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Autor Thema: Stadt der gläsernen Gesänge  (Gelesen 77129 mal)

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Nightmoon

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Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #240 am: 20. Juli 2011, 16:42:53 »
Ja, die olle Muse... mal sehn, vielleicht zeigt die sicht ja irgendwie nach der nächsten Sitzung   :wink:

Nightmoon

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    • Schicksalsstreiter
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #241 am: 21. September 2011, 11:33:22 »
Freu mich aufs baldige Spielen und irgendwann natürlich auch auf den Fortgang der Story! Hab jetzt auch mal den Namen auf der Website verändert, damit das Gästebuch nicht bald voller Jubel von fanatischen Christen ist  :D

Winter

  • Mitglied
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #242 am: 02. November 2011, 22:25:51 »
Ich warte schon ganz sehnsüchtig auf das nächste Kapitel! Hoffe die Muse schaut bald mal wieder rein bei der Meisterin.
Fand die letzte Session auch sehr schön, wenn ich auch zeitweise wegen :urgs: :urgs: :urgs: aussetzen musste  :wink:

Nightmoon

  • Mitglied
    • Schicksalsstreiter
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #243 am: 03. November 2011, 10:33:40 »
Ja, ich find auch die Hölle hat jetzt lang genug Pause gehabt...  :D

Niobe

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Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #244 am: 15. November 2011, 22:36:15 »
Kapitel II: Die Portalstadt

Grimwardt
Schwerterteich, eine Woche später.

Die Vision hat ihn ins Schlachtental geführt. Einst war die Burgruine eine trutzige Festung, die Belarus errichtete, ein treuer Diener des Feindhammers. Ein heiliges Licht bricht durch die Wolken. Eldan spürt sein Herz schneller schlagen und beschleunigt seine Schritte. Das Himmelszeichen führt ihn zu einem zerbrochenen Altar. Also ist es wahr: Hier wird er die Abtei errichten! So will es Tempus! Eldan geht zum Gebet auf die Knie, um seinem Herrn für die Offenbarung zu danken. Dabei fällt sein Blick auf einen vorstehenden Block am Sockel des Altars. Er untersucht den Stein genauer und entdeckt einen Mechanismus, der ein Fach unter dem Altar öffnet. In einer Vertiefung findet er eine silberne Streitaxt. Eldan stockt der Atem, als er erkennt, was er da in Händen hält.
„Ambrosia, die Streitaxt des Standhaften.“ Feierlich hält er die Waffe ins Licht, um die magischen Runen auf den Zwillingsblättern zum Leuchten zu bringen. Das soll fortan sein Name sein: Eldan Ambrose, Kriegspriester des Herrn der Schlachten.
Zehn Jahre später…
Verzweifelt holt Eldan zu einem Schildstoß aus, der den Dämon gegen die Mauer schleudert. Benommen bleibt der Glabrezu neben der Leiche des zweiten Dämons liegen, die bereits im Begriff ist sich in Schwefelsäure aufzulösen. Der Kriegspriester ignoriert den Schmerz der klaffenden Wunde, die eine der riesenhaften Klauen in seine Armbeuge gerissen hat. Er ignoriert auch das höhnische Lachen des Drowmagiers, der die beiden Ausgeburten des Abgrunds beschworen hat. Er muss das Portal schließen, ehe der Magier noch weitere Geschöpfe herbeirufen kann, sonst ist die Abtei verloren! Begleitet von einem Schwall Blut bröckeln die magischen Worte über seine Lippen. Er hält nicht inne, selbst als er den drohenden Schatten des Dämons über sich spürt, der zum Todesstoß ausholt.
Einige Jahre später…
Der Himmel spiegelt das Rot der Brände. Hier in der Hölle schwelt die Glut ohne Unterlass – tobt der Blutkrieg ohne Innehalten. Der Glabrezu Lechon wütet wie ein Berserker unter seinen Erzfeinden. Die Legion der Bartteufel, die der Teufelsgeneral gegen ihn in die Schlacht geführt hat, hat keine Chance gegen den wilden Sturm seiner Tana‘rii-Truppe. Der Kampf ist schon fast entschieden, als plötzlich ein weiterer Gegner auf dem Schlachtfeld auftaucht: ein Dämon, gehüllt in ein Körpergewand aus blutigen Hautfetzen, mit zwei Köpfen, einem Schlangen- und einem Wolfskopf. Zwei Äxte schwingend fegt er durch die Reihen der Teufel. Köpfe rollen mit jedem Schlag. Beim Lichte! Der Unbekannte stiehlt ihm den Ruhm! Lechons Empörung weicht im nächsten Moment widerwilliger Ehrfurcht: Die Aura der Macht, mit der sich der andere Dämon umgibt, zwingt ihn in die Knie.
„Wo hast du das her?“ Der Wolfskopf deutet auf die menschengroße Streitaxt, die neben den Skalpen getöteter Gegner an Lechons Gürtel baumelt.
„Gehörte einem Diener des Schlachtengotts“, bröckelt es knirschend über Lechons Lippen.
Der Schlangenkopf schnellt vor und reißt die Trophäe an sich. Als der magische Blick der Wolfsaugen die Waffe streift, leuchten die Runen auf, die dem Dämon bisher ihre Magie verweigert haben. Sie glühen blutrot, um den Dämon zu warnen, und verlöschen dann. Das Wolfsmaul stößt ein zorniges Brüllen aus, während die Schlange zynisch zischt.
„Eine Herausforderung des Eisengotts!“, sprechen beide Köpfe im Chor. „Nur zu, wir sind bereit!“


Der Traum spukte noch immer in düsteren Farben durch seinen Geist, als Grimwardt den Schankraum der Neun-Schwerter-Schenke betrat. Winter und Faust saßen bereits beim Frühstück. Grimwardt entging nicht, dass Winter bei seiner Ankunft ein Pergament unter dem Tisch verschwinden ließ. Er ahnte seit langem, dass die beiden ein Geheimnis hegten. Es gefiel ihm nicht, aber solange er nichts sah, was ihn ernsthaft beunruhigte, würde er es schlicht ignorieren.
„Wir sollten hier bald verschwinden“, begrüßte ihn Faust. „Hades, der alte Spielverderber, wälzt gerade Gesetzestexte, um einen Weg zu finden, mich wieder einzubuchten.“
„Ich habe alles, was ich für das Ritual brauche. Wenn es nach mir geht, segeln wir heute Abend über den Styx!“
Faust schien Grimwardts Tatendurst zu erstaunen. Der Priester hatte in den letzten Tagen wenig zu ihren Nachforschungen beigetragen und sich lieber um die Angelegenheiten der Abtei gekümmert. Sein Gefährte deutete das offenbar als fehlenden Eifer für ihr Vorhaben. Ganz unrecht hatte er nicht. Tatsächlich war der Priester zerrissen zwischen seiner Loyalität den Gefährten gegenüber und seinen Pflichten als Abteivorsteher. Gewiss, er war der Abtei schon oft für längere Zeit ferngeblieben. Grimwardt der Priestergeneral hatte sich das erlauben können, doch für Grimwardt den Auserwählten waren die Prioritäten neu gewichtet. Eine Höllenfahrt mochte allen Berechnungen nach Monate  dauern – und er wollte nicht noch einmal zurückkehren und sein Lebenswerk in Dunkelheit vorfinden! Grimwardt war Tempus aus diesem Grund mehr als dankbar für seine Vision. Sie war mehr als die Aussicht auf eine heilige Vermächtniswaffe – sie war ein göttlicher Wegweiser.
Nachdem er den Freunden von seinem Traum erzählt hatte, fassten die Gefährten die Ergebnisse ihrer Nachforschungen zusammen. Alle teufelgebundenen Seelen tauchten nach dem Tod im Styx wieder auf, dem Schicksalsstrom, dessen Aufgabe es war, die Seelen der Toten ihrem Bestimmungsort zuzuführen. In Omegas Fall war das der Seelensee des achten Höllenkreises, aus dessen Seelenmasse die Teufel von Cania ihre Macht schöpften. Der Styx gehorchte weder dem Willen von Göttern noch Teufeln, doch er passte sich stets der Ebene an, durch die er floss. In der Stadt der Seelen erschien er als silberner Strom, der den Toten den Weg ins Jenseits erleichterte. Doch in den Neun Höllen war er als blutige, zähflüssige Masse gefürchtet, die den Seelen ihre sterblichen Erinnerungen entzog. Waren erst alle Erinnerungen erloschen, so wäre es keiner Macht des Kosmos mehr möglich, Omegas Seele zurückzuholen. Doch die Ordensführerin war weit über tausend Jahre alt, es würde den Styx also einige Kraft kosten sie zu brechen. Das machte sie nur umso wertvoller für Mephisto.
Trotzdem blieb das Problem, dass die Jagd nach einer Seele im Seelensee der Suche nach der berüchtigten Stecknadel im Heuhaufen glich. Ohne die Hilfe des Erzteufels, dem die Seele rechtmäßig zustand, würde es ihnen niemals gelingen sie zu befreien. Doch ehe sie anfangen konnten, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie Mephistopheles dazu bringen sollten, ihnen eine seiner wertvollsten Seelen zu überlassen, mussten sie erst einmal einen Weg in sein Reich Cania finden. Grimwardts göttliches Ritual würde sie nach Avernus bringen, den ersten der neun Höllenkreise, doch der Weg in die tieferen Schichten von Baator war ihnen versperrt. Die einzige Verbindung zwischen den Höllenkreisen war der Styx. Wie aber sollten sie sich durch sämtliche Kontroll- und Zollstationen auf ihrem Weg metzeln, ohne die Aufmerksamkeit der Neun Höllenfürsten zu erregen?
Thallastam, Hades, Ares und Nachtmond hatten ihrerzeit einen „Gesetzlosen“ bestochen, ihnen einen gefälschten Kultistenschein auszustellen. „Gesetzlose“ waren Teufel, die einst hohe Funktionen in der Hierarchie von Baator bekleidet hatten, aber bei ihren Herren in Ungnade gefallen und auf Avernus untergetaucht waren. Ihre Recherchen hatten ergeben, dass es an Mephistos Hof derzeit nur eine Baatezu gab, auf die das zutraf: Baalphegor, die verschmähte Kurtisane des Erzteufels. Sie zu finden, würde nicht leicht werden. Doch die verstoßene Geliebte schien ihnen noch die beste Chance, an Mephisto heranzukommen.
Nach dem Frühstück machten die Gefährten die letzten Besorgungen für die Reise. Dann trennten sie sich, um ihre persönlichen Angelegenheiten zu regeln. Am frühen Abend fanden sie sich wie verabredet wieder im Gasthaus Zu den Neun Schwertern ein. Nachdem Miu einen Bannzauber gewirkt hatte, der sie vor den ungastlichen Ebenenbedingungen in Baator schützen sollte, begann Grimwardt mit den Ritualvorbereitungen. Doch noch ehe er den Dimensionskreis gezeichnet hatte, klopfte es an der Tür.
Es war Tyrail.
„Ich komme mit euch“, sagte der Elf ohne Umschweife.
„Vergiss es!“, knurrte Faust. „Außerdem würdest du dich Omegas letztem Befehl widersetzen.“  
„Der ist ganz offenbar auf vielerlei Weise deutbar.“
„Nach dem Urteilsspruch bin ich kein Ordensmitglied mehr.“
„Wieso trägst du dann noch immer eines der Ordensschwerter?“
„Verdammt, Tyrail! Wir werden da unten auch ohne dich genug Probleme bekommen! Ich kann nicht ständig hinter mich schauen aus Furcht, dass mir jemand einen Dolch in den Rücken rammt!“
„Dieses Verhalten ist in deiner Familie ja wohl verbreiteter als in meiner“, erwiderte der Elf verächtlich. „Außerdem zeugt deine Missdeutung meiner Absichten wie üblich von deiner Ignoranz. Würde dein Tod mir genügen, hätte ich dich einfach verurteilen können wie diese anderen Narren. Ich werde dich solange herausfordern, bis mein Blutschwur erfüllt ist. Aber ich werde mich sicher nicht auf dein Niveau herablassen und mit einem hinterhältigen Dolchstoß Vorlieb nehmen!“
Faust schnaubte.
„Was liegt dir überhaupt an Omegas Rettung? Dir, der du nichts als Verachtung für den Orden übrig hast? Und was machst du hier, unter Menschen, Dunkelelfen, Zwergen und dem ganzen niederen Abschaum, anstatt zu deiner Herrenrasse zurückzukehren? Oder meiden die dich, weil du es auch nur wagst, mit Leuten wie mir zu sprechen?“, spottete er.
Tyrails Wangen röteten sich und er machte einen drohenden Schritt auf Faust zu. Der schien einen empfindlichen Nerv getroffen zu haben. Doch ehe er die Beherrschung verlieren konnte, erstarrte der Elf wieder zum Eisklotz.
„Thallastam steht in Omegas Schuld, sowie ich in der seinen stehe“, zischte er gepresst.
„Das kommt von ihm?“ Faust stand der Zweifel ins Gesicht geschrieben. Doch Thallastam war sein wunder Punkt und so gab er schließlich nach.
„Also schön“, murmelte er widerwillig. „Auch wenn ich das mit Sicherheit bereuen werde…“

