Teil 10: Die zweite NachtFortsetzung Session 03.11.2007Ich begab mich zurück in die Bibliothek und nahm das Studium der Patientenakte von Colonel Billings wieder auf, Pater Benedict las weiter in seinem Gedichtband. Es dauerte allerdings nicht lange, bis die Damen ebenfalls wieder aus Brewers Büro zurückkamen, mit Enttäuschung auf ihren Gesichtern: Der Safe war immer noch zu.
Dr. Tiller merkte an, dass es an der Zeit wäre, sich um die Patienten zu kümmern. Lady Gordon und Mrs. Stevens-McCormmick schlossen sich ihm an, als er sich seine Arzttasche nahm und Richtung Patiententrakt auf den Weg machte. Nach einer Weile kehrten sie zurück. Sie berichteten, dass sie den Blutfleck an der Wand von Allen Harding sicherheitshalber mit einer Decke verhangen hatten - Lady Gordon war zu der Überzeugung gelangt, dass Harding wahrscheinlich versucht hatte, mit seinen Fingern den Fleck von der Wand zu kratzen, also war es vielleicht besser für seine Gesundheit, wenn er ihn nicht mehr sah.
Mangels Alternativen schlugen Lady Gordon und Mrs. Stevens-McCormmick vor, eine psychoanalytische Sitzung mit Darlene abzuhalten, um in Erfahrung zu bringen, was sie gestern Abend gesehen hatte. Dr. Tiller war einverstanden, und so holten sie Darlene aus ihrem Zimmer und begaben sich mit ihr in den Behandlungsraum im Obergeschoss. Pater Benedict und ich blieben derweil in der Bibliothek zurück und befassten uns mit unserer jeweiligen Lektüre.
Etwa eine Stunde später trafen die Damen und Dr. Tiller wieder in der Bibliothek ein, gerade als ich die Akte von Colonel Billings beendet hatte. Auf die Frage, ob Darlene irgendetwas gesagt hätte, antwortete Mrs. Stevens-McCormmick: "Nur Unsinn, reine Zeitverschwendung." Lady Gordon wurde etwas genauer: "Sie will Kugeln gesehen haben, die von links nach rechts an ihrem Zimmer vorbeigekommen sind." Mrs. Stevens-McCormmick schnaubte verächtlich. "Wie gesagt, nur Unsinn.", fügte sie hinzu. Ich dachte nach. Hawkins hatte Seifenblasen gesehen, Darlene Kugeln. Merkwürdig waren diese Aussagen in der Tat, aber merkwürdig war auch, dass sie sich durchaus ähnelten. War irgendetwas den Gang im Keller entlang gerollt? Ein weiteres Rätsel.
Ich unterbrach mein Grübeln und teilte den anderen mit, was ich in Colonel Billings Akte gelesen hatte: Das einzige, woran Billings litt, war eine fortgeschrittene Alterssenilität. Eine Geisteskrankheit lag bei ihm nicht vor, so dass er auch keine Behandlung erhalten hatte, sondern nur zur Betreuung hier war. "Pflegestufe Baby", wie Brewer sich auszudrücken pflegte. Einerseits war ich froh, dass dem Colonel nichts Schlimmeres fehlte, andererseits hieß das aber auch, dass es kaum Hoffnung gab, dass er sich von diesem Zustand wieder erholen würde. Alterssenilität war nicht behandelbar.
Blanche hatte das Abendessen hergerichtet, und so holten wir die Patienten aus ihren Zimmern und brachten sie zu Tisch. Während wir aßen, wurde nicht viel geredet, um die Patienten nicht zu beunruhigen. Mit der Abwesenheit des Pflegepersonals hatten sie sich offenbar abgefunden, manche von ihnen halfen sogar beim Abräumen mit. Danach brachten wir sie wieder auf ihre Zimmer zurück und schlossen sie für die Nacht ein.
