Artael, die Michaelitin, blickte durch das Dach zu den Wolken und den Sternen. Sie war nachdenklich, da sie wusste, dass sie am Anfang eines neuen Abschnitts ihres Lebens stand und gleichzeitig einen anderen, ihre Ausbildung, nun beenden würde. Die Zeit war hart gewesen, doch Artael war mehr als dankbar dafür. Sie hatte die Möglichkeit, viele andere Engel kennen zu lernen und unglaublich viel zu lernen, um ihre zukünftigen Aufgaben zu bestehen.
So lag Artael da, inmitten zahlreicher anderer Engel, doch im Moment beschäftigten sie nur ihre eigenen Gedanken. Sie freute sich auf den morgigen Tag, denn die Weihe stellte eine große Ehre für sie dar. Sie wusste, dass sie in Zukunft schwere Prüfungen zu meistern haben würde, doch sie war zuversichtlich, dass ihr dies, so Gott will, gelingen würde.
Dann setzte Artael sich auf und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. ‚Wer wird wohl noch meiner zukünftigen Schar angehören?’, fragte sie sich, doch gleichzeitig freute sie sich auch darauf, bald neue Engel kennen zu lernen. Morgen würde ein besonderer Tag sein. Artael hoffte, ihm gerecht werden zu können.
Auch Sanguiel, die Gabrielitin, lag am Boden, ihre Flügel berührten die anderer Engel, doch das merkte sie kaum. Sie war so aufgeregt, dass sie nur das Blut in ihren Ohren rauschen hörte. Würde sie morgen alles richtig machen, würde sie ihrem Orden die Ehre zuteil werden lassen, die ihm gebührte, so wie man es ihr eingebläut hatte?
Sie glaubte nicht daran, hatte fast panische Angst, irgendeinen Fehler zu machen. Hatte sie ihren Rock richtig gebunden? Saß ihr Haar? Schaffte sie es zu starten ohne einen anderen Engel mit ihren Flügeln zu behindern? Sie wippte nervös mit den Füßen und wünschte sich, das alles wäre schon wieder vorbei.
Völlig entspannt lag Elysehel, der Raphaelit, inmitten der anderen. Glück und Zufriedenheit erfüllten ihn beim Gedanken daran, nach seiner Weihe Gerechtigkeit zu verbreiten und ein schlagkräftiges Instrument seines Ordens sein zu können.
Inmitten der unzähligen anderen, die auf ihre Engelsweihe warteten, lag Navarìel, die Ramielitin, ihre Augen starr gen Himmel gerichtet, beinahe so, als wolle sie die Sterne zählen. 'Es könnte heller sein, an einem solch schönen Tag. Vor einem solch schönen Tag.', dachte die Wissenshüterin, während sie die Wärme des Bodens durch ihre Flügel spürte. Dann schweiften ihre Gedanken ab, an den wunderbaren Flug vom Vortag. Durch die wärmenden Strahlen der Sonne. Ihre Gedanken kreisten immer wieder zurück zu dem Zeitpunkt, als sie Prag verließ, bis hierhin, als sie in der ewigen Stadt ankam. 'Bald ist es soweit!’, dachte sie.
Wer zu ihrer Schar gehören würde, war nicht wichtig, und dennoch war sie neugierig. Komme, was wolle, ihre Aufgabe als Wissenshüterin würde sie in jedem Fall bestmöglich zu erfüllen versuchen.
Camael, der Urielit, lag mit geschlossenen Augen auf dem Boden, während er seine Sinne in alle Richtungen aussandte. Er spürte den warmen Boden, roch die frische Luft, hörte das Atmen der anderen Engel und lauschte dem Schlagen des Herzens seiner irdischen Hülle. Er genoss die Ruhe, die im Saal herrschte. Hier konnte er seinen eigenen Gedanken nachgehen und doch wusste er, dass er nicht allein war. Seine Ausbildung war hart gewesen, doch er sah sich bereits in schwierigeren Zeiten im Dienste des Herrn Gutes tun. Er stellte sich seine Weihe vor und seine Schar, der er in Zukunft angehören würde. Aus diesen Vorstellungen zog er neue Kraft. Und nun waren all seine Vorstellungen, seine Träume nicht mehr fern. Er hatte versucht, etwas über den genauen Ablauf der Weihe herauszufinden, doch hatte er keinen großen Erfolg gehabt. Das missfiel ihm, da er kein Freund von Überraschungen war. So blieb ihm nichts anderes übrig, als den nächsten Tag abzuwarten. Diesen Gedanken verlierend, verließ er in seiner Vorstellung diesen Raum und ließ alle momentanen Sinneseindrücke hinter sich. Er fand sich auf einem Baum wieder, jenem Baum, den er immer besuchte, wenn er auf seiner Pfeife ein paar Melodien flötete. Schon allein der Gedanke an die Melodien beruhigte seinen Herzschlag genauso, als wenn er sie wirklich pfeifen würde...
