25. ELEASIAS
Der Morgen graut und ich werde zum Gebet und zur rituellen Waschung geweckt. Danach steht eine weitere Lektion von Fembrys an. Ich stähle meinen Willen, nicht einzuschlafen, während er zu mir spricht.
Tatsächlich ist dieser Monolog interessanter als der des Vortages. Ich erfahre, dass die Magie zwischen den Sternen geboren wurde und die Sterne das Zentrum der Magie darstellen. Zwischen den Sternen sei die Leere und die Dunkelheit und darin verberge sich viel mehr Wissen, als Mystra preisgibt. Immer wieder redet er von den Geheimnissen der Leere und der Dunkelheit. Irgendwann schwirrt mir der Kopf. SEINE Stimme holt mich aus dem fast meditativen Nebel von Fembrys Erzählung zurück in die Wirklichkeit. „Hör nur gut zu, kleine Lily und bleib wachsam. Gerade erzählt dir der Mann, der sich als Sternenweber bezeichnet, etwas über eine sehr mächtige Göttin. Und ich meine nicht Mystra. Das sollte sogar ein Laie wie du durchschauen. Höre gut zu und lerne. Eines Tages bist du hoffentlich auf dem Niveau angekommen, dich dieser Göttin zuzuwenden. Dann werden wir einander noch näher sein.“ Ich schaudere und schüttele unmerklich den Kopf. Das kann doch nicht wahr sein, oder? Aber ER hat vermutlich recht. Der dunkel geflieste Boden, das Gerede über die Leere und die Dunkelheit und alles... . Fembrys scheint mir nicht länger von Mystra zu sprechen, sondern von Shar! Nervös lecke ich über meine Lippen, glücklicherweise bemerkt der Priester meine innere Anspannung nicht, da er selbstverliebt seinen Worten lauscht. Irgendwie muss es mir gelingen, die anderen zu informieren, aber wie? Mein Blick schweift, wie ich hoffe, unauffällig umher und bleibt an der Wache hängen. Vielleicht ist der Wächter meine Verbindung zur Außenwelt. Ich werde versuchen, trotz des Redeverbots, mit ihm in Kontakt zu treten.
Während ich den Worten des Sternenwebers andächtig lausche, erfahren die anderen, dass auf den Gefangenen Kervin in den dunkelsten Stunden der Nacht ein Anschlag verübt wurde. Ein Halbling und ein Mensch waren in die Garnison eingedrungen. Beim Versuch sich dem Gefangenen, dessen Identität bis dato noch nicht offiziell feststand, zu nähern, wurde der Mensch getötet und sein Komplize zusammen mit Kervin weggebracht. Die Greifenbrut erfährt leider nicht, wohin man beide Personen brachte.
Zumindest können Garon und Evendur mit Hauptmann Port Haera, ein sehniger mürrischer Mann, Mitte 30, sprechen, dem sie ihre Vermutungen bezüglich der Unregelmäßigkeiten im Mystratempel schildern.
„Tatsächlich habe ich auch ein ungutes Gefühl, was diesen Tempel betrifft“, äußert er, „Baron Rotbarts Rolle in dieser Sache scheint mir zweifelhaft zu sein. Zwar hat der Stadtpatron vor kurzem eine offizielle Untersuchung der von den Bürgern Wheloons vorgebrachten seltsamen Dinge hinter den Tempelmauern angeleiert, aber erstens kam er diesen Forderungen der Öffentlichkeit nur sehr zögerlich nach und zweitens wurde die Untersuchung nur von seinen Leuten durchgeführt, nicht etwa von meinen Männern, wie es eigentlich üblich gewesen wäre. Die Soldaten unter meinem Kommando munkeln, die Untersuchung sei nur halbherzig durchgeführt worden.“ Der Magier und der Kundschafter wechseln einen beunruhigten Blick und Evendur richtet schließlich das Wort an den Hauptmann der Stadtwache: „Hauptmann Haera, da Ihnen augenscheinlich Seitens der Purpurdrachen und dem Baron dienstlich die Hände in dieser Sache gebunden sind, wäre es vielleicht in Ihrem Sinne, wenn unsere Abenteurergruppe sich der Aufklärung annimmt?“ „Nun ich will es mal so sagen“, antwortet der Hauptmann, „Offiziell möchte ich von einem derartigen Vorhaben nichts wissen. Inoffiziell werde ich meine Männer anweisen, euch weitgehend freie Hand zu lassen, bei dem, was ihr tut. Problematisch wird es nur sein, die Tempelwachen darüber in Kenntnis zu setzen, da sie für die Zeit ihres Dienstes meist abgeschottet sind von allen Informationen.“ „Lassen Sie die Tempelwachen mal unsere Sorge sein, Hauptmann!“, schaltet sich Garon großspurig in das Gespräch ein.
