Asyl
Die Kettenbrecher hatten die Schätze nach Hause geschickt. Als er den Zauber wirkte, hatte Dirim gemerkt, dass er auf eine Barriere stieß, aber mit ein wenig Mühe hatte er sie durchbrechen können. Er hatte den mächtigeren der beiden Zauber benutzt, die er zu diesem Zwecke vorbereitet hatte, sodass die Schätze direkt in Redgorge auskommen würden, im Roten Keiler.
Dann war für einen Moment Ruhe eingekehrt, als jeder seinen Gedanken nachhing. Es schien unglaublich, aber der Grund, weshalb die meisten der Kettenbrecher vor knapp zwei Jahren aufgebrochen waren, hatte sich erledigt. Sie hatten die Schätze gefunden und gerettet. Was würde nun kommen? Für diesen Moment der Ruhe schien die Zukunft als unbeschriebenes Blatt; endlich stand die nächste Gefahr nicht schon vor der Tür. Sie waren fertig. Fast.
Die Kettenbrecher sahen sich an. Die Ruhe war vorbei, und doch wollte sie keiner beenden. Schließlich sagte Jørgen: »Adimarchus?«
»Und der Dunkle Myrkul«, sagte Thamior.
»Einen nach dem anderen«, sagte Boras.
»Dann erst den Dunklen Myrkul«, sagte Dirim. »Und danach«, er sah den Paladin an.
Jørgen fuhr fort: »Adimarchus.«
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Thamior schlich die Treppe hoch. Er war unsichtbar und so leise, wie er noch nie gewesen war. Er hoffte, dass das reichen würde. Über ihm war nur noch die oberste Etage, die Spitze von Schädelfäule. Er riskierte einen Blick. Der Raum war höher als die ohnehin schon hohen Rundgänge gewesen waren und lief zur Mitte hin spitz zu. Dort, am höchsten Punkt des Turmes, hing die Kette und daran wiederum hing der Käfig von Adimarchus. Das andere Ende der Kette war an einer gewaltigen Winde befestigt, die etwa ein Viertel des Raumes einnahm. Neben der Winde, am von Thamior aus gesehen weitesten entfernten Punkt, schwebte ein Skelett mit zerfledderten Flügeln in einer zerrissenen Robe. Die Augen des Skelettes leuchteten rot, und es hielt eine riesige Sense in der Hand. Der Dunkle Myrkul. Auf der Thamior zugewandten Seite wiederum stand eine Kreatur, die man nur mit viel Wohlwollen noch als Fleischgolem bezeichnen konnte, denn anders als die üblichen Geschöpfe dieser Art war dieser Golem nicht mit Menschenteilen, sondern Gliedmaßen von Dämonen geschaffen worden. Der Golem stand auf vier Spinnenbeinen. Einer seiner Arme endete in einer Schere wie bei einem Skorpion, der zweite in einer massigen Klauenhand. Ein langer Echsenschweif wuchs ebenso aus seinem Rücken wie ein paar Fledermausschwingen. Sein Kopf war hundeähnlich mit einem Vogelschnabel. Beide, der Dämonengolem wie auch der Dunkle Myrkul, wandten sich gleichzeitig zu Thamior um und funkelten den Elfen an. Sie hatten ihn gesehen.
»Oh, ver-«, begann Thamior. Der Dämonengolem stieß ein gellendes Kreischen aus. Bevor Thamior zu Ende sprechen konnte, war er tot.
»Sie haben ihn bemerkt!«, rief Boras und stürmte nach oben. Jørgen und Dirim folgten auf dem Fuß. Von Thamior war nichts zu sehen. Er musste noch unsichtbar sein. Aber es regnete auch von nirgends Pfeile, was nur bedeuten konnte, dass der Elf entweder tot oder sonstwie hilflos war.
