Jzadirune – Dark Creeper, Dark Stalker, Fallen und Grell
„Ich schätze, das hier war eine Versammlungshalle“, sagte Helion, als er den großen Saal betrachtete, in dem sie standen. Umgestürzte, lange Tische, Kronleuchter an der Decke, und hinter einem Durchgang hörte man Vogelzwitschern und sah Licht in die dunkle Halle fallen.
„Wohl eher ein Speisesaal“, meinte Dirim. „Schaun wir mal, ob wir die Küche finden.“ Er näherte sich einer Türe und schloss sie auf. „Bingo.“
Der Raum dahinter schien tatsächlich die Küche zu sein. Große Öfen standen in den Seiten, und in der Mitte das Raums erhoben sich staubige Arbeitstische. Dahinter konnte man zwei halblingsgroße Wesen sehen, die mit bleicher Haut, großer Nase und Hufen anstelle von Füßen aufwarten konnten. Die beiden schienen überrascht, dass sich die Türe öffnete.
Sogleich sprang Boras vor und auf den Arbeitstisch. Er schwang seine Axt, und der Kopf eines dieser Wesen löste sich von seinem Rumpf. Währenddessen umstellten Anna und Dirim den anderen. Das Geschöpf kreischte laut, dann schien seine Haut mit Schatten zu verschmelzen. Dirim schlug nach ihm, verfehlte ihn aber, ebenso Boras. Annas Peitsche traf nur Luft.
Boras warf sich vom Tisch auf die Kreatur, die im letzten Moment eine Finte machte, doch der Barbar war schon über ihr. Seine starken Muskeln schlangen sich um den kleinen Körper. Da spürte Boras plötzlich kalten Stahl an seiner Brust. Das Wesen bohrte seinen Dolch in den Körper des Barbaren. Anna schrie auf, als sie die Blutlache sah, die sich unter dem ringenden Paar ausbreitete. Sie ließ ihre Peitsche fallen und stach mit ihrem Rapier zu. Zur Antwort spuckte das Wesen Blut in das Gesicht des Barbaren.
„Arcanex!“ Zwei leuchtende Kugeln bohrten sich in das Wesen, und erst jetzt erschlaffte es. Dirim war sogleich zur Stelle, um Boras dank Tyrs Gnade wieder herzustellen.
„Das sind dann wohl die „Kleinen“, von denen Keygan gesprochen hat“, sagte Helion.
„Sollen wir es töten?“, fragte Dirim sich laut.
„Warum verfüttern wir es nicht?“, gab Helion zurück.
Dirim wehrte ab. „Der Schleicher war böse.“
„Ach ja? Sind alle Zwerge Diebe?“
„Natürlich nicht.“
„Aber alle Schleicher sind böse, ja?“
„So habe ich das...“
„Doch. Hast du.“ Helions Stimme war hart. Anna und Boras sahen still zu, wie die beiden stritten.
„Alle Hinweise deuten darauf hin, dass diese Wesen hier mit den Entführungen zu tun haben. Wir können sie nicht alle in den Helmtempel bringen – und dort würden sie auch gerichtet – und wir können sie nicht hier lassen, damit sie uns nicht in den Rücken fallen.“
„Ich weiß“, sagte Helion jetzt etwas sanfter, „und wir tun, was getan werden muss. Aber der Schleicher gestern – er lebte noch. Und du hast ihn verfüttert! Das musste nicht sein.“
Dirim schwieg.
„Na komm“, sagte Helion schließlich, „sehen wir mal nach, wo das Vogelgezwitscher herkommt.“
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Das Geräusch kam aus einem künstlich angelegten Waldstück. Mehrere große Bäume ragten in den Himmel, Büsche und Sträucher wuchsen in hohem Gras, Schmetterlinge flatterten umher, und Sonnenstrahlen bohrten sich wie feurige Lanzen durch das lose Blattwerk. Unwillkürlich atmeten die Vier auf, und Boras kletterte sogar einen Baum hinauf.
„Das ist sowieso nicht echt“, sagte Anna. Dann verblasste die Umgebung, und sie erkannte, dass der Raum vollständig leer war. Vier große Säulen standen dort, wo vorher Bäume waren, und Boras klammerte sich an eine dieser Säulen. Anna lachte.
Helion schüttelte sanft mit dem Kopf. „Man muss nicht alle Tricks durchschauen.“ Dann strich er mit den Händen über das Gras, sodass es seine Handflächen kitzelte. „Nicht alle.“
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Kurz darauf gelangten die Vier zu einem weiteren Raum, der auf den ersten Blick völlig leer schien. Als Dirim jedoch zu einer Tunnelöffnung in der Wand gehen wollte, tauchte wie aus dem Nichts plötzlich eine der Grabmaschinen auf, die sie schon zuvor gesehen hatte. Diese Maschine wollte anscheinden ein Loch in den Zwerg buddeln, denn seine Bohrarme stießen nach Dirim, der gleich vom ersten Schlag eine Schramme davon trug.