Nachdem man sich artig verabschiedet hat, sind sich der Kundschafter und unser Magier einig, dass Port Haera als vertrauenswürdig einzustufen ist, was man vom Baron und den ihm untergebenen Purpurdrachen nicht eben sagen kann. Garon hat sogar den hochfliegenden Plan, beim Baron vorstellig zu werden um ihn mit den Vorwürfen zu konfrontieren. Evendur holt den Intellektuellen auf den Boden der Tatsachen zurück, indem er ihn darauf hinweist, dass es Wochen dauern könne, bis man eine Audienz beim Stadtpatron bekäme. Doch Garon wäre nicht er selbst, wenn ihn diese Nachricht bedrücken würde, daher – ganz ein Mann der Tat – beschließt er, erneut den Tempel aufzusuchen. Vordergründig, um Schriftrollen zu erwerben und intellektuellem Geplauder zu frönen, hintergründig jedoch will er herausfinden, inwieweit man im Mystratempel über das Verschwinden Kervins, sowie den Anschlag auf selbigen informiert ist.
Ihm wird mitgeteilt, der Schriftgelehrte Kervin sei gestern Abend überraschend zu einer Reise aufgebrochen. Unser Magier mustert sein Gegenüber eindringend über den Rand seiner violett getönten Brille hinweg, rückt diese zurecht und lässt nebenbei, während er ein wenig in seinen Taschen kramt, eine Bemerkung bezüglich des Attentats auf Bruder Kervin fallen. Bruder Shan Thar wirkt ob dieser Nachricht sehr besorgt und unwissend. Aufgeregt bringt er hervor: „Du meine Güte! Das ist ja schrecklich. Kervin ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der Magie. Wie sollen wir diese Lücken bloß füllen, wenn er nicht zurückkehrt?“ Woraufhin unser junger, ambitionierter Magier nur lapidar erwidert: „Oh, ich wüsste da schon jemanden, der seine Stelle einnehmen könnte.“ „Ach ja?“ Shan Thar, der sichtlich durcheinander wirkt, mustert ihn. „Oh ja! Mich zum Beispiel.“ Der Kleriker lehnt dankend ab und Garon trollt sich.
Ich versuche derweil mit den Wachen ins Gespräch zu kommen, was nicht einfach ist, da Sternenweber Fembrys es, euphemistisch ausgedrückt, nicht gerne sieht, wenn ich mit ihnen rede. Die Worte „nicht gerne“ hat er übrigens von einem bösen Blick, der mir fast das Blut in den Adern gefrieren ließ, begleitet ausgesprochen. Scheinbar zufällig führe ich Gelegenheiten herbei, die mir Gelegenheit zum Gespräch bieten. Einmal habe ich gar die Möglichkeit ausführlicher mit der Wache Ferrus zu sprechen, einem ortsansässigen Mann, dessen Familie am Stadtrand Wheloons in einem kleinen Häuschen lebt. Aus der leichten Unterhaltung heraus merkt Ferrus plötzlich an, wie merkwürdig er es findet, noch nie mitbekommen zu haben, was aus den Teilnehmern des Rituals, wie mir, wurde. Seltsamerweise würden immer kurz vor Ablauf des dreitägigen Rituals die Wachen ausgetauscht. Die frisch „Geweihten“ oder „Erleuchteten“ hat er nie mehr zu Gesicht bekommen. Auf Nachfrage bei Shan Thar, Kervin oder Fembrys würde ihm stets geantwortet, dass die Novizen nun andere Pflichten hätten und nicht mehr im Tempel verweilten. Ganz naiv geht er davon aus, dass sie wohl einfach nach Hause gehen. Während er dies erzählt, kriecht mir eine Gänsehaut über den Rücken und ein Kloß scheint auf einmal in meinem Hals zu stecken. Können Menschen tatsächlich so naiv sein? Ich glaube es nicht... . Ich bin schockiert. Sie verleugnen also nach Ablauf des Rituals ihre Novizen. Nach außen trage ich ein selbstbewusstes Lächeln zur Schau und bitte ihn, mir Glück zu wünschen, für das Ritual. Dann kommt Fembrys und ich husche rasch aus seinem Blickfeld.