Winter
Avernus, Erster Höllenkreis, wenig später.
Faust hatte Avernus als das Schlachtfeld der Neun Höllen beschrieben. Das Gebirge, durch das sie wanderten, war im Laufe der Jahrtausende aus den Gebeinen der unzähligen Teufel und Dämonen entstanden, die im Blutkrieg gefallen waren. Skelettwälder überzogen die Leichenberge und Ströme aus Blut zerklüfteten in steil abfallenden Talschluchten die Landschaft. Der blutrote Himmel hing tief und erdrückend über den Bergspitzen, so als könne er jeden Augenblick zusammenstürzen. Alle paar Minuten regnete es Feuerbälle aus den pechschwarzen Wolken, doch dank Mius Schutzzauber konnten ihnen die flammenden Geschosse nichts anhaben. Im Westen kündete Schlachtenlärm von einem nahen Gefecht. Das war ihr Ziel: der einzige Hinweis auf Leben in dieser fiebrigen Totenwüste. Winter wagte nicht, sie ins Ungewisse zu teleportieren, darum kämpften sie sich durch Skelettlabyrinthe und Blutschluchten, während Faust ihnen einen Überblick über die Geschichte von Avernus gab. Auf der Suche nach seinem Vater hatte er schon lange vor Omegas Tod damit begonnen, die großen Bibliotheken Faerûns nach Informationen zu den Neun Höllen zu durchforsten, doch bis heute hatte Winter nicht gewusst, wie weit seine Obsession ging. Sein Fachwissen war beinahe ein wenig unheimlich.
 „Seit Asmodeus‘ Fall, also seit Anbeginn der Zeitrechnung hier unten, tobte hier auf Avernus der Blutkrieg zwischen Hölle und Abgrund – zwischen Ordnung und Chaos“, referierte er gerade. „Lange sah es so aus, als sei der Krieg für keine Seite zu gewinnen – so lange, bis Asmodeus der Zufall zur Hilfe kam. Während der Zauberpest, als Mystras Tod ihre Heimatebene zerstörte, wurde einer der minderen Götter in die Tiefen der Hölle geschleudert. Asmodeus gelang es ihn zu töten und so kehrte der Herr der Neun Höllen als Gott in das Pantheon zurück, das ihn vor langer Zeit verstoßen hatte. Asmodeus nutzte seine göttliche Kraft für ein mächtiges Ritual, das den Abgrund, die Heimatebene der Dämonen, aus dem Universum verbannte. Dort endet die Macht der Götter, darum sind Dimensionsreisen aus dem Abgrund seit der Zauberpest nicht mehr möglich. Damit waren die abyssalen Truppen auf Baator von ihren Reserven abgeschnitten und der Blutkrieg wurde innerhalb weniger Monate zugunsten der Hölle entschieden. Asmodeus hofft, dass der Fall der Dämonen auf Faerûn und den inneren Ebenen auf lange Sicht zu einem Anstieg der Teufelskulte führt. Sprich: mehr Seelen und damit mehr Macht für Asmodeus. Aber die Verbannung der Dämonen hatte nicht nur Vorteile für die Hölle. Der Blutkrieg war das einzige, was die Erzteufel einte. Nun, da der gemeinsame Feind besiegt ist, haben die Neun Legionen nichts mehr weiter zu tun, als sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Auf diese Weise ist Avernus zu einer Art Schachbrett Baators geworden, auf dem die Erzteufel ihrer persönlichen Fehden austragen…“
Winters Gedanken glitten ab, als Faust sich in Prognosen zur machtpolitischen Entwicklung Baators verlor.
Seelen… immer ging es nur um Seelen! Ihre eigene Seelendiät hatte sie ganz gut in den Griff bekommen. Ein wöchentlicher Ausflug zum Henkersplatz reichte aus, um den lästigen Nebenwirkungen ihrer Schattenmagie vorzubeugen. Natürlich hatte sie zu Anfang etwas überreagiert - wer hätte das nicht! - doch ihre Gewissensbisse waren größtenteils unbegründet gewesen! Vermutlich tat sie den armen Verurteilten, deren Seelen ja ohnehin keine besonders rosige Zukunft zu erwarten hatten, sogar einen Gefallen. Das Problem war nur: Sie würden vermutlich monatelang hier in der Hölle festsitzen und wie sollte sie an diesem Ort ihren strengen Diätplan einhalten? Ob es wohl auffallen würde, wenn sie hin und wieder ein wenig Seelenmasse aus dem Styx stahl? Konnte man das überhaupt Diebstahl nennen? Wenn Fausts Vermutung stimmte und sie einen Teufelspakt eingegangen war, hatte sie dann nicht einen gewissen Anspruch auf die Dienstleistungen der Hölle?
Und da war noch dieser Vorfall heute Morgen in Rabenklippe: Elijas hatte sie zu sich gebeten und ihr mit stummer, ernster Miene eine Schriftrolle überreicht: ein Bannzauber, mit dem sich ein Suchtleiden unterdrücken ließ! Der Ex-Blutsüchtige hatte offenbar ihre Symptome bemerkt, ohne zu ahnen, von welcher Art ihr Leiden war. Trotzdem war Winter der Atem gestockt, als sie sich ertappt geglaubt hatte. Wenn sich die lästige Aufmerksamkeit des Avariel wenigstens ausgezahlt hätte! Zwar hatte Faust die Formel für den Notfall in sein Zauberbuch übertragen, doch konnte der Zauber nur Winters körperliche Abhängigkeit unterdrücken – der quälende Hunger und die Sehnsucht nach der Macht würden bleiben… Nein, sie musste einen anderen Weg finden...
Nachdem sie stundenlang über die Gebirgskämme der Friedhofslandschaft gewandert waren, ohne einer Teufelsseele zu begegnen, erblickten sie im Tal endlich das Schlachtfeld: Im Schatten einer Ruinenstadt prallten zwei teufliche Armeen aufeinander. Die Stadt, um die sie kämpften, wuchs nach Westen in den Berg hinein. Banner in Schildform, die eine stählerne Festung zeigten, hingen von den Zinnen des Ringwalls, auf dem mit drohend ausgebreiteten Hornschwingen die eindrucksvolle Gestalt eines Höllenschlundteufels thronte. Mit donnernder Stimme schleuderte der Baatezu-General Laute von solch gutturaler Scheußlichkeit, wie nur infernalische Flüche sie hervorbringen konnten, über die Köpfe der Kämpfenden hinweg. Adressiert waren sie an den gegnerischen Teufelsgeneral, der neben einer Standarte mit einem Fliegenkopf auf der Ostseite des Tals harrte, und die Begrüßung nicht minder herzlich erwiderte. Der Trupp, den er befehligte, bestand aus gut sechs Duzend bizarrer Insektenwesen, deren monotones Flügelbrummen die Luft erfüllte. Winter verstand nicht viel von Schlachten, doch selbst sie erkannte, dass hier etwas nicht stimmte: Der Ringwall war kaum mehr als ein Trümmerhaufen – was hielt die Angreifer also davon ab die Mauern zu stürmen oder – besser noch – einfach in die Stadt hinein zu fliegen? Und was konnte es in diesem Trümmerfeld geben, das es überhaupt lohnte, dafür zu kämpfen?
Faust erklärte, dass es sich bei den Angreifern um die Legion des Siebten Höllenkreises handeln musste, die dem Erzteufel Baalzebul unterstellt war: dem Herrn der Fliegen. Die Verteidiger identifizierte er als Untergebene Dispaters, Herrn des Zweiten Höllenkreises. Doch auch er hatte keine Erklärung für das eigenartige Verhalten der Teufel.
„Vielleicht kämpfen die bloß um des Kämpfens willen“, meinte er schulterzuckend.
„Blödsinn“, brummte Grimwardt. „Jede Schlacht dient einem Zweck. Irgendeinen Wert muss diese Ruine haben.“
Zwiespalt hatte begonnen in dunkelrotem Licht zu glühen.
„Also?“, fragte Faust, dem die Ungeduld des Schwertes in den Knochen saß. „Metzeln wir uns durch die Reihen?“
„Wir könnten es auch erst einmal mit einem Flugzauber versuchen“, bemerkte Grimwardt trocken.
„Oder einer Teleportation“, warf Winter ein. „So seltsam es in dieser Situation auch scheint, aber ich kann keine Dimensionsbarriere ausmachen.“
Faust war die Enttäuschung anzusehen. Er zückte seine Glücksmünze.  
„Zahl, wenn’s denn sein muss.“
Die Münze bekräftigte Winters Vorschlag und Faust gab sich geschlagen. Ihr Zauber beförderte die Gruppe in die Ruinen eines Turms. Zu Winters Überraschung landeten sie nicht zwischen Geröll und Mauerresten, sondern in einem wohnlichen kleinen Turmzimmer. Nach einem Moment verwunderten Staunens durchschaute die Hexenmeisterin die Illusion: Es war ein äußerst mächtiger Zauber, der die Ruine für den Betrachter in ein schmuckes kleines Schlafgemach verwandelte. Ein Blick aus dem Fenster offenbarte, dass die ganze Stadt in einen Trugschleier gehüllt war. Dort, wo von außen nichts als verbrannte Mauerreste zu erkennen gewesen waren, schlängelten sich nun enge Gassen durch einen beschaulichen kleinen Ort. Patrouillierende Baatezu-Wachen hatten die Gestalt von alten Waschweibern oder herumschlendernden Liebespaaren angenommen und statt Kampfeslärm klangen die schläfrigen Melodien eines als gnomischer Leierspieler maskierten Imps durch die Stadt.

