Die ungleichen Schwestern - Faradhne's Geschichte
Einst lebte in der Stadt Verbobonc ein Töpfer mit seiner Frau, die Weberin war. Diese beiden Eheleute waren einander so herzlich und innig in wahrer Liebe zugetan, dass die Göttin der Liebe, Myrhiss, mit Wohlgefallen auf ihre beiden Gläubigen sah und sie nach dem ersten Jahr ihrer Ehe mit der Geburt von Zwillingskindern segnete, zwei Mädchen. Am Tage ihrer Geburt begab es sich, dass ein Priester der Myrhiss in das Haus des Töpfers trat und folgende Prophezeihung der Göttin aussprach:
"Sehet, der Segen der lieblichen Göttin Myrhiss ist über Euch gekommen und hat Euch zwei herrliche Töchter geschenkt. Es sollen diese Töchter im Glauben an die Göttin und zu ihrer Verehrung aufwachsen. Und ich sage Euch, die eine dieser Töchter wird wahre Liebe finden, wie es der Göttin gefällt. Die andere Tochter jedoch wird emporsteigen und eine berühmte, machtvolle Priesterin der Göttin werden, welche die Liebe der Göttin und ihre wundervollen Geschenke zu vielen bringt, und sie wird das Licht der Liebe leuchten lassen dort, wo kein Licht ist! Diese Tochter wird in Herrlichkeit erstrahlen, und der Segen der Göttin wird auf ihr ruhen ein Leben lang!"
Nachdem er den strahlenden Eltern diese Botschaft verkündet hatte, zog der Priester wieder seines Weges. So erzogen also die Eltern ihre beiden Töchter im Glauben an die Göttin und ihrer wunderbaren Gaben und gaben ihnen die Kindernamen Lissy und Fanny. Als die Mädchen heranwuchsen, zeigte sich bald, dass sie, obwohl in der gleichen Stunde geboren, in Wesen und Gestalt ziemlich unterschiedlich waren. Die Ältere von beiden, Lissy, war von schlankem, hohem Wuchs mit silberblondem, lockigem Haar und saphirblauen Augen, makelloser, milchweißer Haut und einer Stimme, so klar und rein wie das Lied einer Nachtigall. Die Jüngere, Fanny, war eher klein und pummelig und hatte braune Kringellöckchen, die ihr über die Schultern herabfielen. Ihr Gesicht war sommersprossig, und statt der edlen Gesichtszüge ihrer älteren Schwester hatte sie eine Stupsnase, kleine Pausbäckchen und Grübchen in den Wangen. Ihre Stimme war laut, und sie lachte gern und häufig, wobei sie manchmal sehr undamenhaft quietschte und prustete. Außerdem hatte sie eine Schwäche für Süßigkeiten und naschte immer, wenn sie etwas erhaschen konnte, was ihre rundliche Neigung noch verstärkte. Während Lissy es vorzog, mit ihrer Mutter am Webstuhl zu sitzen und fromme Lieder zu singen oder vor dem Spiegel zu stehen und sich zu pflegen, liebte es Fanny, ihrem Vater beim Töpfern zuzusehen oder selbst mit beiden Händen den Ton zu kneten und daraus Vasen, Töpfe und Teller zu formen. Sie spielte ihren Eltern gerne Streiche und schien immerfort herrenlose kleine Hunde von den Strassen mit heim zu bringen. Während Lissy einem strahlenden, makellosen weißen Himmelsengel glich, war Fanny eher wie eine niedliche Putte oder ein vorwitziger Amor.
Als die Mädchen zwölf Jahre alt wurden, waren die Eltern schon lange davon überzeugt, welche ihrer beiden Töchter für den heiligen Dienst an der Göttin und dazu bestimmt war, ein heller Stern des Glaubens zu werden, denn wer könnte es anderes sein als ihre Tochter Lissy, das bezauberndste Mädchen im Dorf und schon jetzt eine Schönheit, die ihresgleichen suchte! Gewiss würde die Göttin der Liebe und Schönheit eine solch strahlende Dienerin mit Wohlgefallen sehen. Und so wurden den beiden Mädchen, als sie ihre Frauennamen erhielten, die Namen Belissima - für Lissy - und Faradhne - für Fanny zuteil.
