Nordost
»Bürger von Cauldron!«, rief Jørgen laut. »Es besteht große Gefahr für Euer Leben. Nehmt eure Kinder und euer wichtigstes Gut und verlasst die Stadt. Haltet nur an, um anderen zu helfen. Geht in die umliegenden Dörfer. Geht nach Rotschlucht. Geht!«
Von Jørgens ernstem Ton verschreckt begannen die meisten Menschen in Rufweite, dem Befehl Folge zu leisten. Gleichzeitig wurden die Anweisungen weitergegeben.
Die Kettenbrecher standen immer noch vor dem höchsten Sonnenstrahl und hielten Kriegsrat. Gegenüber in Höhe des Stadthauses sah man, wie sich die Stadtwachen formierten. Anscheinend hatte man den Ernst der Lage bereits erkannt. Ein dumpfer Glockenklang erklang, als auch die Helmkirche Alarm schlug. Im Gondtempel explodierte etwas.
»Richtung See!« rief Dirim. Er sprach ein kurzes Gebet und erhob sich geisterhaft in die Lüfte. Jørgen hielt die Hand mit der Handflache nach oben ausgestreckt, als überreiche er etwas. Die Luft vor ihm schimmerte und sein weißes Streitross erschien. Jørgen schwang sich auf und sah noch einmal zu Thargad und Thamior.
»Folgt mir!«
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Boras war gerade an der Kaserne angekommen, als die Erde zu wackeln begann. Die Wachen auf dem Vorplatz sahen sich unsicher an. Boras grunzte.
»Was steht ihr da noch so rum? Die Stadt wird angegriffen! Schlagt Alarm, und dann raus mit euch und Leuten helfen.«
»Woher wollt ihr wissen, dass das ein Angriff ist?«, fragte eine der Wachen.
Boras schenkte ihm einen düsteren Blick. »Glaubst du mir etwa nicht?«
Der Mann schluckte. »Nein, Herr.«
»Na, dann setz deinen Arsch in Bewegung! Die Zeit drängt!«
Der Wachmann hastete davon. Boras drehte sich zur Stadt um. Keine Zeit, die anderen zu suchen. Er wurde gebraucht.
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»Komm endlich runter!« Rhegin stand vor dem Haus seines Bruders und war verzweifelt. Tomash stand im ersten Stock am Fenster und klammerte die kleine Emilee an sich wie einen Goldschatz. Rhegins Bruder war bleich vor Angst und regte sich nicht. Beim letzten Beben hatte sich ein Riss in der Wand des Hauses gebildet. »Das Haus stürzt gleich ein!«
Tomash schüttelte den Kopf und presste die Lippen aufeinander. Plötzlich flog ein Zwerg die Straße entlang und auf das Fenster zu.
»Ganz ruhig«, sagte Dirim, aber sein Erscheinen war zu viel für den Mann gewesen. Tomash schrie auf und ließ das Baby los. Das Kind plumpste aufs Fensterbrett und dann, gerade als Dirim danach greifen wollte, fiel es. Tomash schrie auf und wich vom Fenster zurück.
Dirim ließ sich ebenfalls fallen, aber das Baby war zu weit. Wie in Zeitlupe sah er es vor sich zu Boden stürzen, sah, dass Jørgen fast heran war, aber es auch nicht schaffen würde. Dann blitzte etwas Helles durch die Luft und das Baby hielt kurz über dem Boden inne.
Jørgen sprang vom Pferd und löste das Kind von der Wand. Er sah die Straße hinunter, wo in hundert Schritt Entfernung Thamior seinen Bogen wieder verstaute. Sein Pfeil hatte das Kleid des Kindes an der Schulter durchbohrt und es gegen die Wand genagelt, ohne die Haut auch nur anzuritzen.
»Tymora sei Dank!«, rief Rhegin und nahm Emilee entgegen. Er sah zu Jørgen auf. »Bitte, rettet meinen Bruder. Und Uhlia ist auch noch im Haus.«
»Uhlia?« fragte Thargad, der gerade ankam.
»Seine Tochter.« Rhegin sah das Baby an. »Seine andere Tochter. Sie ist acht.«
Jørgen sagte: »Thamior, Thargad, ihr holt das Kind. Ich nehme mir den Vater vor. Dirim, flieg wieder hoch und halte Ausschau, wo wir gebraucht werden.«
Jørgen und Thargad betraten das Haus. Thamior marschierte an der Wand hoch und kletterte durch das offene Fenster. Während Thargad das Erdgeschoss absuchte, ging Jørgen die Treppe hoch in das Schlafzimmer. Thamior stand vor dem völlig panischen Tomash und redete auf ihn ein: »Wo ist Uhlia? Wo ist deine Tochter?« Tomash schüttelte nur den Kopf und schluchzte.