Faust
Kurz darauf im „Garten der Lüste“
„Oh. Verdammt.“
Von dem Luftgeist, der sich in einer Dampfwolke aus dem Staub hatte machen wollen, war nichts als heiße Luft übrig geblieben, nachdem Zwiespalt mit ihm fertig war. Schulterzuckend wandte sich Faust an den zweiten Ifrit. Das hinterlistige Lächeln des scharlachroten Wüstengeists gefror zu einer Maske verblüfften Schreckens.
„Naja, vielleicht möchtest du uns ja sagen, was hier gespielt wird?“
Fausts farbenspeiende Chaosklinge zeigte dem Ifrit blutlechzend seine Alternativen auf. Der Wüstengeist leckte sich unsicher über die trockenen Lippen.
„Also?“, knurrte Faust und blinzelte, um das Flirren der falschen Kolibris aus seinem Geist zu vertreiben. Wie alles andere in dieser Stadt war auch diese Lustoase mitsamt tanzenden Feen und verheißungsvollen Nymphen eine Illusion. Und es gehörte nicht viel Kombinationsgeschick dazu, zu erraten, worauf die beiden Ifriti tatsächlich aus waren, wenn sie den Besuchern „für einen kleinen Gefallen“ das Blaue vom Himmel versprachen.
„Ihr seid keine Teufel; mit Seelen könnt ihr nichts anfangen. Also für wen arbeitet ihr? Wer hat euch gebunden?“
Dass der Ifrit noch immer zögerte, konnte nur bedeuten, dass er, wenn er plauderte, noch Schlimmeres zu befürchten hatte. Erst als Faust ihn spüren ließ, dass Folter keineswegs ein Vorrecht der Hölle war, knickte er ein.
„Jebelam!“, spie er ihm ins Gesicht. „Ihr Name ist Jebelam! Sie ist eine mächtige Falxugon, eine Seelenernterin! Die Illusionen und die Portale sind ihr Werk!“
 „Die Portale?“
„Na, die…“ Eine kleine Zornwolke dampfte aus den Nasenlöchern des Luftgeists, als er erkannte, dass er sich verplappert hatte. „Jebelam hat Portale in andere Welten errichtet, um Sterbliche nach Dunkelgradt zu locken“, gab er grantig zu. „Sie sorgt dafür, dass ihnen in dieser Stadt jeder ihrer Wünsche erfüllt wird.“
„Um den Preis ihrer Seelen.“ Faust begriff. „Welchem der Neun Erzteufel dient diese Jebelam?“
„Ursprünglich diente sie Bel, dem Herrn von Avernus. Aber laut eines uralten Paktes gehen alle Seelen, die in Dunkelgradt gebunden werden, an den Herrscher der Stadt. Bel hat Dunkelgradt an Dispater verloren. Und nun lauert General Zinimar mit Balzebuls Legion vor den Stadttoren…“
Seelen. Also das war der Wert dieser Stadt. Kein Wunder, dass sich die Legionen vor den Stadttoren die Köpfe einschlugen. Und natürlich durften sie dabei die heile Welt der Portalstadt nicht zerstören: Ein Schlachtfeld innerhalb der Stadtmauern wäre vermutlich selbst für die Falxugon-Illusionistin schwer mit Kleinstadtidylle zu übertünchen.  
„Und wo finden wir diese Jebelam?“
„Sie unterhält ein Gasthaus in der Stadtmitte: Zur Katze im Sack.
„Überaus subtil.“
Kurz darauf machten sich die Gefährten auf den Weg.
Die Auskunft war dem Ifrit ein wenig zu rasch über die Lippen gekommen, fand Faust. Gut möglich, dass er telepathisch mit seiner Herrin in Verbindung stand. Besser, sie machten sich auf einen Hinterhalt gefasst. Die Vorsicht zahlte sich aus: Kaum hatten sie sich mit gezückten Waffen dem Gasthaus genähert – einem der wenigen intakten Gebäude der Stadt –, rollte von hinten ein lodernder Feuerball auf sie zu. Hastig sprang Faust zur Seite, sodass er nur einen heißen Zug auf den Wangen spürte. Auch die anderen ließ die feurige Begrüßung kalt. Als sich der Rauch gelegt hatte, erspähte Faust die Gestalt des Teufelsgenerals, der mit drohend ausgebreiteten Schwingen über ihnen schwebte. Er trug eine glänzende Rüstung aus geölten Metallringen. Faust, der Mühe hatte, sein teufelsblutlechzendes Schwert unter Kontrolle zu halten, überließ es Grimwardt und Winter, das Gasthaus zu stürmen. Zu lebendig war seine Erinnerung an seine letzte Begegnung mit einem Höllenschlundteufel, als dass er sich die Gelegenheit durch die Lappen gehen ließe, eine dieser Ausgeburten des Bösen in Schwefelsäure zu verwandeln…
„Habt Ihr nicht eine Stadt zu verteidigen?“, rief er herausfordernd.  
„Was glaubst du, was ich hier tue, Sterblicher!“
Mit den Worten spie der General ihm einen schwarzen Feuerkegel entgegen. Fausts magische Rüstung widerstand dem Feuer, doch durch die Wucht des Odems wurde er unsanft zu Boden gerissen. Im nächsten Moment war der Gegner über ihm und Faust durchfuhr ein brennender Schmerz in der Halsgegend, begleitet von dem widerlichen Gestank des Teufelsatems. Doch bevor der Teufel einen Hornstoß hinterher schicken konnte, brach Tyrail, der von hinten anpreschte, ihm mit präziser Wucht das Schlüsselbein. Brüllend fuhr der Teufel herum und schlug nach dem Elf, der dem zornigen Hieb mit verächtlicher Beiläufigkeit auswich. Faust wusste aus Erfahrung, dass Tyrails Überheblichkeit Taktik war – als junger Kämpfer war er ihr selbst oft genug auf den Leim gegangen: Die Arroganz des Elfen steigerte den Gegner in eine blinde Wut auf Kosten der Präzision. Schlag um Schlag verfehlte ihn. Während der Elf die Aufmerksamkeit des Teufels auf sich fokussierte, nahm Faust Anlauf und sprang. Der Teufel bog den Oberkörper zur Seite und versuchte ihn über die Schwingen abgleiten zu lassen – doch zu spät. Knochen splitterten, als Zwiespalt durch das Rückgrat des Generals drang. Ächzend brach die massige Gestalt zusammen.
„Gute Arbeit!“, lachte Faust. „Fast wie früher!“
Tyrail erwiderte das Lob mit einem vernichtenden Blick, der Fausts gute Laune im Keim erstickte. Früher hatte der Elf sich hin und wieder von seiner Euphorie mitreißen lassen. Seinen Menschenhass hatte er in solchen Momenten für eine Weile vergessen können. Doch Thallastams Geist hatte recht: Der kameradschaftliche Teil ihres Konkurrenzkampfes war mit ihm gestorben.
Fausts Halswunde war nicht tief, aber das Jucken bereitete ihm Sorgen: Höllenschlundteufel waren bekannt für ihre Giftzähne und die Seuchen, die ihr fauliger Atem verbreitete. Wo blieb Miu nur? Sie war doch sonst stets zur Stelle, sobald einer der Gefährten verletzt wurde? Während Tyrail dafür sorgte, dass der verwundete Teufel seine Wunden nicht regenerieren konnte, suchte Faust im Gasthaus nach seinen Gefährten. Die Leiche eines in der Auflösung begriffenen Glabrezu versperrte den Eingang. Während er sich einen Weg durch den Haufen aus Fleisch und Schwefelblasen bahnte, beobachtete Faust im Dämmerlicht des Schankraums eine weitere der riesigen Gestalten im Kampf gegen Grimwardt – und Miu! Faust traute seinen Augen kaum, als er Zeuge wurde, wie die friedfertige Ordensschwester dem Ungeheuer einen Mönchstritt in die Magengrube verpasste, die den Teufel das Schwindeln lehrte.
„Miu! Ich wusste nicht mal, dass du das kannst! Das war...“ Das Lob blieb Faust im Hals stecken, als er Mius unerbittlichen Blick auffing. Ihr Gesicht wirkte hart und gespenstig in der düsteren Umgebung.
Während Grimwardt dem Teufel den Gnadenstoß verpasste und Miu sich Fausts Wunde annahm, trat Winter aus dem Nebenraum.
„Die Gastwirtin ist entkommen“, sagte sie außer Atem. „Sie war von einem magischen Schutzfeld umgeben. Grims Axt ist von dem Schutzfeld abgeglitten und ich kam nicht schnell genug an sie heran, um zu verhindern, dass sie sich fortteleportierte.“
„Immerhin haben wir den General“, meinte Faust.
Um sich vor weiteren Angriffen zu schützen, zogen sie sich mit dem Gefangenen in Winters magischen Palast zurück: Die Hexenmeisterin hatte Doriens außerdimensionales Prunkschloss magisch restauriert. In der Enge ihrer hoffnungslos überfüllten Welt aus samtdrapierten Möbeln, seidenen Trennwänden, ausladenden Deckenkronleuchtern und Rauchbecken, deren süßliche Düfte eine leicht benebelnde Atmosphäre schufen, wirkte die massige Gestalt des gefesselten Höllenschlundgenerals geradezu lächerlich.  
„Ich sage kein Wort ohne einen Pakt!“, knurrte der Gefangene, noch ehe jemand das Wort an ihn gerichtet hatte.
Dieser Satz sollte das Motto für den Rest des Tages werden. Während dieser Zeit erkannte Faust, dass die Schrecken der Hölle nicht etwa Krieg und Folter hießen, sondern Bürokratie und Pedanterie! Die Hölle war Asmodeus‘ Werk, der sich von den Göttern betrogen glaubte. Viele Legenden rankten sich um den Fall des Erzengels aus dem Pantheon, doch die beliebteste von ihnen ging davon aus, dass die Götter ihn verstoßen hatten, weil er, verroht durch den Kampf gegen die Dämonen des Abgrunds, sterbliche Seelen durch Folter zu göttlichem Gehorsam hatte zwingen wollen. Asmodeus behauptete bis zum heutigen Tag, dass er stets im Auftrag der Götter gehandelt habe und dass sein Fall nichts als schändlicher Verrat an einem treuen Diener gewesen sei. Dieser Sage nach bestrafte die Hölle darum jeden Bruch eines schriftlich festgehaltenen Vertrags mit einer Strafe, die der Schwere des Verrats angemessen war. Faust wusste nicht, was an dieser Geschichte der Wahrheit entsprach, doch die Berichte von Höllenwanderern, die einen Höllenpakt gebrochen hatten, endeten niemals gut. Es schien also wenig ratsam, das eherne Gericht von Baator herauszufordern. Also blieb ihnen nur eine Wahl: Feilschen und wortklauben was das Zeug hielt, um sich nicht von einem Teufel übers Ohr hauen zu lassen!
Nach vier zermürbenden Stunden und einer Flut von zerrissenen und umgeschriebenen Verträgen einigten sie sich schließlich darauf, den Teufelsgeneral gehenzulassen, wenn er ihre Fragen zu ihrer Zufriedenheit beantwortete. Auf diese Weise gelang es ihnen immerhin die Suche nach dem doppelköpfigen Dämon aus Grimwardts Vision einzugrenzen: Es musste sich bei ihm um einen Molydeus handeln, eine äußerst seltene Tanar’ri-Art. Dem Teufelsgeneral waren nur zwei dieser mächtigen Kreaturen bekannt – beide, so mutmaßte er, mussten nach Ende des Blutkriegs wie alle Dämonen getötet oder versklavt worden sein. Da Grimwardt nicht glaubte, dass Tempus den Dämon in seiner Vision hätte auftauchen lassen, wenn er für seine Mission keine Rolle mehr spielte, kam nur Letzteres in Frage. Bei der Suche nach Baalphegor konnte der General ihnen nicht helfen – doch er verriet ihnen, dass die Faxugon-Illusionistin Jebelam in ihrer Position als Spionin und Seelenfängerin vielerlei Gerüchte aufschnappte.
„Das war’s, bindet mich los!“, befahl der General. „Ich habe eure Fragen beantwortet; mein Teil der Vereinbarung ist erfüllt.“
Unter Mius düsteren Blicken befreite Faust den Teufel von seinen Fesseln. Ihre Gesichtsmuskeln waren so angespannt, dass sie ihren Mund zu einem schmalen Strich machten. Ihre Unerbittlichkeit irritierte ihn – wo war seine großherzige Miu geblieben, die, wenn sie die Wahl hätte, ihr Leben für das ihres Mörders gegeben hätte? Doch selbst die Ordensschwester schien kein Pardon mit diesen Kreaturen zu kennen.
 „Es macht keinen Unterschied, ob wir ihn gehenlassen oder nicht“, raunte Faust ihr zu, während sie den Teufelsgeneral mit Blicken verfolgten, als er aus dem Eingangsportal des Herrenhauses trat. „An seine Stelle tritt ja doch sofort der nächste.“
Plötzlich sang der schneidende Klang einer Schwertklinge durch die Stille und der Kopf des Teufelsgenerals drehte sich auf dem Rumpf um hundertachzig Grad, sodass seine schreckerstarrten Augen sie unverwandt anstierten. Dann rollte er ihnen blutleckend vor die Füße. Bevor sein überrumpelter Körper den Tod noch recht begriffen hatte, erschien in der Sichtlücke, die das abgetrennte Körperteil hinterlassen hatte – die blutige Klinge noch erhoben – der Teufelsgeneral der feindlichen Legion… umringt von einem Bataillon wütend surrenden Insektensoldaten.
„Oh“, sagte Faust. „Ganz so wörtlich meinte ich das nun auch nicht.“
Winter reagierte als erste und schlug eilig die Tür wieder zu. Schluckend drehte sie sich zu den anderen um.
„Ich schätze, wir haben ein Problem…“
 