Boras stürzte sich sofort auf den Dämonengolem. Uthgars Zahn glänze in der Luft und hinterließ Eiskristalle, als er die Axt nieder schwang. Die Waffe prallte auf den Arm des Golems – und sie prallte ab. Boras starrte auf die Waffe, dann auf den Golem. Der wartete nicht lange, sondern erschuf eine Wolke aus tödlicher Energie, die sich über die Kettenbrecher legte und ihnen Lebenskraft aussaugte.
Jørgen stellte sich dem Dunklen Myrkul in den Weg. Läuterung war zielsicher wie eh und je, aber gegen einen Gegner ohne Fleisch war es schwer, tiefe Wunden zu reißen. Trotzdem ließ Jørgen sich nicht entmutigen und kämpfte weiter. Der Dunkle Myrkul wich einem Teil seiner Schläge aus. Dann stieß auch er einen Schrei aus. Den Kettenbrechern wurde schwummrig, aber sie alle widerstanden dem Zauber. Dirim konterte mit einem Flammenschlag. Der Dunkle Myrkul wurde von den Flammen umgeben, und zum ersten Mal stieß einer der beiden Gegner ein Geräusch aus, das kein Todesschrei war. Es war ein Lachen. Der Untote wurde kaum verletzt.
Boras schlug erneut mit seiner Axt zu. Erneut erfolglos. Der Golem war nicht zu verletzen. Noch einmal hob er die Axt und schlug. Der Golem packte die Axt mit seiner Scherenhand, und während Boras noch verblüfft dastand, stellte sich der Golem auf die Hinterbeine und trat zu. Boras wurde mit voller Wucht in die Brust getroffen und flog nach hinten, krachte gegen die Wand und sackte zu Boden. Ein wenig Blut lief ihm aus dem Mund.
Jørgen flüsterte ein kurzes Gebet vor dem Schlag. Er spürte, wie ihn neue Kraft durchfloss, und er lenkte die Kraft direkt in den Schlag. Er brach dem Dunklen Myrkul zwei Rippen, dann holte er erneut aus und sammelte heilige Energie, um seinen Gegner zu zerschmettern. Knochensplitter flogen zur Seite und der Dunkle Myrkul wandte sich jetzt direkt Jørgen zu. Jørgen betrachtete die ach so scharfe Sense des Untoten und lächelte grimmig. Er hatte seine Aufmerksamkeit.
Dirim warf dem Dunklen Myrkul einen Zerstörungszauber entgegen. Der Untote rieselte Knochenstaub, aber er zerfiel nicht. Trotzdem nickte Dirim. Immerhin. Im Gegenzug ließ der Dunkle Myrkul seine Sense kreisen. Jørgen blockte den Schlag mit seinem Schild. Die Sense riss ein Loch hinein, aber blieb kurz über seinem Arm stecken. Mit einem großen Ruck zog der Dunkle Myrkul die Sense wieder heraus, und Jørgen nutzte den Moment, um auf den Riss in seinem Schild zu starren.
Der Dämonengolem ließ seine Schere bedrohlich zuklappen. Boras spuckte einen Blutpfropfen auf den Boden und stand auf. »Scheiß drauf«, sagte er. »Du glaubst, ich kann dich nicht verletzen? Du glaubst, deine Haut ist zu dick für meine Schläge? Du glaubst, du bist unbesiegbar? Scheiß drauf.« Er packte Uthgars Zahn mit beiden Händen. »Scheiß auf dich.« Boras stürmte vor und brüllte aus vollem Hals. Der Dämonengolem reckte seine Scherenhand voraus. Boras schlug gerade von oben nach unten, ein vorhersehbarer Schlag. Der Dämonengolem packte mit der Schere zu. Boras schrie noch lauter und legte alle Kraft in diesen einen Schlag. Uthgars Zahn krachte gegen den Scherenpanzer… und dann brach der Panzer. Die Axt fuhr abwärts und spaltete die Schere. Boras nutzte den Schwung und drehte sich um die eigene Achse, ließ die Axt dabei wieder aufwärts steigen und riss sie erneut hinab. Diesmal riss der Schlag eine tiefe Furche in die Haut des Golems. Boras lachte.