Die Eltern erzählten den beiden Schwestern oft von der Prophezeiung bei ihrer Geburt, erweiterten die Geschichte aber - zum einen, weil sie selbst beinahe schon davon überzeugt waren, zum anderen, um der kleinen Fanny nicht das Gefühl der Zurücksetzung zu geben - um den Zusatz, dass der Priester gesagt habe, dass die Ältere der beiden Schwestern die Dienerin der Göttin werden würde. Die Schwestern nickten jedes Mal: Die ältere Schwester wurde immer die Erbin des Schicksals, so wie der älteste Sohn stets der Erbe der Eltern war: Das war der Lauf der Dinge.
Als die beiden Zwillingsschwestern - die trotz ihrer Verschiedenheit einander von Herzen liebten und alle Geheimnisse miteinander teilten - eines Abends in ihrer Kammer nach dem Zubettgehen über diese Prophezeiung sprachen, sagte Fanny zu ihrer Schwester: "Also, ich bin eigentlich sehr zufrieden damit, dass ich nicht die Botin von Myrhiss sein muss. Es ist zwar sicherlich sehr interessant, viel herum zu kommen und diese lichtlosen Gegenden zu sehen, von denen der Priester sprach, aber ich stelle es mir auch recht anstrengend vor, oder nicht? Das einzig Dumme ist, dass sich das mit der wahren Liebe und so lebten sie bis an ihr Lebensende glücklich beisammen irgendwie etwas" Fanny zögerte, "etwas langweilig anhört, oder?" "Also ich weiß nicht so recht, ich habe immer ein wenig Angst davor, von zuhause wegzugehen, und ich bin nicht gerne unter Fremden", antwortete ihr Lissy, "aber wenn es der Wille der Göttin ist, dass ich ihre Botin sein soll, dann will ich mich willig ihrem Wort beugen" fügte sie fromm hinzu.
So wuchsen die beiden Schwestern weiter in dem Bewusstsein ihrer Bestimmung auf. Belissima verbrachte immer mehr Zeit am Hausschrein mit Gebeten zur Göttin. Die Eltern erklärten den Töchtern, dass Belissima mit sechzehn Jahren als Novizin in den Tempel geschickt werden würde, Faradhne hingegen würde in diesem Alter mit ihrer wahren Liebe verheiratet werden. "Und was", fragte Fanny am gleichen Abend (die Mädchen waren mittlerweile fünfzehn Jahre alt) im Bett ihre Schwester, "passiert, wenn ich die wahre Liebe bis dahin noch gar nicht gefunden habe? Ich meine, woher soll ich bei irgendeinem dahergelaufenen Kerl, der um meine Hand anhält, wissen, ob er meine wahre Liebe ist oder nicht?"
An diesem Abend, als ihre ältere Schwester längst entschlummert war, beschloss Fanny, die Sache mit ihrer wahren Liebe selbst in die Hand zu nehmen. Sie stand leise auf, zog sich eins ihrer Ausgehkleider an und schlich sich aus dem Haus. In der Stadt war an diesem Abend eine Tanzveranstaltung, auf die Fanny und Lissy nicht gehen durften, weil die Eltern der Meinung waren, dass sich eine solche Veranstaltung für die zukünftige Götterbotin nicht schickte, und Faradhne nicht bevorzugen wollten. Dorthin machte sich Fanny auf den Weg, und dort angekommen, begab sie sich zu den anderen Jugendlichen ihres Alters, die dort fröhlich feierten.
An diesem Abend, wo sie, anders als die übrigen Mädchen, nicht von ihren Eltern überwacht wurde, tanzte sie mit jedem einzelnen Jungen, dessen sie habhaft werden konnte. Ihren Mangel an Schönheit machte sie durch ihre ausgelassene Art und ihre Begeisterung beim Tanzen wieder wett, und als die übrigen Mädchen nach und nach von ihren Eltern nach Hause geschickt wurden, standen immer mehr Tanzpartner vor ihr Schlange, die sie um den nächsten Tanz baten. Das gefiel Fanny ausnehmend gut, und sie dachte innerlich darüber nach, dass es recht gut war, dass sie jetzt, bevor sie ihr restliches Leben mit ihrer "wahren Liebe" in trauter Zweisamkeit verbringen musste, mit vielen verschiedenen Jungen tanzen konnte. Sie flirtete hemmungslos mit den wehrlosen Burschen, und diese folgten ihr auf Schritt und Tritt wie Tanzbären einem Honigtopf. Willig und fröhlich ließ sie sich an diesem Abend den ein oder anderen Kuss rauben und war dabei nicht allzu wählerisch, wer in diese Gunst kam.
