schüttelte sie und Drake versuchte Faust durch einen angedeuteten Faustschlag zum Blinzeln zu bewegen, doch ohne Erfolg.
„Wie in der Zeit gefroren“, bemerkte der Albino mit einer Mischung aus Faszination und Schadenfreude.
„Wie kommt’s dass du nicht dastehst wie ’ne Salzsäule“, grummelte Grimwardt. „Was haben sie dir vorgegaukelt, die Spiegel?“
Drake runzelte die Stirn.
„Nichts…?“ Es klang wie: Worauf willst du hinaus?
Doch Grimwardt ging nicht näher auf das Thema ein, sondern trat auf die Gestalt auf dem Lehnsessel zu. Als er das Gebilde umrundet hatte, stellte er fest, dass der erste Blick ihn getäuscht hatte: Die Gestalt war ein greiser Mann und was er zunächst für einen Schleier gehalten hatte erwies sich als schütteres Kopf- und Barthaar, das wie feinstes Lametta den gesamten riesenhaften Körper des gefallenen Gottes einhüllte und noch über die Lehnen des Thronsessels hinaus wuchs. Desayeus schien dasselbe Schicksal ereilt zu haben wie Grimwardts Gefährten: Seine Pupillen waren schockgeweitet und starr auf sein Spiegelbild gerichtet. In den Falten seines Greisengesichts hatte sich der Staub von Jahrtausenden angesammelt.
„Ziemlich… ernüchternd“, befand Drake respektlos.
Grimwardt brummte etwas Unverständliches – immerhin war Desayeus noch immer ein Gott und sollte als solcher behandelt werden. Allerdings siegte am Ende doch sein Pragmatismus und er begann auf der Suche nach dem Seelensplitter mit seiner Axt wie mit einer Heusense durch das dichte Gestrüpp von Gotteshaar zu pflügen. Nach einer halben Stunde schweißtreibender Arbeit jedoch musste der Kriegspriester feststellen, dass die silbrigweiße Pracht schneller wuchs als er sie zurechtzustutzen vermochte. Auf diese Weise würden sie in einem göttlichen Schuppenmeer versinken, ehe er auch nur bis zum Kinn vorgedrungen war. Auch der Versuch Desayeus mit einer Augenbinde aus Gotteshaar die Augen zu verbinden, um ihn aus seiner Starre zu erlösen, fruchtete nicht, und die Spiegel erwiesen sich als gänzlich unzerstörbar.
„Zieh ihm die Lider über die Augen“, knurrte Grimwardt schließlich entnervt an Drake gewandt, der gerade damit beschäftigt war, die göttliche Ohrmuschel in Augenschein zu nehmen.
„Eklig, aber einen Versuch ist es wert“, bemerkte Drake, dessen Hang zum Absurden ihn die Sache mit Humor nehmen ließ.
Und tatsächlich hatten sie Erfolg: Desayeus blinzelte träge aus trüben, rauchgrauen Augen, musste einmal heftig niesen, sodass Drake von seiner Schulter purzelte und blickte schließlich schläfrig auf die beiden Sterblichen herab.
„Ihr… seid gekommen“. Die heisere Stimme des göttlichen Greises schien sich aus einer Vielzahl anderer Stimmen zusammenzusetzen.
Grimwardt weckte eilig seine beiden Gefährten auf die selbe Weise. Zu spät fiel ihm ein, dass es sich vermutlich gehört hätte, vor dem Gott auf die Knie zu sinken. Allerdings schien Desayeus auf derlei Respektbekundungen keinen Wert zu legen. Kaum war der Bann der Spiegel gebrochen und die unnatürliche Starre von ihm abgefallen, da sackte er in sich zusammen wie ein Sack Reis und schien einzudösen.
„Ähm… Desayeus?“ Wie, bei den Neun Höllen, sprach man einen Gott an?
Träge hob der Greis noch einmal den Kopf.