Grimwardt
Am nächsten Morgen.
Da sie entschieden hatten, dass es der Geheimhaltung ihrer Mission nicht eben dienlich wäre, wenn sie gleich zum Auftakt ihrer Höllenfahrt ein ganzes Teufelsregiment niedermetzelten, hatten sich die Gefährten  am Vorabend aus Avernus zurückgezogen.
Baalzebuls Legion musste während ihrer Paktverhandlungen mit Dispaters General die Stadt erobert haben. Vermutlich hatte die teuflische Gastwirtin den Eroberern verraten, dass sich eine Gruppe mächtiger Sterblicher in der Stadt aufhielt, und um Schutz gebeten. Gewiss war es der Illusionistin ein Leichtes gewesen, den unsichtbaren Eingang zu Winters Anwesen ausfindig zu machen. Doch ohne eine magische Einladung war es den Teufeln nicht möglich gewesen, das Versteck der Gefährten zu stürmen. Stattdessen hatten sie sich aufs Belagern verlegt und den ersten Gegner niedergestreckt, der aus der Tür getreten war.
Grimwardt hoffte nun, dass der General die übereilte Flucht der Gefährten als Rückzug deutete und nicht mit ihrer Rückkehr nach Dunkelgradt rechnete. Denn selbst wenn es ihnen gelänge, sein Regiment zu besiegen, so wäre die Gefahr doch zu groß, dass sein Herr – und über Umwegen die anderen Erzteufel – von dem Angriff erfuhren. Der Abenteurer Marco Volo nannte in seinen Reisetipps für die Höllenfahrt als eines der wichtigsten Gebote für das Überleben in Baator: Gehe Auseinandersetzungen aus dem Weg oder lass niemanden am Leben! Sonst stehst du morgen dem Chef deines Gegners gegenüber! Ob Volo nun tatsächlich schon einmal die Hölle bereist hatte oder seine Weisheiten nur aus anderen Werken zusammengeklaubt hatte – der Rat schien Grimwardt in der gegebenen Situation nur angebracht!
Nach einem reichhaltigen Heldenfrühstück wiederholte der Kriegspriester das Ritual, das sie am Vortag nach Avernus gebracht hatte. So kehrten die Gefährten frisch gerüstet zurück nach Baator – oder genauergesagt: geradewegs in die Katze im Sack.
Jäh schrak Jebelam von ihrer Arbeit auf: Wie eine lauernde Vettel hatte die Seelenernterin, als dralle Gastwirtin getarnt, hinter einem Gast geharrt, der in ein Kartenspiel mit einem Bartteufel vertieft war, den er vermutlich für einen wohlbetuchten Wirtshausgast hielt: ein Opfer, das in eine ihrer Portalfallen getappt sein musste. Grimwardt konnte sich denken, was sie dem jungen Mann ins Ohr flüsterte, während dieser Münze um Münze an den teuflischen Trickbetrüger verlor. Der Schweiß auf seiner Oberlippe und die gierig-feuchten, übernächtigten  Augen sprachen Bände: Am nächsten Tag würde er sich vermutlich nicht einmal daran erinnern, seine Seele verkauft zu haben. Selbst die Gruppe schwerbewaffneter Abenteurer, die plötzlich in den Raum geplatzt kam, nahm er nur mit einem irritierten Stirnrunzeln zur Kenntnis. Zwei als Gäste getarnte Baatezu-Wachen dagegen sprangen allarmiert auf. Doch mitten in der Bewegung hielten sie inne; ein telepathischer Befehl schien ihnen Einhalt zu gebieten.
Begleitet mich aus der Stadt, hörte Grimwardt die Stimme der teuflischen Gastmutter in seinem Geist. Greift ihr an, so brauche ich nur mit dem Finger zu schnipsen und Zinimars Regiment rückt an.
„Spielt nur weiter, ihr beiden“, säuselte sie mit mütterlicher Fürsorge an die beiden Kartenspieler gewandt. „Meine Freunde wollten euch nicht erschrecken. Kommt nur mit und sagt mir, was euch bedrückt.“
Offenbar fürchtete sie die Seele des Kartenspielers zu verlieren, die ihr schon so gut wie sicher war, wenn sie es zum Kampf kommen ließ. Die Versuchung war groß, ihre Drohung in den Wind zu schlagen und Tempus‘ Zorn über diese Schacherbude zu bringen! Doch Grimwardts magischer Blick verriet ihm, dass Jebelam auch dieses Mal mit einem Eisenwacht-Zauber geschützt war. Sicher, mit einer Antimagsichen Zone kämen sie an sie heran, doch wenn sie es auf einen Kampf ankommen ließen, riskierten sie, dass sie ihnen auch dieses Mal durch die Lappen ging, bevor sie ihren Schutzwall durchbrechen konnten. Also gingen sie auf das Angebot ein und folgten der Seelenernterin vor die Stadt. Dabei entging ihnen nicht, dass sie die Zeit nutzte, um sich mit weiteren Zaubern zu schützen.
„Keine Seelenpakte“, stellte Grimwardt klar, als sie unter den düsteren Blicken der Torwachen vor den Stadtmauern ankamen. „Wir wissen, wer ihr seid, also versucht es erst gar nicht.“
Sekundenlang huschte ein boshafter Zug über die gutmütigen Pausbacken der Wirtsherrin. Doch sosehr schien sie mit ihrer Maske verwachsen, dass diese auch jetzt sogleich die Wogen glättete.
„Nun, dann wollen wir sehen, was wir sonst füreinander tun können“, schlug sie mit einem affektierten Lächeln vor. „Fünf Sterbliche in der Hölle… Was mögt ihr hier wohl zu finden hoffen, wenn ihr nicht mit der gängigen Währung zu zahlen bereit seid?“
„Das ist unsere Sache“, erklärte Grimwardt ruhig. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass der Tempus-Priester das Reden übernehmen sollte, da Faust alle Entscheidungen mit dem Schwert und Winter mit dem Herzen zu lösen pflegte – beides konnte sie hier in… nun ja… in Teufels Küche bringen.
Grimwardt war einen Augenblick lang versucht, Jebelam zu erpressen: ihr Rückzug aus der Stadt gegen gefälschte Papiere, die ihnen freies Geleit nach Cania garantierten! Als erfahrene  Illusionistin sollte sie dazu in der Lage sein.  Und sie diente – zumindest im Moment – Baalzebul, dem erklärten Erzfeind des Mephistopheles, der keinen Grund hätte, die Mission der Gefährten zu sabotieren, wenn er Wind davon bekäme. Andererseits mochte die Stadt jederzeit an einen der anderen Erzteufel fallen – und mit ihr Jebelams Loyalität. Nein, sie durften der Seelenfängerin nicht zu viel von ihren Plänen preisgeben.
„Die Portalstadt interessiert uns nicht“, behauptete er darum knapp. „Wir sind auf der Suche nach einer Gesetzlosen.“ Mochte die Falxugon sie für Kopfgeldjäger in teuflischem Auftrag halten. „Ihr Name ist Baalphegor und sie diente bis vor Kurzem am Hof von Cania. Dunkelgradt ist eine vielbesuchte Stadt. ‚Avernus‘ Gerüchteküche‘, nannte sie der General der Disischen Legion, wenn ich mich recht entsinne. Vielleicht habt ihr ja das ein oder andere aufgeschnappt, das uns dazu bewegen könnte, Dunkelgradt den Rücken zu kehren…“
„Wenn ich wüsste, wo sich diese Baalphegor befindet, dann wüssten es auch andere“, dozierte die Seelenernterin mit der gutmütigen Herablassung einer Lehrerin, die einem sturen Kind zum zigsten Mal das Einmaleins erklärt. „Dann wäre sie wohl längst nicht mehr am Leben. Aber es mag sein, dass ich im Besitz eines Gegenstandes bin, der mehr weiß als ich.“ Ein kleines, affektiertes Glucksen, als ob sie gerade den Witz des Tages gerissen hätte. „Wer die Regeln des Blutkriegs kennt, der weiß, worauf er achten muss, um zu erkennen, welchem Herrn ein Teufel dient. Höllenschlundteufel, die man hier auf Avernus trifft, sind für gewöhnlich hohe Offiziere in einer der Legionen. Da fällt es auf, wenn einer bei mir auftaucht, der es versäumt, Farbe zu bekennen. Dachte mir dass es nützlich werden könnte, etwas dazubehalten, das ihm gehört… eine Schwertscheide, als Pfand für Spielschulden. Das gute Stück war eigentlich nicht für ein paar sterbliche Vagabunden gedacht, die plündernd durch meine Stadt streunen, aber unter den Umständen…“ Abrupt verschwand das aufgesetzte Lächeln aus ihren kleinen Schweinsäuglein. „Das ist mein Preis“, sagte sie, plötzlich ganz die kühle Vertreterin:  „Unterschreibt einen Pakt, der besagt, dass ihr Dunkelgradt niemals mehr betreten werdet, und ich überlasse euch das rostige alte Ding!“
 „Eine Komponente.“ Grimwardt begriff. Sie könnten die Schwertscheide benutzen, um den legionslosen Teufel aufzuspüren. „Und ihr glaubt, dass dieser Unbekannte zu Baalphegors Eskorte gehört, hm?“
„Schlaues Bürschchen“, spottete Jebelam. „Garantieren kann ich natürlich für nichts.“
Vermutlich überstieg der Auffindungszauber ihre Fähigkeiten oder die Komponente war für Mephistos Meuchelmörder bestimmt gewesen, doch das behielt diese kleine Viper natürlich lieber für sich.
Grimwardt tauschte einen Blick mit seinen Gefährten. Bis auf Miu schienen alle einverstanden.
„Schön. Zeigt uns diesen Pakt.“
Jebelam schnipste mit dem Finger und in der Luft zu ihrer Linken erschien eine schwebende Schriftrolle, die sich nach und nach mit magischem Text zu füllen begann. Mit Argusaugen lasen sich die Gefährten das Kleingeschriebene durch, um nicht am Ende doch mit der falschen Währung zu zahlen. Erst nach etlichen Umformulierungen und Abwandlungen standen all ihre Namen unter dem Vertrag.
Als Jebelam fortteleportierte, um ihnen die Schwertscheide zu bringen, wandte sich Miu jäh zu ihren Freunden um. Ihre Augen waren starr vor grimmiger Enttäuschung, als sie die anderen mit einer wilden Schimpftirade aus Handzeichen überzog, die sie so schnell aneinanderreihte, dass selbst Faust, der als einziger ihre lautlose Sprache verstand, Mühe hatte, ihr zu folgen.
„Miu…“ Faust fing ihre fliegenden Gesten ab, um sie zum Schweigen zu bringen. „Miu, ich weiß, was du sagen willst, aber wir werden zurückkommen! Der Pakt besagt nur, dass wir die Stadt nicht betreten dürfen! Wir kommen zurück und Winter wird diese verdammte Mausefalle unter einer Lawine beschworener Eisenwände begraben! Das schwöre ich dir, Miu! Aber wir dürfen nicht gleich einen Krieg vom Stapel brechen, wenn wir Omegas Seele befreien wollen!“
Miu wirkte nicht überzeugt. Eine Träne rollte über ihr wutstarres Gesicht und sie deutete nachdrücklich in Richtung des Gasthauses der Seelenernterin. Diesmal verstand auch Grimwardt: Und was ist mit all den anderen Seelen?
„Das ist die Hölle, Miu“, sagte Faust düster. „Wir können froh sein, wenn wir eine Seele von hier retten!“
« Letzte Änderung: 15. November 2011, 22:41:06 von Niobe »