In meiner Kammer atme ich erst mal durch. Ich muss hier raus! Irgendwas stimmt hier ganz und gar nicht. Was immer das auch für ein Ritual sein mag, etwas Gutes steckt da gewiss nicht dahinter. Allmählich legt sich die Panik, ich werde ruhiger und mein Verstand schaltet sich erfreulicherweise wieder ein, was einen klaren Vorteil für die zu planende Flucht bedeutet. In Gedankenspielen gehe ich die Möglichkeiten zu fliehen durch.
Gewiss scheint mir lediglich, dass ER schon dafür Sorge tragen wird, dass ich nicht zu Schaden komme.
Auch die anderen in der Lindwurmwacht gehen in Gedankenspielen durch, welche Informationen sie haben, welche Möglichkeiten sich bieten, welche ausgeschöpft wurden und an welcher Ecke angeknüpft werden kann.
Es kristallisiert sich heraus, dass wir damit rechnen müssen, es mit zwei Gegnern zu tun zu haben. Wenn der Tempel tatsächlich nichts über Kervins Verschwinden weiß, was ja unsere Aktion war, und wenn sie auch nichts über das Attentat wissen, dann wollte eine Partei, deren Identität momentan im Dunklen liegt, ihn entführen. Warum? Wer? Auch Baron Rotbarts Rolle in der ganzen Angelegenheit ist völlig nebulös. Über die Dame, die den Bau in Auftrag gab, wissen wir auch noch gar nichts, außer dass sie eine vermögende, adlige Lady sein soll – offenbar zugezogen, nicht aus Wheloon stammend jedenfalls.
Während ich eine weitere Lektion vom Sternenweber erhalte, kommt Elenya ein weiteres Mal zum Tempel. Hinter dem Vorwand, in den heiligen Hallen des Mystra Tempels ein Ritual zu Ehren Kelemvors vollziehen zu dürfen, verbirgt sich die Sorge um mich. Die Klerikern hofft, zumindest einen Blick auf mich erheischen zu können, um zu sehen, dass es mir gut geht, beziehungsweise ob ich überhaupt noch lebe.
Elenya bittet Shan Thar um diverse Reagenzien und Utensilien zur Durchführung ihres kleinen Rituals und schickt ihn dadurch immer wieder aus der Halle. Leider werde ich in diesem Moment von Fembrys unterrichtet und bin daher nicht in der Halle zugegen, in welcher sie sich aufhält. Um weitere Zeit zu schinden, beginnt Elenya ein religiöses Gespräch mit Shan Thar, dem sie sehr detailliert schildert, welchen Nutzen dieses kleine Ritual hat, was bei der Durchführung zu beachten ist und so weiter und so fort. Im Gegenzug möchte sie gerne etwas über die Rituale der Mystrapriester erfahren. Shan Thar zeigt sich sehr wortkarg. Er wirkt etwas unbeholfen und unsicher. Elenya wird nur abermals von ihm eingeladen, sich als Jüngerin aufnehmen zu lassen und Einblick in die tiefen Geheimnisse Mystras zu erlangen, was die in ihrem Glauben gefestigte Frau höflich ablehnt.