„Wie lange habe ich darauf erwartet, dass sich die Vision der Spiegel erfüllt? Ich sah euch kommen, die Erlöser, die mich aus den Klauen meiner Zukunft befreien… Es gibt im ganzen Multiversum nur noch eine Handvoll Sterblicher, die meinen Namen noch nicht vergessen haben. Zu wenige, um mich am Leben zu halten… Wir Götter sterben mit dem Glauben an uns und ich bin… entsetzlich müde.“
Er drohte wieder einzunicken, doch Winters helle Stimme holte ihn in die Wirklichkeit zurück. „Was sind das für Visionen… in den Spiegeln, meine ich?“ Sie klang zittrig und erst jetzt bemerkte Grimwardt, dass seine Schwester kreidebleich war.
„Sie zeigen die Zukunft desjenigen, der in sie hineinsieht“, murmelte Desayeus. „Die wahrscheinlichste Zukunft….“
Winter schluckte heftig.
„Was… was heißt das, die wahrscheinlichste Zukunft?“
„Die Zeit entzieht sich selbst dem Auge der Götter“, erklärte Desayeus. Eine Erinnerung schien ihn zu streifen und was auch immer sie in ihm berührte, es bewirkte, dass seine Augen sich klärten und seine Schultern sich strafften. „Sie ist wie ein reißender Strom, der ausnahmslos jeden erfasst, der in ihm weilt. Niemand weiß genau, wohin die Reise führt, doch es ist wahrscheinlich, dass sie bei jeder Flussgabelung dem Strom mit der stärksten Strömung und des geringsten Widerstands folgt. Diesen Weg zeigen die Spiegel… den Weg des geringsten Widerstands.“
„Die Spiegel zeigen die wahrscheinlichste Zukunft, sagt Ihr?“ Faust runzelte die Stirn. „Ihr meint… eine einzige?“
„Aber gewiss.“
Faust schien verwirrt, doch ehe er weiterfragen konnte, ergriff Winter wieder das Wort.
„Und was… kann man tun, um diese Zukunft abzuwenden?“ Grimwardt sah seine Schwester forschend an, doch sie wich seinem Blick aus.
„Quäl dich nicht mit den Visionen der Spiegel, mein Kind“, seufzte Desayeus schwermütig. „Begehe nicht denselben Fehler, den ich begangen habe. Die Spiegel sind meine Schöpfung … und mein Untergang. Ich bin… war der Gott der Zeit und bin ihrem Geheimnis näher gekommen als jeder andere vor mir, doch am Ende hat die Zeit mir ein Schnippchen geschlagen… mich mit meinen eigenen Waffen geschlagen.“
„Dann habt Ihr versucht, Eure Zukunft zu ändern?“
„Das habe ich.“ Bei der Erinnerung sackte der Gott erneut in sich zusammen und verstummte. Es bedurfte ihrer vereinten Schnipskünste, um Desayeus aus seiner Lethargie zu reißen. Als er sprach, schien er zu sich selbst zu sprechen als habe er die Sterblichen zu seinen Füßen völlig vergessen. „Ich sah meinen Tod in den Spiegeln – diesen Tod. Und ich beschloss ein Zeitportal zu bauen, um in die Zukunft zu reisen und mich selbst aus diesem Gefängnis zu befreien. Doch ein Zeitportal kann nur außerhalb der Zeit bestehen und es gibt nur zwei Orte, die unberührt sind vom Strom der Zeit. Der eine ist die Stadt der Seelen, wohin es die Seelen der Sterblichen nach dem Tode zieht; der andere ist die Bastion der ungeborenen Seelen, woher sie kommen. Die Stadt der Seelen kann kein Gott betreten außer dem Herrn der Toten und seinen Dienern; wir anderen können nur bis zu ihren Häfen vordringen. Darum erschuf ich den Seelenstein, der mir Einlass in die Bastion verschaffen sollte. Dort begann ich mit der Errichtung des Zeitentors. Doch mein Schaffen erregte das Misstrauen der anderen Götter. Sie glaubten, ich sei in die Bastion eingedrungen, um den Bann der ungeborenen Seelen zu brechen und die Herrschaft über die präinkarnierten Seelen an mich zu reißen, und sie fürchteten, dass Aos Zorn ob meiner Machtgier sie alle treffen könnte. Darum verbannten sie mich… hierher. Ich war ein Tor – das Opfer meiner eigenen Prophezeiung. Und so holte mich die Ironie des Schicksals ein.“
Grimwardt räusperte sich.