Der Dunkle Myrkul schlug Jørgens Schwert zur Seite, dann schwebte er für einen Moment regungslos. Als Resultat wurden Paladin und Kleriker von einem Feuersturm umgeben. Dirim wurde sofort von einem Schutzzauber umhüllt, aber Jørgen musste auf die Zähne beißen, als Flammen an seinem Gesicht leckten. Er ignorierte den Schmerz. Wieder rief er heilige Energie in seinen Schlag, und wieder brach er einige Rippen aus dem untoten Brustkorb. Dirim versuchte es mit einem Heilzauber, aber der Dunkle Myrkul widersetzte sich der Magie. Graz’zt hatte wirklich eine gute Wahl getroffen, was die Wächter anging.
Der Dämonengolem hatte inzwischen einige Risse. Die Schere war unbrauchbar geworden. Trotzdem schlug er immer weiter auf Boras ein. Der Barbar spürte alle Knochen im Leib, auch die, die noch nicht gebrochen waren. Wieder spuckte er Blut.
»Verdammt noch mal«, herrschte er den Dämonengolem an. »Warum fällst du nicht um?« Der Golem antwortete nicht, noch fiel er. Er schlug einfach weiter zu.
Die Sense brauste heran. Instinktiv riss Jørgen den Schild hoch, bevor er seinen Fehler bemerkte. Der Riss zeigte immer noch nach oben, und die Sense traf fast genau hinein. Ein paar Metallsplitter flogen, dann kratzte die Waffe ungehindert hinab und drang tief in Jørgens Arm. Bis zum Knochen und vielleicht sogar noch tiefer. Jørgen grunzte vor Schmerzen. Er wollte die Wunde sofort schließen, hielt aber noch inne. Dafür war später noch Zeit. Stattdessen… er hatte eine Idee.
Jørgen ließ den Schildarm sinken und schwang Läuterung in einem weiten Seitwärtshieb. Der Dunkle Myrkul brachte die Sense zum Block an. Sobald das Schwert die Waffe berührte, ließ Jørgen sie los. Läuterung klapperte zu Boden, aber der Schwung des Schlags brachte Jørgen ins Innere der Reichweite des Untoten, bevor dieser die Sense herum schwingen konnte. Jetzt stand er dem Dunklen Myrkul von Angesicht zu Angesicht gegenüber.
»Du hast da was«, sagte Jørgen und hob den Arm zum Gesicht seines Gegners. Er legte ihm die Hand auf. Positive Energie flammte auf und fraß sich in den Knochenschädel. Der Dunkle Myrkul erzitterte. Dann zerfiel er zu Staub. Jørgen pustete den Staub von seinem Handschuh. »Schon weg.«
Boras trieb dem Golem die Axt in die Brust. »Fall um.« Der Golem stieß Boras zurück, und nur mit Mühe konnte der Uthgars Zahn festhalten. Der Golem schlug nach. Boras tauchte unter der Faust durch, drehte sich auf einem Knie und schlug dem Golem in dasselbe. »Fall um!« Er riss die Axt los, rutschte weiter in den Rücken seines Gegners und hob die Axt. »Fall verdammt noch mal um, sage ich!« Der Golem antwortete mit einem Rückwärtsschlag. Boras hatte darauf gewartet, machte einen Schritt zurück aus der Reichweite des Golems, ging auf ein Knie und federte dann sofort wieder vor. Der Dämonengolem war groß, vielleicht sechs Schritt hoch, und sein Kopf beinahe unerreichbar. Boras erreichte ihn. Uthgars Zahn biss in den Kopf des Golems und spaltete ihn fast. Der Golem taumelte, dann fiel er hintenüber. Boras, plötzlich von der Kampflust verlassen, fiel beinahe um, stützte sich aber noch rechtzeitig auf der Axt ab.
»Na also. Geht doch.«
(Mittwoch: Adimarchus)