Im Grunde war es ein friedlicher Morgen. Die Vögel sangen ihr Morgenlied in den Bäumen um den Lagerplatz der Schaustellergruppe "Silbersterne". In der Mitte der großen Lichtung, an deren Rand die Gruppe lagerte, befand sich Zelbross, ein kleines Dörflein am Wegesrand, bekannt vor allem für seine Tonpfeifen bei Rauchern in ganz Faerun. Kaum groß genug für einen wirklichen Auftritt, aber Phenton liess die Gruppe dennoch zu einem Auftritt ihre Zelte aufbauen, vermutlich, weil er die Pfeifen zu schätzen wusste, von denen er eine kleine Sammlung besaß.
Die friedliche Morgenstimmung endete kurz nach dem Sonnenaufgang, als eine schiefe, quälende Stimme durch das Lager hallte. In einer fremden Stimme sang jene Stimme ein Lied, und obwohl man die Grundmelodie gerade so erkennen konnte, war das Endergebnisse doch grauenhaft schräg und nasal weinerlich zugleich.
In einem kleinen Wagen am Rande der Schaustellertruppe, und traurigerweise genau in Nachbarschaft zu dem Amateursänger, presste Mystral sich leise ächzend das Kissen auf den Kopf und die Ohren. Die junge Mephling verfluchte innerlich ihre geschulten Ohren, mit denen sie jeden einzelnen falschen Ton exakt identifizieren konnte, und es waren viel zu viele. Auf der anderen Seite der großen Schlafplattform, welche in die Zwischendecke des Wagens gezogen war, hörte sie Hassid dasselbe tun, und lächelte kurz mitleidig. Es war jetzt zwei Jahre her, seit sie bei dem Wanderzirkus war, und auch wenn sie sich an Hassids gelegentliches Schnarchen gewöhnt hatte, an diesen Gesang würde sie sich nie gewöhnen. Für einige Zeit war sie mit Hassid zusammen gewesen, aber irgendwann hatten die beiden sich im einvernehmen getrennt. In die Schlafplattform haben sie eine hölzerne Trennwand eingezogen, aus Gründen der Privatsphäre und des Lärmschutzes, und zumindest Karawanenoffiziell waren sie nichts weiter als gute Freunde, was auch größtenteils stimmte.
"Ich wünschte, er würde endlich singen lernen.." ächzte Hassid, als der Morgengesang des Deva, der stur darauf bestand, er würde so die Götter ehren, aufhörte.
"Ich wünschte, er würde ein wohlklingenderes Instrument bevorzugen... Dudelsäcke zum Beispiel." erwiderte Mystral, als sie das Kissen von ihrem Haupt zog, und nach einem Moment lachten sie und Hassid herzlich auf. Das wäre wohl wirklich eine Verbesserung.
Kurze Zeit später, nach einem ausgiebigen Frühstück und ein paar Morgenübungen mit ihrem Speer, um nicht einzurosten, fand sich Mystral auf dem Kutschbock des Wagens wieder, vor ihr die Wagen mit den Tieren, hinter ihr der Wagen mit den Akrobaten. Die Silbersterne waren ein recht großer Wanderzirkus, vielleicht nicht der größte Faeruns, aber doch zumindest einer der letzten. Nach den dramatischen Geschehnissen der letzten Jahrzehnte war es immer gefährlicher geworden, in den westlichen Herzlanden umher zu reisen, und so hatten sie einige Karawanenwächter angeheuert. Auch sie selbst verstand es, sich zu verteidigen, wenn sie musste. Woher sie jedoch ihre etwas seltsam anmutende Speerkampftechnik kannte, verriet sie ebenso wenig, wie sie gewillt war, ihre Herkunft auszuplaudern.
Einer dieser Karawanenwächter, und wohl der ungewöhnlichste unter ihnen, war Ai, ein Deva. Er war, so wie sie es verstand, ein Wesen, das immer wieder geboren wurde, wenn es starb. Seine Haut war blau, mit gräulichen Streifen, wo ihre weiß war, Haare hatte er keine, wo ihr Haupt mit langen, blauen Strähnen bedeckt war, die ihr etwas ins Gesicht hängen, um das paar Hörner an ihrer Stirn zu verdecken. Das ungewöhnlichste an ihr waren die weißen, halb durchsichtigen Membralflügel, die auf Schulterhöhe aus ihrem Rücken sproßen und es ihr erlaubten, zu fliegen. Man konnte nicht wirklich sagen, dass Ai humorlos war, oder langweilig, oder verschlossen. Aber irgendwie passten diese Worte auf ihn doch garnicht so schlecht.
"Mir geht es gut." Waren die einzigen Worte, die er auf Mystrals Frage, wie er sich heute morgen fühlen würde, nachdem er solch einen Katzenjammer veranstaltet hatte, sprach. "Danke." War das einzige Wort, was er zu ihr sprach, als sie für die Karawanenwächter ein Lied spielte, das ihren Schritt beschwingte. "Gewiss." meinte er nur, als sie ihm sagte, dass er durchaus etwas ausführlicher antworten könnte. Immer sprach er in sanfter, säuselnder Stimme, die man fast für die einer Frau halten konnte, und lächelte hin und wieder andeutungsweise und milde auf. Nun, irgendwann würde sie ihn auch verstehen. Viel weniger seltsam als die Menschen oder Zwerge oder Elfen oder Halblinge war er ja eigentlich auch nicht, nur anders. Und immerhin genauso verschlossen um seine Vergangenheit wie Mystral selbst. Und sie wusste ein gutes Geheimnis oder zwei zu schätzen.
Versunken in diese Gedanken, fiel sie fast vom Kutschbock, als Hassid mit der Peitsche schnickte und sich das gefährt in Bewegung setzte. Nun, ein viel zu schöner Tag, um zu grübeln. Ausserdem musste sie diese Geistergeschichte, die sie von einem Wanderer gehört hatte, noch in Versform verpacken. Ein Geist, der an einem ehemaligen Tempel am Rande ihres Weges gesehen wurde... Nun, vielleicht würde sich ja irgendwer für das interessieren, wo sie hinfuhren.