Ein Gnom in der Zange
„Tötet es!“, schrie Keygan Ghelve wieder. Dirim seufzte. Der Zwerg war mit dem Schlossmacher in sein Schlafzimmer gegangen, um ihn außer Sicht des ohnmächtigen Wesens zu bringen, aber dennoch hatte sich Ghelve nicht beruhigt.
„Wir werden es nicht töten. Es kann uns vielleicht Informationen geben.“
„Ich sage nichts, bis es nicht tot ist.“ Der Gnom kniff die Lippen zusammen. Dirim seufzte erneut. Das konnte ja heiter werden.
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„Was machen wir denn mit ihm?“, fragte Boras. Er sah auf das gefesselte Wesen hinunter. Es hatte seltsam gepolsterte Handflächen und Fußsohlen, was ihm anscheinend lautlose Fortbewegung ermöglichte.
„Bringt es zum Helmtempel“, riet Helion. „Jenya kann es sicher einsperren, damit es seine Brüder nicht warnt.“ Der Magier zweifelte nicht daran, dass es noch mehr von diesen ‚Schleichern’ gab. „Ihr bringt es rüber, und ich bleibe bei Dirim. Außerdem möchte ich mir dieses Hinterzimmer genauer ansehen.“
Also schulterte Boras das Wesen und folgte Anna zur Türe hinaus. Helion ließ Dirim und Keygan in Ruhe; stattdessen nahm er die Treppe noch einmal unter die Lupe. Tatsächlich wurde er fündig: Unter der Treppe gab es eine Geheimtür, die jedoch verschlossen schien. Helion fasste vorsichtshalber nichts an, und sah erwartungsfroh in den ersten Stock hinauf. Was Dirim wohl herausgefunden hatte?
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Keygan Ghelve erwies sich als sturer Zuhörer. Dirim bedrohte ihn, bat ihn, täuschte ihn – ohne Erfolg. Dann hatte er eine Idee.
„Na gut“, sagte er mit verzweifelnder Geste, „dann sagst du halt nichts. Nur um die Kinder tut es mir leid.“ Keygan schloss für einen Moment die Augen; ein Zeichen, dass Dirim auf dem richtigen Weg war. „Diese armen Waisen, schutzlos ausgeliefert, vielleicht sogar gefoltert. Und du könntest es verhindern... oder schuld sein.“
„Genug!“, schluchzte Keygan. „Ich erzähle euch, was ihr wissen müsst.“
„Warte noch“, sagte Dirim. „Ich hole Helion dazu.“
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Mehr als einmal hatte sich Anna gewünscht, eine Decke über das Wesen geworfen zu haben. Die Leute blieben stehen und starrten auf Boras und seine seltsame Last, aber niemand sagte ein Wort. Zum Glück begegneten sie keinem Wachtrupp.
Endlich hatten sich die Eichentüren hinter ihnen geschlossen, und einer der Akolyten hatte sofort Jenya verständigt. Anna stellte ihr Boras vor, dann zeigten sie ihr das Wesen und erklärten, was es damit auf sich hatte.
„Es hat mit den Entführungen zu tun?“, fragte Jenya. „Dann seid ihr hier richtig. Wir werden es in den Kerker werfen und später hinrichten.“
Anna war geschockt über die Härte in der Stimme der Frau. „Aber... es könnte etwas wissen, das uns weiter hilft.“
„Keine Sorge.“ Jenya lächelte grimmig. „Wir bringen es zum Reden.“
Anna und Boras warfen sich hilflose Blicke zu. Jetzt war es zu spät, das Wesen woanders hinzubringen.
„Können wir denn das Seil wiederhaben?“, fragte Anna schließlich.
„Kein Problem. Wir werden es in Ketten legen.“
„Na, dann...“ Die beiden wandten sich zum Gehen, doch Jenya hielt sie noch einen Moment auf, während zwei andere Priester das Wesen an Händen und Füßen ketteten. Jenya hatte zwar noch niemanden gefunden, der die Schätze gekannt hatte, aber sie versprach den Nachkommen, sich für eine Audienz beim Stadtherren einzusetzen, sollten sie erfolgreich sein. Außerdem wollte sie die Weissagungskraft des ‚Stern der Gerechtigkeit’ nutzen, um nach den verschollenen Abenteurern zu fragen. Schließlich händigte sie Anna noch eine Liste mit den bisherigen Entführungsopfern aus.
„Viel Glück“, rief sie den beiden noch hinterher.
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„Also, Keygan sagt, diese Wesen kämen in zwei Sorten: Groß und Klein. Die Großen haben wir schon kennen gelernt, die Kleinen gleichen Halblingen mit Teufelsfüßen.“ Helion brachte Anna und Boras auf den neuesten Stand, während sich Dirim um den immer noch weinenden Gnom kümmerte.
„In unregelmäßigen Abständen kommen sie durch die Geheimtür - Keygan hat sich dann immer in seinem Schlafzimmer eingeschlossen – und kehren mit einem Entführungsopfer zurück.“
„Warum hat er ihnen geholfen?“, fragte Anna.