„Myglym!“, rief Helion, in der Hoffnung, dass diese Geräte den selben Befehlen gehorchten. Die Maschine erstarb.
Anna sah ihren Bruder bewundernd an. „Gute Idee!“
„Danke – he! Wo ist denn Dirim?“ Der Zwerg war plötzlich verschwunden.
„Was meint ihr, wo ich bin? Hier natürlich!“, gab der Zwerg zurück, immer noch unsichhtbar. Anscheinend gab es in diesem Raum unbewegliche Felder, die jedes Lebewesen unsichtbar machten. Mit ein wenig Mehl aus der Küche fand man schnell heraus, dass aber keine Gefahr mehr auf sie lauerte.
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Der nächste Raum war chaotisch, als habe dort ein Kampf getobt. Tische waren an die Seite gerückt, und Scherben bedeckten den Boden, ein leises Vorankommen unmöglich machend. Dirim und Boras hatten den Raum schon halb durchquert, als Helion etwas Kaltes an seinem Hals spürte. Ein Wesen, ähnlich den „kleinen Schleichern“, aber so groß wie der Magier, war aus den Schatten getreten und hatte sein Kurzschwert an dessen Kehle gehalten. Helion musste schlucken.
„Ganz ruhig“, sagte Dirim vorsichtig. Dann zog Anna ihre Peitsche und schlug nach der Waffe des Wesens.
„Lass meinen Bruder in Ruhe!“ Die Peitsche wickelte sich um seinen Arm, aber Anna konnte ihm die Waffe nicht entreißen. Dann waren Dirim und Boras da und schlugen das Geschöpf nieder. Helion rieb sich den Hals.
„Danke. Obwohl es anscheinend verhandeln wollte.“
„Wenigstens bist du gesund“, gab Anna zurück.
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Kurz darauf hatte man die Gnomenstadt so weit durchsucht, wie man konnte. Die Vier waren noch auf eine stinkende Latrine gestoßen, die laut Anna eindeutig für Männer gewesen war, auf eine eiserne Doppeltüre, die anscheinend in den Ratssaal führte, aber verschlossen war, und auf eine leere Schmiede. Genau dort bat Dirim jetzt Anna, noch einmal ihren magischen Stab einzusetzen. Tatsächlich befand sich in einer Wand eine Geheimtüre.
„Zwergennase“, meinte Dirim und rieb sich dieselbe.
Der Gang hinter der Türe zweigte nach oben ab. Dirim und Boras marschierten Seite an Seite voraus, als plötzlich der Boden leicht nachgab und aus den Wänden Speere schossen. Beide kamen mit Schrammen davon.
Man stellte einen Amboss auf die Druckplatte, aber die Speere schossen weiter und weiter aus den Wänden, ohne die Falle zu beeinträchtigen.
Mutig sprang Anna vor, stütze sich auf dem Amboss ab und wirbelte durch die Speere in den Raum dahinter, wo sie mit ein paar leichten Kratzern ankam. Eine gute Weile später tänzelte sie erneut an den Speeren vorbei, um den anderen keuchend mitzuteilen, dass der Raum dahinter leer sei.
„Eine Sackgasse“, sagte sie enttäuscht.
Aber der Geheimgang führte auch in einen weiteren Raum, hinter dessen Türe sich die zentrale Halle erstreckte, wenn man der Karte glauben konnte. Die Halle, deren Zugänge von Barrikaden verstellt worden war. Deren Doppeltüren verschlossen waren.
„Aber diesmal“, sagte Dirim triumphierend, „haben wir den Schlüssel!“
Die Gefährten machten sich kampfbereit. Dirim öffnete die Tür.
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Die Große Halle war ein riesiger Saal. Die Decke erstreckte sich auf eine Höhe von fast fünfzehn Meter, wobei in fünf Metern Höhe zwei Balkone erbaut worden waren, durch Wendeltreppen erreichbar. Ein großes Zahnrad hing an einer schweren Kette von der Decke. Aus der offenen Mitte dieses Zahnrads strahlte gleißendes Licht, das die Halle erhellte und gleichzeitig tiefe Schatten warf.
Die Gefährten traten vorsichtig ein, denn hinter dem dumpfen Hämmern, das durch die Halle klang – wieder eine Illusion – hatte Anna seltsam glitschige Geräusche gehört. Dann sah Boras entsetzt nach oben.
