Teil 7: Auf ErkundungstourFortsetzung Session 06.10.2007Pater Benedict wollte sich gerade frisch machen, als wir einen gellenden, panikerfüllten Schrei aus dem Obergeschoss vernahmen. Mrs. Stevens-McCormmick und Dr. Tiller schreckten aus dem Schlaf und wir stürmten nach oben. Wie sich herausstellte, kam der Schrei aus dem Zimmer, in das wir Melba Carson, das Zimmermädchen aus der Waschküche, gebettet hatten. Offensichtlich war sie erwacht. Als wir die Tür in ihr Zimmer aufrissen, lag sie starr auf dem Bett, Mund und Augen weit aufgerissen, die Hände an ihre Brust gekrallt. Dr. Tiller konnte nur noch ihren Tod feststellen. "Vermutlich ein Herzinfarkt, der durch eine Panikattacke ausgelöst wurde", stellte er nüchtern fest.
Deprimiert über diesen neuerlichen Todesfall stiegen wir die Stufen ins Foyer wieder hinab. "Was sollen wir jetzt machen?", fragte ich. "Nun, zunächst einmal müssen wir die Patienten versorgen", antwortete Dr. Tiller. Wie sich herausstellte, hatte niemand von uns Erfahrung im Umgang mit Kranken oder verstand etwas von deren Pflege. Wir entschlossen uns daher, Blanche aus ihrem Zimmer zu befreien - vielleicht könnte sie uns wenigstens in der Küche behilflich sein, da sie dies laut ihrer Akte ja früher auch schon getan hatte. Ich lud meinen Colt und folgte Dr. Tiller in den Patiententrakt, die anderen warteten derweil in der Bibliothek, um die Dame nicht allzu sehr zu beunruhigen.
Als Dr. Tiller die Klappe in der Tür zu Blanches Zimmer öffnete, um die Lage zu sondieren, dauerte es nicht lange, bis sie dies bemerkte und wieder mit ihren Fäusten gegen die Tür trommelte. "Lasst mich raus!", schrie sie dabei, offenbar völlig hysterisch. Dr. Tiller versuchte, beruhigend auf die Frau einzureden, und konnte damit zumindest erreichen, dass sie sich von der Tür entfernte. Ich verbarg meine Waffe so gut es ging vor ihren Blicken und öffnete das Schloss. Kaum war die Tür auf, stürzte Blanche auf uns zu und versuchte, sich an uns vorbeizudrängen. Dr. Tiller und ich traten ihr jedoch in den Weg und konnten sie aufhalten. Immer noch schimpfte sie auf uns ein und verlangte, freigelassen zu werden. Dr. Tiller meinte, er könne versuchen, mit ihr eine therapeutische Sitzung abzuhalten, um sie wieder zu beruhigen, also führten wir Blanche ins Behandlungszimmer im Obergeschoss. Oben angekommen hatte sie sich wieder so weit beruhigt, dass sie bereit war, mit Dr. Tiller zu sprechen. Also ließ ich die beiden allein und begab mich wieder in die Bibliothek.
Wie sich herausstellte, kam ich genau richtig, denn Lady Gordon hatte soeben die Akte von Henry Adam Barber beendet. Sie konnte uns berichten, dass es sich bei ihm um den einzigen Sohn der Familie, der die Barber Paper Company gehört, handelt - ein 28-jähriger, suizidgefährdeter Transvestit, der ein hochgradig asoziales Verhalten an den Tag legt. Bei ihrem Vortrag fielen Lady Gordon bereits fast die Augen zu, so dass sie sich genötigt sah, sich in eines der Gästezimmer im Obergeschoss zurückzuziehen, ohne noch das Frühstück abzuwarten. Wir wünschten ihr eine gute Nacht.