Die quälend lange Nacht in der Halle neigte sich dem Ende zu. Durch das große Glasdach konnten die Engel sehr gut die langsam beginnende Dämmerung beobachten. Zu ihrem Erstaunen war jedoch von der Wolkendecke, die noch in der Nacht über Roma Æterna lag, nichts mehr zu sehen. Kein Wölkchen trübte den makellos blauen Himmel und es war eine wahre Freude, dem Sonnenaufgang zuzuschauen. Ein würdiger Beginn eines solchen Tages, selbst Gott schien den jungen Engeln seinen Segen für ihre zukünftigen Aufgaben mitgeben zu wollen. Als die ersten Sonnenstrahlen den marmornen Boden der Halle berührten, kam auch Bewegung in die Menge der Engel am Boden. Manche standen auf, ordneten ihre Kleidung und ihre Haare, die von der Nacht am Boden etwas zerknittert und zerzaust waren, in Erwartung auf den Rest des Tages. Doch all dies geschah schweigend, kein einziges Wort war zu vernehmen. Als die Sonne auch den letzten Winkel der Halle, jede der riesigen Engelsstatuen, von den Künstlern des Michaelis-Ordens aus feinstem, strahlend weißem Marmor, geschaffen, mit ihrem goldenen Licht erhellte, öffneten sich langsam und erhaben die riesigen, bronzenen Flügeltore. Durch das Portal trat ein sichtlich alter Mann, gehüllt in das prachtvollste Prunkgewand, das die Engel in ihrem bisherigen Leben je zu Gesicht bekommen hatten: Das Ornat bestand aus feinster blauer Seide, verziert mit glitzernden Edelsteinen, genauso wie der viereckige Hut, der seinen Träger eindeutig als Kardinal, also als eine der mächtigsten Personen der Angelitischen Kirche, auswies. Hinter ihm nahm eine Reihe von Michaelis-Templern Aufstellung, ehrerbietig sowohl gegenüber den Engeln als auch gegenüber dem alten Kardinal, der segnend die Hände hob und de Engel mit leiser Stimme auf Latein ansprach:
"Seid gegrüßt, junge Engel, am Tag eurer Weihe. Ich bin Rufus Kant, Kardinal der Angelitischen Kirche und Mitglied des ehrwürdigen Konsistoriums, welches dem Pontifex Maximus Petrus Secundus bei seiner gottgebenen Aufgabe, die Menschheit zu führen, behilflich ist. Ich wurde heute mit der Aufgabe betraut, euch kurz den Ablauf der Weihe zu erläutern. Ich werde euch alsbald nach draußen geleiten, auf den Platz vor dem Petrusdom, wo der Festgottesdienst anlässlich eurer Weihe stattfinden wird. Erschreckt nicht, denn bereits jetzt hat sich eine gewaltige Menschenmenge dort versammelt, um eurer Weihe beizuwohnen. Sobald ihr eure Plätze eingenommen habt, wird der Pontifex Maximus den Gottesdienst beginnen, untermalt vom Himmlischen Chor der Sarieliten. Ihr werdet dann einzeln aufgerufen, euren Segen und die Weihe in Form eures ersten Votivbandes zu bekommen. Sobald jeder Engel seine Weihe erhalten hat, endet die Feier. Ihr, junge Engel, sollt euch sodann gemeinsam in die Lüfte erheben und zum Himmel der Michaeliten fliegen. Dort wird man euch eurer Schar zuteilen, mit der ihr dann eure ersten Aufträge bekommt, auf die ihr euch so lange vorbereitet habt. Doch nun, junge Engel, lasst mich euch zum Ort der Zeremonie führen."
Mit diesen Worten drehte er sich um und ging, gestützt auf seinen mit Gold verzierten Krummstab und flankiert von zwei Templern, durch das Portal hinaus. Im Licht der Sonne funkelte der Stab wie ein Fanal, das den Engeln den Weg in die Zukunft wies.