Nightmoon

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Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #245 am: 16. November 2011, 01:22:53 »
 :thumbup:
Ahhhhh, sehr schön! Was lange währt...
Gefällt mir sehr gut! Konnte wieder schön in Erinnerungen schwelgen! Sicher wieder kein einfaches Kapitel gewesen. Ich hoffe die nächsten gehen dir ganz leicht von der Hand! Hab übrigens auch endlich ne Idee, wie ich Dizzt besiegen könnte ;)

Winter

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Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #246 am: 16. November 2011, 21:31:06 »
"Dienstleistungen der Hölle", ich hätt mich wegschmeißen können!
Ich freu mich...  :D
Die Blockade ist durchbrochen.

Nightmoon

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Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #247 am: 19. Dezember 2011, 15:48:02 »
Ich hoffe in baldiger Zukunft wird wieder ein Stück Vergangenheit zur Gegenwart... :)

Niobe

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Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #248 am: 20. Dezember 2011, 23:31:33 »
Tja, die liebe Zeit... Die ist hier in der Tat das Problem. Aber jetzt kommt ja bald die... ähem... beschauliche Weihnachtszeit  :P

Nightmoon

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    • Schicksalsstreiter
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #249 am: 21. Dezember 2011, 03:18:53 »
Ja, muss euch da auch noch den ein oder anderen NSC basteln :)

Nightmoon

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    • Schicksalsstreiter
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #250 am: 29. Dezember 2011, 23:50:49 »
So, hab Drake jetzt mal von den Antihelden zu den Helden geschoben... mal sehen wie lang das so bleibt ;)

Winter

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Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #251 am: 30. Dezember 2011, 01:03:58 »
Tja, das hat er sich aber auch echt verdient!
Ich frag mich nur, wie lange es noch dauert, bis einer von uns in die Antiheldenecke rüberwandert...ist halt alles nicht so schwarz-weiß, wie einen die Regelbücher glauben machen wollen!

(Hatte schon gedacht, es gebe ein frisches Kapitel, als ich den neuen Post sah!)

Nightmoon

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    • Schicksalsstreiter
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #252 am: 30. Dezember 2011, 03:12:54 »
Nee, in dem Fall nur Spam ;)
Ja, sind schon fließende Übergänge... außer bei Grim und Miu

Niobe

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Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #253 am: 26. Januar 2012, 02:19:38 »
Kapitel III: Seele um Seele