Gleich darauf legten sich Mrs. Stevens-McCormmick und ich auf unsere Matratzen, da wir gegen Mitternacht wieder aufstehen und zu einer kleinen Expedition aufbrechen wollten. Wir hatten die Hoffnung, dass das seltsame rötliche Leuchten, das Pater Benedict und ich in der letzten Nacht in der Nähe des Leuchtturms wahrgenommen hatten, diese Nacht wieder auftauchen würde. Vielleicht konnten wir in Erfahrung bringen, wodurch es verursacht wird. Lady Gordon und Dr. Tiller beschlossen, inzwischen eine Sitzung mit Blanche abzuhalten, um sie nach den gestrigen Ereignissen zu befragen. Pater Benedict blieb mit uns in der Bibliothek. Er las immer noch seinen Gedichtband.
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Es war auch tatsächlich gegen Mitternacht, als wir von Lady Gordon hastig geweckt wurden. "Da hat jemand etwas gebrüllt!", rief sie aufgeregt. Wie ich bemerkte, waren Mrs. Stevens-McCormmick und ich nicht die einzigen, die geschlafen hatten. Pater Benedict lag auf der dritten Matratze und Dr. Tiller auf der Couch. Lady Gordon hatte offenbar Wache gehalten. Nun rappelten wir uns jedoch alle hoch und eilten Richtung Patiententrakt. Dr. Tiller hatte sich seine Arzttasche gegriffen. "Ich glaube, es ist aus dem Keller gekommen.", teilte Lady Gordon uns mit und steuerte auf die Kellertreppe zu.
In diesem Moment bestätigte sich ihre Vermutung: "ES KOMMT!", schrie eine männliche Stimme von unten. Wir rasten die Treppe hinunter und schlossen die Tür zum Patiententrakt auf. Der Lärm kam aus Hardings Zimmer. "ES WILL MICH!", brüllte er aus Leibeskräften. Eiligst suchte ich an meinem Bund nach dem Schlüssel zu seinem Zimmer und drehte ihn im Schloss herum. Wir rissen die Tür auf und stürmten hinein. "ES WILL DICH!", schrie Allen Harding mit panikerfüllter Miene und zeigte dabei auf mich. "ES WILL DICH!", wiederholte er, und zeigte auf Pater Benedict. Der Pater bekreuzigte sich. "ES WILL DICH!", schrie Harding abermals, wobei er seinen Finger dieses Mal auf Dr. Tiller richtete, der sich nach vorne gedrängt und seine Arzttasche geöffnet hatte. Während Tiller eine Spritze aufzog und Harding in den Arm stach, hatte dieser noch Gelegenheit, die gleiche Prozedur bei Lady Gordon und Mrs. Stevens-McCormmick zu wiederholen. Danach schien er sich etwas zu entspannen - das starke Beruhigungsmittel, das Tiller ihm verabreicht hatte, zeigte offenbar seine Wirkung. Seine Augenlider flatterten kurz, dann schlossen sie sich ganz und er sank auf sein Bett zurück.
"Der wird jetzt erst mal ein Weilchen schlafen.", verkündete Dr. Tiller und packte seine Tasche zusammen. Harding hätte wohl einen Alptraum gehabt und eine Panikattacke erlitten, diagnostizierte er. Erleichtert schlossen wir Harding wieder ein und begaben uns zurück in die Bibliothek. Ich fragte Dr. Tiller nach der Sitzung mit Blanche. Wie sich herausstellte, war sie wohl auch wenig aufschlussreich gewesen. An dem betreffenden Abend hatte sie nichts gesehen und die vorgefundenen Leichen von Bobby Birch und Catherine Ames tatsächlich für Unfälle gehalten. Allerdings hatte sie wohl gehört, dass Charles Johnson, der Pfleger, der in dem Schlafraum im Kellergeschoss untergebracht war, irgendetwas gerufen hatte. Bedauerlicherweise hatte sie nicht verstanden, was.
Und Pater Benedict hatte inzwischen auch den Gedichtband von Allen Harding beendet. Als ich ihn nach dem Inhalt fragte, schaute er mich mehrere Sekunden lang nachdenklich an. Er sah aus, als wüsste er nicht, was er sagen sollte. "Ach, nur sinnloses, wirres Zeug.", meinte er schließlich und wandte den Blick von mir ab.