»Such sie«, sagte Jørgen. »Ich mache das hier.« Er ging vor Tomash in die Hocke und begann, ruhig auf ihn einzureden.
Thamior hörte Thargad im Erdgeschoss suchen. Er selbst sah sich oben um. Außer dem Schlafzimmer gab es noch zwei weitere Räume. Er betrat den ersten – anscheinend das Kinderzimmer. Es war leer. Er wollte gerade wieder gehen, als er ein leises Rascheln hörte. Es kam aus dem Schrank. Leise bewegte sich Thamior vor die Schranktür und zog sie vorsichtig auf. Ein heller Schrei ertönte, dann flog etwas gegen die Tür und bevor Thamior sich versah, war ein kleines Mädchen aus dem Schrank geschossen und an ihm vorbei gehuscht. Das Mädchen rannte aus der Tür hinaus – und direkt in Thargads Arme. Der Assassine packte das strampelnde und kreischende Kind. »Hab dich!«
»Du musst dich beruhigen«, sagte Jørgen leise. »Das Haus könnte jeden Moment einstürzen.« Das war nicht gelogen. Beim letzten Beben war Mörtel von der Decke gerieselt, und mehrere Risse hatten sich in der Wand ausgebreitet. »Wir haben nicht mehr viel Zeit, und du musst hier raus.«
Tomash schüttelte den Kopf.
Jørgen seufzte, dann verpasste er dem panischen Mann eine Kopfnuss mit seinem Panzerhandschuh. Tomash sackte bewusstlos zusammen. Jørgen hob ihn auf die Schultern und trug ihn in Sicherheit.
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Die Bewohner Cauldrons hatten ihr Hab und Gut an der Straße aufgestellt, um es mit sich aus der Stadt zu nehmen. Irgendwo war dann etwas ins Rutschen geraten, hatte den nächsten Stapel mitgerissen und wieder den nächsten, bis sich eine Lawine aus Möbeln, Truhen und Kleidern die Straßen herab gewälzt hatte.
»Steht nicht so doof rum«, herrschte Boras die Umstehenden an. »Holt die Leute aus dem Plunder und macht die Straße frei.«
Ohne weiteres Wort begann er, seinen Worten taten folgen zu lassen. Er war nicht lange alleine.
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»Wohin jetzt?«, rief Jørgen Dirim zu. Der Zwerg deutete in Richtung Westen. Dort brach gerade ein weiteres Haus zusammen. Die Kettenbrecher hasteten sofort dorthin. Der Unglücksort war von einer gewaltigen Staubwolke umhüllt. Nur undeutlich sah man eine Gestalt durch den Staub wanken und zu Boden gehen.
Dirim flog sofort hin. Der Mann hatte sich wohl aus dem Einsturz retten können, war aber nun vor Schmerzen bewusstlos geworden. Dirim leitete sofort heilige Kraft in den geschundenen Körper.
Währenddessen begaben sich die Kettenbrecher direkt zur Einsturzstelle. Geröll und Gestein stapelten sich, und der Staub machte Sicht und Atmen schwer.
»Ich höre etwas«, sagte Thamior. »Husten und Hilferufe.«
Jørgen machte sich sofort an dem Geröll zu schaffen, und weil Dirim mit dem Verwundeten beschäftigt war, kam sein Warnruf einen Moment zu spät. Jørgen hielt den Brocken noch in der Hand, den er herausgezogen hatte, als der Haufen weiter zusammenbrach. Jetzt konnte man die Schreie deutlich hören.
Dirim übernahm das Kommando. »Die Leute drohen zu ersticken. Thamior, du sagst mir, wo du etwas hörst, und ich sage euch dann«, er meinte Thargad und Jørgen, »wo ihr wie zu graben habt. Los.«
Und so geschah es. Thamior lauschte auf Schreie und Dirim wies den Kettenbrechern einen Weg zu den Verschütteten. So retteten sie zuerst ein kleines Mädchen aus den Trümmern und zogen kurz darauf auch die Mutter heraus. Dann erstarben die Schreie. Sie gruben noch schneller, aber sie konnten nur noch den Leichnam des Großvaters bergen. Der Vater, den Dirim bereits vorher geheilt hatte, umarmte seine Familie, und zu dritt standen sie vor dem Leichnam.
»Trotzdem vielen Dank«, sagte der Mann. »Es war nicht eure Schuld.«
Dirim runzelte die Stirn. »Wie kommt ihr denn darauf? Natürlich ist das nicht unsere Schuld gewesen.«
Jørgen stimmte zu. »Dieser Tod geht auf das Konto der Käfigmacher. Noch ein Leben mehr. Und bald ist Zahltag.«
Und damit schwang er sich wieder auf sein Pferd und führte die Kettenbrecher zum nächsten Unheil.