Faust
Drachenfeste, später.
Der Kraftstoß, den der Drachenwächter auf sie niedergespien hatte, presste Faust die Luft aus den Lungen und schleuderte ihn mitten im Flug horizontal gegen einen der fünf Türme der Drachenfeste. Ohne festen Boden unter den Füßen fiel es ihm schwer die Orientierung zu bewahren. Wohin war sein Gegner verschwunden? Wo waren seine Gefährten? Unter ihm eine klaffende Felsspalte inmitten des zackigen Totengebirges: der Drachenschlund. Über ihm das Grinsen der Drachentürme. Dann ein Ruck. Etwas streifte ihn und Faust purzelte durch die Luft wie ein Staubkorn, das von einem Windzug aufgewirbelt wurde. Der schlanke Körper des Drachenwächters war nur als ein Flirren in der Luft erkennbar, ätherisch, fast unsichtbar. Nur sein Schatten, der, vom Gebirge in abstrakte Mosaike gebrochen, über die Landschaft glitt, verriet, dass dieses Wesen so verwundbar war wie jeder von ihnen. Faust reagierte schnell. Geistesgegenwärtig griff er nach dem flimmernden Rückenkamm, bevor der Drache ihm wieder entgleiten konnte. Er war schneller und wendiger als alle Drachen, gegen die Faust je gekämpft hatte. Der Wächter schüttelte nur flüchtig seinen Schlangenkörper, als er den blinden Passagier bemerkte; sein schmetternder Schwanzhieb galt Tyrail, der ihm zuvor einen schmerzhaften Schwerthieb verpasst hatte. Faust konnte nicht erkennen, ob der Angriff traf; der rasante Ritt ließ die Umgebung vor seinen Augen verwischen. Mit großer Anstrengung gelang es ihm Zwiespalt gegen den Flugwind durch den farblosen Schuppenpanzer des Wächters zu stoßen. Ein stimmloses Fauchen. Ein ruckartiges Bocken. Faust, der das lange Rückenhaar noch immer fest im Griff hielt, rutschte vom Rücken des Drachen. Dann ein Ruck in die entgegengesetzte Richtung: Ein Zahn, messerscharf und glasig wie aus Eis, blitzte einen Fingerbreit vor seinem Gesicht auf. Die perfekte Gelegenheit. Ritschhh. Glatt – beinahe sanft – trennte Zwiespalt den schillernden Drachenkopf vom Rumpf. Die transparenten Schwingen des Bezwungenen verharrten abrupt… und wickelten sich wie Totenschleier um die Gestalt des in die Tiefe stürzenden Leichnams. So erhaben wirkte der fallende Drache, selbst noch im Tod, dass es Faust beinahe leid um ihn tat.
„Schnell, in den Drachenschlund!“
Winter stob von oben heran und zog ihn mit sich in den Abgrund. Die anderen hatten das Portal in der Tiefe bereits durchschritten. Als er hoch sah, erkannte er, weshalb sie ihn so drängte. Drachen! Sie kamen von allen Seiten! Rote, blaue, grüne, schwarze und weiße Drachen. Mehrköpfige Drachen. Drachen mit Teufelsköpfen. Die Wächter zu Tiamats Reich! Aufregung und Triumph pochten wild in seinen Adern. Natürlich wäre es Wahnsinn, sich ohne Grund mit dem Heer der Drachengöttin anzulegen…
Absoluter Wahnsinn…
Trotzdem verspürte er Bedauern, als er Winters Zaubergesang vernahm und spürte, wie sich die Dimensionen überlagerten.
Plötzliche Windstille.
Eine feuchte Grotte irgendwo in Tiamats Reich. Ein schlickiger Tümpel; in der Mitte eine Insel mit einem befestigten Turm: der Ort, den der Aufspürungszauber Winter gezeigt hatte. Wenn Jebelam die Wahrheit gesagt hatte, würden sie hier den Besitzer der Schwertscheide finden… und hoffentlich die verstoßene Kurtisane.
„Bei Veiros‘ Ungestüm!“ Der Steg am Rande der Grotte war so schmal, dass Grimwardt beim Teleportieren im Wasser gelandet war. Seine Zornader pochte, als er an Land stapfte. „So ein Irrsinn, Tiamats Reich durch den Haupteingang zu betreten!“, brummte er.
Ein Blick in die Runde verriet Faust, dass der Kraftodem des Drachen sie alle an den Rand ihrer Kräfte gebracht hatte. Aber nichts, das Miu nicht wieder richten konnte.
„Hat doch geklappt.“    
„Bis jetzt. Wenn wir durch unser Treiben nicht Tiamat persönlich aufgeweckt haben!“
Es hieß, die Drachenkönigin habe fünf Köpfe und dass sie schon mit einem einzigen ein ganzes Menschenreich auslöschen konnte. Die chromatischen Drachen verehrten Tiamat als Göttin, als ersten Drachen der Schöpfungsgeschichte. Hier unter dem Totengebirge von Avernus, wo die Macht Baators endete, hatte sie sich vor Jahrtausenden ihren Hort gegraben… ein sicheres Versteck für eine verstoßene Baatezu. Da Tiamats Reich eine eigenständige Ebene bildete, hatten die Gefährten erst das Portal, den Drachenschlund, durchschreiten müssen, um hierher zu gelangen.
„Solange wir ihre Schätze in Ruhe lassen, wird sie sich kaum für uns interessieren“, wusch Faust die düsteren Beschwörungen des Priesters beiseite. „Außerdem…“ Er wollte noch etwas hinzufügen, als der Tümpel hinter Grimwardt plötzlich lebendig wurde.  
„Zur Seite!“
Drei scheußliche, pechschwarze Köpfe, halb Drache und halb Teufel, schnellten aus dem Wasser. Sie zischten und gurgelten etwas in der Sprache Baators, das nicht eben nach einem Willkommensgruß klang. Faust riss Tyrail, der neben ihm stand, mit sich zur Seite, doch schon im nächsten Moment waren beide vollständig umhüllt vom ätzenden Odem der dreiköpfigen Kreatur. Fausts magische Rüstung wehrte die Säureangriffe ab, doch Tyrails schrille Schreie sagten ihm, dass der Elf dem Angriff schutzlos ausgeliefert war.
„Winter, in den Turm!“
Sie waren zu erschöpft für einen weiteren Kampf. Keine Zeit für einen Plan. Keine Zeit darüber nachzudenken, ob auf der Insel noch Schlimmeres auf sie lauerte. Wo blieb Winters Teleportationszauber? Faust erhaschte einen kurzen Blick auf ihr Gesicht, konzentriertes Murmeln, ein leichtes Stirnrunzeln, ein stummer Kampf. Vermutlich ein magischer Schutzwall. Während Winter ihren Kampf gegen den unsichtbaren Gegner ausfocht, versuchte Faust den halb bewusstlosen Tyrail aus der Angriffslinie des Teufelsdrachen zu zerren. Drei weitere Säurestrahlen trafen Miu und Grimwardt, doch die kleine Karaturianerin wich den Angriffen geschickt aus und Grimwardt war seit seiner Rückkehr aus dem Totenreich so gut wie unzerstörbar.
Kurz darauf umfing sie Finsternis. Erst als Winter ein magisches Licht beschwor, erkannte Faust schwach die Umrisse eines klammen Gemäuers: das Erdgeschoss des Turms. Eine morsche Treppe. Kein Geräusch bis auf Tyrails Stöhnen und das schnelle Atmen der anderen.
„Lady Baalphegor?“
Faust ließ wachsam den Blick schweifen, während sich Miu um Tyrail kümmerte, dessen Haut sich in Fetzen vom Körper gelöst hatte. Kein Zweifel – einige Baatezu waren vor Kurzem noch hier gewesen; das sagte ihm der Schwefelgeruch. Doch wie viele? Und war sie unter ihnen?
Ich bin gekränkt. Statt mir ein anständiges Tötungskommando zu schicken, speist mich Mephisto jetzt schon mit einer Handvoll sterblicher Kopfgeldjäger ab.
Baalphegor! Ihre telepathische Nachricht triefte vor Zynismus und Misstrauen. Faust hob die Hände zum Zeichen, dass sie in Frieden kamen. Womöglich wog sie gerade ab, ob sie fliehen oder den Kampf wagen sollte. Sie waren zu fünft und sie musste einen kleinen Eindruck ihrer Stärke gewonnen haben, als Winter ihr Dimensionsschloss gebannt hatte. Andererseits waren sie angeschlagen und erschöpft und wussten nicht genau, womit sie es zu tun hatten. Solange sie sich nicht zeigte, war Baalphegor auf der sicheren Seite, denn solange konnte sie niemand am Fortteleportieren hindern.
„Wir sind keine Kopfgeldjäger“, sagte Grimwardt. „Wir sind auf dem Weg nach Cania, um eine Seele zurückzufordern, die zu Unrecht hier gelandet ist.“
Sind sie das nicht alle?
Der Kriegspriester ignorierte die spitze Bemerkung
„Wir haben nach Euch gesucht, weil wir hofften, dass uns jemand, der mit den canianischen Gepflogenheiten bekannt ist, dabei behilflich sein könnte, an Mephistos Hof zu gelangen. Auf diskrete Weise, versteht sich.“
„Wir brauchen gefälschte Kultistenscheine, um über den Styx zu reisen“, übersetzte Faust nüchtern. „Und Ihr hättet Gelegenheit, Mephisto eins auszuwischen.“
Dezentes Spottgelächter.
Diskret, sagt ihr? Ihr seid so diskret wie eine Gruppe Archonen in der Blutschlucht. Jeder Imp kann erkennen, dass die Seele des Priesters bereits einem anderen Herrn versprochen ist – er stinkt förmlich nach dem Jenseits! Ihr würdet nicht einmal als Kultisten durchgehen, würdet ihr Mephistos Ehrenmal tragen.
„Nicht nur die äußere Gestalt lässt sich durch Magie verschleiern“, bemerkte Faust. „Lasst das unsere Sorge sein.“
Wie habt ihr mich hier gefunden?
Zur Erklärung hielt Winter die Schwertscheide in die Höhe.
Ein sanftes Rascheln, ein kurzer Wortwechsel auf Infernalisch und ein ersticktes Röcheln aus dem ersten Stock. Im nächsten Moment rollte den Gefährten, träge von Stufe zu Stufe platschend, der abgetrennte Kopf eines Höllenschlundteufels vor die Füße. Alles klar, sie hatte verstanden. Nach diesem blutigen Prolog folgte Lady Baalphegors eigener Auftritt: In schwarze, fedrige Tücher gewandet, die ihren makellosen, bronzenen Körper umschmeichelten, rauschte sie die morsche Treppe herab wie in einen Ballsaal, die Schwingen halb geöffnet: wachsam, warnend, auf dem Sprung. Faust spürte, dass die herablassende Belustigung in ihren rubinroten Augen ihre Furcht kaschierte. Irritierender Weise fühlte er sich an seine Mutter erinnert. Es war wohl diese Mischung aus trotzigem Stolz und schlichter Dramatik... Auf der Hälfte der Treppe hielt sie inne.  
„Schön“, sagte sie scheinbar desinteressiert. „Was wäre euer Angebot – angenommen, ich würde das Risiko auf mich nehmen?“
Faust zuckte mit den Schultern.
„Ihr wärt wohl nicht hier, wenn ihr nicht den ein oder anderen Feind am canianischen Hof hättet…“
„Hm.“ Ein bitteres Lächeln umzuckte ihre Mundwinkel. „Eine Laune. Davon hat Mephisto nicht wenige“, sagte sie leichthin. „Eine Eitelkeit. Schließlich ist das kleine Halbblut-Flittchen sein Geschöpf. Trotzdem… Seine Entscheidung mich aus Cania zu verstoßen war ein wenig… extrem.“ Sie schwieg lange und spielte gedankenverloren mit ihren messerspitzen Fingernägeln. Unter dem Schleier ihrer Unberührtheit spürte Faust flammenden Zorn.
„Einmal pro Höllenjahr gibt Mephisto ein Fest für seine sterblichen Anhänger, das einen Seelenzyklus lang wärt“, sprach sie schließlich. „In einem Monat ist es wieder soweit. Er hat eine gewisse Faszination für euresgleichen. Ich kenne das arkane Siegel, mit dem er die Einladungen kennzeichnet, doch er fügt jedes Jahr eine neue Komponente hinzu. Einem einfachen Amnizu-Bürokraten wird der Schwindel nicht auffallen, aber vor den Verwaltern am mephistotelischen Hof solltet ihr euch in Acht nehmen. Ich verlange ein Pfand von 200.000 Gold für meine Bemühungen. Keine Verhandlungen.“ Plötzlich war ihre Stimme von Eisdornen durchsetzt. „Sollte ich in absehbarer Zeit Kunde erhalten, dass der reizende Kopf dieses Halbbluts in den Wassers des Styx vor sich hin rottet, mögt ihr die Garantie zurückfordern.“
Faust pfiff durch die Zähne. 200.000 Gold. Das war selbst für ihre Verhältnisse kein Klacks. Sie würden einige äußerst wertvolle Gegenstände verpfänden müssen, um den Betrag zusammenzukratzen.
„Ich dachte hier unten würden solche Geschäfte mit Pakten geregelt“, meinte er misstrauisch.
Ärger flammte in ihren rubinroten Augen auf. „Ihr vergesst meine Situation“, zischte sie gepresst. „Ich falle aus der Hierarchie und damit auch aus der Jurisdiktion Baators.“
Trotz des horrenden Pfandes gingen die Gefährten auf den Handel ein. Nicht einmal Grimwardt und Miu protestierten gegen den Mordauftrag. Hier unten galten andere Gesetze.
„Wartet“, bat Faust, als die Baatezu sich zurückziehen wollte, um ihren Teil der Vereinbarung zu erfüllen. Er verschränkte die Arme vor der Brust und räusperte sich. „Noch eine Frage… Kennt ihr einen Halbteufel namens Lord Ares, der an Mephistos Hof verkehrt?“
Er spürte die Blicke der anderen und wich ihnen aus. Nachdem er von Omega erfahren hatte, welchem Erzteufel sein Vater seine teuflische Karriere zu verdanken hatte, hatte er seine Nachforschungen auf Cania fokussiert.
Baalphegor musterte ihn mit neu gewecktem Interesse.
„Es gibt nicht viele, die den Schwarzen Phönix unter diesem Namen kennen“, bemerkte sie. Faust musste schlucken. Es bestätigte nur, was er bereits selbst herausgefunden hatte. Aber es aus dem Mund eines Teufels zu hören, machte es auf eine Art real, die ihm Brechreiz verursachte.
„Er ist so etwas wie Mephistos rechte Hand. Ein weiterer Emporkömmling mit sterblicher Blutlinie“, fügte Baalphegor in säuerlichem Tonfall hinzu. „Irgendwann wird diese perverse Leidenschaft Mephisto noch das Genick brechen…“  