Nach dieser eigenartigen Antwort hätte ich ihn gerne etwas näher befragt, aber die Zeit war knapp. Wenn das Leuchten heute wieder kurz nach Mitternacht auftauchen würde, dann mussten wir uns beeilen, um es noch zu erwischen. Ich holte meine Elefantenbüchse und steckte sicherheitshalber zwanzig Schuss Munition ein. Mrs. Stevens-McCormmick nahm zwei Öllampen aus dem Foyer, füllte sie auf und überreichte mir eine davon. Zum Glück waren wir bereits fertig angezogen, denn mit den Damen zusammen in einem Raum im Pyjama zu schlafen, war natürlich undenkbar. Mrs. Stevens-McCormmick tastete die Taschen ihrer Kleidung ab - sie schien etwas zu suchen. Als ich sie danach fragte, antwortete sie, dass sie ihr Schlüsselbund vermissen würde. Sie war sich sicher, dass sie es noch einstecken hatte, als wir uns hingelegt hatten, und wollte es nun hier lassen, da es ja nicht ratsam gewesen wäre, beide mitzunehmen.
"Oh, ihr Schlüsselbund habe ich.", sagte Lady Gordon und holte es hervor. Mrs. Stevens-McCormmick schaute sie verdutzt an. "Sie haben es mir weggenommen, während ich geschlafen habe?", fragte sie. "Irgendwie musste ich ja die Türen abschließen", antwortete Lady Gordon und fügte mit einem süffisanten Lächeln hinzu: "Und Mr. Mannock hätte ich ja wohl kaum durchsuchen können." Mrs. Stevens-McCormmick und ich waren beide baff ob dieser Anzüglichkeit. Ich sah, wie Mrs. Stevens-McCormmick errötete, konnte aber nicht sagen, ob es an Lady Gordons frivoler Andeutung oder an Empörung über die Entwendung des Schlüsselbunds lag. Jedenfalls fiel es ihr sichtlich schwer, die Contenance zu wahren.
"Wir müssen los.", sagte Mrs. Stevens-McCormmick schließlich. Dass wir es eilig hatten, war wahrscheinlich der einzige Grund, warum es in diesem Moment nicht zum offenen Streit zwischen ihr und Lady Gordon kam. Wir verließen das Sanatorium und traten in die Nacht hinaus.
Es war stockfinster. Von dem roten Lichtschein war nichts zu sehen und ich hoffte, dass wir ihn nicht bereits verpasst hatten. Nach wenigen Minuten erreichten wir die Weggabelung und wandten uns nach links in Richtung Leuchtturm. Durch das schwache Licht der Öllampen kamen wir nur sehr langsam voran - jeder zu hastige Schritt hätte uns stolpern lassen können. Wir waren etwa 30 Minuten gegangen und hatten nach meiner Einschätzung etwas mehr als die Hälfte der Strecke bis zum Leuchtturm zurückgelegt, als ich plötzlich innehielt. Ich hatte etwas gehört. Auch Mrs. Stevens-McCormmick blieb stehen. Ich drehte mich zu ihr um. Sie legte einen Finger auf ihre Lippen. Da war es wieder: Ein Schrei. Dann noch einer. Und dann hörte es nicht mehr auf.
Die Schreie kamen vom anderen Ende der Insel her, aus Richtung der Steinplatte, auf der ich auch den Ornithologen gefunden hatte, und es handelte sich um eine Frau - so viel war klar. Der Mörder hatte ein neues Opfer gefunden. Aber welches? Außer uns und den Patienten lebte hier doch niemand mehr. Ich spitzte die Ohren und versuchte, ruhig zu bleiben, doch es gelang mir nicht, die Stimme zu erkennen. Dafür hörte ich etwas anderes: Zwischen den Schreien konnte man ganz leise einen rhythmischen Singsang vernehmen.
"Hören sie das auch?", fragte ich Mrs. Stevens-McCormmick, doch sie antwortete mir nicht, sondern starrte nur mit weit aufgerissenen Augen auf einen Punkt hinter mir. Ich drehte mich um.
Das rote Leuchten war wieder da.
Fortsetzung in Teil 11: Böses Erwachen