„Was uns zum Grund unseres Kommens bringt.“ Offenbar war er der einzige hier, der über all den hellseherischen Unfug nicht völlig vergessen hatte, weshalb sie hier waren. „Ein Parasit ist mit einem der Splitter des Seelensteins in die Bastion eingedrungen. Wäret Ihr so gütig, uns Euren Splitter zu überlassen, damit wir dorthin reisen und ihn stellen können.“
„Nehmt ihn nur“, murmelte Desayeus. „Das grässliche Ding hat mir nichts als Ärger bereitet. Ich will nur noch eines… schlafen.“
„Aber Ihr müsst uns noch sagen, wo er ist… Desayeus? Desayeus!“
Doch es war zu spät: Der Kopf des alten Gottes war vornüber gesunken und diesmal vermochte ihn nichts aus seinem lange ersehnten Schlummer zu reißen. Der Gott der Zeit verblasste einfach - so wie die Erinnerung an ihn verblasst war. Als die Gestalt auf dem Thronsessel nur noch ein durchscheinendes Schemen war, ging ein breiter Riss durch die Spiegelkuppel. Der Sprung spaltete sich in vier Risse, die sich mit klirrendem Kreischen durch das Glas der vier Spiegelwände fraßen, und der Raum zerbarst in einem Hagelgewitter aus Spiegelsplittern. Grimwardt suchte Deckung unter seinem Schild und stimmte den magischen Betgesang an, der die Gefährten von hier fortbringen würde. Gerade noch rechtzeitig erspähte Faust das kristallene Amulett zwischen den Trümmern.
Winter
Am Abend in Whispers Braustube, Myth Drannor.
„Was habt ihr in den Spiegeln gesehen?“, fragte Winter. Eine lähmende Kälte hatte sich in ihren Gliedern festgesetzt und es war allein dem Weinbecher in ihren Fingern zu verdanken, dass sie nicht zitterte wie Espenlaub.
„Viel!“, entgegnete Faust und blinzelte wie geblendet. „Und nichts davon ergibt einen Sinn. Es war wie ein wilder Ritt durch ein… Meer von Realitäten. Ich sah mich auf einem Schlachtfeld inmitten eines Heers von Titanen – vielleicht Göttern – und als sie gegeneinander stürmten schien die Welt unterzugehen. Dann Miu…. Sie war tot oder bewusstlos und ich beugte mich voller Entsetzen über sie. In einer anderen Vision sah ich mich gar mit meinem alten Meister sorglos durch einen Wald schlendern…. Und sofern sich nicht meine Vergangenheit ändert, ist das ziemlich unwahrscheinlich, denn er ist schon seit Jahren tot und selbst wenn nicht, wäre er… vermutlich nicht besonders gut auf mich zu sprechen. Dann wieder sah ich ein Licht auf mich zukommen und dann Dunkelheit, vermutlich mein eigener Tod… Das alles ähnelte eher einer abstrusen Traumsequenz als einer Zukunftsvision. Also wenn ihr mich fragt, mit diesen Spiegeln stimmt etwas nicht.“
„Das ist doch ohnehin alles nur Blendwerk“, knurrte Grimwardt. „Kein Grund sich den Kopf darüber zu zerbrechen.“
„Was hast du denn gesehen?“, fragte Winter so beiläufig wie möglich. Doch sie konnte ihrem Bruder dabei nicht in die Augen sehen.
Was er daraufhin erzählte, bestätigte ihre Befürchtung.
„Du meinst, du hast einem anderen Herrn gedient und noch dazu für die Umbranten gearbeitet?“, fragte Faust und pfiff durch die Zähne. „Na so was, der standhafte Grimwardt!“, feixte er.
„Wie ich schon sagte, alles Unfug“, brummte der Priester. „Ich würde niemals meinem Gott abschwören. Und seit wann ist dieses kleine Schattenreich inmitten der Ödnis bitteschön ein ‚Imperium’?“
„Trugst du… vielleicht zufällig ein schwarzes Schwert?“, fragte Winter beklommen.