***
„Diese Hure von einer Kelemvor Dienerin!“ Finstere Blicke trafen Sternenweber Fembrys und dieses junge Ding vor ihm. Shan Tar war äußerst schlechter Laune als er durch den Tempel eilte um Kerzenständer zu besorgen die diese Elenya Ethethiel verlangt hatte. „Bei Cyric“, fest krallte er das Amulett um seinen Hals, „sobald diese beiden Schlampen, Elenya und Lily, unter dem Bann der Starry Gnosis stehen würden hätte er, Shan Tar eine Bitte an den Sharisten. Er würde Bruder Fembrys um etwas Spaß mit den beiden Grazien in der Folterkammer des Sternenwebers bitten. Verdammt diese Gedanken machten ihn geil!“ Die Miene Shan Tars klärte sich als er zurück in den Tempelhof trat und Elenya die Kerzen reichte. Die Priesterin blubberte aufgeregt vor sich hin. Er hörte nicht zu. Die Priesterin wies ihn an die Kerzen zu platzieren. Halbherzig gehorchte er, während seine Gedanken an einem ganz anderen Ort weilten. „Ich werde dich an die Decke hängen, nackt – wie ein Schwein zu ausschlachten. Du Stück Dreck - das werde ich mit dir machen, dich ausschlachten. Kopfüber! Ausbluten sollst du, Hure“ Elenya brabbelte. „Und während du an Ketten aufgehangen deinen Freier um Erlösung anbettelst werde ich dich aufschlitzen. Schön langsam – Schnitt für Schnitt. Du wirst dir einen schnellen Tod wünschen. Und während du mit dem Leben ringst – es aus die raus sprudelt werde ich diese Lily vögeln. Direkt unter dir. Wir werden in deinem Blut baden.“ Elenya stellte eine Frage und Shan Tar nickte eifrig. Sein Lächeln zeigte sauber geblichene strahlende Zähne.
„In deinem Blut werde ich baden, Hure und deine Schreie werden mich in Extase versetzten. Vielleicht wollte Sternenweber Fembrys auch etwas Spaß, der Sharist war eigentlich gar kein so übler Typ. Er müsste ihn nur überreden, dass Herrin Arthas nichts von der Aktion mitbekommen dürfe.“ Immer wieder wanderten die Blicke des Cyristen unauffällig an der Kelemvordienerin auf und ab.
***
Fembrys erzählt mir derweil davon, dass Mystra einst sterblich war und „Mitternacht“ genannt wurde. Zu ihren Verbündeten zählen Selûne und Kelemvor. Ich unterdrücke ein Gähnen, weil mir diese Informationen durchaus geläufig sind und mich der Sternenweber durch diese überflüssige Lektion am Voranschreiten meiner Fluchtplanung hindert. Plötzlich jedoch schwenkt er über zur Legende über Selûne und Shar (Mond und Dunkelheit). Fembrys schildert den Krieg sehr neutral. Innerlich bin ich nun hellwach, nach außen hin jedoch tue ich so, als käme mir diese neutrale Schilderung des großen Krieges nicht merkwürdig vor. Ich hatte also recht! Zumindest der Sternenweber scheint ganz klar Shar zu verehren und nicht Mystra! Warum aber dann einen Mystratempel bauen, mit all dem Brimborium, wenn man eigentlich einer anderen Gottheit huldigt? Vielleicht gab es die Subvention nur unter dieser Bedingung... . Sollte ich hier heraus kommen, möchte ich herausfinden, was es mit den Auftraggebern des Tempelbaus auf sich hat. Wer sind die Leute? Was wollten sie erreichen? Welche Ziele verfolgen sie?
Während ich meinen Gedanken nachhänge, treffen sich die anderen wieder in der Taverne. Die Stimmung ist gereizt. Dunkle Schatten aus Argwohn und Misstrauen legen sich über die noch junge Gemeinschaft.
Alexander trifft beunruhigt in der Herberge ein. Seit über zwei Tagen hat er nichts von mir gehört. Er hat vor, den Tempel zu stürmen und alles dort drinnen kurz und klein zu schlagen. Den anderen wirft er Nichtstun und Trägheit vor.