Das Bier floss selbstverständlich in Strömen, und obwohl Fanny nichts trank - sie war viel zu sehr mit Tanzen beschäftigt - waren in den frühen Morgenstunden manche Burschen schon etwas angetrunken, und begannen ernsthaft zudringlich zu werden. Fanny lachte darüber nur und schob die allzu begierigen Hände der Berauschten zur Seite. "Wenn Du mich für dich gewinnen willst, musst Du es schon etwas geschickter anstellen!" schäkerte sie und forderte so die jungen Männer eher noch mehr heraus, als sie abzuweisen.
Insgeheim hatte Fanny an diesem Abend ihre persönlichen Favoriten aber bereits erwählt: Es waren Colin, der Sohn des Töpfers, und sein bester Freund Hendrik. Beide Burschen hatten - ob aus Klugheit oder Geldmangel, war schwer zu sagen - recht wenig getrunken und waren daher auch zu dieser frühen Stunde noch sehr geschickt auf den Beinen, was ihnen beim Tanzen zugute kam, und außerdem anregende Gesprächspartner, die noch nicht lallten oder nur lachten.
Außerdem waren beide außerordentlich nett anzusehen: Colin war dunkelhaarig, eher schlank gebaut und mit geheimnisvollen, sanften Gesichtszügen ausgestattet, Hendrik dagegen war muskulös, hatte eine dichte blonde Mähne und einen sehr interessanten Körperbau. Auch diese beiden zeigten Fanny deutlich, dass ihr Interesse über bloßes Tanzen und ein paar Küsse hinausging. Fannys Blut war über die vielen feurigen Tänze ebenfalls in Wallung geraten, doch sie befand sich in einer Zwickmühle: Welchem der beiden Verehrer sollte sie den Vorzug geben? Dem sanften, hübschen Colin, dessen Küsse so zärtlich und einfühlsam, oder dem gutgebauten Hendrik, dessen Küsse feurig und besitzergreifend waren?
Schließlich löste sie das Problem auf eine Fanny-typische Weise: Wenn Du Dich zwischen zwei Süßigkeiten nicht entscheiden kannst, dann iss sie beide, sofern Du sie bekommen kannst. Nach dem nächste Tanz, der zu Fannys großem Glück ein Rundreigen war, ließ sie einfach die Hände von Colin und Hendrik, die zu ihrer Rechten und Linken standen, nicht los, sondern zog die beiden Burschen von der Tanzfläche. Die feiernde Menge auf dem Kirmesplatz hatte sich mittlerweile schon stark gelichtet. Am Rande des Tanzkreises sah sie mit ihrem allerliebenswertesten Lächeln zu den beiden Burschen auf und sagte: "Ich glaube, ich habe mich überanstrengt. Meine Beine tragen mich nicht mehr! Wäret ihr so gütig, mich an eine Stelle zu begleiten, wo es etwas ruhiger ist als hier, damit ich mich etwas ausruhen kann?" Die beiden Jungen überschlugen sich fast vor Eifer, Fanny zu geleiten, und so gelangten sie nach einigen Minuten zu einem Lagerhaus, zu dem Colin, der bei einem Händler in die Lehre ging, den Schlüssel hatte. Er öffnete die Tür und geleitete sie zwischen düsteren Schemen zu einem Stapel Stoffballen, auf welchen sie sich niederließen. Die düsteren Schemen erwiesen sich, nachdem sie eine kleine Kerze angezündet hatten, als verschieden große Körbe, Kisten und Krüge, in denen die unterschiedlichsten Güter gelagert waren. Die Luft duftete nach Zimt und anderen exotischen Gewürzen, die der Händler besaß.
Die drei streckten sich auf dem breiten Stapel Stoffballen aus, plauderten leise und vertraulich miteinander und ließen einen kleinen Krug mit Met kreisen, den Hendrik mitgebracht hatte. Fanny schäkerte mit beiden Jungen gleich intensiv, was diese offensichtlich verwirrte. Nach einer Zeitlang wagte Colin einen Vorstoß: "Hendrik, sieh doch, der Met ist leer. Lauf doch kurz zurück zum Fest und hole uns noch einen, das wird Fanny wieder auf die Beine helfen. Oder, Fanny?" Währenddessen machte er Hendrik, wie er hoffte, unauffällige Handzeichen, zu verschwinden und sie beide allein zu lassen, während Hendrik - ebenso unauffällig auffällig - entrüstet den Kopf schüttelte und abwinkte. "Nein, ich bin selbst etwas erschöpft", gab Hendrik daraufhin zurück, "wenn Du noch Met, möchtest, Colin, dann hol Du doch welchen, oder, Fanny?" Fanny begriff, dass die beiden Jungen untereinander um das Vorrecht heischten, mit ihr alleine zu sein, und sie errötete etwas vor Stolz und heimlichem Vergnügen. Doch wenn sie bei ihrem Vorhaben bleiben wollte, musste sie wohl etwas deutlicher werden. . . .