Ein langer Tentakel schlang sich um den Barbaren. Boras erzitterte, dann versteiften sich seine Glieder. Unfähig zu reagieren, wurde er von dem Tentakel emporgehoben.
Weitere Tentakel griffen nach Anna, die ebenso ergriffen wurde. Dann schlangen sie sich um Helion, und auch der erstarrte. Schließlich schossen sie auf Dirim zu, fanden aber keinen Halt an seiner Rüstung. Erst jetzt fand Dirim Gelegenheit, sich umzusehen.
Über dem Balkon war ein schwebendes Geschöpf aufgetaucht, dessen Körper einen großen Hirn glich. Ein großer Schnabel wuchs aus seiner Front, und unzählige Tentakel wimmelten um seinen Körper. In dreien dieser Tentakel hielt das Wesen die starren Körper seiner Freunde.
„Komm nur!“, rief Dirim und stach mit seinem Schwert zu, ohne etwas auszurichten. Hungrige Augen fixierten den Zwerg, und wieder schoss eine Vielzahl von Tentakeln vor, die Dirim jedoch abwehrte – alle bis auf eines. Er spürte einen Stromschlag durch seinen Körper gehen, doch mit dem Bild seiner gelähmten Freunde vor Augen schaffte er es, sich aus dem Griff des Tentakels herauszuwinden. Dann schlug er wieder zu.
Das Geschöpf ließ Helion und Anna los, und dann machte es sich mit Boras davon, auf den Balkon hinauf.
Dirim rannte zu Helion und übergoss ihn mit einem Trank, der seine Lähmung aufhob, als auch Anna wieder aus der Starre erwachte.
„Den holen wir uns“, sagte Dirim.
Die drei Gefährten rannten die Wendeltreppe hinauf. In einiger Entfernung von ihnen schwebte das Monster, mehrere Tentakel um Boras geschlungen. Sie waren gerade oben angekommen, als der Schnabel zustieß und dem Barbaren das Genick brach.
„Nein!“, schrie Dirim. „Stirb!“
Der Zwerg rannte auf das Wesen zu, tauchte unter einem Tentakel durch, und rammte sein Schwert tief in den Bauch des Wesens. Schwarzer Gallert sickerte aus der Wunde hervor, und vor Schmerz ließ es die Leiche des Barbaren fallen. Helion ließ zwei silberne Kugeln in den Körper des Ungeheuers krachen. Zum ersten Mal schrie es jetzt, ein lauter Schrei des Zorns.
„Anna!“, rief Helion, „Schieß!“
„Gleich“, sagte Anna. Sie hielt ihre Armbrust fest an die Schulter gepresst, aber der Zwerg verbaute ihr den Weg. „Gleich.“
Wütend schlug das Ungeheur mit seinen Tentakeln nach Dirim, aber der Zwerg war zu nahe heran gekommen und hatte nun keine Schwierigkeiten, die Schläge abzublocken. Anna lächelte grimmig, als sie das sah. Dann schlugen Tentakel nach ihr, und sie konnte sich gerade noch zur Seite werfen. Mit einer Rolle kam sie wieder hoch, die Armbrust im Anschlag. Aber immer noch war Dirim im Weg.
„Anna!“, rief Helion wieder.
„Gleich, verdammt!“, rief sie zurück. Fluchend holte der Magier seine eigene Armbrust hervor und begann, sie zu laden.
Dirm drehte sein Schwert noch einmal in der Wunde herum, und das Kreischen des Monsters klang nun mehr nach Schmerz denn Wut.
„Gefällt dir das? Willst du noch mehr?“ Der Zwerg lachte, während Gallert über seine Hände floss. „Kannst du haben!“
Aber das Wesen hatte offensichtlich genug. Mit einem letzten Hieb nach Dirim stieß es den Zwerg fort und schwebte taumelnd zum anderen Balkon hinüber.
„Jetzt.“
Der Bolzen verließ Annas Armbrust mit einem lauten Knall und bohrte sich mit einem nassen Klatschen in das Auge der Kreatur. Als habe man die Luft aus einem Ballon gelassen, stürzte es zu Boden, wo es mit einem dumpfen Schlag liegen blieb.
Keuchend stand Dirim an der Balustrade und sah auf das Wesen herab.
„Keine mildernden Umstände“, sagte er. Dann wandte er sich zu Helion und Anna um, die bei dem Barbaren knieten. Ohne große Hoffnung sah Dirim den Magier fragend an. Helion schüttelte nur mit dem Kopf.
„Tyr beschütze dich auf deiner Reise, Boras.“ Dirim sprach einen Segen, dann kniete er nieder und packte die Stiefel des Barbaren.
„Bringen wir ihn zu Jenya.“