Da auch die anderen irgendwie das Gefühl nicht loswerden, sich in einer Sackgasse des Handelns zu befinden, kommen alle nach zähem Diskutieren, gegenseitigen Vorhaltungen, Beschuldigungen und Misstrauensbekundungen zu dem Schluss, dass die beste Idee wohl tatsächlich die Alexanders ist. Der Tempel soll gestürmt werden, jedoch müsse die Vorgehensweise bedächtig und vorausschauend geplant werden.
Ob dieser neuerlichen Verzögerung, bricht Alexander zornig auf: „In einer Stunde geh ich rein in den Scheißtempel. Ist mir Wurst, wo ihr dann seid. Ich werde handeln. Dumm rumsitzen könnt ihr, aber ihr habt mir noch nicht gezeigt, dass ihr auch in der Lage seid, mal was anzupacken, verdammt!“
Die Greifenbrut macht sich auf zum Tempel, wo Evendur auf seinem geheimen Weg über die Mauern klettert und die beiden Stadtwachenwachen Rüdiger und Bartholomäus in unser Vorhaben einweiht. Nachdem diese überzeugt wurden, dass wir in guter Absicht und von Hauptmann Port Haera unterstützt handeln, öffnet er den anderen das Haupttor. Im Inneren des Tempels kommt es zu einem kurzen Scharmützel mit den dortigen, noch unwissenden Wachen. Alexander knockt einen der Männer aus, welcher gefesselt und geknebelt vor das Tor bugsiert wird. In diesem Moment empfange ich eine magische Nachricht von Garon, der berichtet, dass sich die vier im Inneren des Tempels aufhalten und ich zu ihnen stoßen soll, sofern es mir gut geht. Ich komme seinem Aufruf nach und wir treffen uns in der großen Obsidian gefliesten Halle, die an meine Kammer angrenzt. Nach einem knappen Informationsaustausch kommen wir überein, zunächst die beiden Wachen hier auszuschalten (ohne sie zu verletzen), um uns danach Sternenweber Fembrys anzunehmen. Seltsamerweise hält sich keine Wache in der Halle auf und auch im Quartier der Männer ist niemand zu finden. Nach und nach durchsuchen wir alle Räume, auch das Privatgemach des Sternenwebers, allesamt sind jedoch leer. Auch Elenya stellt fest, dass die hiesigen Bodenplatten und Einlegearbeiten viel eher auf Shar gemünzt sind, als auf Mystra.
Während Alexander unseren Rücken in der Obsidianhalle deckt, begeben wir uns kühn durch die große doppelflügelige Tür in den angrenzenden Raum. Dort finden wir einen finsteren Altarraum vor, in welchem Fembrys gerade dabei ist, ein unheiliges Ritual an einem der beiden Wachmänner zu vollziehen.
Ich stimme ein Lied an, dessen Töne sich mit Mystras Netz verbinden und unseren Willen gegen etwaige Bezauberungen stählen werden.
„Im Namen Kelemvors!“ ruft Elenya laut, „Fordere ich Euch auf, dieses unheilige Ritual unverzüglich zu beenden!“ Während sie noch spricht feuert Evendur einen meisterlich gezielten Schuss auf den falschen Mystrapriester ab, mit welchem er ihn augenblicklich an die Schwelle des Todes katapultiert. Seine Luftröhre ist durchbohrt und hellrotes Blut, welches sich in einer Lache um seinen Körper sammelt, pulsiert bei jedem Herzschlag aus der Wunde. Dem Tode nahe ruft Fembrys zwei dunkle Schemen zur Hilfe und rollt sich mühsam röchelnd ein Stück nach hinten, wo wir eine im Dunklen liegende Treppe entdecken, welche in die Tiefe führt. Der sterbende Sternenweber lässt im Fallen eine magische, in Schatten gehüllte Kugel fallen, die in die rechte Raumecke kullert. Ich erachte diese Kugel für sehr wichtig und versuche sie erreichen. Meine akrobatischen Fähigkeiten nutzend, versuche ich aus dem Bedrohungsradius der Schattenwachen heraus zu kommen, um zur Ecke zu gelangen. „Fass sie bloß nicht an!“, kreischt Elenya, die mein Vorhaben offenbar durchschaut.