"Ich möchte eigentlich gar keinen Met mehr trinken", sagte sie mit großen Kulleraugen und einem intensiven Blick hin zu beiden Burschen hin. "Vielmehr genieße ich die Gesellschaft von ZWEI so interessanten, charmanten und ansehnlichen Burschen SOOOOO sehr, dass ich wünschte, dieser Moment möge niemals enden. . . . " Sie ließ diesen Satz mit einem verheißungsvollen Unterton in der Luft stehen, und schmiegte sich zugleich zurück in die Stoffballen, auf denen sie lag, wobei sie wie durch ein Versehen gleichzeitig ihr Kleid etwas hoch rutschen ließ, wodurch ihre Waden sichtbar wurden. In plötzlichem Begreifen weiteten sich die Augen der beiden Burschen, und sie sogen hörbar den Atem ein, während die kleine Fanny zwischen ihnen gebettet war wie ein zufriedenes Kätzchen, und mit einem provozierenden und zugleich spitzbübischen Gesichtsausdruck zu ihnen empor sah.
Die beiden Jungen sahen sich einen Moment lang an - fragend, abwägend? Dann zog Colin die Augenbrauen hoch, und Hendrik zuckte die Schultern: Warum auch nicht? Dann legten sie sich zu beiden Seiten von Fanny nieder, und Fanny hatte gewonnen.
In dieser Nacht - oder dem beginnenden Morgen dieser Nacht lernte Fanny Dinge, die sie sich noch nie genauer vorgestellt hatte und die sie zu Gefühlen hinrissen, die sie nie erahnt hatte. Irgendwann während dieser feurigen Stunden meinte Fanny, einen jubelnden Chor von tausend Stimmen zu hören, die alle im Crescendo jubilierten: "Mit dem Segen der Göttin, mit dem Segen der Göttin!", doch als der Morgen dann wirklich heraufdämmerte und Fanny mit an der schweißfeuchten Stirn klebenden Löckchen zwischen den beiden tief schlafenden Jungen erwachte, glaubte sie, dass sie dies wohl nur geträumt oder im Ansturm der neuen Empfindungen sich eingebildet haben musste.
Es kam zu einem fürchterlichen Eklat, nicht deswegen, weil Fanny erwischt worden wäre, sondern weil die beiden jungen Burschen, nachdem Fanny sich leise aus dem Lager gestohlen und nach Haus zurückgeschlichen hatte, tief schlafend in dem Lagerhaus zusammen aufgefunden wurden, mit den Spuren einer heißen Liebesnacht auf den Stoffballen!! Fanny taten die beiden Jungen herzlich leid, da sie nun zu einer Zielscheibe allgemeinen Spotts geworden waren, doch konnte sie natürlich auch nicht vortreten und ihre Tat gestehen!! So sagte sie nur zu den beiden Jungen, als sie sie in einem heimlichen Stelldichein am Gartenzaun der Eltern kurz wieder sah: "Grämt Euch nicht!!! Die bösen Gerüchte über euch werden schnell vergehen, spätestens dann, wenn ihr irgend ein Mädchen ehelicht und mit ihr ein Kind haben werdet. Und glaubt mir, dass die Mädchen Euch jetzt nicht mehr für eine Gefahr für ihre Unschuld halten werden, kann euch nur nützen!" So sprach sie, lächelte und verabschiedete die beiden Jungen mit einem kurzen Kuss.