„Ja... Als ob ich für so ein unhandliches Ding meine treue Axt aufgeben würde.“ Er runzelte die Stirn. „Woher weißt du das?“
Winter holte tief Luft und begann zu erzählen.
„Ich sehe mich selbst auf einem Schlachtfeld in der Wüste.“ Die Vision, die sich im Spiegelsaal in einer Endlosschleife vor ihrem Auge wiederholt hatte, war so lebendig, als sei sie bereits real. „Vermutlich die Wüste von Anauroch, denn im Hintergrund sehe ich eine fliegende Stadt. Um mich herum wird gekämpft, doch ich achte nicht auf die Kämpfenden, die Schlacht ist wie etwas, das weit entfernt von mir stattfindet. Ich… bin in Panik und rufe immer wieder Scarlets Namen. Dann wirke ich einen Zauber und fliege hoch, um das Schlachtfeld besser überblicken zu können. Irgendwann entdecke ich sie zwischen den Kämpfenden. Sie ist älter, eine junge Frau, obwohl ich selbst nicht älter aussehe als jetzt. Und sie trägt ein seltsames, fließendes Gewand, das ihre Haare bedeckt, wie die Beduinen in der Wüste es manchmal tragen. Sie wirkt irgendeine Art von Zauber – schwarze Strahlen schießen aus ihrer Handfläche. Plötzlich kommt von der Seite ein Kämpfer auf sie zugestürmt.“ Winter musste heftig schlucken, als die Erinnerung den Moment vorwegnahm: Eine schwarze Klinge ragt aus Scarlets Brust. Der unbekannte Reiter wendet ihr sein Gesicht zu. Sie riss sich zusammen und sah ihrem Bruder unverwandt in die Augen. „Ich rase auf sie zu, aber ich bin nicht schnell genug. Er erreicht sie vor mir und rammt ihr sein Schwert in die Brust. Kurz bevor sie stirbt, blickt er zu mir auf und ich… ich sehe in dein Gesicht, Grim.“
Grimwardt konnte ein Schaudern nicht unterdrücken, doch dann schüttelte er ungeduldig den Kopf. „Das glaubst du doch nicht im Ernst, oder?“
Winter zuckte hilflos mit den Schulten.
„Desayeus’ Zukunftsvision hat sich erfüllt“, erinnerte sie ihn leise.
„Weil er versuchte sie zu ändern“, bemerkte Faust. „Vielleicht ist das der springende Punkt. Eine Art Test der Zeit… Sofern wir ihr nicht auf den Leim gehen, lässt sie uns vermutlich in Ruhe.“
Winter bedachte ihn mit einem zweifelnden Blick. Sie konnte die Sache nicht so leicht nehmen wie ihre beiden Gefährten. Welche Mutter, die ihr eigenes Kind sterben sah, könnte das? Sie wusste, sie würde in Zukunft keinen Schritt mehr tun können ohne auf verräterische Zeichen zu achten: ein schwarzes Schwert, das Feder-und-Schwert-Emblem, die geheimnisvolle Sandfürstin aus Grimwardts Vision...
„Hey, Schneeweißchen“, rief Faust und stieß Drake unsanft in die Seite, der mit einem giftigen Zischen zusammenfuhr. Offenbar beabsichtigte Faust, für ein wenig Wirbel zu sorgen, um zu verhindern, dass Winter wieder in ihr düsteres Brüten verfiel. „Bist verdammt ruhig… Hast du in den Spiegeln gesehen, wie ich dir die Eier zertrete?“
Der Assassine maß ihn mit einem abschätzigen Blick und erwiderte dann: „Ich habe gar nichts gesehen.“
„Sicher.“
Drake achtete nicht auf Fausts Hohn.
„Auch nicht mein eigenes Spiegelbild. Es war als wäre ich unsichtbar für die Spiegel.“ Sein Blick traf Winters und als sie den gehetzten Ausdruck in seinen neblig-roten Albinoaugen sah, wusste sie, dass er die Wahrheit sagte. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem sarkastischen Lächeln. „Ich schätze, es ließe sich darüber streiten, welche Vision nun die düsterer ist.“