Die schemenhaften Wachen wispern uns zu: „Wir haben das Schattentor durchquert, aber Mystra war es nicht, die wir am anderen Ende fanden. Und nun sterbt!“ Einer der Schemen springt mir in den Weg und führt einen gekonnten Schlag gegen mich aus, der mich schwer verletzt. Mir bleibt die Luft weg, von dem harten Schlag und ich kann mich nur mühsam auf den Beinen halten. Mein Blick irrt zur Kugel, die ich plötzlich nicht mehr sehen kann, weil mich Magie durchströmt, kurz Raum und Zeit um mich her verschwimmen, bis ich verstehe, dass Garon nun an meiner Stelle steht und ich an seiner. Er hat einen magischen Austausch unserer Körper vorgenommen und sieht sich nun selbst dem tödlichen Gegner gegenüber. Ich stehe tief in seiner Schuld. Hoffentlich war sein Opfer nicht närrisch, denn schon wird er von der Wache angegangen und ebenfalls schwer verletzt. Tränen der Erleichterung rinnen über meine Wange. Rasch wirkt Elenya einen notdürftigen Heilspruch auf mich. Durch den Tränenschleier sehe ich, wie das Blut aus Garons Körper rinnt. Sobald ich wieder klar zu denken vermag, konzentriere ich mich auf meinen Gesang und einen Zauber. Ich muss die Wache handlungsunfähig machen, damit Elenya Zeit hat, zu Garon vorzudringen. Evendur versetzt derweil Fembrys den Todesstoß. Die an Garon stehende Wache ist durch meinen Zauber bewegungsunfähig, eine weitere Wache erschieße ich mit meinem flammenden Kurzbogen. Evendur und Elenya schalten die noch übriggebliebene Schattenwache aus. Fieberhaft versuchen wir Garons Leben zu retten. Leider konnte sich die Schattengestalt zu früh aus meinem magischen Haltegriff befreien und stürmt auf mich zu. Dies verschafft der Klerikerin die nötige Zeit, um zu ihrem Bruder zu eilen. Ha! Dass er zu mir rennt, wird sein tödlicher Fehler, denn ich ziehe mich in die große Halle zurück, in welcher Alexander mit gezogenem Zweihänder auf Kundschaft wartet. Er teilt die Wache sauber in zwei Hälften, als sie auf mich zu springt.
Wir kommen alle im kleinen Altarraum zusammen und heilen unsere teils schweren Wunden mit Hilfe des Heilstabes unserer Eltern. Schon ist unser ambitionierter Magier wieder voll in seinem Metier: er stellt fest, dass es sich beim religiösen Symbol, welches Fembrys um seinen Hals trägt, um eine magische Täuschung handelt. Er nimmt das Amulett an sich und will dessen wahre Identität eindrucksvoll vor Publikum enthüllen. Zumindest weiß er bereits das geheime Wort, welches die Illusion aufheben wird: „Offenbare deine Geheimnisse niemandem“, lautet es. Elenya schlägt die magische Kugel vorsichtig in ein samtenes Tuch ein, welches wir in einer geheimen Schublade des Altars finden. Sie erzählt uns, dass es sich ein religiöses Artefakt der Göttin Shar handelt, mit welchem es möglich ist, den Geist von Kreaturen zu versklaven. Ich erinnere mich, eine Kugel wie diese schon einmal gesehen zu haben. In Kalimport ziert das Pendant zu dem von uns hier sicher gestellten Artefakt die Stirn einer riesigen Shar Statue. Garon vermutet, dass die schemenhaften Wachen mit dem Schattengewebe in Berührung gekommen sind oder von einer anderen Ebene berührt wurden. Mit all diesen Funden ist für uns nun definitiv klar, dass es sich um eine geheime Kultstätte der dunklen Göttin handeln muss. Mit diesen Erkenntnissen machen wir uns auf zu Hauptmann Haera, dem wir alles berichten wollen. Vielleicht kann er uns bei der weiteren Untersuchung dieser verderbten Stätte unterstützen. In den tiefen Gewölben des Tempels vermuten wir unter anderem das Schattentor, sowie den Buchhändler Amnik Basult, der hoffentlich noch am Leben ist.