Nunmehr saß ich also mit Mrs. Stevens-McCormmick und Pater Benedict allein in der Bibliothek und wir schauten noch einmal die gefundenen Dokumente durch, während wir darauf warteten, dass Dr. Tiller seine Sitzung mit Blanche beendete. Mrs. Stevens-McCormmick las zum wiederholten Male den unvollendeten Brief, den wir auf Dr. Brewers Schreibtisch gefunden hatten, dann fragte sie in die Runde: "Was halten Sie eigentlich davon, wenn wir mal nachschauen, ob wir den Artikel, der ja offensichtlich der Stein des Anstoßes für diesen Disput zwischen Dr. Brewer und dessen Kollegen war, oben in seinem Büro suchen? Theoretisch müsste er ja in einer der letzten Ausgaben des Journal of the British Psychological Society erschienen sein - und diese befinden sich ja alle oben in dem Bücherregal." Ich stimmte zu und Pater Benedict meinte, dass er sich die Bücher von Dr. Brewer sowieso noch einmal genauer anschauen wollte. Ich begleitete die beiden nach oben, da ich bei Dr. Tiller und Blanche nach dem Rechten sehen wollte. Nachdem ich mich mit einem Blick durch die Tür zum Behandlungszimmer vergewissert hatte, dass alles in Ordnung war, ging ich wieder zurück in die Bibliothek und wartete.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis Dr. Tiller und Blanche die Treppe herunterkamen. Blanche hatte sich offenbar wieder beruhigt und sich sogar dazu bereit erklärt, das Frühstück für uns und die Patienten herzurichten. "Allerdings brauche ich die Schlüssel, damit ich von meinem Zimmer in die Küche komme", warf sie ein. Ich blickte zu Dr. Tiller und dieser nickte kurz. Da ich Blanche aber nicht das ganze Schlüsselbund anvertrauen wollte, löste ich die Schlüssel für die Küche und ihr eigenes Zimmer von dem Bund und überreichte ihr diese. Ich sagte ihr, dass wir die Sicherheitstür im Erdgeschoss tagsüber für sie offen stehen lassen würden. Mit den Worten "Gut, ich mach' dann jetzt mal Frühstück, wird ja eh höchste Zeit" verschwand sie in die Küche.
In diesem Moment kehrten auch Pater Benedict und Mrs. Stevens-McCormmick zurück. Sie hatten den Artikel von Dr. Brewer tatsächlich gefunden. Wir begaben uns alle in die Bibliothek und Mrs. Stevens-McCormmick las uns die interessanteste Stelle vor:
Artikel von Dr. Brewer im Journal of the British Psychological Society
Dr. Brewer berichtet in dem Artikel von Experimenten, die er mit drei Testpersonen, die er mit den Buchstaben A bis C benennt, durchgeführt hat. Alle drei Testpersonen wurden von ihm unter starke Drogen gesetzt und dann hypnotisiert. Testperson A zeigte keine Reaktionen, Testperson B nahm eine andere, sehr dominante Persönlichkeit an, und Testperson C offenbarte mehrere Persönlichkeiten, von denen eine zur Zeit der ägyptischen Pharaonen gelebt haben soll. Die Experimente hatte Dr. Brewer offenbar durchgeführt, um seine Theorie von einem kollektiven Unterbewusstsein zu untermauern.
Als wir den Artikel mit den Patientenakten verglichen, so wurde uns recht schnell klar, dass es sich bei Testperson A um Leonard Hawkins, bei Testperson B um Allen Harding und bei Testperson C um Darlene handeln musste. Das machte auch Sinn, wenn man bedachte, dass genau diese drei im Keller untergebracht waren, alle anderen Patienten dagegen im Erdgeschoss.
Der feine Dr. Brewer hatte also seine Patienten unter Drogen gesetzt, um Beweise für seine wirre Hypothese von einem "kollektiven Unterbewusstsein" zu sammeln. Ich hoffte bloß, dass er das mit Colonel Billings nicht auch versucht hatte. Zugegebenermaßen fand ich es durchaus bemerkenswert, dass alle drei Personen unter Drogeneinfluss den gleichen Unsinn verzapft hatten, aber daraus eine Theorie von einer unterbewussten "Ur-Mythologie" herleiten zu wollen, die allen Menschen gemein ist, erschien mir doch sehr an den Haaren herbeigezogen. Kein Wunder, dass sich seine Kollegen darüber ziemlich respektlos geäußert hatten.
"Ich habe auch etwas gefunden", riss mich Pater Benedict aus meinen Gedankengängen und hielt mir ein kleines, schwarzes Büchlein hin. "Ein Gedichtband, steckte zwischen den anderen Büchern in Brewers Regal", ergänzte er. Ich fragte mich, was an einem Gedichtband besonderes dran sein sollte, aber dann las ich, wer der Autor war: Allen Harding. "Hm", machte ich und hob eine Augenbraue, "glauben Sie, das hilft uns irgendwie weiter?" - "Keine Ahnung, aber ich werde mal ein bisschen darin schmökern", antwortete der Pater und steckte das Buch ein.