Einige Monate später - Fanny hatte sich zwischenzeitlich noch ein paar Mal aus dem Haus geschlichen, wenn irgend welche Feste in der Stadt waren, und stets am Ende davon die hübschesten jungen Männer in den Armen gehalten (wenn auch nie wieder zwei zur selben Zeit) - kam eines abends ihre Schwester weinend zu ihr, als sie vom Einkaufen zurückkehrte: "Oh Fanny, es ist etwas furchtbares geschehen!!! Eigentlich ist es gar nicht furchtbar, sondern wundervoll, und doch kann es nicht sein!!", und sie warf sich schluchzend auf ihr Bett. Bestürzt bat Fanny ihre Schwester, ihr zu erzählen, was ihr zugestoßen sei. Noch immer weinend, berichtete Lissy ihre Geschichte: Vor ein paar Wochen war sie, als sie mit der Mutter im Tempel zum Beten ging, im Aufgang zum Bildnis der Göttin auf der Treppe gestolpert. Bevor sie jedoch stürzte, wurde sie von zwei starken Armen aufgefangen, und als sie sich umwandte, um ihrem Retter zu danken, wurde sie wie von einem Blitz getroffen. Denn sie lag in den Armen des wundervollsten Mannes, den sie je gesehen hatte, schöner als jeder Traum, mit einem sanften Antlitz und freundlichen Augen. Nachdem er ihr aufgeholfen hatte, hatte er sich verbeugt und sich vorgestellt. Sein Name war Landor, und er war als Reisender in die Stadt gekommen. Sie hatte sofort gespürt, dass an diesem Mann etwas Besonderes war, und auch er schien seltsam bewegt, und so hatten sie, bevor ihre Mutter ungeduldig wurde und rief, vereinbart, sich nach dem Gebet im Garten des Tempels zu treffen, während ihre Mutter die Besorgungen machte.
Dort hatten sie sich näher kennengelernt und festgestellt, dass sie sich stark zueinander hingezogen fühlten. "Und dann? Was ist dann passiert?" fragte Fanny mit leuchtendem Gesicht. "Dann", erklärte Lissy mit immer noch leicht feuchten Wangen, "hat er sich ritterlich wie ein Prinz vor mir verbeugt, und wir haben beschlossen, uns wieder zu treffen. " Ein paar Male hatten sie sich so heimlich getroffen, und eines Tages war Landor vor ihr auf die Knie gefallen und hatte um ihre Hand angehalten. "Er ist der Mann meiner Träume, und ich bin sicher, er ist meine wahre Liebe!" brachte Lissy unter neuerlichen Tränen hervor. "Sicherlich ist dies eine Prüfung der Göttin, doch es ist so ungerecht! Warum nur darfst du deine wahre Liebe finden und ich muss eine Priesterin der Göttin werden, meiner wahren Liebe entsagen und stets viele lieben?"
Bei diesen Worten schoss Fanny auf einmal eine Idee durch den Kopf. Zu ihrer Durchsetzung würde man zwar die Eltern und eine Göttin betrügen müssen, aber wäre es nicht ein perfekter Streich? Sie sah ihrer Schwester fest in die Augen. "Liebst Du diesen Mann so sehr, dass Du wirklich alles für ihn tun würdest?" fragte sie ihre Schwester. Diese nickte mit tränen bewimperten Augen. "Gut, dann hör mir zu. . . . "
Ein paar Monate später war das Haus des Töpfers in reger Betriebsamkeit erwacht. Man bereitete eine Hochzeit vor. Ein junger Mann war gekommen und hatte den Töpfer um die Hand seiner Tochter angehalten, "ihr wisst schon, welche". Im festen Glauben, dass er schon wisse, welche Tochter gemeint sei, hatte der Töpfer freudestrahlend zugestimmt, und man begann augenblicklich, das Brautkleid für Fanny zu nähen. Als es fertig wurde, hängte man es zu Fanny in den Schrank, und jeden Abend nahmen die Schwestern es heimlich heraus, und arbeiteten eifrig daran.