Grimwardt

Maladomini, Siebter Höllenkreis, drei Wochen später.
Grimwardt fluchte gedämpft und schüttelte zum dritten Mal an diesem Morgen einen Klumpen verstümmelter Seelen von seinem Paddel, die wimmernd die flehenden Ärmchen nach ihm ausstreckten. Es war nicht immer so schlimm wie heute; vermutlich befanden sie sich in der Nähe der Hauptstadt: Die Seelen wurden verzweifelter, je näher der Styx sie den Seelenseen zutrieb. Ungehalten begann der Priester schneller zu paddeln, was Tyrail, der das zweite Ruder bediente, aus dem Takt brachte. Der Elf versteifte sich und seine Kiefermuskeln knirschten. Seine eisige, wortlose Verachtung war geradezu körperlich - wie Gliederschmerzen oder zu dünne Luft. Grimwardt fragte sich, wer von ihnen zuerst explodieren würde!
„Faust, tausch die Plätze mit Tyrail!“, knurrte er. Immerhin war es Faust, dem sie diese charmante Gesellschaft zu verdanken hatten. Genaugenommen hatte er ihnen überhaupt diesen ganzen Schlamassel erst eingebrockt.
„Ruhig, Mann.“
Stirnrunzelnd blickte der Angesprochene von dem Buch auf, das er aus Rabenklippe mitgenommen hatte: die Chronik der Neun Schwerter. Die Aufzeichnungen reichten bis zu den Tagen der ersten Ordensgeneration zurück. Jede freie Minute verbrachte Faust damit, die Erlebnisse der Gefährten darin festzuhalten. Offenbar so eine Art Therapie, die ihn davon abhielt, irgendwem an die Gurgel zu springen. Nicht einmal den unspektakulären Kampf gegen die Amnizu-Zollwärter des dritten Höllenkreises, die ihre Kultisten-Maskerade durchschaut hatten, hatte er ausgelassen. Und gerade war er dabei, in allen Einzelheiten ihre Begegnung mit zwei listigen Xerfilstyx zu schildern, Flussteufeln, die ihr magisches Faltboot gebannt und den Gefährten eine unfreiwillige Abkühlung beschert hatten. Sie Seelen hatten Miu in die Tiefe gezogen und der Styx hatte ihr für kurze Zeit ihr Gedächtnis geraubt. Schon jetzt nahm Fausts Erzählung so viele Seiten ein wie für ein ganzes Jahrhundert vorgesehen waren. Wenn er so weitermachte, würde er die letzte Seite der Chronik erreichen, ehe sie in Cania ankamen.  
Faust schrieb in der Ordenssprache Shou, doch Grimwardt entschlüsselte die fremden Schriftzeichen mühelos. So mühelos, dass ihm nicht einmal Fausts lausige Grammatik entging. Diese erstaunliche Sprachbegabung war nur eine der Fähigkeiten, die er seinem Tanz mit dem Tod verdankte. Seine Verbindung zu Kriegersruh war so stark, dass er manchmal auf Celestisch träumte. Nein… geträumt hatte. Die Hölle hatte seine Verbindung zu Tempus unterbrochen. Hatte den Teil seiner Seele, den er in Kriegersruh zurückgelassen hatte, den Teil, der eins war mit seinem Gott, von ihm abgeschnitten. Tempus hatte keine Macht in Baator. Die Leere war zermürbend. Wie sollte er sich selbst trauen ohne Tempus‘ Nähe? Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er sich die scheußliche schwarze Kutte vom Leib reißen und das blasphemische Symbol um seinen Hals in den Styx schleudern wollte. Missfiel Tempus die Maskerade? Sollte er offen zeigen, wer er war, ungeachtet der Konsequenzen? Früher hätte er nicht gezaudert. Er hätte die Antwort schlicht und einfach gewusst.
Sei kein Narr. Er wollte, dass du herkommst, um diese Axt zu finden.
Grimwardt schalt sich selbst für seine Reizbarkeit. Der Styx hatte seine Gedanken vergiftet. Schlimm genug, dass Winter und Miu dem Bann des Seelenflusses erlegen waren. Jedes Mal, wenn er seine Schwester ansah – mit den tiefen Schatten im Gesicht und diesem kranken, unnatürlichen Glitzern in den Augen – spürte er einen erstickenden Kloß im Hals. In seinen Träumen klammerte sie sich um Hilfe flehend an sein Paddel und ihr Körper war nur noch ein Klumpen aus Seelenmasse… Grimwardt schauderte. Mius Augen dagegen waren leer, wie ausgelöscht, ihre Bewegungen zombiehaft. Seit sie in den Styx gefallen war, musste man sie immer wieder davon abhalten, sich dem Wehklagen der Seelen hinzugeben und die Arme nach den missgestalteten Kreaturen im Wasser auszustrecken. Grimwardt war sich nicht sicher, ob sie die Verdammten retten oder sich mit ihnen ins Vergessen stürzen wollte…
Plötzlich wurde das Boot von heftigem Schwanken erfasst.
Relosecoon!“
„Was zum…? Tyrail!“
Tyrail hatte sich aufgerichtet und stach wild auf etwas im Wasser ein. Grimwardt hatte Mühe, das Boot im Gleichgewicht zu halten. Dann kam Faust hinzu gestürzt, griff mit beiden Händen zu und zerrte das klitschnasse, wild um sich schlagende Etwas ins Boot. Die Kreatur war etwa so groß wie ein Elf mit spindeldürren Gliedmaßen, einem krötigen Buckel, Schwimmhäuten zwischen Händen und Zehen und bösartig funkelnden Glubschaugen. Ein Xerfilstyx. Verflixte Biester.
„Endlich hab ich dich, Missgeburt“, zischte Tyrail.
„Endlich?“
„Er folgt uns schon seit heute Morgen.“
„Aha.“ Faust verschränkte die Arme. „Danke für die Warnung!“  
„Im Gegensatz zu dir richte ich meinen Blick auch hin und wieder auf das, was vor uns liegt!“
„Hm. Mir schien’s eher so, als ob du mehr mit der Vergangenheit beschäftigt wärst.“
Oh bei den Hallen der Helden.
„Genug!“, schnaubte Grimwardt und drängte sich zu dem Teufel durch. „Wo hast du uns zum ersten Mal aufgelauert?“
„Pfff!“ Er zog eine Grimasse und entblößte dabei ein Fischmaul voller messerscharfer Zähne. „Ich bin euch schon seit Dis auf den Fersen!“
 Grimwardt wechselte einen Blick mit Faust und Tyrail. Zeitgleich sangen ihre Waffen. Lass niemanden am Leben! Die kleine Kröte wusste ganz offenbar zu viel über sie!
„Halt!“, protestierte der Flussteufel. „Es wird euch nicht helfen, wenn ihr mich tötet! Mein Herr weiß ohnehin schon über euch Bescheid! Telepathisches Band.“ Er tippte dreimal gegen seinen Schädel.
Grimwardt hielt inne.
„Wer ist dein Herr?“, fragte er schroff.
„Baalzebul, Fürst des Siebten Höllenkreises, kein Geringerer“, sagte die Kröte mit geschwollener Brust. „Er ist sehr an euch interessiert und will euch treffen. Wenn ihr mich am Leben lasst, kann ich euch zu ihm führen.“
„Und worin besteht sein Interesse?“, fragte Grimwardt mit tödlicher Ruhe.
„Naja… fünf mächtige Sterbliche, die sich mit einem Legionsgeneral anlegen, die Portalstadt aufmischen und nach der verstoßenen Geliebten des Mephistopheles suchen?“
Jebelam, dieses verdammte Miststück!
Der Flussteufel grinste ihm dreist ins Gesicht. „Wäre ich Mephisto, würde ich mir da Sorgen machen. Wäre ich Mephistos Erzfeind, würde ich eine Chance wittern!“
Hm. Da war was dran. Es war kein Geheimnis, dass der Herr der Fliegen nach dem Thron von Cania trachtete. Die Seelenfehde zwischen Baalzebul und Mephisto war legendär. Grimwardt beriet sich kurz mit Faust, doch sie waren sich schnell einig.
„Also dann, Kröte“, knurrte Faust.
„Mein Name ist Iphores!“
„Flores? Hast wohl nicht viele Freunde, hm? Naja. Wenn das eine Falle ist, bist du jedenfalls dran, Blümchen, kapiert!“
Iphores!“
Faust grinste.