"Frühstück ist fertig!", tönte es aus der Küche. Es war Zeit, die Patienten zu holen. Wir teilten uns in zwei Zweiergrüppchen auf und klapperten die Zimmer nacheinander ab, bis alle Patienten mit ihren jeweiligen Medikamenten versorgt und frisch gemacht waren - so gut dies ohne Wasser möglich war - und am Tisch saßen. Zum Glück fragte niemand nach Dr. Brewer oder dem anderen Pflegepersonal, ansonsten hätten wir ihnen zu dem eher dürftigen Frühstück auch noch irgendeine Lügengeschichte auftischen müssen.
Nachdem die Mahlzeit beendet war, brachten wir die Patienten nach dem gleichen Schema wieder in ihre Zimmer zurück, dann nahmen sich Dr. Tiller die Akte von Cecil Randolph und Mrs. Stevens-McCormmick die Buchführungsunterlagen des Sanatoriums vor, während Pater Benedict und ich endlich zu unserer geplanten Insel-Expedition aufbrechen konnten.
Als wir vor die Tür traten, begrüßten uns das typisch südenglische, diesige Wetter und ein wolkenverhangener Himmel. Wir schauten uns um und stellten fest, dass die Insel nicht allzu groß sein konnte. Wenn man die Landzunge, auf der das Sanatorium errichtet worden war, als Südspitze definierte (was wir mangels eines Kompasses leider nicht überprüfen konnten), dann bestanden die West-, Süd- und Ostküste aus mehr oder weniger hohen, aber sehr steilen Klippen, die direkt aus dem Meer ragten. Nach Norden hin schien sich das Gelände abzuflachen, allerdings konnten wir dieses Gebiet noch nicht einsehen. Die Mitte der Insel wurde von einem dichten Wäldchen dominiert, dessen Ausdehnung nach Norden hin wir ebenfalls noch nicht abschätzen konnten. In nordwestlicher Richtung befand sich ein weiteres kleines Wäldchen, außerdem standen ein paar Bäume direkt beim Sanatorium. Ein Blick über das Wasser zeigte uns weder ein Schiff, noch war das Festland auszumachen.
Pater Benedict und ich begaben uns auf den Trampelpfad, den wir bereits letzte Nacht genommen hatten, und wandten uns dann an der Abzweigung nach links. Wir marschierten etwa eine halbe Stunde den Pfad entlang, bis wir die nordwestliche Spitze der Insel erreichten. Zu unserer großen Überraschung fanden wir hier einen kleinen Leuchtturm vor, der bisher von dem nordwestlichen Wäldchen verdeckt gewesen war. Als wir näher traten, erkannten wir, dass der Turm komplett aus Metall bestand und offenbar nicht mehr in Betrieb war - das Glas des Leuchtfeuers war zerschmettert. Der einzige Zugang bestand aus einer metallenen Tür auf Bodenhöhe, ansonsten waren in dem Turm keine weiteren Öffnungen zu erkennen. Trotz des eher verfallenen Zustands klopften wir erst an der Tür und warteten ein paar Minuten, bevor wir versuchten, sie zu öffnen - vergeblich. Die Tür war abgeschlossen.
Da wir weder einen Anlass noch einen Weg sahen, in dieses Gebäude einzudringen, entschlossen wir uns, weiter dem Trampelpfad zu folgen, der nunmehr in die östliche Richtung führte. Schon nach wenigen Metern konnten wir linkerhand den Strand sehen, der sich über einen Teil der Nordküste der Insel erstreckte. Zwei Dinge fielen uns ins Auge: Ziemlich in der Mitte des Strandes befanden sich die Überreste eines offensichtlich eingestürzten Zeltes, etwas weiter davon entfernt ein altes Schiffswrack.
Wenn Mrs. Stevens-McCormmick Recht behalten sollte, dann war dies wohl das Zelt des Ornithologen. Während wir uns vorsichtig und die Umgebung im Auge behaltend näherten, sahen wir bereits, dass offenbar die gesamte Ausrüstung des Vogelkundlers in einem größeren Umkreis um das Zelt verstreut lag. Viele der Gegenstände waren zerschmettert, die zusammengesackte Zeltplane an mehreren Stellen gerissen, die Heringe herausgezogen. Ich bereitete mich auf den Anblick einer weiteren Leiche vor und hob die Zeltplane an, um ins Innere zu schauen. Wie sich herausstellte, war meine Befürchtung jedoch unbegründet: Auch innerhalb des Zeltes befanden sich nur verwüstete Ausrüstungsgegenstände. Ich durchsuchte sie kurz, fand aber nichts von Interesse.