Garon träumt laut vor sich hin, wie er die Lorbeeren dieses Unterfangens ernten wird, während die Stadtwache die Drecksarbeit verrichten darf. Seine Schwester bremst seinen Höhenflug aus, als sie daran erinnert, dass Fembrys nicht allein agiert hat. Bruder Shan Thar ist noch nicht gefunden und unschädlich gemacht worden. Evendur stimmt ihr zu, dass es in unserer Verantwortung liegt, diesem falschen Priester das Handwerk zu legen. Dennoch müssen wir einstweilen den Tempel verlassen, um neue Kräfte zu sammeln und Hauptmann Port Haera Bericht zu erstatten.
Während unser Kundschafter und mein Freund Alexander sich Gedanken darüber machen, wie wir möglichst leicht wieder Zugang zum Tempelinneren erhalten können, gibt der Magier seine neueste Idee preis: Ihn interessiert vor allem das Schattentor. Er vermutet, es sei ein Portal zu einer oder mehreren anderen Ebenen. Der manchmal etwas weltfremde Bücherwurm will es unbedingt studieren, bevor wir es zerstören. Für diese Äußerung erntet er von uns allen missbilligende Blicke.
Um Zeit zu sparen teilen wir uns in zwei Teams auf. Elenya und der Barbar gehen zum Schrein des Silvanus, um dort die Schattenkugel in Verwahrung zu geben. Die übrige Greifenbrut macht sich auf zum Hauptquartier der Stadtwache, wo Garon mit großem Tamtam die wahre Natur des Amuletts enthüllen will. Um einen besonders guten Eindruck bei seiner Vorführung zu machen, nutzt der eitle Gecke einen kleinen Illusionszauber dazu, seine Kleidung sauber und glatt erscheinen zu lassen. Evendur und ich rollen nur die Augen, weil wir beide nach wie vor blutverschmiert und demoliert ausschauen.
Da es tief in der Nacht ist, liegt die Grotte, welche den Silvanus Schrein beherbergt in völliger Dunkelheit und Einsamkeit. Unverrichteter Dinge lenken die Klerikerin und ihr massiger Leibwächter daher ihre Schritte zur Harvesthall, dem Schrein von Shauntea, welcher jedoch ebenso verlassen da liegt. Sie beschließen in der Taverne auf uns zu warten und die Kugel am nächsten Morgen in Verwahrung zu geben. Alexander ist zwar der Ansicht, dass das schattenhafte Artefakt besser zerstört werden sollte, lässt sich jedoch dieses eine mal noch von Elenya überzeugen, dass sie unbeschadet in kompetente Hände gegeben werden soll.
In der Zwischenzeit werden wir anderen von einer nächtlichen Patrouille angehalten, welche nach unserem Begehr zu solch später Stunde fragt. Evendur und Garon erklären ihnen, dass wir in einer wichtigen Angelegenheit, die keinen Aufschub duldet, mit Haera sprechen müssen. Die Wachen eskortieren uns unter skeptischen Blicken zum Haupthaus der Wache, wo geprüft wird, ob wir eine Berechtigung haben, den Hauptmann zu solcher Stunde wegen einer Audienz aus dem Schlaf zu reißen. Schnell findet sich eine Sondergenehmigung für uns in den Unterlagen, woraufhin einer der Wachmänner Port Haera weckt.