Winter
Malagard, Hauptstadt des Siebten Höllenkreises, wenig später.
Sie wankte durch ein Labyrinth verfallener Korridore. Schmutzkrusten bedeckten die einst prachtvoll vertäfelten Wände. Breite Schleimspuren zogen sich über den Boden und streiften Bilderrahmen und Kerzenständer. Maden suhlten sich in den Schleimpfützen und unter den süffigen Teppichen zog kriechend etwas Lebendiges seine Bahnen. Und dann der Gestank – so penetrant und greifbar, dass er alles und jeden in diesem Palast in eine Blase der Schwermut hüllte.
Ein weiterer Albtraum? Sie war sich nicht sicher.
Seelen. Überall Seelen. Wehklagende Totgeburten, die sich wie die Maden vor ihr wanden und sie anflehten, sich an ihnen zu laben. Aber sie konnte nicht. Es waren geerntete Seelen, stumme Seelen, wertlos für ihre Zwecke. Unmöglich diese toten Klumpen in Schattenmagie zu verwandeln. Sie hatten keine Seelenmelodie, keinen Schatten. Dafür klang die Seelenmelodie ihrer Gefährten wie Hohn in ihren Ohren. So schmerzlich verführerisch, dass es sie in den Wahnsinn trieb. Die Visionen, in denen sie Tyrail in eine dunkle Gasse lockte und seinen Schatten trank, waren so real, dass sie manchmal erschrak, wenn sie neben ihm im Boot aufwachte. Der Mistkerl hätte es verdient. Bei den Göttern, wie er es verdient hätte!
Iphores führte sie zu einer breitflügigen Doppeltür, wo ihnen zwei Teufel mit Chitinpanzern und Insektenflügeln die Waffen abnahmen. Durch einen dichten Nebel nahm Winter wahr, wie man ihr die Zauberstäbe abnahm. Dann öffneten sich die Flügeltüren zu einem fensterlosen Raum, spärlich von Kerzenlicht erleuchtet. Der Schleier der Schwermut war hier am stärksten. Der Boden war so schleimig, dass er das Gehen zu einem beschwerlichen und trägen Kraftakt machte. In der Mitte des Raumes harrte Baalzebul, der drittmächtigste Erzteufel Baators. Der Herr der Fliegen. Der Prinz der Lügen.
Eine riesige, fette Schnecke.
An den Wänden standen und hingen Spiegel in allen Formen und Größen. Doch diejenigen, die nicht völlig von Schmutz und Schleim bedeckt waren, zeigten nicht etwa die fette Schnecke mit dem Säuglingsgesicht und den kurzen, speckigen Ärmchen, sondern einen wunderschönen Engel.
Winter blinzelte. Nein, Albträume waren nicht so… erbärmlich.
Sie versuchte sich auf die Worte zu konzentrieren, die von den schwulstigen Lippen der Schnecke tropften wie Honig. Oder Gift. Aber ihre Gedanken glitten immer wieder zu den Spiegeln. Der Engel und das Ungeheuer. Wie lange würde es dauern, bis sie ihre eigenen Spiegel bezaubern musste, um nicht ihre verkrüppelte Seele darin gespiegelt zu sehen.
Scheiße, ich brauche wirklich einen Schatten.
 Irgendwie waren die Worte, die der Herr der Lügen ihnen mit seiner Eunuchenstimme ins Ohr säuselte, wohl wichtig für ihre Mission. Doch die Bilder von dunklen Gassen und süßen, süßen Seelen schmuggelten sich immer wieder in seinen Redefluss. „…Spione in Mephistar… ungeheuerliche Vermutungen… Mephistos Betrug an seinem Herrn und Gott… Sturzversuch… Zauber, mit dem er Asmodeus seiner Göttlichkeit berauben will, um die Herrschaft über die Neun Höllen an sich zu reißen… Brauchen Beweise… Bringt mir Beweise!... Asmodeus‘ Belohnung… Mephistos Untergang… Cania wird mein sein… Wenn ich erst Herr von Cania bin, sollt ihr die Seele haben, die ihr begehrt!... Ich verspreche euch Omegas SEELE!“
Ein verzweifeltes Glucksen stolperte über Winters Lippen. Wenn sie Omegas Seele tatsächlich befreien sollten, wäre das erste, was sie täte, sie mit Haut und Haar zu verspeisen! Niemand würde sie davon abhalten können.
Reiß dich zusammen. Denk nach.
Irgendwo in diesem verflixten Reich musste es Seelen geben. Echte Seelen. Unbefleckte Seelen. Kerker! Natürlich! Fürchtete nicht jedes Kind auf Faerûn die Kerker der Hölle? Die Stätten des Bösen? Wo die Teufel immer neue Foltermethoden ersannen, um jene Sterbliche zu bezwingen, die sich dem Bösen nicht fügen wollten? Beinahe hätte sie vor Aufregung aufgequiekt. Jetzt musste sie nur noch an so eine Kerkerseele herankommen. Während die anderen mit Baalzebul verhandelten, löste Winter unauffällig ihre Komponententasche vom Gürtel und schob sie mit dem Fuß hinter einen der Spiegel.
„Winter?“
Erschrocken fuhr sie zusammen. Grimwardt. Hatte er etwas bemerkt?
Stirnrunzelnd hielt er ihr eine Schreibfeder und einen Dolch hin und wies auf die Schriftrolle, die  sich vor ihr in der Luft entrollte.
„Unterschreibst du nun, oder was?“
Erleichtert nahm sie die Feder und den Dolch entgegen. Ein Höllenpakt. Verdammt, wieso hatte sie nicht mitbekommen, dass die Verhandlungen schon so weit voran geschritten waren? Eilig überflog sie das Schriftstück: „Die sterblichen Paktierenden verpflichten sich… bla bla bla… bei Sicherstellung von Beweisen und Indizien dafür, dass Mephistopheles, Herr des Achten Höllenkreises, den Sturz seines Herrn Asmodeus plant, diese unverzüglich und ohne Einweihung Dritter Baalzebul, Herrn des Siebten Höllenkreises, zu übermitteln. Letzterer verpflichtet sich seinerseits genannte Beweise zur Überprüfung an Asmodeus weiterzuleiten. Sollte sich durch diese Bemühungen eine Umverteilung der Machtverhältnisse Baators ergeben und Baalzebul zum Herrn des Achten Höllenkreises ernannt werden, so verpflichtet er sich die Seele Omegas, verstorbene Anführerin der Neun Schwerter, aus ihrem Pakt zu entlassen und bis auf Weiteres auf alle Ansprüche Canias auf diese Seele zu verzichten.“
Grimwardt und Faust hatten den Wisch bereits unterzeichnet. Wenn sie das Ding abgesegnet hatten, musste die Sache ja wohl wasserdicht sein, oder? Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, schnitt sich Winter mit dem Dolch in die Handfläche und unterzeichnete den Pakt mit ihrem Blut, wie es Brauch war.
 Ungeduldig wartete sie darauf, dass sie sich verabschiedeten. Als sie sich auf dem Rückweg durch den Palast befanden, blieb sie abrupt stehen und tastete mit gespieltem Schrecken ihren Gürtel ab.
„Oh, verdammt! Ich habe meinen Komponentenbeutel da drin vergessen!“
Grimwardt musterte sie mit skeptischem Blick.
„Du hast noch nie was vergessen“, brummte er.
„Es gibt für alles ein erstes Mal!“, spielte sie die Eingeschnappte und eilte den Gang zurück zu Baalzebuls Spiegelsaal, bevor irgendwer anbieten konnte, sie zu begleiten.
„Ich brauche eine Seele!“ Sie verabscheute sich selbst für das Flehen und die Verzweiflung in ihrer Stimme, aber sie war zu erschöpft, um ausgerechnet dem Herrn der Lügen etwas vorzugaukeln.
Baalzebul kroch aus dem dunklen Winkel, in den er sich zurückgezogen hatte, musterte sie aus winzigen Augen und schlug wehmütig die speckigen Hände zusammen. Sein tiefes Seufzen klang mitleidig und verursachte ihr Übelkeit.
„Ihr… Ihr habt gewiss Seelen, für die Ihr keine Verwendung habt… Sterbliche, die… Eure Gastfreundschaft nicht zu schätzen wissen. Ich bin nicht wählerisch. Und meine Gesundheit käme schließlich auch Euch zugute!“
„Ich verstehe deine Seelenqual, hübsches Kind“, flötete die fette Schnecke. „Aber du weißt gewiss, dass hier in Baator alles seinen Preis hat.  Auge um Auge. Seele um…“
„Meine Seele kann ich euch nicht geben."
Ein träges Lächeln suhlte sich auf seinem Gesicht.
„Ich fürchte, da hast du recht.  Deine Seele gehört dir nur noch zu Teilen, hm? Und wenn unser Plan Erfolg hat, gehen diese Anteile ohnehin an mich über.“  Seufzend betrachtete er sein falsches Spiegelbild und Winter war sich nicht ganz sicher zu wem von ihnen er sprach. „Aber du hast Glück, hübsches Kind. Es gibt etwas, das ich beinahe noch mehr schätze als Seelen – und das ist Wissen… Iphores ist ein guter Junge. Er hat mir vieles berichten können über euer illustres Grüppchen. Doch ich glaube, da ist vieles, worüber ihr auf eurer Reise nicht gesprochen habt und was kein Zauber aufzudecken vermag. So viele mysteriöse Verbindungen, so viele Geheimnisse.“ Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Eine Seele für eine Geschichte, ich denke, das ist ein fairer Preis.“
Einen Moment lang war Winter versucht, in den Handel einzuschlagen. Doch plötzlich durchschaute sie sein Spiel. Nicht weil er sich durch irgendeine Geste, irgendein falsches Wort, verraten hätte, sondern weil er… Sie hasste, es zuzugeben, aber er war ihr selbst nicht unähnlich. Baalzebul war verflucht. Aus irgendeinem Grund konnte er nicht auf magische Weise verbergen, was er war: Die Hässlichkeit seiner Seele stand ihm wortwörtlich ins Gesicht geschrieben. Aber er hatte Einfluss darauf, welchen Aspekt seiner Seele er seinem Gegenüber zeigte. Und er hatte sich für den erbärmlichen, den schwermütigen, den ungefährlichen Aspekt entschieden… Wer konnte schon sagen, für welche kranken Rituale er diese Informationen brauchte. Hier ging es nicht nur um sie, sondern um ihre Freunde.
„Nein“, flüsterte Winter. „Das kann ich nicht tun.“
Für eine Weile ließ er seinen melancholischen Blick auf ihr ruhen, ehe er bedauernd die Hände rang.  
„Das ist schade, wirklich schade.“ Dann plötzlich, für den Bruchteil einer Sekunde, trat ein anderer Ausdruck in seine Augen: schlau und berechnend und durch und durch böse, als er sagte: „Gute Reise, hübsches Kind.“
Als Winter kurz darauf wankend den Raum verließ, war sie nicht mehr so sicher, was Wirklichkeit und was Spiegelbild war…
« Letzte Änderung: 26. Januar 2012, 08:27:09 von Niobe »

Nappo

  • Mitglied
Stadt der gläsernen Gesänge
« Antwort #254 am: 26. Januar 2012, 07:34:54 »
 :thumbup:

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