Nun wandten wir uns dem Wrack zu. Den Ausmaßen nach zu urteilen handelte es sich um einen sehr alten Einmaster, wahrscheinlich ein Fischerboot. Vom Rumpf und den Aufbauten war nicht viel mehr übrig als ein hölzernes Gerippe, welches zudem etwa zur Hälfte im Sand versunken war. Eine genauere Untersuchung erschien mir unnötig und zu riskant - erstens lag das Schiff mit Sicherheit schon viele Jahre hier und zweitens konnte man quasi hindurchsehen, so dass sich nichts und niemand darin versteckt haben könnte.
"Vielleicht sollten wir am Zelt mal nach Spuren suchen", schlug Pater Benedict vor, und ich ärgerte mich darüber, dass mir das als geübtem Spurenleser nicht schon früher eingefallen war. Falls dort tatsächlich Spuren vorhanden waren, dann hatten wir sie jetzt wahrscheinlich schon zertrampelt. Also beschloss ich, den Sand in einem weiten Kreis um das Zelt herum nach einer Spur abzusuchen, die nicht von uns selbst stammte. Bereits nach kurzer Zeit wurde ich fündig: Eine Fußspur führte vom Zelt aus gesehen in östlicher Richtung bis zum Wald, der sich - wie wir inzwischen festgestellt hatten - im Norden der Insel bis ans Wasser erstreckte. Schleifspuren ließen außerdem vermuten, dass der Fußgänger irgendetwas Schweres hinter sich hergezogen hatte.
Als wir den Waldrand erreichten, sahen wir, dass sich der Trampelpfad dort ebenfalls fortsetzte, und zwar in südöstlicher Richtung, die verdächtige Spur führte jedoch in größerem Abstand neben dem Pfad entlang. Wir folgten weiter der Spur ein gutes Stück durch den Wald, bis wir uns einer Lichtung oder dem Waldrand zu nähern schienen. Ich hieß den Pater an, dort zu warten, wo er stand, und pirschte mich langsam an die Baumgrenze heran. Während ich mich näherte, vernahm ich ein lauter werdendes Summen, wie von einem großen Bienenschwarm.
Ich erreichte den Waldrand und schaute vorsichtig zwischen zwei Bäume hindurch auf offenes Gelände. Nur wenige Meter vor mir befand sich ein großer Felsblock, der oben abgeflacht war und eine Art Steintisch formte. Auf dem Tisch lagen die Überreste eines Menschen, aber mehr war kaum noch zu erkennen. Die Person sah aus, als wäre sie durch einen Fleischwolf gedreht worden. Der ganze Tisch stand voller Blut, außerdem war es natürlich auch die Seiten herabgeflossen. Das Summen stammte von unzähligen Fliegen, die in einer Wolke über dem Opfer standen und es auch wie mit einer schwarzen Decke überzogen. Übelkeit stieg in mir auf. Ich wandte mich von der Szenerie ab und musste mich mehrmals übergeben.
Als sich mein Magen wieder beruhigt hatte, wankte ich zu Pater Benedict zurück und berichtete ihm, dass ich den Ornithologen gefunden hatte. Ich riet ihm jedoch, sich diesen Anblick zu ersparen. Wir beschlossen, zum Sanatorium zurückzukehren und dabei den Weg zu nehmen, den wir gekommen waren. Nach meiner Vermutung setzte sich der Pfad auf der anderen Seite des Waldes ohnehin nur nach Süden bis zur Abzweigung beim Sanatorium fort, so dass es sich praktisch um einen Rundweg um die Insel handelte. Da der Pfad aber sehr nahe an dem Steintisch entlang führte, hätten wir ihn nicht nehmen können, ohne uns dabei erneut der grausigen Szenerie aussetzen zu müssen.
Nach einer guten Stunde Fußmarsch erreichten wir das Sanatorium und berichteten den anderen von unseren Entdeckungen.
Fortsetzung in Teil 8: Aufräumarbeiten