„Diese Wesen haben seinen Vertrauten, die Ratte Fenris entführt. Um ihn nicht zu gefährden, hat er ihnen sogar einen Satz Dietriche gegeben, die seine Schlösser öffnen. So sind sie auch in das Waisenhaus gelangt. Diese Wesen haben einen Anführer, aber Keygan hat ihn noch nie gesehen.“
„Also gut“, sagte Anna, „und was ist die schlechte Nachricht?“
Helion lächelte. „Die schlechte Nachricht ist, dass diese Geheimtüre in die verlassene Gnomenstadt Jzadirune führt. Sie wurde verlassen, weil vor etwa 75 Jahren eine Krankheit unter den Gnomen wütete, die sie allesamt verschwinden ließ. Niemand weiß, ob diese Krankheit ausgerottet wurde.“
„75 Jahre ist eine lange Zeit“, sagte Boras.
„Das stimmt. Aber wir haben noch mehr. Keygan hatte eine alte Karte von der Stadt. Er hat sie allerdings an den Kartenmarkt verkauft.“ Helions Lächeln wurde breiter. „Wir werden uns diese Karte holen.“
„Und was geschieht mit dem Gnom?“ Auf Boras’ Frage wandten sich alle zu Dirim um. Dem Tyrpriester oblag die Entscheidung. Dirim sah zu seinen Freunden, dann wieder zu Keygan hinab.
„Er ist ein Opfer. Wir werden ihn nicht zur Rechenschaft ziehen.“ Eine Welle der Erleichterung lief durch die Gruppe. Dann machten sich Dirim und Anna auf zum Kartenmarkt, während Boras die Geheimtüre bewachen sollte. Helion wollte sich im Arbeitszimmer des Gnoms umsehen, um vielleicht ein paar Utensilien für die Schriftrollenerstellung zu finden.
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Obwohl der Kartenmarkt direkt an der Stadtmauer lag, sah das schmale Gebäude so aus, als würde es jeden Augenblick umfallen, habe sich nur noch nicht entschieden, in welche Richtung. Jedes seiner drei Stockwerke bog sich in eine andere Richtung, und bei starkem Wind zitterten die losen Steine im Mauerwerk.
Das Innere des Hauses war völlig mit Büchern zugestellt. Bücher stapelten sich überall, auf Stühlen, Tischen, auf dem Boden. Bücher und Schriftrollen. Hinter einem Bücherstapel wand sich eine schmale Treppe in den nächsten Stock. Auf einem gemütlichen Sessel saß eine Halblingsfrau, die Füße auf einem Bücherstapel, eine Tasse Tee auf einem weiteren. Sie blickte von ihrem Buch auf, als Anna und Dirim eintraten, und schob eine Brille von ihrer Stirn auf ihre Nase.
„Wir suchen eine Karte“, sagte Anna. Die Halblingsfrau lächelte und breitete ihre Arme aus, um auf die überall verteilten Schriftrollen zu weisen.
„Es ist eine Karte, die ihr vor etwa zehn Jahren von Keygan Ghelve gekauft habt“, versuchte Dirim, ihr auf die Sprünge zu helfen.
„Hm?“ Die Frau überlegte. „Hm.“
Mit schlurfenden Schritten stieg sie die Treppe in den zweiten Stock hinauf, und ließ Anna und Dirim im Erdgeschoss zurück. Die beiden warteten ein paar Augenblicke, dann wanderte Anna herum, und Dirim begann, ein nahe liegendes Buch zu öffnen. ‚Die Paarungsrituale von Regenbogenfaltern der Dampfsee-Region.’ Er begann zu lesen.
Etwas später kam die Besitzerin wieder herunter, einen verstaubten Schriftrollenbehälter in der Hand. Anna streunte immer noch ziellos herum, während Dirim mühsam gegen die Wellen der Müdigkeit kämpfte, die über ihn hinweg rollten.
„Hier“, sagte die Frau, und hielt den beiden den Behälter hin. Anna nahm ihn und entrollte die Karte darin. Dirim sah ihr über die Schulter.
„Das ist die richtige Karte“, sagte er. „Wie viel?“
Man einigte sich auf drei Königinnen.
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Helion war ebenfalls fündig geworden. Er hatte Materialien für ein oder zwei Schriftrollen gefunden. Dementsprechend vertrat er die Ansicht, dass man lieber erst am nächsten Tag, wenn alle ausgeruht wären, in die Gnomenstadt ziehen sollte. Schließlich stimmten die anderen zu, und Helion zog sich in das Arbeitszimmer zurück. Die Nacht verlief ereignislos, und am nächsten Morgen wartete Boras ungeduldig, bis die anderen ihre Meditationen beendet hatten.
Helion klappte sein Zauberbuch zu. Er nahm den Schlüssel hervor, den Keygan ihm gegeben hatte. Dirim öffnete die Augen und zog seine blau-weiße Kriegsrobe an. Anna wickelte langsam und bedächtig ihre Peitsche auf und hängte sie an ihre Hüfte. Boras nahm seine Axt in beide Hände und betrachtete sein Spiegelbild auf der polierten Klinge. Der Barbar lächelte.
„Wollen wir?“