Der Hauptmann kommt wachen Blickes, jedoch unfrisiert in sein Dienstzimmer. „Ich hoffe es ist wirklich wichtig.“, sagt er barsch, anstelle einer Begrüßung. Garon lässt sich durch dieses distanzierte Auftreten nicht beirren und beginnt enthusiastisch und eloquent unseren Schlachtzug und unsere Funde im Tempel zu beschreiben. Ich grinse und denke mir, dass er durchaus Talent hat, im Geschichten erzählen. Als Höhepunkt legt der Magier schließlich das Amulett auf den Tisch und spricht pathetisch: „Enthülle dein Geheimnis niemandem!“, diese Worte unterstreicht er mit einer großspurigen Geste. Augenblicklich fällt die Illusion von dem Anhänger ab und enthüllt das religiöse Symbol der Göttin Shar. Der Hauptmann ist beeindruckt und will unverzüglich die „Drachen“ informieren. Er setzt ein Schreiben an Constal Tholl, deren Oberkommandanten auf und möchte, dass wir bei ihm vorsprechen und dort auch die Kugel abgeben. Ich erfrage noch, wer eigentlich offiziell dem „Mystratempel“ vorsteht, da ich eine kleine Wette mit Garon begonnen habe, welcher der Überzeugung ist, Shan Thar sei der Hohepriester, während ich auf Fembrys tippe. „Offiziell wurde Lady Arthas als Hohepriesterin des Tempels benannt.“, gibt uns der Hauptmann zur Antwort. Der Magier und ich tauschen einen enttäuschten, verwirrten Blick aus.
Als uns Haera das Empfehlungsschreiben aushändigt, richtet Evendur noch einmal das Wort an ihn: „Mit Verlaub, Hauptmann Haera, wie Ihr sehen könnt, ist unsere Gruppe stark gebeutelt von den bisherigen Begegnungen im Tempel. Wir müssen dringend rasten, uns erholen, einige aus der Gruppe möchten ihre magischen Fähigkeiten regenerieren. Ich erbitte daher Eure Hilfe bei der weiteren Durchsuchung.“ „Ihr möchtet also die Lorbeeren einheimsen und meine Männer sollen die übrige Drecksarbeit verrichten, indem ihr zu Tholl geht mit meinem Schreiben, es euch danach gemütlich macht und meine Leute dann aufräumen dürfen?“, donnert der Hauptmann. Garon nickt und lächelt scheinheilig. Ich trete ihm auf den Fuß, was sein Grinsen in einen schmerzverzerrten Ausdruck umwandelt und sein heftiges Nicken unterbricht. „Verehrter Hauptmann, nichts liegt uns ferner, als Ruhm und Ehre einzuheimsen, wenn sie uns nicht gebührt.“, erwidere ich entrüstet, „Vielmehr sieht es so aus, dass wir an unsere personellen Grenzen gestoßen sind und daher ungern allein weitere Abenteuer in den Katakomben des Tempels erleben wollen. Wir erwarten noch einige Widersacher dort unten und wären wirklich sehr froh über eine Unterstützung von Eurer Seite.“ „So hört es sich schon etwas anders an. Lasst mich kurz überlegen. Hmm, ihr sagtet, ihr bräuchtet Ruhe? Wie lange?“ „Acht Stunden wären wohl ausreichend.“, gibt Garon zur Antwort. „Nun gut, dann schlage ich eine andere Vorgehensweise vor“, sagt Haera, „Gebt mir das Empfehlungsschreiben!“ Evendur kommt der ungeduldigen Geste des Hauptmanns nach, welcher das Scheiben rasch an sich nimmt und zerreißt. Danach fährt er fort, uns seinen neuen Plan zu schildern: „Offiziell hat unser Gespräch nie stattgefunden. Offiziell werde ich morgen Mittag die Purpurdrachen um Unterstützung bitten, weil meine Wachen im Tempel angegriffen wurden. Veranlasst bitte sofort, dass die Gegenstände, welche ihr im Tempel gefunden habt, zu mir geschickt werden.“ Garon schickt eine magische Nachricht an seine Schwester, mit der Bitte, die Gegenstände zum Haupthaus der Wache zu bringen. Elenya kommt seinem Ruf nach, fügt dem Päckchen jedoch noch eine Notiz bei, mit allem, was sie bisher über das religiöse Artefakt herausfinden konnte.
Erschöpft kehren wir in die Lindwurmwacht zurück, wo uns die Klerikerin mit dem magischen Stab heilt. Danach schlafen wir selig bis zum nächsten Morgen.