Als der Tag der Hochzeit gekommen war, strahlte der Himmel. Lissy und Fanny, ihr Kleid noch unter dem Arm, wurde in eine Sänfte mit dichten Brokatvorhängen gesetzt, die sie zum Tempel der Göttin bringen sollte, wo Fanny getraut und Lissy in die Obhut der Göttin gegeben werden sollte. Vor dem Tempel wartete schon eine neugierige Menge auf das Brautpaar. Der stattliche Bräutigam stand vor einem im Freien aufgebauten Altar und wartete auf seine Braut, die vom Vater jetzt nach vorn zu ihm und den Priestern führte. Das Kleid der Braut war mit üppigen Verzierungen und vielen Unterröcken ausgestattet, so dass die Braut fast wie ein Ball aussah. Sie ging tief verschleiert und ein wenig gebückt, was aber der wartenden Menge kaum auffiel. Als sie neben ihrem Zukünftigen stand, begann der Priester mit der Zeremonie und schilderte in bewegenden Worten die Pflichten der Eheleute vor der Göttin. Schließlich wandte er sich dem Brautpaar zu und fragte den Mann: "Wirst Du, Landor der Hofschreiber, diese Frau neben Dir zu deinem Weibe nehmen und den Gesetzen der Göttin gehorchen?" "Ja, das will ich!" bekräftigte Landor. "Und wirst Du, Frau, Landor den Hofschreiber als deinen Gatten anerkennen?" "Oh ja, das will ich!" ertönte unter dem Schleier eine Stimme, süß wie die einer Nachtigall. Die Eltern stutzten einen Moment lang, doch der Priester fuhr schon fort: "So erkläre ich Euch kraft des Gesetzes der Göttin für Mann und Frau!" In Lissys Ohren ertönten plötzlich Stimmen, die kein anderer hören konnte, die jubilierten "Mit dem Segen der Göttin, mit dem Segen der Göttin!" Der Priester sprach weiter: "Bringt nun, wie versprochen, die andere Tochter zu mir, auf dass sie das Schicksal antreten möge, dass die Göttin ihr vorherbestimmt hat!" Die Vorhänge der Sänfte bewegten sich, und es ging erst ein Raunen, dann ein plötzlicher Aufschrei durch die Menge, als Fanny der Sänfte entstieg - die falsche Tochter!!! Neben Landor lüftete nun Lissy ihren Schleier und fiel ihrem frischgebackenen Ehemann überglücklich in die Arme, wo er ihr den zarten ersten Kuss der Liebe gab. Und so nahm das Schicksal seinen Lauf.
Die Priester waren zornig. Sie warfen den Eltern der Zwillingsschwestern vor, die Göttin betrogen zu haben, und auch der Töpfer und seine Frau waren verzweifelt. Dass ihre Mädchen dem Willen der Göttin so zuwiderhandeln konnten!! Doch es war nun einmal geschehen und ließ sich nicht rückgängig machen. Faradhne wurde als Novizin ins Kloster aufgenommen und in den Lehren der Göttin geschult. Nach einem Jahr im Tempel der Göttin, in welchem Landor und Lissy ihr erstes Kind bekamen und während dem dank Fanny viele der männlichen Novizen des Klosters viel mehr über die Liebe lernten, als sie es gehofft hatten, wurde Fanny zur Priesterin geweiht.
Die übrigen Priester waren ihr aber immer noch unwillig gesonnen. Sie waren weiterhin der Überzeugung, dass sie die falsche Tochter sei, und dass sie nur Unglück über den Tempel bringen würde. Aus diesem Grunde beschloss man, sie loszuwerden. Also rief man Faradhne eines Tages in das Zimmer des obersten Hohepriesters. "Mein Kind", sagte er in gespielter Güte zu ihr, "so sehr Du unseren Tempel auch mit deiner Anwesenheit segnest, sind wir doch der Meinung, dass wir eine Botin der Göttin nicht nur hier für uns behalten sollten. Wir werden Dich daher auf eine Missionsreise schicken, um der Göttin neue Gläubige zu gewinnen und den Segen der Göttin in ein Land zu tragen, wo das Licht ihrer Herrlichkeit nicht leuchtet. " "Oh, gut!" sagte Fanny, die sich in dem Kloster langsam zu langweilen begonnen hatte. "Wo soll es hingehen?" Der Hohepriester zeigte mit seinem Finger auf eine Karte, die auf dem Tisch lag. "Hier hin. " Fanny beugte sich vor, um die Karte zu studieren. Die Spitze des Fingers des Priesters lag auf einem hohen Berg in einem weitläufigen Gebirge. "Verzweifle nicht, mein Kind. Zwar wirst Du auf Deinen beschwerlichen Weg durch die Länder der Elfen ("Oh, von den Elfenmännern habe ich einiges gehört", sagte sich Fanny, und ihre Augen begannen zu glitzern. ), der Zwerge ("!") und der Barbaren. . . . " "Was sind Barbaren?" unterbrach Fanny den Priester. Dieser winkte einem Novizen, flüsterte ihm ein paar Worte zu, worauf dieser eine Schriftrolle mit einem Bild darauf brachte. Auf dem Bild war ein mit ein paar Fellen bekleideter, halb nackter Mann mit einem Speer, einer Keule, muskulösen Gliedern und einem wilden, animalischen Gesichtsausdruck zu sehen. Fanny wurden die Knie weich. "WANN KANN ICH AUFBRECHEN????" rief sie aus. Und so trat Fanny ihre Pilgerreise an, deren Ende sie in das Gebirge . . . . . . . . . führte, wo das Schicksal sie auf ihren weiteren Weg schicken würde.